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England 1123-1173. Es ist eine Zeit blutiger Auseinandersetzungen zwischen Adel, Klerus und einfachem Volk, das unter Ausbeutung und Not leidet. Philip, ein junger Prior, dessen Eltern von marodierenden Söldnern abgeschlachtet wurden, träumt den Traum vom Frieden: der Errichtung einer Kathedrale gegen die Mächte des Bösen. Er und sein Baumeister Tom Builder, dessen Stiefsohn Jack und die Grafentochter Aliena müssen sich in einem Kampf auf Leben und Tod gegen ihre Widersacher behaupten, ehe Kingsbridge Schauplatz des größten abendländischen Bauwerks, der "Säulen der Erde" wird ...
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Seitenzahl: 2078
Ken Follett
Die Säulen der Erde
Historischer Roman
Aus dem Englischen von Gabriel Conrad, Till Lohmeyer und Christel Rost
BASTEI ENTERTAINMENT
Vollständige eBook-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG
Titel der englischen Originalausgabe: »The Pillars of the Earth«
Für die Originalausgabe: Copyright © Ken Follett 1989 Originalverlag: Macmillan, London / Dutton, New York
Für die deutschsprachige Ausgabe: Copyright © 1990 by Bastei Lübbe AG, Köln Titelillustration: Johannes Wiebel, punchdesign, München unter Verwendung von Motiven von © shutterstock/Surkov Vladimir; shutterstock/Scorpp; © Richard Jenkins Photography eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 978-3-8387-0337-4
www.bastei-entertainment.de
www.lesejury.de
Für Marie-Claire, meinen Augapfel
Danksagung
Mein besonderer Dank gilt Jean Gimpel, Geoffrey Hindley, Warren Hollister und Margaret Wade Labarge. Sie ließen mich an ihrem enzyklopädischen Wissen über das Mittelalter großzügig teilhaben. Ich danke auch Ian und Marjory Chapman für ihre Geduld. Sie haben mich immer wieder ermutigt und mir viele Anregungen gegeben.
Die kleinen Jungen waren die Ersten, die zum Richtplatz kamen.
Es war noch dunkel, als sie aus ihren Verschlägen schlüpften. Lautlos wie Katzen huschten sie in ihren Filzstiefeln über den jungfräulichen Schnee, der sich wie Linnen über die kleine Stadt gebreitet hatte, und entweihten ihn mit ihren Schritten. Ihr Weg führte sie vorbei an windschiefen Holzhütten und über Sträßchen und Gassen, die von gefrorenem Matsch bedeckt waren, zum stillen Marktplatz, auf dem der Galgen bereits wartete.
Die Jungen verachteten alles, was den Älteren lieb und teuer war. Für Schönheit und Rechtschaffenheit hatten sie nur Hohn und Spott übrig. Sahen sie einen Krüppel, so brüllten sie vor Lachen, und lief ihnen ein verletztes Tier über den Weg, so bewarfen sie es mit Steinen, bis es tot war. Sie waren stolz auf ihre Narben. Besonders angesehen aber waren Verstümmelungen: Ein Junge, dem ein Finger fehlte, konnte es leicht bis zu ihrem Anführer bringen. Sie liebten nichts so sehr wie die Gewalt und liefen meilenweit, um Blut zu sehen.
Und niemals fehlten sie, wenn der Henker kam.
Einer der Jungen pinkelte an das Gerüst, auf dem der Galgen stand. Ein anderer kletterte die Treppen hinauf, griff sich mit beiden Daumen an den Hals und ließ sich fallen wie einen nassen Sack, das Gesicht abstrus verzerrt; die anderen johlten vor Vergnügen und lockten damit zwei Hunde an, die kläffend über den Marktplatz rannten. Einer der jüngeren Burschen biss unbekümmert in einen Apfel, da kam ein älterer, versetzte ihm einen Schlag auf die Nase und nahm ihm den Apfel weg. In seiner Wut ergriff der Kleine einen spitzen Stein und brannte ihn einem der Köter aufs Fell; der jaulte auf und machte sich davon.
Dann gab’s nichts mehr zu tun. Die Horde ließ sich auf den trockenen Steinplatten im Portal der großen Kirche nieder und wartete darauf, dass irgendetwas geschah.
Hinter den Fensterläden der ansehnlichen Holz- und Steinhäuser, die den Marktplatz säumten, flackerte Kerzenschein auf. Die Küchenmägde und Lehrbuben der wohlhabenden Händler und Handwerker machten Feuer, setzten Wasser auf und kochten Hafergrütze. Der schwarze Himmel färbte sich langsam grau. Gebeugten Hauptes erschienen die Frühaufsteher in den niedrigen Türen ihrer Häuser und gingen hinab zum Fluss, um Wasser zu holen. Obwohl sie in schwere Mäntel aus grober Wolle gehüllt waren, zitterten sie vor Kälte.
Eine Weile später betrat eine Gruppe junger Männer den Platz – Knechte, Arbeiter und Lehrburschen. Sie lärmten und taten sich groß, vertrieben mit Tritten und Schlägen die Kinder aus dem Portal, lehnten sich selbst gegen die gemeißelten Steinbögen, kratzten sich, spuckten aus und redeten mit aufgesetzter Kaltschnäuzigkeit über den Tod am Galgen.
»Wenn er Glück hat, bricht der Hals gleich beim Fall«, sagte einer, »das ist kurz und schmerzlos. Aber wenn er Pech hat und der Hals bricht nicht, dann hängt er am Strick, wird puterrot im Gesicht, und er schnappt nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Bis er dann endlich erstickt.« – »Und das kann so lange dauern, wie ein Mann braucht, um eine Meile zurückzulegen!«, fiel ein anderer ein, und ein Dritter meinte, es könne alles noch viel schlimmer kommen, er selbst hätte schon einmal gesehen, wie ein Gehenkter erst gestorben sei, als sein Hals schon eine Elle lang war!
Am anderen Ende des Marktplatzes kamen die alten Weiber zusammen, so weit als irgend möglich entfernt von den jungen Männern, denen jede Grobheit und jedes böse Wort gegenüber ihren Großmüttern zuzutrauen war. Die alten Frauen waren immer schon früh auf den Beinen. Längst brannte das Feuer im Herd und war die Stube gefegt.
Die Witwe Brewster, eine kräftige Person, die sie alle als ihre Wortführerin anerkannten, gesellte sich zu ihnen. Mühelos rollte sie ein Fässchen Bier vor sich her wie ein Kind seinen Reifen. Kaum machte sie sich daran, es zu öffnen, da standen die Kunden auch schon mit Krügen und Eimern Schlange.
Der Büttel des Vogts öffnete das Haupttor und ließ die Bauern ein, die in den Häuschen vor der Stadtmauer lebten. Einige von ihnen wollten Eier, Milch und frische Butter verkaufen, andere kamen, um sich mit Bier und Brot zu versorgen, wieder andere aber blieben einfach auf dem Marktplatz stehen und warteten auf die Hinrichtung.
Von Zeit zu Zeit verrenkten die Leute die Hälse wie vorsichtige Spatzen und spähten zur Burg hinauf, die auf einer Anhöhe über dem Städtchen thronte. Gleichmäßig stieg der Rauch aus dem Küchentrakt, hie und da blakte Fackelschein hinter den schmalen Fensterschlitzen des Wohnturms auf. Dann – hinter der dicken grauen Wolke mochte gerade die Sonne aufgehen – öffneten sich die mächtigen Holztore, und eine kleine Prozession verließ die Burg. Voran ritt auf einem feinen schwarzen Ross der Vogt, gefolgt von einem Ochsenkarren mit dem gefesselten Delinquenten. Dem Karren folgten drei Reiter, ihre Gesichter waren auf die Entfernung nicht zu erkennen, doch verriet ihre Kleidung, dass es sich um einen Ritter, einen Priester und einen Mönch handelte. Die Nachhut bildeten zwei Bewaffnete.
Sie waren alle dabei gewesen, als tags zuvor im Kirchenschiff Gericht gehalten worden war. Der Priester hatte den Dieb auf frischer Tat ertappt: Der Mönch hatte bezeugt, dass der silberne Kelch dem Kloster gehörte; der Ritter war des Diebes Herr und hatte bestätigt, dass ihm der Bursche davongelaufen sei, und der Vogt hatte das Todesurteil gefällt.
Während die kleine Gruppe langsam den Burgberg heruntergeritten kam, strömten immer mehr Menschen auf dem Marktplatz zusammen und versammelten sich um den Galgen. Zu den Letzten, die kamen, gehörten die führenden Bürger der Stadt: der Schlachter, der Bäcker, zwei Ledergerber, zwei Schmiede, der Messerschmied und der Bogner. Und alle brachten sie ihre Weiber mit.
