Die Schaltkreise der Gnome - Marten Steppat - E-Book

Die Schaltkreise der Gnome E-Book

Marten Steppat

4,9

Beschreibung

Durch die große Katastrophe auf dem Planeten Kumono wurde urplötzlich fast sämtliche Technik unbrauchbar. Die Menschen dort waren dem Überlebenskampf in einer noch fremden Welt ausgesetzt. Generationen später ist es schließlich an der Zeit, Antworten darauf zu finden, was passiert war. Und warum. Als ein Gnom das Dorf attackiert, entschließen sich Ion und seine Kameraden dazu, dessen Herkunft zu ergründen. Die Spuren führen sie auf eine verlassene Insel, auf der sie mit neuen Gefahren konfrontiert werden. Doch hier scheint auch der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit - und zu ihrer Zukunft - zu liegen. Auf der Suche nach verloren gegangenen Wegen stolpert die Gruppe in ein Abenteuer, in welchem sie alte Schätze wiederentdecken, neue Freundschaften schließen und Antworten erhalten, die ihrerseits wieder neue Fragen aufwerfen. Sie bringen dabei Steine ins Rollen, die eine Lawine unvorhersehbarer schicksalhafter Wendungen in ihr Leben bringt. Zudem wird ein noch unbekannter Gegner auf sie aufmerksam, dessen Macht sie nicht gewachsen sind. Eine Geschichte mit Künstlicher Intelligenz und echtem Herz.

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Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel 1: Erwachen

Kapitel 2: Entdecken

Kapitel 3: Aufbruch

Kapitel 4: Tekion

Kapitel 5: Feen

Kapitel 6: Trolle

Kapitel 7: Drachen

Kapitel 8: Freunde

Prolog

In der noch fernen Zukunft haben die Menschen zu Frieden und Kooperation zusammengefunden. Sie haben die Wiege der Menschheit verlassen und sich auf den Weg gemacht, um neue Welten zu besiedeln.

Die Asteara ist ein Generationenraumschiff, das die Kapazität hat, eine gesamte Großstadt aufzunehmen, zu versorgen und zu transportieren. Drei Generationen lang war die Asteara unterwegs.

Der weit von der Erde entfernte Planet Kumono besitzt bereits eigenes Leben, bietet eine reichhaltige Vegetation und ist von Tieren bevölkert. Die Menschen der Asteara besiedeln diese Welt und erschaffen sich dort eine neue Heimat.

Dann geschieht eine Katastrophe: Praktisch alle Technik auf dem Planeten kommt zum Erliegen und der Kontakt zum Raumschiff bricht ab. Die Ursache für dieses Unglück ist unbekannt, und die Menschen auf Kumono müssen um ihr Überleben kämpfen.

Generationen später ist viel Wissen und Wohlstand verloren. Das Dorf Geroda ist zwar ein relativ sicherer und friedlicher Ort für seine Bewohner geworden, dennoch gehören Entbehrungen und Gefahren zum Alltag.

Es braucht nur noch einen kleinen Anstoß, um anzufangen, die richtigen Fragen zu stellen und sich auf die Suche nach den Antworten zu begeben.

Durch eine Raupe kommt der Stein ins Rollen...

Kapitel 1: Erwachen

In der Wildnis, nicht weit vom Dorf Geroda entfernt, fing es an. Die fast armlange Regenbogenraupe knabberte gemütlich am Stamm eines Purpurpilzes, der die stattliche Höhe von einem großen Menschen erreicht hatte. Purpurpilze waren ihre Lieblingsspeise. Die Raupe hatte nichts zu befürchten von den zwei ausgewachsenen Hornfüchsen, die jeweils auf und unter dem Pilz Rast machten. Die beiden wussten instinktiv um die Giftigkeit des Insekts, seine vielen bunten Farben waren ihnen Hinweis genug. Sie waren auch gerade nicht hungrig, sondern genossen den schönen warmen Tag in bunt blühender Umgebung.

[Aerie] Die Regenbogenraupe ist die Larvenform des Regenbogen-Schmetterlings. Die bisher gesichteten Exemplare wurden bis zu drei Fuß lang und bis zu einer knappen Handspanne dick. Sie häutet sich mehrmals, die Haut wird dabei jedes Mal härter. Ihr Farbe ist grundsätzlich schwarz, worüber ein dünner Film von Regenbogenfarben zu liegen scheint. Sie ist für Menschen giftig und ungenießbar. Bisher wurde kein Tier gesichtet, welches eine Regenbogenraupe verspeist oder angegriffen hätte.

Der Hornfuchs mit schwarzem Fell lag halb im Schatten des Pilzes und döste vor sich hin, die Zunge ein Stück weit durch das leicht geöffnete Maul geschoben. Auf einem seiner nach hinten gerichteten, gedrehten Hörner steckten zwei Blätter des Faltbaumes, die Form von grünen Fächern, aber das schien ihn wenig zu stören. Der andere lag auf dem Hut des Pilzes, genoss die wärmenden Strahlen der Sonne, den sanften Wind der ihm durch das matt glänzende, hellrote Fell fuhr und beobachtete entspannt die Landschaft.

[Aerie] Der Hornfuch ist ein vierbeiniges Säugetier mit Krallen und Reisszähnen. Er besitzt ein einfarbiges Fell, jedoch gibt es Hornfüchse in verschiedenen Farben. Er kann die Masse eines leichten Menschen besitzen. Er besitzt zwei Hörner, eins hinter jedem seiner spitzen Ohren oben auf dem Kopf, nach hinten gerichtet und gewunden. Diese können länger als eine Handspanne werden. Hornfüchse fressen praktisch alles. Obwohl Menschen nicht direkt zu ihrem Beuteschema zu gehören scheinen, wurden Angriffe berichtet.

