Von Zauberern und Legenden - Marten Steppat - E-Book

Von Zauberern und Legenden E-Book

Marten Steppat

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Beschreibung

Stallknecht Rufus führt ein einfaches und hartes Leben. Er findet Trost und Ablenkung darin, den ihn anvertrauten Pferden Geschichten zu erzählen. Auch der blinde alte Botmar, der eines Tages in sein Dorf kommt und sich selbst als Zauberer betitelt, liebt das Erzählen. Die Legende vom vergessenen Königreich Odal weckt in dem jungen Mann die Hoffnung auf eine bessere Zukunft ohne Mistkarren. Doch der Weg erfordert Überwindungen und Entbehrungen, einschließlich der Trennung von seiner großen Liebe. Welchen Preis ist er willig, für seine Freiheit zu zahlen? Wie erstrebenswert erscheint das Unbekannte gegenüber dem vertrauten Elend? Rufus muss sich entscheiden. Ehe er sich versieht, findet er sich in einer Welt von Zauberern, Narren und Naturgeistern wieder. Fragen quälen ihn. Welche Macht kann eine Geschichte haben? Warum Kartoffelsuppe? Und warum kennen alle seinen Namen?

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„Wenn Du etwas aussprichst, was nicht wahr ist, dann nenne ich das eine Lüge. Aber wenn Du etwas aussprichst, was erst nicht wahr ist, hinterher aber schon, dann nenne ich das eine Geschichte!“

Ratbold

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1: Wessen Mist ist das?

Kapitel 2: Wie kann man ein Königreich vergessen?

Kapitel 3: Was ist Zauberei?

Kapitel 4: Wer ist hier der Narr?

Kapitel 5: Wieviel Freiheit verträgst Du?

Kapitel 6: Wovor läufst Du weg?

Kapitel 7: Warum bist Du hier?

Kapitel 8: Wer hat Angst vor Bären?

Kapitel 9: Was ist Wirklichkeit?

Kapitel 10: Was ist Traum?

Kapitel 11: Wer ist dein Freund?

Kapitel 12: Willst Du dein Ziel wirklich erreichen?

Kapitel 13: Welches Elend ziehst Du vor?

Kapitel 14: Welchen Preis willst Du zahlen?

Kapitel 15: Wie kocht man Geschichten?

Kapitel 16: Was brauchst Du?

Kapitel 17: Warum und wofür lebst Du?

Kapitel 18: Wie stirbt man angemessen?

Kapitel 19: Was wirst Du hinterlassen?

Kapitel 20: Was kannst Du mitnehmen?

Kapitel 21: Wer bist Du, wenn Du alles verlierst?

Kapitel 1: Wessen Mist ist das?

Wenn der erste Hahn krähte, war Rufus bereits mit seiner ersten Arbeit beschäftigt. Gewissenhaft mistete er den Stall des königlichen Gestüts am Hofe aus. Anschließend striegelte der junge Bursche mit den roten Haaren die drei Pferde seiner Majestät.

Er liebte die Pferde und ging sanft und liebevoll mit ihnen um. Und sie wussten es zu schätzen, so pfleglich behandelt zu werden. Sie waren es gewohnt, wegen ihres Stammbaumes, ihrer Anmut und ihrer majestätischen Ausstrahlung bewundert zu werden. Aber Rufus liebte sie um ihrer selbst willen, und das spürten sie.

Er durfte als einziger am Hof die drei Pferde pflegen, die von seiner Majestät geritten wurden. Dies hatte er einem Zwischenfall aus seiner Kindheit zu verdanken.

In seiner frühen Jugend wollte Prinz Titianus zu einem Ausritt aufbrechen. Sein Vater, König Victor, riet ihm davon ab, da ein Unwetter aufzog. Der Prinz war aber von seinem Vorhaben nicht abzuhalten. Engstirnig begab er sich zum Stall und ließ ein Pferd satteln. Er war gerade mal aufgestiegen, als das Unwetter losbrach. Blitze und Donner machten sein Pferd scheu, das ihn abzuwerfen drohte. Niemand aus der Gefolgschaft des Prinzen konnte das Pferd bändigen, das sich in Panik aufbäumte und ausschlug. Es traute sich auch keiner so recht, sich dem wilden Tier entgegenzustellen.

Rufus jedoch, zu dem Zeitpunkt fast noch ein Kind, stürmte herbei. In dem Augenblick, in dem seine Hand das Pferd berührte, beruhigte es sich. Rufus sprach ihm gut zu, sanft und ruhig. Es zitterte noch immer vor Aufregung, doch ließ es zu, dass man ihm den jungen Reiter abnahm. Anschließend ließ es sich widerstandslos von Rufus in den Stall zurückführen.

Der König hörte davon und machte den Jungen noch am selben Tag zu seinem persönlichen Stallknecht. Rufus war damals mächtig stolz auf sich gewesen, und seine Eltern mit ihm.

Kurze Zeit später starben seine Eltern in einem Feuer, in welchem das Haus seiner Geburt und mit ihm die Häuser der gesamten Straße abbrannten. Rufus erhielt damals in der Abwesenheit des Königs vom Burgvogt eine Arbeiter-Hütte am Hof und wohnte seitdem dort.