Die Menge sah der Exekution mit gemischten Gefühlen entgegen. Normalerweise genossen es die Leute, dem Henker bei der Ausübung seiner Pflicht zuzusehen, denn die Delinquenten waren meistens Diebe, und Diebe wurden von ihnen, die ihre Habe im Schweiße ihres Angesichts erwarben, mit unversöhnlichem Hass verfolgt. Der Dieb allerdings, dem es an diesem Tage an den Kragen gehen sollte, war kein gewöhnlicher Dieb. Niemand wusste, wer er war und woher er kam. Er hatte keinen Menschen aus dieser Stadt bestohlen, sondern Mönche in einem zwanzig Meilen entfernten Kloster. Und was er gestohlen hatte, war ein mit Juwelen verzierter Silberkelch von so unermesslichem Wert, dass er nie im Leben einen Käufer dafür gefunden hätte. Das war schon etwas anderes als der Diebstahl eines Schinkens, eines neuen Messers oder eines guten Gürtels, der für seinen rechtmäßigen Besitzer einen echten Verlust bedeutete. Nein, eines so unsinnigen Vergehens wegen konnten sie den Mann nicht hassen. Gewiss, als der Ochsenkarren mit dem Gefangenen auf dem Marktplatz eintraf, johlten und pfiffen einige, aber es waren im Grunde nur halbherzige Missfallenskundgebungen. Die Einzigen, die den Dieb mit sichtlicher Begeisterung verhöhnten, waren die Gassenjungen.
Von den Bewohnern der Stadt hatte kaum einer an der Gerichtsverhandlung teilgenommen. Gerichtstage waren keine Feiertage, und sie alle hatten ihre Arbeit. Sie sahen den Dieb jetzt zum ersten Male. Er war noch ziemlich jung, zwischen zwanzig und dreißig; von durchschnittlicher Größe und Gestalt zwar, ansonsten aber eine recht merkwürdige Erscheinung. Seine Haut war so weiß wie der Schnee auf den Dächern, die Augen – von leuchtendem Grün – standen vor, und sein Haar war von der Farbe einer geschabten Mohrrübe. Die jungen Mädchen fanden ihn hässlich, den alten Frauen tat er leid, und die Gassenjungen lachten und lachten, bis sie umfielen.
Den Vogt kannten die Leute alle. Die drei anderen Männer jedoch, die das Schicksal des Diebes besiegelt hatten, waren Fremde. Der Ritter, ein feister Mann mit strohblondem Haar, war offenbar eine nicht unbedeutende Person, kam er doch auf einem riesigen Schlachtross daher, das gut und gerne ebenso viel kostete, wie ein Zimmermann in zehn Jahren verdiente. Der Mönch war um Vieles älter, fünfzig oder fünfundfünfzig vielleicht, ein hochgewachsener, hagerer Mann, der vornübergebeugt im Sattel saß, als mache ihm die Last des Lebens schwer zu schaffen. Am auffallendsten war der Priester. Er war noch jung, mit scharf geschnittener Nase und glattem schwarzem Haar. Er trug ein schwarzes Gewand und einen schwarzen Umhang und ritt auf einem dunklen Fuchshengst. Sein Blick war hellwach, so lauernd und bedrohlich wie der einer Katze, die ein Nest mit jungen Mäusen wittert.
Ein kleiner Junge zielte sorgfältig und spuckte dem Gefangenen ins Gesicht – kein schlechter Schuss, denn er traf genau zwischen die Augen. Der Delinquent stieß einen Fluch aus und wollte auf den Spucker losgehen, doch die Seile, mit denen er an beiden Seiten des Karrens festgebunden war, hinderten ihn daran. Der Zwischenfall war nicht weiter bemerkenswert – nur fiel den Leuten auf, dass der Gefangene normannisches Französisch gesprochen hatte, die Sprache der Herren. So war er wohl ein Spross aus hohem Hause? Oder bloß ein Ausländer, der von weither kam? Niemand wusste es.
Der Ochsenkarren zockelte bis zum Galgen und hielt dort an. Mit der Schlinge in der Hand stieg der Büttel des Vogts auf die Ladefläche. Der Gefangene wehrte sich. Die Gassenjungen jubelten; sie wären enttäuscht gewesen, hätte der Mann alles widerstandslos über sich ergehen lassen. Der Gefangene, durch Fesseln an seinen Hand- und Fußgelenken in seiner Bewegungsfreiheit eingeschränkt, verstand es dennoch, durch heftige Kopfstöße nach links und rechts der Schlinge zu entgehen. Da trat der Büttel, ein hünenhafter Mann, ein paar Schritte zurück, holte aus und versetzte ihm einen kräftigen Hieb in die Magengrube. Der Fremde krümmte sich; schon war der Büttel zur Stelle, warf ihm die Schlinge über den Kopf und zog den Knoten fest. Dann sprang er vom Karren herab, zog das Seil stramm und befestigte das andere Ende an einem Haken am Grunde des Galgens.
Das war der Wendepunkt. Wenn der Gefangene jetzt noch zappelte, schnürte es ihm um so schneller die Luft ab.
Die Bewaffneten nahmen ihm die Fußfesseln ab und ließen ihn dann allein auf dem Karren stehen, die Hände auf dem Rücken gebunden. Die Menge war auf einmal totenstill.
An dieser Stelle kam es bei Hinrichtungen gelegentlich zu Zwischenfällen: Die Mutter des Verurteilten bekam einen Schreikrampf, oder sein Eheweib sprang in einem letzten verzweifelten Versuch, sein Leben zu retten, mit gezücktem Messer aufs Schafott. Manchmal flehte der Verurteilte Gott um Vergebung an, in anderen Fällen brach er in wüste Verwünschungen gegen seine Henker aus. Die Bewaffneten nahmen, auf alles gefasst, zu beiden Seiten des Schafotts Aufstellung.
Da fing der Verurteilte auf einmal zu singen an.
Er hatte eine hohe, ganz reine Tenorstimme. Er sang auf französisch, doch selbst jene, denen diese Sprache fremd war, hörten der wehmütigen Weise an, dass sie von Trauer und Abschied sprach.
Ein Lerchenvogel tat sich einst im Jägernetz verfangen. Und singt so süß und singt so rein, als ob der Stimme Zauberklang – ihn wieder könnt’ befrein.
Sein Blick ruhte dabei unentwegt auf einer Person inmitten der Menge. Die Leute wichen zurück, sodass sie alsbald für jedermann zu erkennen war.
Es war ein Mädchen, kaum mehr als fünfzehn Jahre alt. Die Menschen auf dem Marktplatz fragten sich, warum sie ihnen nicht schon früher aufgefallen war. Sie hatte langes, dunkelbraunes Haar, das ihr in üppiger Fülle über die Schultern wallte und oberhalb der breiten Stirn einen Wirbel bildete, den man im Volksmund »Teufelsmütze« hieß. Ihre Gesichtszüge waren ebenmäßig, die Lippen voll. Die alten Frauen schlossen aus der fülligen Mitte und den schweren Brüsten sofort, dass das Mädchen schwanger und der Verurteilte der Vater ihres ungeborenen Kindes war. Allen anderen jedoch fielen nur ihre Augen auf: Sie passten nicht recht zu dem sonst durchaus hübschen Gesicht. Sie lagen tief in ihren Höhlen und waren von außergewöhnlichem, goldenem Glanz. Wer sie ansah, wandte alsbald den Blick wieder ab, denn diese Augen schienen jedermann tief ins Herz zu schauen und auch die geheimsten Geheimnisse zu entdecken. Das Mädchen war in Lumpen gehüllt, und Tränen liefen ihre weichen Wangen herab.
Der Ochsentreiber blickte den Büttel erwartungsvoll an. Der Büttel sah den Vogt an und harrte des vereinbarten Kopfnickens. Der unheimliche junge Priester stieß den Vogt voller Ungeduld verstohlen in die Seite, doch der Vogt schenkte ihm keine Beachtung. Er ließ den Dieb weitersingen, und so gelang es dem hässlichen Mann mit seiner schönen Stimme, sich den Tod noch wenige furchtbare Augenblicke lang vom Leibe zu halten.
Es graut der Tag, der Jäger kommt, um ihm den Tod zu geben. Es stirbt der Vogel, stirbt der Mensch – mein Lied wird ewig leben.
Als das Lied zu Ende war, sah der Vogt den Büttel an und nickte. Der Büttel rief: »Hopp!«, und hieb dem Ochsen mit einem Seil in die Flanke, während der Ochsentreiber seine Peitsche knallen ließ. Der Ochse zog an, der Mann taumelte, der Wagen glitt ihm unter den Füßen weg, und er fiel ins Bodenlose. Der Henkerstrick spannte sich, und dann brach das Genick des Diebes mit hörbarem Knacken.
Ein Schrei ertönte, und alle starrten die junge Frau an.
Nicht sie hatte geschrien, sondern das Weib des Messerschmieds, das neben ihr stand, sie aber war der Anlass gewesen: Vor dem Galgen war sie auf die Knie gesunken und reckte die Arme vor, bereit zum Fluch. Die Leute wichen vor ihr zurück, wusste doch ein jeder, dass der Fluch eines Menschen, dem Unrecht geschah, besondere Kräfte besaß. Und dass es bei dieser Hinrichtung nicht mit rechten Dingen zuging – den Verdacht hegten sie ohnehin. Die Gassenjungen packte das Grauen.
Das Mädchen richtete den beschwörenden Blick ihrer hellgoldenen Augen nun auf die drei Fremden – den Ritter, den Mönch und den Priester. Und dann verhängte sie ihren Fluch über sie – furchtbare Worte in hellem, klingendem Ton:
»Krankheit und Sorge, Hunger und Schmerz beschwöre ich auf Euch herab. Euer Haus soll vom Feuer verzehrt werden, und Eure Kinder sollen am Galgen enden. Euren Feinden soll es wohl ergehen, während Ihr in Gram und Trauer alt werdet und in Siechtum und Elend dahinfault …« Noch während sie sprach, griff das Mädchen in einen Sack, der neben ihr auf dem Boden lag, und zog einen lebenden Hahn heraus.