Saftige Grasflächen, Büsche, Pilze und Baumgruppen erfüllten die Umgebung mit Leben und wuchsen fruchtbar und weitgehend ungestört vor sich hin. Die Sonne stand von hier aus gesehen über dem Rotstein-Plateau, das aus der Ferne wie ein trockener, unbelebter Fels in dem ansonsten saftigen und blühenden Gebiet wirkte. Am Himmel zog ein Schwarm Vierflügler über den näher liegenden dichten aber kleinen Urwald hinweg auf der Suche nach Nahrung.

Der Pilz brach, plötzlich und ohne Vorwarnung. Ein Hornfuchs fiel auf den anderen. Jaulen und Fauchen erfüllte die Luft. Ein kugelförmiges buntes Bündel von Tier bewegte sich rasant über den Boden, der eine Fuchs vom anderen für einen Augenblick nicht zu unterscheiden. Schließlich prallten sie gemeinsam mit aller Wucht gegen einen Stachelnussbaum, der dabei erzitterte.

Mehrere Gruppen großer und schwerer Nüssen lösten sich nacheinander und polterten auf einen unscheinbaren Kasten, der überwuchert im Boden steckte. Er wirkte fast wie ein natürlicher, größerer Stein - abgesehen von den hohlen Geräuschen beim Aufschlagen der Nüsse, dem anschließenden kurzen, hellen Ton aus seinem Inneren und einem winzigen Licht auf der Oberseite des Kastens, das nun dort leuchtete, wo eben noch Moos und Ranken gewachsen waren.

Die beiden Füchse waren kurz erstarrt und schauten irritiert den Kasten und die Nüsse auf dem Boden an. Dann schüttelten sie sich und begannen sich wieder zu entspannen. Während der rote damit begann, sich zu recken und zu strecken, bewegte sich der schwarze zu ihm rüber und leckte ihm versöhnlich die leicht verletzte Schnauze.

Eine letzte Gruppe von Stachelnüssen löste sich und schlug ein weiteres Mal auf den Kasten. Damit ging dieses Mal noch ein weiteres Krachen einher, und die Hornfüchse waren innerhalb eines Augenblinzelns zwischen den nächsten Bäumen verschwunden. Ein kleiner senkrechter Spalt hatte sich in dem Kasten gebildet.

Der Regenbogenraupe war nichts passiert. Sie hatte vermutlich von all der Aufregung, die sie verursacht hatte, kaum etwas mitbekommen. Sie lebte in ihrer eigenen Welt. Sie umwand fast ein ganzes Mal den Stamm und fraß immer noch zufrieden und unbeeindruckt an dessen Bruchstelle herum. Das tat sie noch den ganzen Tag über, bis die Sonne langsam unterging und es dunkel wurde.

Vermutlich nahm sie auch nicht wahr, wie in der Dunkelheit etwas in dem seltsamen Kasten langsam in Bewegung geriet. Es war ihr vermutlich vollkommen gleich, dass der Kasten mit kratzenden und scharrenden Geräuschen Stück für Stück geöffnet wurde. Sie erschrak nicht im geringsten, als zwei rot leuchtende Augen wie glühende Kohlen durch den Spalt schauten.

Im Dorf Geroda erschrak Samuel fürchterlich beim Anblick der zwei rot leuchtenden Augen, welche die Dunkelheit der Nacht wie glühende Kohlen durchdrangen. Er rutschte panisch von seinem Hocker, fiel dabei mehr die Leiter hinunter als sie hinab zu klettern und stürmte schließlich aus dem kleinen Wachturm hinaus in Richtung Dorfmitte.

Er wusste sofort, auf was für eine Art von Kreatur er da geblickt hatte, die durch das hohe Gras auf das Dorf zu geschlichen kam. Im Laufen suchte er aufgebracht und mit zitternden Händen nach seiner Signalpfeife, die ihm an einer Kordel um den Hals hing. Mehrmals bekam er sie zu fassen, aber jedes Mal glitt sie ihm wieder aus den Fingern. Verzweifelt blieb er für einen kurzen Augenblick stehen, bekam das Gerät endlich fest zu fassen, rannte wieder los, führte die Pfeife zum Mund und pustete immer wieder hinein, so oft es ihm seine Lungen im Laufen erlaubten. Schließlich kam er auf dem Ratsplatz an, dem Zentrum des Dorfes. Er war so außer Atmen, dass er erst einmal auf die Knie sank.

Ion war sofort hellwach, als der helle Ton der Signalpfeife leise an sein Ohr drang. Ohne Verzögerung rollte er sich aus dem Bett, eilte zu seinem Schrank und griff zielsicher nach den passenden Kleidungsstücken. Das fahle Licht des Mondes fiel bloß durch einen engen Spalt zwischen den Vorhängen hindurch, kaum ausreichend um auch nur die eigene Hand vor Augen zu erkennen, aber Ion wusste, wohin er greifen musste.

Shana regte sich. Das Gesicht noch unter einem großen Kissen vergraben, tastete sie nach der Lichtkugel im Regal über sich, fand sie und drehte weit genug am Schalter, dass man den Raum überblicken konnte. Dann ließ sie ihren Arm einfach wieder fallen und bewegte sich nicht weiter.

Ion musste unwillkürlich darüber lächeln, verschwendete aber keine weitere Zeit und öffnete vorsichtig und geradezu ehrfürchtig die große, schwere Truhe, die neben dem Schrank stand und so wirkte, als käme sie aus einer anderen Welt und wäre ein ganzes Königreich wert. Sie wirkte fehl am Platz in der ansonsten bescheiden eingerichteten Unterkunft.

Der Brustharnisch mit dem richterlichen Abzeichen, Arm- und Beinschläuche, Gürtel, Stiefel und Zepter wurden der Truhe schnell aber sorgfältig entnommen, auf einen Stuhl gelegt, und die Truhe wurde ebenso sorgfältig wieder geschlossen, wie sie geöffnet worden war.

Mit wenigen flinken und geschickten Bewegungen steckte Ion in Sekundenschnelle in der kompletten Montur. Sie wirkte viel zu groß für ihn, aber jedes einzelne Teil zog sich dann durch geschickte Handgriffe von selbst zusammen und schmiegte sich dadurch perfekt an seinen Körper.

Shana rührte sich nun doch wieder, richtete sich auf und lauschte konzentriert. Aufgeregte Stimmen drangen leise von draußen herein. Sie versuchte, etwas zu verstehen. „Gnome?“, fragte sie mit einem ungläubigen, in keinster Weise beunruhigten Ton und einem Stirnrunzeln. Einen Augenblick lang verharrte Ion, entspannte sich etwas und bekam einen skeptischen Gesichtsausdruck. „Soll ich mich wieder schlafen legen?“, fragte er herausfordernd. Als Antwort flog ihm ein Kissen ins Gesicht. „Raus!“, befahl sie ihm. Shana drehte sich weg und zog sich dabei das Kissen ihres Mannes zu sich her und über das eigene Gesicht. Nur eine ihrer langen roten Locken schaute noch raus.

Ion betrat den Ratsplatz. Nicht weit entfernt von der Tech-Säule standen und saßen bereits Wachen und andere Dorfbewohner um die Feuerstelle herum und berieten sich im flackernden Licht. Fackeln wurden am Feuer entzündet. Samuel stand in der Mitte der Gruppe und gestikulierte wild. Die Anwesenden begrüßten Ion, als er sich näherte.

„Ich hab einen Gnom gesehen, Ion, mit eigenen Augen!“, wandte sich Samuel sofort aufgeregt an den Richter. Als Richter von Geroda hatte Ion über alles Wichtige informiert zu sein und die notwendigen Entscheidungen zu treffen. Die Menschen von Geroda kamen im Allgemeinen gut miteinander aus, so bestanden die meisten richterlichen Entscheidungen daraus, die Leute einfach tun zu lassen, was sie für richtig hielten.

Die wichtigeren Entscheidungen waren meist eher persönlicher Art, wie zum Beispiel aus welchen Vogeleiern sein Omelett bestehen sollte und wie viel Kaffee er sich dazu erlauben sollte. Zuviel Kaffee machte ihn nervös, aber er trank ihn einfach gerne. Er war immer wieder sehr dankbar dafür, dass die Kaffeepflanze von der Erde mitgenommen worden war und auf diesem Planeten hatte angebaut werden können.

„Er kommt direkt auf das Dorf zu!“, rief Samuel und griff unwillkürlich zu seiner Signalpfeife, als wollte er erneut hinein pusten um nochmal mit Nachdruck auf die Gefahr hinzuweisen. Tatsächlich kämpfte er dagegen an, die Pfeife zum Mund zu führen. Mehrmals hob und senkte sich seine Hand vor seiner Brust und hielt das kleine Metallröhrchen dabei fest umklammert.

Ion sah das und musste darüber lächeln, aber auch er gab sich Mühe, nach außen einen anderen Ausdruck zu präsentieren. Ein Richter musste die Belange seiner Mitmenschen erst nehmen, also nahm Ion diese Nachricht ernst. „Wir werden uns die Situation gemeinsam anschauen“, erklärte er.

Natürlich waren alle Anwesenden begierig darauf zu erfahren, was hinter dem Gerücht steckte. So ging die gesamte Gruppe sofort los, das Geheimnis zu ergründen. Das geschah zwar entschlossen und gespannt, aber auch heiter und belustigt. So fielen Begriffe wie „Samuels Gespenst“ und sorgten für Witze auf dem Weg.

Ob es wirklich Gnome gab, war nicht bewiesen. Kein lebendiger Mensch hatte je einen gesehen. Allerdings soll der verstorbene Jegonowan vor vielen Jahren einem begegnet sein. Dies war jedoch weit entfernt vom Dorf geschehen, und der Gnom wurde angeblich vollständig vernichtet. Das Wesen sei direkt aus dem Boden gekommen und habe sich an den Sachen im Lager des Jägers vergriffen. Jegonowan berichtete, er hätte keinen Augenblick gezögert den Kampf aufzunehmen. Seiner Ansicht nach kam kein fremdes Wesen in guter Absicht aus dem Erdboden gekrochen um sich an den Sachen anderer Leute zu vergreifen.

Alte Geschichten stellten Gnome zwar als hilfreiche Wesen dar, aber wer wusste schon, ob das für alle galt oder nicht überhaupt schlicht und einfach eine Fehlinformation war.

Viel Wissen war verloren gegangen, nur bruchstückhaft erhalten oder lieferte auf Grund fehlender Informationen ein falsches Bild der Dinge. Den Geschichten von Gnomen, Feen und Trollen, die den Menschen einst dienlich waren, war nicht zu trauen – schließlich wusste niemand, warum sie sich dann von den Menschen abgewandt hatten.

Ein dumpfer, tiefer Knall durchschlug die Nacht und ein blaues Licht war für einen Augenblick hinter den Toren des Dorfes zu erkennen gewesen. Für die Mitglieder der Gruppe war dieser Ton nicht nur zu hören, sondern deutlich spürbar gewesen. Er schien die Luft, den Boden und ihre Körper durchdrungen zu haben. Für einen Moment wagte keiner, sich zu rühren.

Dann tönte Jubel aus einem der Wachtürme, welche Bestandteil der Dorfmauer waren, durch die Dunkelheit, und höchst alarmiert eilten der Richter, die Wachen und besorgte Dorfbewohner in Richtung des Tores. „Ihr bleibt besser hier in Sicherheit“, mahnte Ion die Dorfbewohner, die weder gerüstet noch bewaffnet waren. „Ja bestimmt“, antwortete einer von ihnen. Sein aufgeregter aber bestimmter Tonfall verriet, dass er dem überhaupt nicht zustimmte. Keiner verließ die Gruppe.