Und mit einem Mal hielt sie ein Messer in der Hand. Eine einzige rasche Bewegung – da hatte sie auch schon dem Tier den Kopf abgeschnitten, den blutenden Rumpf gepackt und nach dem schwarzhaarigen Priester geschleudert. Das kopflose Tier traf ihn zwar nicht, doch das Blut bespritzte nicht nur den Priester, sondern auch den Mönch und den Ritter, in deren Mitte er stand.
Voller Abscheu und Ekel wandten sich die drei Männer ab, doch das Blut traf sie alle, befleckte ihre Gewänder und zeichnete ihre Gesichter.
Das Mädchen machte kehrt und rannte um sein Leben.
Die Menge öffnete ihr eine Gasse, die sich hinter ihr wieder schloss. Danach herrschte das reine Chaos, bis es dem Vogt gelang, die Aufmerksamkeit seiner Bewaffneten auf sich zu lenken. Wütend befahl er ihnen, das Mädchen einzufangen. Gehorsam kämpften sie sich durch die Menge, drängten rüde Frauen und Kinder beiseite, doch ehe sie sich’s versahen, war das Mädchen verschwunden. Der Vogt ließ sie weitersuchen, aber er wusste genau, dass es nicht gefunden würde.
Angewidert wandte er sich ab. Der Ritter, der Mönch und der Priester hatten die Flucht des Mädchens nicht weiter verfolgt. Statt dessen starrten sie allesamt auf den Galgen. Der Vogt folgte ihrem Blick. Der tote Dieb hing am Strick, sein blasses, junges Gesicht bereits blau verfärbt. Unter seiner sanft hin und her pendelnden Leiche drehte der kopflose Hahn im blutbefleckten Schnee zackige Kreise.
In einem weiten Tal am Fuße eines Hanges, gleich neben einem Bach mit frischem, perlendem Wasser, errichtete Tom ein Haus.
Die Mauern waren bereits drei Fuß hoch und wuchsen schnell. Die Sonne schien, und die beiden Maurer, die Tom angeworben hatte, arbeiteten in gleichbleibendem Rhythmus. Ratsch – platsch – peng machten ihre Kellen, während der Träger unter dem Gewicht der schweren Steinblöcke schwitzte. Alfred, Toms Sohn, mischte den Mörtel und zählte Schaufel um Schaufel den Sand, den er gerade auf ein Brett häufelte. Auch ein Zimmermann war zugegen; er stand neben Tom an der Werkbank und bearbeitete sorgfältig einen Buchenholzblock mit einem Breitbeil.
Der vierzehnjährige Alfred war groß und schlank wie sein Vater. Tom überragte die meisten Männer um Haupteslänge, und Alfred, der noch im Wachsen war, hatte ihn schon fast erreicht. Die beiden sahen einander überhaupt sehr ähnlich, hatten beide hellbraunes Haar und grünliche Augen mit braunen Flecken. Ein hübsches Paar, die zwei, sagten die Leute, wenn sie ihnen begegneten. Sie unterschieden sich im Wesentlichen dadurch, dass Tom einen lockigen braunen Bart trug, während sich auf Alfreds Oberlippe erst ein feiner blonder Flaum zeigte. Tom erinnerte sich voller Zärtlichkeit daran, dass einst auch das Haupthaar seines Sohnes so blond gewesen war.
Alfred wurde nun langsam zum Mann, und Tom hätte es gern gesehen, wenn sein Sohn mit etwas mehr Fleiß und Bedacht bei der Sache gewesen wäre. Der Junge musste noch eine Menge lernen, wenn er ein Steinmetz werden wollte wie sein Vater. Bisher hatten ihn die Regeln der Baukunst allenfalls verwirrt oder gelangweilt.
Das Haus, an dem sie gerade arbeiteten, würde nach seiner Fertigstellung das schönste und größte Herrenhaus im Umkreis von vielen Meilen sein. Das Erdgeschoss war als geräumiger Speicher angelegt, in dem Vorräte und Gerätschaften gelagert werden konnten. Die gewölbte Decke diente als Brandschutz. Über dem Speicher sollte dann die eigentliche Wohnstube entstehen, die über ein außerhalb der Mauern zu errichtendes Treppenhaus erreichbar war. Da sie so hoch lag, war sie nur schwer anzugreifen und um so leichter zu verteidigen. An der Außenwand der Wohnstube sollte sich ein Schornstein erheben, durch den der Rauch vom Kamin abzog – eine wahrhaft umwälzende Neuerung. Bisher hatte Tom nur ein einziges Mal ein Haus mit Schornstein gesehen. Es war ihm jedoch so einleuchtend erschienen, dass er sich sofort zum Nachbau entschlossen hatte. Im zweiten Stock, also oberhalb der großen Wohnstube, sollte ein kleines Schlafzimmer entstehen; die jungen Damen von Adel waren sich zu gut, um gemeinsam mit Männern, Mägden und Jagdhunden in der großen Stube zu schlafen.
Die Küche sollte in einem eigenen Gebäude untergebracht werden, denn irgendwann ging jede Küche einmal in Flammen auf. Um Schlimmeres zu verhüten, legte man sie daher meist ein gutes Stück entfernt vom Wohnhaus an – und begnügte sich mit lauwarmen Mahlzeiten.
Tom war damit beschäftigt, den Eingang des Hauses zu errichten. Die Türpfosten sollten rund sein und wie Säulen aussehen; das betonte die Würde des jungvermählten Paares von adeligem Geblüt, das hier Wohnung nehmen wollte. Mit Blick auf das vorgeformte hölzerne Simsbrett, das ihm als Richtschnur diente, setzte Tom seinen Eisenmeißel an und klopfte vorsichtig mit dem großen Holzhammer darauf. Viele kleine Splitter und Bruchstücke rieselten herunter, und die behauene Fläche war ein wenig deutlicher gerundet als zuvor. Er hatte es wieder einmal geschafft. Die glatte Bruchfläche war gut genug für eine Kathedrale.
In Exeter hatte Tom einst am Bau der Kathedrale mitgewirkt. Anfangs war es für ihn ein Auftrag wie jeder andere gewesen, und er hatte mit Ärger und Verdrossenheit die Ermahnungen des Baumeisters hingenommen, der immer wieder etwas an seiner Arbeit auszusetzen hatte. Tom kannte seine Stärken und wusste, dass er ein überdurchschnittlich guter und gewissenhafter Steinmetz und Maurer war. Erst allmählich ging ihm auf, dass die Mauern einer Kathedrale eben nicht nur gut, sondern tadellos zu sein hatten, denn eine Kathedrale wurde zu Ehren Gottes errichtet und war zudem so groß, dass die geringste Abweichung zum vielleicht tödlichen Konstruktionsfehler werden konnte.
Toms Ärger verwandelte sich in Faszination. Die gnadenlose Detailbesessenheit im Verbund mit einem äußerst anspruchsvollen Bauvorhaben öffnete ihm die Augen für die Wunder seines Handwerks. Bei dem Baumeister in Exeter lernte er die Bedeutung der Proportionen kennen, die Symbolik verschiedener Zahlen, die nahezu magischen Formeln zur richtigen Berechnung der Dicke einer Mauer oder des Winkels einer Stufe in einer Wendeltreppe. All diese Dinge fesselten ihn, und es erstaunte ihn, als er erfuhr, dass viele Steinmetzen unfähig waren, sie zu begreifen.
Nach einiger Zeit wurde Tom zur rechten Hand des Baumeisters und war nun auch imstande, dessen Schwächen zu erkennen. Der Mann war ein hervorragender Handwerker, aber ein unfähiger Organisator. Zur rechten Zeit die richtige Menge Steine zu beschaffen, um mit den Maurern Schritt halten zu können, stellte für ihn ein schier unüberwindliches Problem dar. Wie brachte man die Schmiede dazu, in ausreichender Zahl das gerade benötigte Werkzeug herzustellen? Wie schaffte man genügend gebrannten Kalk und Sand für den Mörtel her? Wer fällte das Holz für die Zimmerleute, und wer beschaffte vom Domkapitel das Geld, um alles zu bezahlen?
Wäre Tom bis zum Tode des Dombaumeisters in Exeter geblieben, hätte er gut und gerne dessen Nachfolger werden können. Doch es kam anders. Dem Domkapitel ging – nicht zuletzt infolge der Misswirtschaft des Baumeisters – das Geld aus, und die Handwerker waren gezwungen, sich anderswo nach Arbeit umzusehen.
Der Kastellan von Exeter bot Tom die Stelle des Baumeisters an. Seine Aufgabe hätte darin bestanden, die Befestigungen der Stadt zu renovieren und auszubauen – eine Lebensaufgabe, falls nichts dazwischenkam.
Doch Tom hatte das Angebot abgelehnt. Er wollte wieder eine Kathedrale bauen.
Agnes, seine Frau, hatte diesen Entschluss nie verstanden. Als Festungsbaumeister in Exeter hätte er mit seiner Familie in einem guten Steinhaus leben können. Sie hätten Diener gehabt und eigene Ställe und jeden Tag Fleisch auf dem Tisch. Nie hatte sie Tom verziehen, dass er diese einmalige Gelegenheit ausgeschlagen hatte. Der unwiderstehliche Drang, einen Dom erbauen zu wollen, war ihr unbegreiflich; sie verstand weder die organisatorische Vielfalt noch die intellektuelle Herausforderung, die in den Berechnungen lag. Weder die gewaltige Höhe der Mauern noch die atemberaubende Schönheit und Größe des fertigen Bauwerks vermochten sie zu begeistern. Tom dagegen, der einmal an diesem Wein genippt hatte, würde sich nie wieder mit etwas Geringerem zufriedengeben.