Aus dem Wachturm kam Bero heraus, ein Wächter von stattlicher Höhe und Schulterbreite, breit und triumphierend grinsend. Er hob eine Faust in den Himmel und rief: „Wir haben einen Gnom vernichtet!“

Aufgeregt kam die Gruppe näher und ein Durcheinander von Ausrufen und Fragen machte eine Klärung der Situation für eine Weile unmöglich. Auch Nerm kam aus dem Turm, ein eher kleiner und schmaler Wächter mit blassem Gesicht und langen Haaren. Er war eigentlich hauptberuflich Wissenschaftler, betätigte sich aber auch gerne als Wächter, da er dort viele Freunde hatte. Auch er wurde bestürmt.

„Warum habt Ihr das getan?“, rief Ion durch das Stimmengewirr den beiden Wächtern aus dem Turm zu. „Er kam auf unser Dorf zu“, erklärte Bero Schultern zuckend. „Wir mussten etwas tun.“

„Außerdem haben wir die Kanone aktivieren können“, jubelte Nerm. Anerkennendes Murmeln folgte seinen Worten. „Aber vermutlich nur für einen Schuss“, fügte er hinzu. Bedauerndes Murmeln folgte seinen Worten.

„Seid ihr ganz sicher, dass ihr den Gnom auch wirklich getötet habt?“, fragte Ion nach. Eifriges Kopfnicken. „Habt Ihr noch andere Gefahren identifizieren können?“, fragte er weiter. Kopfschütteln.

Fragende Blicke lagen auf dem Richter. Jeder wollte wissen, was nun zu tun sei. Und keiner wollte einfach wieder ins Bett gehen, das war Ion klar. Ein Blick in den dunklen Himmel verriet ihm, dass der Morgen noch etwas auf sich warten ließ. Er seufzte.

„Nun, wir sollten in Alarmbereitschaft gehen“, schlug er vor. „Ich kümmere mich darum, dass die Wachtürme verstärkt werden.“

Er wusste, dass seine Worte bis hierhin noch nicht befriedigend waren für seine Mitmenschen. Er spürte ihre Erwartungshaltung. Als Kind hatte er einmal eine funktionsunfähige Lichtkugel angefasst, dabei hatten sich alle seine Haare aufgestellt. So ähnlich spürte er jetzt die Blicke der Menschen um ihn herum auf sich lasten. „Alle anderen, die jetzt nicht ins Bett gehen wollen, treffen sich wieder auf dem Ratsplatz. Sorgt für Verpflegung!“

Eine stille Freude breitete sich aus. Die Angst vor Gefahr löste sich auf wie ein Schluck Wasser in einem Fluss und wich einer heiteren Aufregung und dankbarer Gelassenheit. Die Leute wollten zusammen sein und reden.

Morgen früh würde Ion sich den toten Gnom anschauen.

Die Menschen von Geroda waren immer schnell und zuverlässig, wenn es darum ging, sich gemeinsam ans Feuer zu setzen und sich bei Trank und Mahl zu amüsieren. Das konnte auch ganz spontan mitten in der Nacht passieren, stellte Ion fest. Die Feuerstelle auf dem Ratsplatz war innerhalb kürzester Zeit das Zentrum einer ausgelassenen Feier. Das halbe Dorf schien dort zu sein und hatte innerhalb kürzester Zeit Früchte, Gebäck, Eier und Fleisch wilder Tiere, Teller, Bratpfannen und Töpfe sowie Getränke herangeschafft.

Ion saß am Feuer und beobachtete aufmerksam und konzentriert das Geschehen um ihn herum. Shana war auch dort, näherte sich ihm von hinten und schob ihm Einen Teller mit Omelett und einen Becher Kaffee in die Hände. „Silberflieger“, sagte sie nur in sein Ohr und beschrieb damit, welcher Vogel die Eier gelegt hatte, aus denen sein Omelett bestand. Er lächelte sie an, dann war sie schon wieder verschwunden. Sie wusste genau, wann ihr Mann Gesellschaft brauchte, und wann er lieber in Ruhe nachdenken wollte.

Hier und da zeigte sich Besorgnis in den Gesichtern der Menschen. Auch in den lachenden. Der Gnom vor den Toren des Dorfes war nicht einfach aus den Köpfen der Bewohner verschwunden. Er war ebenso Teil der Unterhaltungen wie die alten Geschichten, die man immer wieder gerne hört, mit den Peinlichkeiten und den Ausrutschern Einzelner. Er war ebenso Teil der Unterhaltungen wie auch der neuste Dorfklatsch und die neusten Rezepte.

Im Gegensatz zu Shana wusste Bero nicht, wann Ion lieber für sich war und seinen eigenen Gedanken nachhing. Der größte und breiteste Wächter des Dorfes hatte diese Nacht eigentlich weder Wachdienst noch Bereitschaftsdienst gehabt, und so ließ er es sich nicht nehmen, mit den anderen Dorfbewohnern ausgelassen zu feiern. Da er derjenige war, der den Schuss aus der Kanone abgegeben hatte, wurde auch er von den anderen gefeiert, und er genoss es.

Wie ein Klotz ließ er sich neben den Richter fallen, dass dieser zusammenzuckte, und lachte ihn aus vollem Herzen an. Er legte seinen Arm um Ion und schüttelte ihn leicht durch, immer noch lachend. Er war bekannt für seine grobe Art, ebenso wie für seine Herzlichkeit. Bero zeigte gerne und mit Begeisterung seine raue Schale, demonstrierte mit Leidenschaft seine Kraft und Ausdauer, versteckte aber auch nicht seinen weichen Kern: Er weinte auf Hochzeiten und er liebte Kinder.

„Ich komme mit dir mit, wenn Du nachher nach dem Gnom siehst“, gab er kund. Ion lächelte. „Ich schaff das schon“, erwiderte der. Er wollte es nicht zeigen, aber eine gewisse Besorgnis hatte ihn befallen, dass dort draußen noch Gefahr lauerte. Bero nickte zustimmend und grinste. Dann, immer noch grinsend, schüttelte er den Kopf. „Ich komme mit dir“, wiederholte er. „Sag Bescheid, wenn Du gehst!“

Er wartete ab, bis Ion bestätigend genickt hatte, nickte seinerseits zufrieden und klopfte ihm kräftig auf den Rücken, dass dieser sich fast verschluckte. Dann wandte er sich Leuten zu, die hören wollten, wie er die Kanone bedient hatte.

Ion blieb jedoch nicht alleine. Der Jäger Naga setzte sich im gleichen Moment unmerklich neben ihn, als Bero gerade aufstand. Ion wirkte eher überrascht als erschrocken, als er ihn bemerkte. Er atmete tief durch, kramte dann in seinen Taschen und förderte einen Reißzahn zu Tage, so groß wie sein Daumen. Er übergab ihn Naga. Der drahtige Jäger mit himmelwärts geflochtenem Zopf begutachtete den Zahn mit einem Gesicht, das Ion an das eines Vogels erinnerte.

„Reptilion“, kommentierte er und deutete auf einen bestimmten Bereich des Zahnes. „Mit diesen winzigen Zacken hier hält er seine Beute besser fest, wenn er erst einmal rein gebissen hat und reißt damit auch das Fleisch besser auseinander.“

Er gab den Zahn wieder zurück und zog dann den Ärmel seiner Jacke hoch. „Schnell, wendig und gefährlich“, sagte er und zeigte Ion die Narben in seinem Arm, die offensichtlich von einem Reptilion stammen mussten. „Soll ich nachher mitkommen?“, frage er, während er den Ärmel wieder über seinen Arm zog. Er wechselte immer so übergangslos das Thema und benutzte gerne wenig Worte.

Er liebte es, mit Mimik und kleinen Gesten zu sprechen, statt Worte zu benutzen. Manchmal schienen bereits alleine seine Augen komplette Reden zu halten, jedoch in einem einzigen Augenblick übermittelt. Als Jäger hielt er diese Form der Kommunikation auch für praktischer, anstatt in langen Dialogen auszuführen, wie man nun in den nächsten kommenden Sekunden am besten vorgehen sollte. Der Richter zeigte auf Bero. „Der Große kommt mit.“

Naga schüttelte amüsiert und mit leicht erhobenen Augenbrauen den Kopf, nicht als wenn er etwas ablehnen wollte, sondern als wenn er fragen wollte, was das für eine Rolle spielt. Ion verstand das und lächelte.

Bevor er jedoch erneut etwas sagen konnte, stand der Jäger auf, deutete ein Achselzucken an, setzte eine harmlose Miene auf, die nur von blitzenden, wachen Augen verraten wurde, die mit einem schnellen Blick die Umgebung erfasst hatten. „Ich werde womöglich zufällig in der Nähe sein“, erklärte er unschuldig, bevor er in der Menge untertauchte.

Ion nickte ihm hinterher. Die Unterstützung seiner Freunde gab ihm Vertrauen. Er trank seinen Kaffee aus und genoss es, nun in Ruhe ins Feuer schauen zu können und seine Gedanken zu ordnen. Ein paar Leute fingen an, gemeinsam ein Lied zu singen, aber das störte ihn nicht besonders.

Schließlich ging irgendwann die Sonne auf, und leichte Nebel vor den Toren des Dorfes lösten sich in ihren Strahlen langsam auf, schienen sich zurückzuziehen in die schattigeren Gebiete. Ion und Bero waren gerüstet für einen Ausflug: Ion trug nun zu seiner Rüstung noch einen passenden Helm, während der Wächter es bevorzugte, ohne Rüstung unterwegs zu sein. Die anderen Wächter scherzten gerne darüber, dass Beros kräftige Muskeln bereits Rüstung genug waren. Beide trugen zusätzlich Umhängebeutel sowie kleinere Beutel am Gürtel mit Nahrung, Werkzeugen und Stauraum. Ion hatte sein Zepter auf dem Rücken, Bero trug einen Säbel an seiner Seite.

Ein Nebelsänger saß auf einem Wachturm und beobachtete das Geschehen. Nebelsänger waren große, bunte Vögel, die fantastisch singen und Geräusche imitieren konnten. Sie waren selten zu sehende Einzelgänger, denen man nachsagte, sich hauptsächlich in der Nähe von Nebel aufzuhalten. Diesem Nebelsänger war allerdings scheinbar nicht nach Singen zumute, er gab nur ab und zu ein leises Knacken von sich.

Neben dem Tor klappte Bero den Hebel für die manuelle Pumpe des Tores heraus und fing an, den Hebel auf und ab zu bewegen. Auf diese Weise mussten alle Schutztore bedient werden, da die Technik bei ihnen nicht mehr funktionierte. Drei winzige übereinander liegende Sichtfenster befanden sich neben der Pumpe. Sie funktionierten als eine Art Skala, die anzeigte, wie viel Druck aufgebaut war, um das Tor zu öffnen und anschließend auch wieder zu schließen. Nachdem der muskulöse Wächter ein paar Augenblicke lang gepumpt hatte, wurde das unterste Sichtfenster mit einer weißen Flüssigkeit gefüllt und zeigte somit an, dass ein Drittel des möglichen Drucks aufgebaut war. Er nickte Ion zu.

Ein Sehschlitz am Tor ließ einen beschränkten Blick nach draußen zu. Der Richter überzeugte sich davon, dass keine Gefahr auf der anderen Seite des Tores lauerte. Dann nickte er zurück.

Bero klappte den Hebel ein und zog an einem Griff gleich daneben. Das Tor schob sich zu einem Drittel auseinander, weit genug, dass Menschen durch das Tor gehen konnten. So verließen die beiden das Dorf. Auf der anderen Seite des Tores gab es die gleiche Vorrichtung. Auch hier zog Bero wieder am Griff, und das Tor schloss sich. Die weiße Flüssigkeit, die auch auf dieser Seite im untersten Sichtfenster zu sehen gewesen war, verschwand wieder.