Das alles lag jetzt zehn Jahre zurück, und seitdem waren sie weit herumgekommen. Hier entwarf er ein neues Kapitelhaus für ein Kloster, dann arbeitete er ein oder zwei Jahre an einer Burg oder errichtete für einen reichen Kaufmann ein Stadthaus. Doch sobald er ein wenig Geld gespart hatte, nahm er seinen Abschied und zog mit Frau und Kind weiter – immer auf der Suche nach einer Kathedrale.
Er sah von der Werkbank auf und erblickte Agnes, die am Rand der Baustelle stand. In der Rechten trug sie einen Vesperkorb und in der Linken einen großen Krug Bier, den sie mit der Hüfte abstützte. Es war Mittag. Er sah sie liebevoll an. Niemand wäre so vermessen gewesen, Agnes hübsch zu nennen, doch verrieten die breite Stirn, die großen braunen Augen, die gerade Nase und die starke Kieferpartie enorme innere Kraft. Ihr dunkles, drahtiges Haar war in der Mitte gescheitelt und auf dem Hinterkopf zusammengebunden. Agnes war Toms Seelengefährtin.
Sie schenkte Tom und Alfred Bier ein. Einen Augenblick standen sie wortlos beisammen, die beiden großen Männer und die kräftige Frau, und tranken Bier aus hölzernen Bechern. Da kam aus einem Weizenfeld die siebenjährige Martha gesprungen, das vierte Mitglied der Familie. Sie war so hübsch wie eine Narzisse – freilich eine Narzisse, der ein Blütenblatt fehlt, denn zwei Milchzähne waren ihr ausgefallen und die neuen noch nicht nachgewachsen. Sie rannte auf Tom zu, küsste ihn auf den staubigen Bart und nippte an seinem Bier. Er zog ihren knochigen Körper an sich und drückte sie. »Trink du nur nicht zu viel«, sagte er, »sonst fällst du in den Graben!« Die Kleine torkelte im Kreis umher und spielte die Betrunkene.
Sie ließen sich auf dem Holzstoß nieder. Agnes reichte Tom ein großes Stück Weißbrot, eine dicke Scheibe gekochten Schinkenspeck und eine kleine Zwiebel. Tom ließ sich das Fleisch schmecken und begann die Zwiebel zu schälen. Agnes gab den Kindern zu essen und bediente sich dann auch selbst. Vielleicht war es wirklich verantwortungslos, um der unsicheren Hoffnung auf eine neue Kathedrale willen den langweiligen Posten in Exeter auszuschlagen, dachte Tom bei sich. Aber wie dem auch sei, Hunger hat meine Familie trotz dieser Leichtfertigkeit nie leiden müssen.
Er zog sein Essmesser aus der Tasche seiner Lederschürze, schnitt sich eine Scheibe Zwiebel ab und verzehrte sie mit einem Stück Brot. Die Zwiebel brannte süß in seinem Mund.
Da sagte Agnes auf einmal: »Ich bin wieder schwanger.«
Tom hörte auf zu kauen und starrte sie an. Ein Freudenschauer durchfuhr ihn, und weil er nicht wusste, was er sagen sollte, grinste er sie nur dümmlich an. Agnes errötete schließlich und fügte hinzu: »So überraschend ist es ja nun auch wieder nicht!«
Tom umarmte sie. »Schön, schön«, sagte er, noch immer vor Freude strahlend. »Ein Kindchen, das mir den Bart zausen kann! Und ich dachte schon, das nächste Kind in der Familie würde Alfreds sein.«
»Freu dich nicht zu früh«, ermahnte ihn Agnes. »Einem ungeborenen Kind soll man noch keinen Namen geben. Das bringt Unglück.«
Tom nickte zustimmend. Agnes hatte eine Totgeburt und mehrere Fehlgeburten hinter sich, und ein kleines Mädchen, Matilda, war im Alter von zwei Jahren gestorben. »Wär trotzdem schön, wenn es ein Junge wird«, sagte er, »jetzt, wo Alfred schon so groß ist. Wann ist es denn so weit?«
»Nach Weihnachten.«
Tom fing an zu rechnen. Der Rohbau des Hauses sollte vor dem ersten Frost stehen und zum Schutz gegen den Winter mit Stroh bedeckt werden. Die Steinmetzen sollten in den kalten Monaten die Steine für Fenster, Gewölbe, Türfassungen und den Kamin schneiden, die Zimmerleute Dielenbretter, Türen und Fensterläden zimmern, während er selbst das Gerüst für die Arbeiten in den oberen Stockwerken vorbereiten wollte. Die folgenden Arbeiten standen dann im nächsten Frühjahr an: die Fertigstellung der Gewölbe im Erdgeschoss, das Einziehen des Bodens im ersten Stock sowie die Errichtung des Daches. Bis Pfingsten nächsten Jahres würde der Bau die Familie ernähren. Dann war das Kleine ein halbes Jahr alt, und sie konnten mit ihm weiterziehen. »Schön«, sagte er zufrieden, »das ist schön«, und schob sich noch einen Zwiebelschnitz in den Mund.
»Ich werde langsam zu alt zum Kinderkriegen«, sagte Agnes. »Das muss jetzt das letzte sein.«
Tom dachte über ihre Worte nach. Er wusste nicht genau, wie alt sie war, jedenfalls nicht nach Jahren, doch dass Frauen ihres Alters Kinder bekamen, war durchaus keine Seltenheit. Je älter sie waren, das stimmte allerdings, desto schwerer fiel es ihnen und desto schwächer waren die Kinder. Gewiss hatte Agnes recht.
Aber wie will sie eine neue Schwangerschaft verhindern? Als ihm die Antwort einfiel, legte sich ein Schatten auf sein sonniges Gemüt.
»Vielleicht finde ich Arbeit in einer Stadt«, sagte er, um sie zu besänftigen, »an einer Kathedrale oder einem Bischofssitz. Dann können wir in einem großen Haus mit Holzdielen wohnen und uns ein Mädchen leisten, das dir zur Hand geht.«
Ihr Ausdruck verhärtete sich, und ihre Antwort klang skeptisch: »Vielleicht.« Sein Gerede über Kathedralen behagte ihr nicht.
Ihre Miene schien zu sagen: Wenn du niemals an einer Kathedrale gearbeitet hättest, dann lebten wir wahrscheinlich längst in einem Stadthaus, hätten genug gespartes Geld unter der Feuerstelle vergraben und brauchten uns um unsere Zukunft nicht zu sorgen.
Tom wandte den Blick von ihr und biss ein Stück Schinkenspeck ab. Sie hatten Anlass zum Feiern, und dennoch herrschte Missstimmung zwischen ihnen. Er kam sich gedemütigt vor. Wortlos kaute er an dem zähen Fleisch. Dann hörte er plötzlich Pferdegetrappel und hob lauschend den Kopf. Der Reiter kam von der Straße her, vermied jedoch das Dorf, indem er die Abkürzung durch den Wald nahm.
Einen Augenblick später erschien ein junger Mann auf einem Pony und sprang ab. Er sah aus wie ein Knappe, eine Art Ritterlehrling. »Euer Herr kommt«, sagte er.
Tom erhob sich. »Ihr meint Lord Percy?« Percy Hamleigh war einer der wichtigsten Männer der Grafschaft. Ihm gehörte das Tal – und nicht nur dieses –, und er war es auch, der den Hausbau in Auftrag gegeben hatte und bezahlte.
»Sein Sohn«, sagte der Knappe.
»Der junge William.« Percys Sohn William sollte das Haus nach seiner Hochzeit beziehen. Er war mit Lady Aliena, der Tochter des Grafen von Shiring, verlobt.
»Eben derselbe«, antwortete der Knappe. »Und er ist sehr erbost.«
Tom erschrak. Verhandlungen mit einem Bauherrn waren im günstigsten Fall schwierig. Ein wütender Bauherr war schlicht und einfach unerträglich. »Worüber ist er erbost?«
»Seine Braut hat ihn zurückgewiesen.«
»Die Tochter des Grafen?«, erwiderte Tom überrascht und spürte auf einmal Angst. Hatte er sich nicht eben erst in Sicherheit über seine Zukunft gewiegt? »Ich dachte, die Ehe sei längst vereinbart.«
»Das dachten wir alle – nur Lady Aliena nicht, wie es scheint«, sagte der Knappe. »Sie hatte ihn kaum erblickt, da verkündete sie auch schon, dass nichts in der Welt sie dazu bewegen könne, ihn zu heiraten.«
Tom runzelte die Stirn. Die Sache gefiel ihm ganz und gar nicht. »Soweit ich mich entsinne, sieht der junge Herr doch gar nicht übel aus«, sagte er.
»Als ob es darauf ankäme, in ihrer Stellung«, bemerkte Agnes. »Wo kämen wir hin, wenn Grafentöchter sich ihre Ehemänner selbst aussuchen könnten? Fahrende Sänger und dunkeläugige Spitzbuben würden uns regieren!«
»Vielleicht ändert das Mädchen seine Meinung ja noch«, meinte Tom hoffnungsvoll.
»Ja, wenn ihre Mutter die Birkenrute sprechen lässt, dann schon«, ergänzte Agnes.
»Ihre Mutter lebt nicht mehr«, sagte der Knappe.
Agnes nickte. »Kein Wunder, dass ihr der Blick für die Realitäten des Lebens fehlt. Aber warum weist ihr der Vater nicht den Weg? Das verstehe ich nicht.«
»Es hat den Anschein, dass er ihr versprochen hat, sie niemals einem Mann zur Frau zu geben, den sie nicht mag.«
»Ein törichtes Versprechen!«, schimpfte Tom. Wie konnte sich ein mächtiger Herr den Launen eines jungen Mädchens ausliefern? Militärische Allianzen, die gräflichen Finanzen, ja, sogar die Fertigstellung des Hauses konnten in der einen oder anderen Weise von dieser Eheschließung betroffen sein.
»Sie hat einen Bruder«, sagte der Knappe. »Insofern ist es nicht gar so wichtig, wen sie heiratet.«
»Trotzdem …«
»Der Graf ist ein unbeugsamer Mann«, fuhr der Knappe fort. »Er steht zu seinem Wort – selbst wenn er es nur einem Kind gegeben hat.« Er zuckte mit den Schultern. »So heißt es jedenfalls.«
Tom betrachtete die niedrigen Grundmauern des künftigen Hauses. Ich habe noch nicht genug Geld gespart, um die Familie gut über den Winter zu bringen … Der Gedanke ließ ihn frösteln.
»Vielleicht wird der junge Herr eine andere Braut finden, die bereit ist, hier mit ihm zu leben. Er hat die Wahl – die ganze Grafschaft steht ihm zur Verfügung.«
Mit der krächzenden Stimme des Heranwachsenden rief Alfred: »Jesus Christus! Ich glaube, da kommt er.«
Sie alle folgten seinem Blick. Vom Dorf her kam ein Pferd übers Feld herangaloppiert und zog eine Wolke aus Staub und aufgewirbelter Erde hinter sich her. Sowohl die Größe als auch die Geschwindigkeit des Pferdes hatten Alfred erschreckt: Es war geradezu riesig. Tom hatte solche Tiere schon gesehen, Alfred wahrscheinlich nicht. Es handelte sich um ein Schlachtross, am Widerrist so hoch wie das Kinn eines Mannes und unverhältnismäßig breit gebaut. In England wurden solche Pferde nicht gezüchtet; sie stammten aus dem Ausland und waren sündhaft teuer.
Tom ließ die Reste seiner Mahlzeit in der Schürzentasche verschwinden und kniff die Augen zusammen, um im Gegenlicht besser sehen zu können. Das Pferd hatte die Ohren angelegt, und seine Nüstern bebten, doch aus dem hoch getragenen Kopf glaubte Tom schließen zu können, dass der Reiter es noch unter Kontrolle hatte. Der Eindruck bestätigte sich, als Ross und Reiter näher kamen: Der Reiter lehnte sich zurück und zerrte an den Zügeln, das Pferd schien tatsächlich etwas langsamer zu werden. Tom spürte jetzt, wie die trommelnden Hufe den Boden unter seinen Füßen erzittern ließen. Er sah sich nach Martha um, wollte sie auf den Arm nehmen, damit sie nicht in Gefahr geriet, doch Martha war verschwunden.
»Sie ist im Getreidefeld«, sagte Agnes, doch darauf war Tom schon selbst gekommen. Rasch lief er zum Rain des Feldes, das unmittelbar an die Baustelle anschloss, und spähte besorgt über den wogenden Weizen. Von Martha keine Spur. Jetzt sah er nur noch eine Möglichkeit, das drohende Unheil abzuwenden: Er musste dem Pferd Einhalt gebieten, musste zumindest versuchen, es in seinem wilden Lauf zu bremsen.
Er trat auf den Feldweg hinaus und ging mit ausgebreiteten Armen auf Pferd und Reiter zu. Das Tier bemerkte ihn, hob den Kopf, um besser sehen zu können, und wurde tatsächlich langsamer. Doch dann sah Tom zu seinem großen Entsetzen, wie der Reiter dem Pferd die Sporen gab.
»Verdammter Narr!«, brüllte er ihm entgegen, obwohl der Reiter ihn gar nicht hören konnte.
In diesem Augenblick schlüpfte Martha aus dem Weizenfeld auf den Weg, nur ein paar Meter vor Tom.
Der war im ersten Moment wie gelähmt vor Schreck. Dann sprang er vor, schreiend und wild mit den Armen fuchtelnd, um das Tier abzulenken. Doch das Pferd war ein Schlachtross; es war darauf dressiert, johlende Kriegerhorden zu attackieren, und ließ sich durch nichts beirren. Mitten auf dem schmalen Weg stand Martha wie angewurzelt und starrte auf das Untier, das auf sie zustürmte. Tom erkannte verzweifelt, dass er seine Tochter nicht mehr rechtzeitig erreichen konnte. Er wich nach links aus, geriet beinahe ins Weizenfeld, und da, im allerletzten Moment, machte auch das Pferd einen leichten Schwenk zur Seite. Der Steigbügel des Reiters streifte Marthas Goldhaar, dicht neben ihren nackten Füßen fuhr ein Huf auf den Boden und trat ein tiefes Loch hinein. Dann war das Pferd vorüber, und aufgewühlte Erde regnete auf die beiden herab. Tom riss seine Tochter an sich und drückte sie fest an sein wild klopfendes Herz.
Die Erleichterung drohte ihn zu überwältigen. Die Glieder wurden ihm schwach, und ihm war, als rönne Wasser durch seine Adern. Doch gleich darauf kam die Wut – Wut auf diesen rücksichtslosen Dummkopf auf seinem gewaltigen Schlachtross. Er sah sich nach ihm um. Lord William lehnte sich im Sattel ein wenig zurück und streckte die Füße in den Steigbügeln vor. Das Pferd warf unruhig den Kopf hin und her und bockte, doch William blieb im Sattel. Er ließ das Pferd kantern, dann fiel es in einen leichten Trab. In einem weiten Kreis führte er es an die Baustelle heran.
Martha weinte. Tom überließ sie ihrer Mutter und wartete auf William. Der junge Herr war groß und gut gebaut. Er mochte um die zwanzig Jahre alt sein und hatte strohblonde Haare. Seine engstehenden Augen erweckten den Eindruck, als blinzele er unablässig in die Sonne. Gewandet war er in einen kurzen schwarzen Waffenrock, schwarze Kniehosen und Lederschuhe mit Kreuzbändern bis über die Waden. Selbstzufrieden und sichtlich unbeeindruckt von dem Zwischenfall saß er im Sattel. Der dumme Kerl weiß nicht einmal, was er angerichtet hat, dachte Tom voller Grimm. Ich könnte ihm den Hals umdrehen!
Vor dem Holzstoß brachte William sein Pferd zum Stehen und sah auf die Bauleute herab. »Wer hat hier das Sagen?«, fragte er.
Wenn du mein kleines Mädchen verletzt hättest, wärst du jetzt schon ein toter Mann!, wollte Tom sagen, doch er schluckte seinen Zorn herunter. Es fiel ihm schwer genug. Er trat vor und griff das Pferd am Zaum. »Ich bin der Baumeister«, sagte er gepresst. »Ich heiße Tom.«
»Das Haus wird nicht mehr gebraucht«, sagte William. »Du kannst deine Leute entlassen.«
Genau das hatte Tom befürchtet. Aber er gab die Hoffnung noch nicht auf. Vielleicht ließ William sich in seinem Zorn zu voreiligen Entschlüssen hinreißen und konnte eines Besseren überzeugt werden. Es kostete ihn einige Überwindung, seine Stimme freundlich und vernünftig klingen zu lassen. »Aber die Arbeiten sind schon weit fortgeschritten«, sagte er. »Wollt Ihr das alles verfallen lassen? Über kurz oder lang werdet Ihr das Haus doch ohnehin brauchen.«
»Spar dir deine Ratschläge, Baumeister Tom. Ich weiß selbst, was ich zu tun habe. Ihr seid alle entlassen.« Er riss am Zügel, doch Tom hielt das Pferd noch immer am Zaum. »Lass mein Pferd los!«, befahl William drohend.
Tom schluckte. Gleich würde William das Tier veranlassen, den Kopf hochzunehmen. Er fingerte das Brot aus seiner Schürzentasche und hielt es dem Pferd hin, das prompt den Kopf senkte und ein Stück abbiss. »Es gibt noch einiges zu bereden, Herr, bevor Ihr uns verlasst«, sagte er leise.
»Wenn du nicht sofort mein Pferd loslässt, schlage ich dir den Kopf ab!«, brauste William auf.
Tom sah ihm direkt in die Augen, bemüht, seine Furcht zu verbergen. Zwar war er größer als William, doch wenn der junge Herr sein Schwert zog, half ihm das gar nichts.
»Tu, was der Herr sagt, Mann«, stammelte Agnes angsterfüllt.
Es herrschte Totenstille. Reglos wie Statuen standen die Arbeiter da und verfolgten die Szene. Die Vernunft gebot Nachgeben. Tom wusste es. Doch Williams Pferd hätte um ein Haar sein Töchterchen totgetrampelt, und das konnte Tom ihm so schnell nicht vergessen. Er war noch immer aufs Höchste erregt, und so antwortete er mit klopfendem Herzen: »Ihr müsst uns noch bezahlen.«
William zog erneut an den Zügeln, doch Tom ließ das Zaumzeug nicht los, und das Pferd war abgelenkt, weil es in Toms Schürzentasche nach weiterer Nahrung suchte. »Holt euch euren Lohn bei meinem Vater!«, fauchte William wütend.