Der Weg aus dem Dorf hinaus führte sie durch Moose, hohes Gras, Büsche und Bäume mit saftigen Blättern und vereinzelte Gedächtnissteine verschiedener Formen und Größen.

[Aerie] Gedächtnissteine sind Steine, die groß genug sind, um Platz für verschiedene Gravuren zu bieten. Diese Gravuren beinhalten wertvolles Wissen in Form von Schrift, Bildern oder beides. Auf diese Weise können wichtige Informationen langfristig bewahrt und verfügbar gemacht werden, ohne dass auf technische Hilfsmittel zurückgegriffen werden muss, um sie zu erhalten.

Verschiedene Käfer und Nagetiere gingen geschäftig ihrem Treiben nach und flohen vereinzelt, als Ion und Bero durch die Landschaft marschierten. Ein Schwarm grüner Faden-Flügler erhob sich mit rauschendem Geflatter aus den Bäumen und suchten sich eine ungestörte Umgebung.

An einer Weggabelung zeigte Bero die Richtung, in welcher er den Gnom letzte Nacht gesehen und erschossen hatte. Der Weg führte auf eine Lichtung. Atemberaubend schöne Blumen wuchsen hier in allen Farben und Größen. Manche wuchsen ohne Stiel direkt auf dem Boden, andere waren doppelt so hoch wie der große Wächter Bero.

Die Luft war erfüllt von lieblichen Düften, feinen Wolken von Pollen und dem Summen leuchtend gelber, fast kugelrunder Wiesen-Bienen. Sie hatten keine Flügel, sondern hielten sich allein durch das Bewegen ihrer langen, festen Härchen in der Luft. Einen Augenblick blieb Ion am Rand der Lichtung stehen, genoss erst den Anblick und schloss dann die Augen, nahm einen tiefen Atemzug und vergaß alles andere um sich herum.

Direkt hinter ihm stand still und unbeweglich ein Panzerbiest. Es war ebenso groß wie Ion und nochmal so breit und so lang, wie es groß war. Panzerbiester konnten sich ihrer Umgebung nahezu perfekt anpassen, sich praktisch unsichtbar machen, wenn sie regungslos verharrten. Sobald sie sich jedoch bewegten oder auch nur unruhig wurden, ließ ihre Tarnung schnell nach.

Bero war schon ein paar Schritte in die Wiese hinein gegangen. Er drehte sich gerade entspannt und mit strahlendem Gesicht zu Ion um, um etwas zu sagen, als er die Schemen hinter dem Richter sah. Dieser öffnete gerade die Augen und sah in Beros Gesicht, bemerkte seine großen erschrockenen Augen, seinen offenen Mund und den Griff zu seinem Säbel.

Das Panzerbiest hinter Ion wurde schlagartig ganz sichtbar, genau in dem Moment als dieser sich umdrehte. Aus seinem großen Panzer ragten vier mit dicken Schuppen geschützte Gliedmaßen heraus auf den Boden, und sein Kopf mit kleinen, tief sitzenden Augen streckte sich gerade nach vorne. Es riss das Maul auf und schrie Ion direkt ins Gesicht. Es war jedoch kein Schrei aus Wut oder Angriffslust, es war ein Schmerzensschrei. Unbemerkt hatte sich der Jäger Naga herangeschlichen und gerade im rechten Moment dem Biest einen Speer zwischen die Schuppen eines der hinteren Beine gerammt.

Augenblicklich trampelte das große Tier in Panik davon, wirkte dabei so ungeschickt, als liefe es zum ersten Mal so schnell. Es rannte zwischen zwei jungen, dünneren Bäumen hindurch, die jedoch zu eng beieinander standen und bei diesem Manöver beide zur Seite wegbrachen. Einen weiteren Baum wollte es einfach umrennen, doch dieser hielt stattdessen einfach stand. Benommen zum Stillstand gekommen, drehte das Panzerbiest sich ungeschickt und schwankend in eine neue Richtung, bevor es weiter davon stürmte und schließlich verschwand.

Ion schnappte nach Luft. „Der hätte mir glatt den Kopf abbeißen können“, rief er entsetzt.

Naga überprüfte bereits seinen Speer und holte ein Tuch raus, um etwas Blut von der Speerspitze abzuwischen. „Gut, dass ich gerade zufällig in der Nähe war“, sagte er nur trocken und warf scheinbar uninteressierte Blicke nach links und rechts. Wer ihn gut kannte, merkte ihm seine innere Aufregung allerdings an, denn er putzte den Speer nicht mit seiner sonst so ruhigen und ordentlichen Genauigkeit. Dann lachten erst einmal alle drei vor Erleichterung.

Dann zeigte der Jäger auf die Mitte der Lichtung. Eine wunderschöne, große Blume stand dort. Ihre Blüte war in den Himmel gerichtet und ihre leuchtend roten, fleischigen Blütenblätter standen zur Seite ab. Mehrere Wiesen-Bienen waren dabei, sich auf ihrer Blüte niederzulassen. Mit einem hörbaren Geräusch klappte die Blume plötzlich fest zu. „Schön und gefährlich ist es hier“, kommentierte Naga. „Immer achtsam bleiben.“

Sie zogen zu dritt weiter. Schließlich kamen sie in ein Gebiet hoher Gräser, Sträucher und kleiner, dicker Pilze. „Hier muss es sein“, erklärte Bero und deutete in die Graslandschaft. Allein durch Blicke und Nicken sprachen sie ab, dass Bero und Naga ausschwärmten, um die nähere Umgebung zu sichern. Ion hingegen schritt langsam und aufmerksam voran und suchte nach Spuren.

Als erstes fand er ein kleines Rädchen unter einem Strauch, knapp so groß wie sein Handteller. Er wusste nicht, was er davon halten sollte, aber er untersuchte es kurz und verstaute es dann in seinem Umhängebeutel.