Tom hörte, wie der Zimmermann mit vor Angst zitternder Stimme sagte: »Das werden wir tun, mein Herr, habt vielen Dank.«
Armseliger Feigling, dachte Tom, aber er zitterte selbst. Dennoch rang er sich die Erwiderung ab: »Wenn Ihr uns entlassen wollt, müsst Ihr uns auszahlen, so ist es Brauch. Das Haus Eures Vaters liegt zwei Tagesmärsche von hier entfernt. Wer weiß, ob er überhaupt anwesend ist, wenn wir dort eintreffen.«
»Es sind schon Männer aus geringerem Anlass gestorben«, gab William zurück, die Wangen gerötet vor Wut.
Aus dem Augenwinkel sah Tom, wie die Hand des Knappen an den Schwertknauf fuhr. Er wusste, dass jetzt der Punkt erreicht war, an dem er aufgeben und sich demütig zeigen sollte, doch der Zorn auf William saß wie ein hartnäckiges Geschwür in seiner Magengrube, und so brachte er es trotz seiner Furcht einfach nicht über sich, das Zaumzeug loszulassen.
»Zuerst bezahlt uns, dann könnt Ihr mich töten«, sagte er kühn. »Ob man Euch deswegen hängt oder nicht, ist mir gleich. Früher oder später sterbt Ihr ohnehin, und dann werde ich im Himmel sein und Ihr in der Hölle.«
Plötzlich war Williams höhnisches Grinsen wie weggewischt, und er erbleichte. Tom war verblüfft: Was hatte den Burschen dermaßen erschreckt? Bestimmt nicht der Hinweis auf den Galgen – damit, dass ein Edelmann wegen der Ermordung eines Handwerkers gehängt wurde, war kaum zu rechnen. Konnte es sein, dass er sich vor der Hölle fürchtete?
Wortlos starrten sie sich in die Augen. Ebenso erstaunt wie erleichtert sah Tom, dass der von Hoffart und Zorn gezeichnete Ausdruck in Williams Gesicht nicht wiederkehrte, sondern endgültig dahinschmolz und durch panikartige Furcht ersetzt wurde. Schließlich zog William einen ledernen Geldbeutel aus dem Gürtel, warf ihn dem Knappen zu und sagte: »Gib ihnen ihr Geld!«
Und da forderte Tom sein Schicksal heraus. Als William die Zügel wieder anzog, worauf das Pferd seinen schweren Kopf hob und seitwärts tänzelte, da gab der Baumeister das Zaumzeug noch immer nicht frei, sondern bewegte sich mit dem Tier mit und sagte: »Einen vollen Wochenlohn. So ist es Brauch bei Entlassungen.« Er hörte, wie Agnes dicht hinter ihm angstvoll nach Luft schnappte, und wusste, dass sie ihn für verrückt hielt, weil er die Auseinandersetzung mutwillig fortsetzte. Dennoch ließ er nicht locker. »Das heißt also: sechs Pence für den Arbeiter, zwölf für den Zimmermann und jeden Maurer, dazu vierundzwanzig Pence für mich. Macht zusammen sechsundsechzig.« Niemand konnte Beträge so schnell zusammenrechnen wie er.
Der Knappe sah seinen Herrn und Meister fragend an, und William schnaubte: »Sei’s drum!«
Tom ließ das Zaumzeug los und wich einen Schritt zurück.
William wendete sein Pferd und trat ihm heftig in die Flanken. Dann sprengten Ross und Reiter über den Feldweg davon.
Tom ließ sich auf den Holzstoß fallen. Was war bloß in ihn gefahren? Es war schierer Wahn, Lord William so frech die Stirn zu bieten! Er konnte von Glück sagen, dass er noch am Leben war.
Wie fernes Donnergrollen verklangen die Hufschläge. Williams Knappe schüttete den Inhalt der Geldbörse auf ein Brett. Erst jetzt, als er die Silberpennys im Sonnenschein glitzern sah, überkam Tom ein Gefühl des Triumphes: Der Wahn hatte sich auf jeden Fall ausgezahlt! Er hatte sich und seinen Leuten eine angemessene Bezahlung erstritten. »Selbst hohe Herren sind an die alten Bräuche gebunden«, sagte er halb zu sich selbst.
Agnes hatte ihn sehr wohl gehört: »Gebe Gott, dass du nie wieder für Lord William arbeiten musst«, sagte sie mürrisch.
Tom lächelte sie an. Er konnte gut verstehen, dass sie sich nach all den ausgestandenen Ängsten nicht bester Laune erfreute. »Runzle du nur nicht zu oft die Stirn, sonst hast du für den Säugling nur klumpige Milch in deinen Brüsten«, sagte er.
»Wenn du im Winter keine Arbeit findest, kann ich keinen von uns ernähren«, gab sie zurück.
»Bis zum Winter ist es noch lange hin«, sagte Tom.
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Den Sommer über blieben sie im Dorf. Später betrachteten sie diesen Entschluss als furchtbaren Fehler, doch vorerst sprach alles dafür, denn außer Martha konnten sie alle bei der Ernte jeden Tag einen Penny verdienen. Als der Herbst kam und sie weiterziehen mussten, besaßen sie ein fettes Schwein und ein schweres Säckchen voller Silberpennys.
Die erste Nacht verbrachten sie im Portal einer Dorfkirche. Am zweiten Abend fanden sie eine kleine Priorei und genossen die Gastfreundschaft der Mönche. Am dritten Tag wanderten sie durch den riesigen Chute Forest, ein dicht bewachsenes, urwaldartiges Gebiet, und die Straße, die hindurchführte, war kaum breiter als ein Ochsenkarren. Unter den Eichen zu beiden Seiten des Weges prunkte das üppige Grün des zur Neige gehenden Sommers.
Tom trug seine kleineren Werkzeuge in einem Ranzen bei sich, die Hämmer baumelten an seinem Gürtel. Unter dem linken Arm trug er seinen zum Bündel zusammengerollten Mantel, in der rechten Hand, gleichsam als Spazierstock, seine Eisenpike. Er war froh darüber, dass sie wieder auf Wanderschaft waren. Vielleicht wartete ja irgendwo schon eine Kathedrale auf ihn? Er konnte es zum Dombaumeister bringen und bräuchte bis zu seinem Lebensende nie wieder Arbeit zu suchen. Die Kirche, die er bauen wollte, war so groß und schön, dass er sich um sein Seelenheil keine Sorgen mehr machen musste.
Agnes trug ihre wenigen Haushaltsgegenstände in einem Kochtopf auf dem Rücken. Alfred waren die Werkzeuge anvertraut, die ihnen beim Bau eines Unterschlupfs behilflich sein würden: ein Beil, eine Krummaxt, eine Säge, ein kleiner Hammer, ein Spaten und eine Ahle, mit der man Löcher in Holz und Leder bohren konnte. Martha war noch zu klein für schwerere Lasten; sie trug lediglich ihre Essschüssel und ihr Messer am Gürtel und ihren Wintermantel auf dem Rücken. Zudem hatte sie sich um das Schwein zu kümmern, das sie bei Gelegenheit auf einem Markt verkaufen wollten.
Auf ihrem Weg durch die schier endlosen Wälder ließ Tom seine Frau nie aus den Augen. Sie war jetzt schon im fünften Monat und schleppte nicht nur auf ihrem Rücken, sondern auch in ihrem Bauch eine beträchtliche Last mit sich herum. Dennoch zeigte sie keinerlei Anzeichen von Müdigkeit. Auch Alfred ging es gut; er war ja auch in einem Alter, in dem die jungen Burschen oft nicht wissen, wohin mit ihren Kräften. Nur Martha ermüdete recht schnell. Ihre dünnen Beinchen waren wie geschaffen zum Rennen und Spielen, doch fehlte ihnen die Ausdauer für lange Wanderungen. Immer wieder fiel Martha hinter den anderen zurück, sodass sie stehen bleiben und auf das Kind mit dem Schwein warten mussten.
Wieder schweiften Toms Gedanken ab. Einmal mehr dachte er an den Dom, den er eines Tages bauen wollte. Wie immer errichtete er zunächst einen imaginären Bogengang. Das war ganz einfach: zwei senkrechte Säulen, die einen Halbkreis trugen. Eine zweite, identische Konstruktion kam hinzu. In seiner Fantasie schob er die beiden Bögen einfach zusammen und fügte noch eine ganze Reihe weiterer hinzu, sodass sie schließlich ein tunnelartiges Gewölbe bildeten. Das Gewölbe war die Grundidee des Baus, denn es besaß ein Dach, das den Regen fernhielt, und zwei Wände, die das Dach trugen. Eine Kirche war nichts anderes als ein verfeinertes Tunnelgewölbe.
Ein Gewölbe indes war dunkel. Die erste Verfeinerung bestand demnach im Einbau von Fenstern. Waren die Wände stark genug, so konnte man Löcher hineinschneiden. Sie sollten oben abgerundet sein, senkrechte Seiten haben und eine flache Fensterbank – kurzum die gleiche Form aufweisen wie der ursprüngliche Bogengang. Gleiche Formen bei Bögen und Fenstern waren eines der Geheimnisse, die die Schönheit eines Gebäudes bestimmten. Gleichmäßigkeit war ein anderes; Tom stellte sich auf jeder Seite des Gewölbes zwölf identische Fenster in regelmäßigen Abständen vor.
Auch die Simse oberhalb der Fenster malte er sich schon aus, konnte sich jedoch plötzlich nicht mehr richtig konzentrieren. Er hatte das Gefühl, dass ihn jemand beobachtete. Das ist doch albern, dachte er – und wenn schon … Natürlich werde ich beobachtet – von den Vögeln, den Füchsen und Wildkatzen, den Eichhörnchen, Ratten, Mäusen, Wieseln, Hermelinen und was sonst noch so kreucht und fleucht hier im Wald.
Zur Mittagszeit rasteten sie am Rande eines kleinen Bachs. Sie tranken das klare Wasser und aßen kalten Speck und Holzäpfel, die sie vom Waldboden klaubten.
Am Nachmittag war Martha sehr müde. Einmal fiel sie fast hundert Schritt zurück. Während sie auf das Mädchen warteten, dachte Tom daran, was für ein hübscher, kräftiger Blondschopf Alfred in jenem Alter gewesen war. Mit einer Mischung aus Zärtlichkeit und Verärgerung sah er seiner Tochter zu, die langsam aufschloss und dabei lauthals das Schwein ob seiner Trägheit beschimpfte. Plötzlich brach, nur wenige Schritte vor Martha, eine Gestalt aus dem Unterholz, und dann geschah alles so schnell, dass Tom glaubte, seinen Augen nicht trauen zu können: Der Mann, der dem Kind so unvermittelt in den Weg getreten war, schwang eine Keule hoch über seine Schultern. Ein Entsetzensschrei wollte sich Toms Kehle entringen, doch noch ehe er sich Bahn brechen konnte, schlug der Mann zu. Die Keule traf das Mädchen so wuchtig an der Schläfe, dass Tom den furchtbaren Aufschlag hörte. Martha stürzte zu Boden wie eine fallen gelassene Puppe.
Tom rannte den Weg zurück; seine Füße trommelten auf dem harten Erdboden wie die Hufe von Lord Williams Schlachtross. Er rannte, so schnell er nur konnte, und dabei war ihm, als sähe er die Geschehnisse, die sich vor seinen Augen abspielten, hoch oben auf einem Fresko an einer Kirchenwand: Er sah sie, aber er konnte nichts daran ändern. Der Wegelagerer, daran konnte kein Zweifel bestehen, war ein Outlaw, ein Vogelfreier. Es war ein kleiner, untersetzter Mann in einem braunen Rock. Seine Füße waren nackt. Für Bruchteile eines Augenblicks sah er Tom direkt an. Das Gesicht des Mannes war grauenvoll verstümmelt: Man hatte ihm die Lippen abgeschnitten – wahrscheinlich als Strafe für ein Delikt, das eine grobe Lüge einschloss. Die entstellte, von wulstigem Narbengewebe umgebene Mundpartie verwandelte das Gesicht in eine unablässig grinsende Fratze. Wäre da nicht die am Boden liegende Martha gewesen – allein der entsetzliche Anblick hätte Tom zurückschaudern lassen.
Der Wegelagerer wandte den Blick von Tom: Das Schwein war ihm wichtiger. Er trieb es mit einem Stock in das dichte Unterholz und war gleich darauf verschwunden.
Tom fiel neben Martha auf die Knie. Er legte ihr seine breite Hand auf die schmale Brust und spürte den Herzschlag; kräftig und regelmäßig wie er war, vertrieb er Toms schlimmste Befürchtungen. Marthas Augen waren jedoch geschlossen, und hellrotes Blut sickerte in ihr blondes Haar.
Schon kniete auch Agnes neben ihm. Sie berührte Marthas Brust, prüfte den Puls, legte ihr die Hand auf die Stirn. Dann sah sie Tom an; ihr Blick war hart und gefühllos. »Sie wird’s überleben«, sagte sie. »Hol uns das Schwein jetzt zurück!«
Rasch schnallte Tom seinen Ranzen mit den Werkzeugen ab und ließ ihn auf den Boden fallen. Mit der Linken zog er den großen Eisenhammer aus dem Gürtel, in der Rechten trug er nach wie vor die Pike. Am niedergetrampelten Buschwerk erkannte er, wohin der Dieb geflohen war, und dann quiekte das Schwein vernehmlich.
Tom nahm die Verfolgung auf. Der Fluchtweg ließ sich kaum verfehlen, denn der Wegelagerer war ein gewichtiger Mann und hatte mit dem Schwein eine unverkennbare Spur aus niedergetretenen Blumen, Sträuchern und jungen Bäumen hinterlassen. Tom jagte ihm hinterher, getrieben von rasender Wut und dem inbrünstigen Wunsch, den Kerl zu erwischen und niederzumachen. Er brach durch einen niedrigen Jungbirkenwald, stürmte einen Abhang hinunter und stampfte durch einen kleinen Sumpf, an dessen jenseitigem Ende ein Pfad weiterführte. Hier gab es keine zertrampelten Pflanzen mehr; der Dieb mochte sich nach links oder rechts gewendet haben. Tom blieb stehen und lauschte. Irgendwo zu seiner Linken quiekte das Schwein, und hinter ihm rannte noch jemand durch den Wald, vermutlich Alfred. Tom wandte sich nach links.
Der Pfad führte durch eine Senke und nach einer scharfen Biegung einen Hügel empor. Das Schwein war jetzt ganz deutlich zu hören. Tom keuchte schwer, als er den Hang hinaufjagte; das jahrelange Einatmen von Steinstaub hatte seine Lungen geschwächt. Dann hatte er die Steigung bewältigt und konnte den Dieb sehen. Er war nur zwanzig oder dreißig Schritt vor ihm und rannte, als sei der Teufel hinter ihm her. Tom legte einen Zwischenspurt ein und verringerte den Abstand. Wenn er nicht lockerließ, musste er den Dieb über kurz oder lang erwischen, denn ein Mann mit einem Schwein unterm Arm kann nicht so schnell laufen wie ein Mann ohne Schwein. Seine Brust schmerzte. Der Dieb war noch fünfzehn Schritt entfernt, noch zwölf … Tom hob die Pike wie einen Speer. Nur noch ein kleines Stückchen näher, dann … Noch elf Schritt, zehn …
Da tauchte im Gebüsch am Wegrand plötzlich ein schmales Gesicht unter einem grünen Hut auf; Tom nahm es gerade noch am Rande seines Blickfelds wahr, bevor die Pike seiner wurfbereiten Hand entglitt. Es war zu spät, beiseitezuspringen. Ein derber Ast wurde ihm in den Weg geworfen. Tom stolperte und stürzte zu Boden.
Die Pike war verloren, aber er hatte ja noch seinen Hammer. Er rollte sich ab und kam wieder auf die Beine. Erst jetzt merkte er, dass er es mit zwei Gegnern zu tun hatte – dem Mann mit dem grünen Hut und einem Glatzkopf mit verfilztem weißem Bart. Sie gingen gleichzeitig auf ihn los.
Tom sprang beiseite und holte aus. Sein Hammer sauste auf den grünen Hut nieder, doch der Mann wich im letzten Moment aus, sodass ihn der schwere eiserne Hammerkopf nur an der Schulter traf. Mit einem Schmerzensschrei ging er zu Boden, wobei er sich den Arm hielt, als wäre er gebrochen. Um ein zweites Mal auszuholen, fehlte die Zeit, denn inzwischen war der Glatzkopf näher gerückt. Tom stieß ihm den Hammerkopf ins Gesicht und brach ihm den Backenknochen.
Die beiden Wegelagerer hielten sich ihre Wunden und machten sich davon; von ihnen war kein Widerstand mehr zu erwarten. Tom sah sich nach dem Schweinedieb um. Er rannte noch immer den Pfad entlang, hatte jetzt aber wieder einen größeren Vorsprung. Ohne Rücksicht auf die Schmerzen in seiner Brust nahm Tom die Verfolgung wieder auf. Doch schon nach wenigen Schritten hörte er hinter sich eine vertraute Stimme.
Alfred.
Tom blieb stehen und sah sich um.
Die beiden Halunken schlugen auf Alfred ein, der sich mit Händen und Füßen wehrte. Drei-, viermal erwischte er den Kerl mit dem grünen Hut am Kopf, dann trat er dem Glatzkopf gegen das Schienbein. Doch keiner der beiden ließ von ihm ab. Es gelang ihnen, sich so nahe an ihn heranzudrängen, dass er nicht mehr weit genug ausholen konnte und seine Schläge wirkungslos blieben. Tom zögerte, hin und her gerissen zwischen der Entscheidung, entweder den Schweinedieb zu verfolgen oder seinen Sohn zu retten. Schließlich gelang es dem Kahlköpfigen, Alfred ein Bein zu stellen. Der Junge stürzte zu Boden. Sofort waren die beiden Wegelagerer über ihm und prügelten wie besessen auf ihn ein.
Tom eilte ihm zu Hilfe. Er rammte den Kahlkopf mit dem ganzen Gewicht seines Körpers, sodass der Mann in hohem Bogen ins Gebüsch flog. Dann drehte er sich um und visierte einmal mehr mit dem Hammer den grünen Hut an. Der Angreifer hatte die Wucht des Hammers schon einmal geschmeckt und konnte sich ohnehin nur noch mit einem Arm verteidigen. Dennoch gelang es ihm, dem ersten Hieb auszuweichen und, noch ehe Tom ein zweites Mal ausholen konnte, im Unterholz zu verschwinden.