Als nächstes sah er etwas im Gras liegen, das die Sonne reflektierte und so seine Aufmerksamkeit auf sich zog. Vorsichtig und langsam ging er darauf zu, nicht ohne sich mehrfach zu versichern, dass die Umgebung sicher war. Von Bero und Naga war nichts zu sehen, aber sie waren sicher nur wenige Augenblicke entfernt, würde man sie rufen.

Schließlich erkannte Ion den Gegenstand. „Ein Akku“, murmelte er ungläubig. Wieder schaute er sich um, als ob ihm jemand einen Streich spielen könnte, während er die Energie-Speicher-Einheit sorgfältig in einem Beutel verstaute.

Zu seinen Füßen erkannte er noch ein weiteres kleines Ding. Er hätte es leicht übersehen können. Mit Daumen und Zeigefinger hob er es hoch und hielt es sich vor Augen. Er wusste, was ein Schraubendreher war. Dieses Ding musste die Spitze von einem sein. Es würde mit der einen Seite genau in eine Schraube passen.

„Benutzen Gnome etwa Technik?“, fragte er sich selbst, leise und ungläubig. Er glaubte schon nicht, dass er überhaupt von Gnomen sprach. Er glaubte nicht an kleine wilde Männchen, die aus dem Nichts oder aus dem Boden auftauchten.

Dann sah der Richter die Spuren, welche die Kanone verursacht hatte. Ein zerstörter Baum, verbranntes Gras, ein Krater, überall Metallsplitter. Seine Augen weiteten sich. „Unmöglich!“

Kapitel 2: Entdecken

Der Rat des Dorfes versammelte sich in Ions Haus. Er bestand aus 6 Vertretern verschiedener Stände.

Ion war der einzige seines Standes, es gab nur einen Richter im Dorf. Bero war dort, um die Wachen zu vertreten, Naga repräsentierte die Jäger. Von den Wissenschaftlern wurde Norak gesandt: ein kleiner, dicker Mann mit kurzen, dunklen Haaren und einem Vollbart. Seine großen Augen kreisten ständig von einem zum anderen. Floria war für die Mediziner da. Sie war eine schlanke, große Frau mit hochgesteckten braunen Haaren und trug ein langes, weißes Kleid. Sie bewegte sich souverän und elegant. Man sagte ihr nach, immer gut gelaunt, und immer ruhig und konzentriert zu sein. Stellvertretend für die Handwerker war Godina anwesend, eine kräftige junge Frau mit offenen, blonden Haaren. Sie trug eine Hose, ein buntes Hemd und eine Schürze. Sie war Bäckerin.

Sie saßen alle um den Tisch im Wohnraum. Die Fundstücke lagen auf dem Tisch: Metallsplitter, ein kleines Rad, ein Akku, ein Stück Schraubendreher und ein großes Stück verbeultes und zerkratztes Metall mit der allerdings ganz deutlich lesbaren Aufschrift „Gnom 147“.

Das Staunen war groß.

„Sollte dort möglicherweise Gnom-Zerstörer stehen?“, mutmaßte Bero.

„Nein, es ist ganz klar, dass das Wort alleine an der Stelle steht. Drum herum stand nichts weiter.“, entgegnete Norak und zeigte mit dem Finger um das eingravierte Wort herum. „Es ist genug Metall da, um das sicher zu belegen. Außerdem steht eine Zahl dahinter.“

„Ist es eine Rüstung? Und was bedeutet die Zahl?“, fragte Naga. „Gibt es etwa hunderte von ihnen? Wo sind sie?“

„Und stehen die auch bald vor unserer Tür?“, ergänzte Bero besorgt.

„Wie kann es sein, dass die Gnome unsere Schrift verwenden? Können sie etwa unsere Gedächtnissteine lesen und verstehen? Und wie kamen sie bisher unbemerkt an sie heran?“, äußerte Norak seine Überlegungen.

„Bestehen Gnome vielleicht aus Technik?“, warf Godina ein, was allgemeines Murmeln verursachte.

„Kann es sein, dass die alten Geschichten vielleicht wirklich wahr sind? Dass Gnome hilfreiche Maschinen sind, die den Menschen dienen?“, sprach Floria ihre Gedanken aus.

Bero schnaubte verächtlich. Auch Naga warf ihr dafür einen Blick zu, als wäre sie nicht ernst zu nehmen. „Was war denn mit Jegonowan?“, fragte er. „Wurde er nicht von einem von denen angegriffen?“

Norak schüttelte den Kopf. „Nein, er hatte den Gnom angegriffen. Und der hatte möglicherweise nur helfen wollen, als er sich ungefragt an Jegonowans Ausrüstung vergriff.“

Bero lachte ihn dafür aus. Dann schien er einen Augenblick lang über das Gesagte nachzudenken. Und dann lachte er wieder.

„Wollt ihr nicht erst einmal etwas essen?“, fragte Shana und trat mit einem Korb voller Früchte und Nüsse in den Raum. Das fand allgemeine Zustimmung. Auch Godina hatte einen Korb mitgebracht, den sie nun dazu stellte. Er war voller süßem Gebäck, das im ganzen Dorf berühmt und beliebt war. Alle griffen beherzt zu, und für eine Weile drehten sich die Gespräche um Klatsch und Tratsch, Mode und Frisuren, Tipps und Tricks bei handwerklichen und alltäglichen Handgriffen. Das ging so lange, bis alle satt und zufrieden waren und sich den Bauch hielten.

Schließlich war das Essen vom Tisch, und nur die Hinterlassenschaften des zerstörten Gnomes lagen noch dort. Die Anwesenden schauten die Teile an und wurden still und ernst. Naga beobachtete, wie Ion sich wiederholt die Hand über den Mund strich. „Halt es nicht zurück, sag was Du denkst!“, forderte er den Richter auf. Er kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass dieser einem Gedanken nachging, der ihn sehr beschäftigte.

Ion machte den Mund auf, schüttelte den Kopf, zuckte mit den Schultern und machte eine abwertende Geste. Schließlich hielt er wieder die Hand vor den Mund. Daraufhin mussten erst einmal alle lachen, er selbst eingeschlossen.

„Seid ihr schon mal im Lagerhaus gewesen?“, fragte er. „Natürlich“, entgegnete Naga. „Wo bekämen wir sonst unsere Sachen her?“

„Ich meine, seid ihr schon mal richtig drin gewesen? Im Lager selbst? Oder habt ihr es Bofu überlassen, die Sachen für euch herauszusuchen und euch zu bringen?“, präzisierte Ion seine Frage.

„Natürlich macht Bofu das, wozu ist er denn Lagermeister?“, sagte Bero. Die anderen bestätigten diese Aussage. Keiner von ihnen war je tiefer ins Lager gegangen.

„Warum fragst Du?“, wollte Floria wissen.

Mit dem Blick auf die Überreste des Gnoms bewegte Ion schon wieder die Hand zum Mund, schmunzelte und legte sie wieder ab. Er holte tief Luft.

„Wenn wir mal davon ausgehen würden, dass Gnome mal hilfreiche Wesen waren, die Technik benutzen können - oder vielleicht sogar technische Maschinen sind...“, fing er an. Er erwartete an dieser Stelle Protest, aber alle hörten ihm zu. Also fuhr er fort.

„...dann müssten doch eigentlich auch irgendwo Gnome zu finden sein. Hier, mitten unter uns. Vielleicht wurden sie ja benutzt wie eine Art von Werkzeug, raus geholt wenn man sie brauchte.“

Godina nickte. „Und dann würde man sie im Lagerhaus aufbewahren“, schlussfolgerte sie. Ion nickte.

„Aber der Gnom kam nicht aus dem Lager!“, entgegnete Bero aufgebracht. „Er kam irgendwo von draußen!“

„Irgendwo ist ein gutes Stichwort“, knüpfte Naga an diesen Gedanken an. „Vielleicht sollten wir versuchen, herauszufinden, wo der Gnom nun tatsächlich herkam. Es sei denn“, machte er eine künstliche Pause und warf dabei einen Blick durch die Gruppe, „wir glauben alle daran, dass Gnome spurlos aus dem Nichts auftauchen.“

„Das wäre wirklich interessant“, bestätigte Nowak. „Beides!“, fügte er hinzu und schaute dabei zwischen Ion und Naga hin und her.

„Dann gehe ich noch heute los“, schlug Naga vor. „Ich nehme Morafey mit, sie kann die Übung im Spurenlesen gebrauchen. Bero, ich weiß, dass Du mitkommen willst, aber das ist ein Job für Jäger!“, kam er dem Protest des Wächters zuvor. Der machte ein langes Gesicht, zeigte aber Einsicht.

Ion nickte. „Gut, und ich werde ins Lagerhaus gehen. Ich denke, wir können den Rat für heute auflösen. Wir kommen wieder zusammen, wenn wir weitere Ergebnisse haben.“

[Aerie] Aerie ist das globale Kommunikationssystem für zeitgleiche und zeitversetzte Übertragungen von Schrift, Ton und Bild. Erweiterter Bestandteil des Systems ist eine Wissensdatenbank, in welcher bereits gesammelte Daten abgerufen und neue Erkenntnisse abgespeichert werden können.

*

Das Lagerhaus bot alle Arten von Waren, die sich langfristig aufbewahren ließen. In der langen Zeit, die nun bereits größtenteils ohne Technik vergangen war, hatten sich die Bestände stark dezimiert. Viele Produkte wurden in der fernen Vergangenheit mit technischer Hilfe produziert und ließen sich per Hand nicht nachbauen. Einige Warenbestände waren bereits aufgebraucht. Der freigewordene Platz wurde allerdings durchaus benutzt für neu hergestellte Gegenstände.

In Geroda konnte jeder Bewohner jederzeit zum Lager gehen und dem Lagermeister Bofu seinen Bedarf melden. Dieser machte sich dann auf die Suche und lieferte die Ware schließlich aus. Ein Zahlungssystem gab es nicht, ebenso wenig wie Geld oder die Notwendigkeit von Tauschhandel. Wer etwas wollte, bekam es einfach, sofern es vorhanden war und keine guten Gründe dagegen sprachen. Die Auslieferung konnte allerdings ein paar Tage dauern, denn das Lager war groß.

Das Lagerhaus sah von außen bereits groß aus. Es lag am Rande des Dorfes und machte mit seinen stabilen, hohen Wänden einen Teil der Mauer aus, welche das Dorf umgab. An der Front gab es ein großes Tor und eine kleine Tür. Diese führte zum Büro des Gebäudes.

Ion betrat das Büro in seiner Rüstung und mit seinem Zepter auf dem Rücken. Auch Beutel hatte er dabei. Lediglich auf einen Helm verzichtete er.

Zwischen Regalen und Kisten, hinter einem Schreibtisch saß der alte Bufo, bei einer Lichtkugel über ein Buch gebeugt. Er blickte auf, dabei wirkte er gelassen und geradezu teilnahmslos.

„Hallo Bofu, ich möchte das Lager besichtigen“, kam Ion gleich zur Sache. Bofu hob die Augenbrauen. „Achso?“, fragte er.

„Du hast es sicher schon gehört, es wurde ein Gnom vor dem Dorf gesichtet und erschossen. Es wurden Überreste von dem Gnom geborgen. Wir haben die Vermutung, es könne sich bei diesem Gnom um eine Art technisches Gerät handeln. Nun möchte ich gerne mal mit eigenen Augen überprüfen, ob sich in dem Lager möglicherweise auch irgendwo...“

Ion stockte. Vor kurzem noch glaubte er nicht an Gnome. Jetzt musste er feststellen, dass er das Wort bereits drei Mal in den Mund genommen hatte ohne überhaupt darüber nachzudenken, ob es Gnome gab.

„...ein Gnom befinden könnte.“, schloss er seinen Satz.