Tom drehte sich nach den beiden anderen Wegelagerern um: Der Kahlkopf machte sich über den Pfad davon; von dem Schweinedieb, der sich in entgegengesetzter Richtung aus dem Staub gemacht hatte, war nichts mehr zu sehen.
Ein bitterer, gotteslästerlicher Fluch entfuhr seinen Lippen: Das Schwein entsprach der Hälfte ihrer Ersparnisse, die sie in diesem Sommer zurückgelegt hatten. Schwer keuchend sank Tom zu Boden.
»Wir haben drei Männer in die Flucht geschlagen«, sagte Alfred aufgeregt.
Tom sah ihn an. »Aber sie haben unser Schwein.« Die Wut brannte in seinem Magen wie saurer Most. Sie hatten das Schwein im Frühjahr von ihren ersten Ersparnissen gekauft und es den ganzen Sommer über gemästet. Ein fettes Schwein brachte sechzig Pence auf dem Markt. Sein Fleisch konnte, zusammen mit ein paar Kohlköpfen und einem Sack Getreide, eine ganze Familie über den Winter bringen. Aus seiner Haut ließen sich ein Paar Lederschuhe und ein oder zwei Beutel fertigen. Der Verlust des Schweins war eine Katastrophe.
Neidvoll betrachtete Tom seinen Sohn: Alfred hatte sich von der Verfolgungsjagd und dem anschließenden Kampf schon wieder erholt und wartete nun ungeduldig auf seinen Vater. Einst konnte ich laufen wie der Wind, ohne mein Herz zu spüren, dachte Tom. Wie lange mag das her sein? Vor zwanzig Jahren war ich in seinem Alter … vor zwanzig Jahren! Mir ist, als wäre es erst gestern gewesen.
Er rappelte sich auf. Auf dem Rückweg, der sie zunächst wieder den Pfad entlang führte, legte er den Arm um Alfreds breite Schultern. Der Junge war noch etwa eine Spanne kleiner als er, aber das würde sich bald ändern. Gut möglich, dass Alfred ihm eines Tages sogar über den Kopf wuchs. Ich hoffe, sein Verstand wächst ebenso schnell, dachte Tom und sagte: »Jeder Narr kann in eine Schlägerei geraten. Der kluge Mann weiß sich herauszuhalten.« Alfred sah ihn verwirrt an.
Sie verließen den Pfad, stapften durch den Morast und kletterten den angrenzenden Hang empor. Erst als sie das Dickicht aus jungen Birken erreichten, fiel Tom Martha wieder ein, und erneut stieg die Wut in ihm hoch: Der Wegelagerer hatte das unschuldige Kind, das nie eine Gefahr für ihn war, ohne jeden Grund niedergeschlagen und verletzt.
Tom beschleunigte seine Schritte, und wenige Augenblicke später stand er zusammen mit Alfred wieder auf der Straße. Martha lag noch unverändert an derselben Stelle auf dem Boden. Ihre Augen waren geschlossen, und das Blut in ihrem Haar trocknete bereits. Agnes kniete neben ihr – und neben Agnes kniete, zu Toms größter Überraschung, eine fremde Frau, die einen kleinen Jungen bei sich hatte. Kein Wunder, dass ich mich heute Morgen immer wieder beobachtet fühlte, dachte er, in diesem Wald scheint es ja vor Menschen zu wimmeln! Er bückte sich und legte Martha die Hand auf die Brust. Ihr Atem ging gleichmäßig.
»Sie wird bald aufwachen«, sagte die Fremde mit einer Stimme, die keinen Widerspruch zuließ. »Und dann wird sie kotzen. Danach ist alles wieder gut.«
Tom betrachtete die Fremde neugierig. Sie war ziemlich jung, vielleicht ein Dutzend Jahre jünger als er. Ihr kurzes ledernes Überkleid enthüllte geschmeidige, gebräunte Glieder. Ihr Gesicht war hübsch, und ihr dunkelbraunes Haar bildete über der Stirn eine Teufelsmütze. Tom spürte einen Anflug von Begehren. Doch da hob die Fremde den Kopf und sah ihn an. Sie hatte tief liegende Augen von seltsam honiggoldener Farbe, die ihrem Antlitz einen magischen Zug verliehen, und ihr Blick war von ungewöhnlicher Intensität. Tom war in diesem Augenblick überzeugt, dass die Frau seine Gedanken gelesen hatte.
Peinlich berührt, wandte er seinen Blick ab und sah Agnes an. »Wo ist das Schwein?«, fragte sie vorwurfsvoll.
»Da waren noch zwei andere Outlaws«, erwiderte Tom, und Alfred fügte hinzu: »Wir haben die beiden niedergeschlagen, aber der mit dem Schwein ist uns entkommen.«
Agnes quittierte die Worte mit einem finsteren Blick, sagte aber kein Wort mehr.
»Wir sollten das Mädchen in den Schatten legen«, bemerkte die Fremde. »Allerdings müssen wir dabei vorsichtig sein.«
Sie erhob sich, und Tom erkannte, dass sie nicht besonders groß war, gut einen Fuß kleiner als er selbst. Er bückte sich und nahm Martha behutsam auf. Ihr kindlicher Körper kam ihm beinahe gewichtslos vor. Ein paar Schritt weiter bettete er das nach wie vor völlig kraftlose Mädchen auf eine grasbewachsene Stelle am Fuße einer alten Eiche.
Alfred sammelte die Werkzeuge ein, die seit dem Überfall auf der Straße lagen. Der fremde Knabe sah ihm mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund zu. Er mochte ungefähr drei Jahre jünger sein als Alfred und sah recht merkwürdig aus. Tom fiel auf, dass ihm der sinnliche Reiz seiner Mutter völlig fehlte. Er hatte sehr blasse Haut, hellrote Haare, leicht hervortretende grüne Augen und den stierend-blöden Blick eines Dummerjans. Eines dieser Kinder, die, wenn sie nicht jung sterben, später als Dorftrottel enden, dachte Tom. Alfred fühlte sich unter diesem Blick sichtlich unwohl.
Unvermittelt riss der fremde Knabe ohne ein Wort der Erklärung Alfred die Säge aus der Hand und betrachtete sie, als habe er so etwas noch nie gesehen. Alfred, wütend über diese Ungehörigkeit, nahm ihm die Säge wieder ab, was der Junge ohne Gemütsbewegung zuließ. Die Mutter rief: »Jack! Benimm dich!« Sein Verhalten war ihr offensichtlich peinlich.
Tom sah sie an. Zwischen ihr und dem Kind bestand nicht die geringste Ähnlichkeit. »Seid Ihr die Mutter?«, fragte er.
»Ja, die bin ich. Ich heiße Ellen.«
»Wo ist Euer Mann?«
»Er ist tot.«
Das war eine Überraschung. »Seid Ihr etwa alleine unterwegs?«, fragte Tom ungläubig. Diese Wälder waren schon für einen Mann wie ihn gefährlich genug – eine Frau konnte kaum darauf hoffen, sie lebend wieder zu verlassen.
»Wir sind nicht unterwegs«, antwortete Ellen. »Wir leben hier im Wald.«
Tom war entsetzt. »Das heißt, Ihr seid …« Er sprach nicht weiter, weil er die Frau nicht beleidigen wollte.
»Outlaws, jawohl«, sagte Ellen. »Oder meint Ihr etwa, alle Outlaws sehen so aus wie Faramond Openmouth, der Euch das Schwein gestohlen hat?«
»Ja«, sagte Tom, obwohl er eigentlich hätte sagen wollen, ich hätte nie gedacht, dass es unter den Outlaws so schöne Frauen gibt. Unfähig, seine Neugier zu zügeln, fragte er: »Was war Euer Vergehen?«
»Ich habe einen Priester verflucht«, sagte sie, ohne ihn dabei anzusehen.
Gar so schlimm war dieses Vergehen in Toms Augen nicht. Vielleicht war es ja ein sehr mächtiger Priester gewesen – oder ein überempfindlicher. Oder aber Ellen zog es vor, die Wahrheit für sich zu behalten.
Er sah Martha an. Kurz darauf öffnete das Mädchen die Augen. Sie war verwirrt und hatte wohl auch ein wenig Angst. Agnes kniete sich neben sie. »Es ist alles gut«, sagte sie. »Du bist in Sicherheit.«
Martha setzte sich auf und übergab sich. Agnes hielt sie im Arm, bis die Krämpfe vorüber waren. Tom dachte: Alle Achtung, Ellens Voraussage hat sich erfüllt. Und wenn sich auch der zweite Teil erfüllt, wird es Martha gleich wieder bessergehen. Er fühlte sich auf einmal ungeheuer erleichtert und war selbst überrascht von der Stärke dieser Empfindung. Ich hätte es nicht ertragen, wenn ich mein kleines Mädchen verloren hätte, dachte er und kämpfte mit den Tränen. Ellen bedachte ihn mit einem mitfühlenden Blick, und erneut war ihm, als schauten ihm ihre blassgoldenen Augen direkt ins Herz.
Er brach einen Zweig von der Eiche, streifte die Blätter ab und reinigte damit Marthas Gesicht. Das Mädchen war noch immer sehr blass.
»Sie braucht jetzt Ruhe«, sagte Ellen. »Lasst sie ausruhen – so lange, wie ein Mann braucht, um drei Meilen zurückzulegen.«