Bei dem Gedanken an seine Eltern fasste der Stallknecht sich an sein Herz. Einen Augenblick lang schmerzte es unheimlich stark. Das tat es öfter mal, auch zwischendurch, ohne erkennbare Ursache. Seine Mutter erklärte ihm dann immer liebevoll, dass er ein zu großes Herz hätte. Aber er hatte dabei auch immer Angst und Sorge in ihren Augen erkennen können.

Jeden Tag erzählte er den Pferden Geschichten, die er sich ausdachte. Und er erzählte den edlen Rossen jeden Tag etwas anderes. Heute erzählte er ihnen, dass sie eines Tages nicht mehr als Reittiere für den König dienen müssten. Sie würden an einen neuen Besitzer übergeben werden, der sie den ganzen Tag über mit Kindern zusammen auf der Wiese spielen ließe.

Die Pferde verstanden nicht, was Rufus ihnen erzählte. Aber sie wussten zu schätzen, wie beruhigend und wohlwollend er mit ihnen sprach. Er hatte ihr vollstes Vertrauen.

Es gab acht weitere Pferde am Hof. Sie hatten einen eigenen Stall. Alfrun und Phillip hatten die Aufgabe, sich um sie zu kümmern.

Alfrun war Rufus‘ heimliche Liebe. Sie war fleißig, geschickt und schlau. Ihre braunen Haare waren stets zu ordentlichen Zöpfen geflochten. Obwohl sie stets darum bemüht war, eine saubere und gepflegte Erscheinung abzugeben, so hatte sie doch keine Scheu davor, sich auch mal die Hände schmutzig zu machen.

Rufus erinnerte sich noch gut an seinen ersten Arbeitstag. Alfrun war angewiesen worden, ihn in seine täglichen Pflichten als Stallknecht einzuweisen. Das Unwetter vom Vortag hatte die Dächer der Ställe beschädigt und es hatte die ganze Nacht hinein geregnet. Beim Ausmisten waren sie ständig ausgerutscht und in den Mist gefallen. Aber sie hatten dabei gemeinsam gelacht.

Der blonde Phillip war wenige Tage später dazu gekommen, nachdem der alte Stallknecht einem Fieber erlegen war. Der Junge liebte die Pferde, und das freute Rufus. Er interessierte sich jedoch auch für Alfrun, was Rufus gar nicht passte. Zudem hatte er weniger Geschick im Umgang mit den Tieren, war weitaus weniger fleißig und hatte es auch nicht so mit der Reinlichkeit.

Wenn Alfrun und Rufus sich über fantastische Einfälle und Ideen unterhielten, was sie gerne taten, dann verstand Philipp oft nicht die Hälfte von dem, was sie sagten. Das hielt ihn allerdings nicht davon ab, seine dazu oft unpassenden Gedanken zu äußern.

Manchmal erschienen seine Äußerungen so absurd, dass Alfrun und Rufus sich gegenseitig anschauten und lachen mussten, ohne es verhindern zu können. Dann war Philipp den ganzen Tag über schlecht gelaunt.

Bei den Erinnerungen an seine Erlebnisse mit den beiden musste Rufus lächeln.

Er verließ gerade den Stall, als er davor das Geräusch einer umstürzenden Mistkarre vernahm. Der Stallknecht wusste aus vielfacher Erfahrung ziemlich genau, wie eine umstürzende Mistkarre klang. Und so wusste er auch bereits, dass sie beladen gewesen war.

Ein alter Mann in einem langen, braunen Mantel mit einem langen Wanderstab stand neben der Karre. Er hatte einen Hut auf in der Farbe seines Mantels, unter dem schulterlange, graue Haare hervor schauten. Sein faltiges Gesicht wurde von einem kurzen, grauen Bart bedeckt.

Für Rufus hatte es so ausgesehen, als ob der alte Mann die Karre absichtlich mit seinen Stiefel umgetreten hatte.

„Was soll das denn?“, rief der junge Bursche aufgebracht und eilte zur Mistkarre. Philipp musste sie mal wieder hier abgestellt haben, um sich Arbeit zu sparen. Er wusste, dass Rufus dann oft die Arbeit übernahm, den Mist wegzufahren.

Rufus ergriff eilig die Karre und stellte sie wieder auf. Er griff zur Mistgabel und begann damit, den ausgekippten Mist wieder aufzuladen.

„Ich bin blind“, sagte der alte Mann im schroffen Tonfall. Er drehte sich zu Rufus und blickte an ihm vorbei. Seine matten Augen wirkten, als ob sich eine dünne, milchige Schicht darüber gelegt hätte.

Rufus erstarrte kurz. Sein Ärger war sofort verflogen.

„Tut mir leid“, sagte er schließlich mit ehrlichem Bedauern. „Nun, hier steht eine Mistkarre“, fügte er hinzu und deutete auf diese. Er erkannte die Sinnlosigkeit seiner Geste und fuhr schnell damit fort, den Mist wieder aufzuladen.

Der alte Mann drehte ihm den Rücken zu, stützte sich auf seinen Stab und schien sich umzusehen. Was natürlich nicht sein konnte, wenn er blind war. Vielleicht horchte er nach etwas, vermutete Rufus.

Der Stallknecht hatte den Mist wieder aufgeladen und legte die Mistgabel oben drauf.

„Was sucht Ihr denn?“, rief er dem Fremden zu.

„Ich bin blind – nicht taub“, grummelte der alte Mann, weiterhin Rufus den Rücken kehrend. Dann drehte er sich zu ihm um und schien ihn direkt anzusehen.

„Ich wollte nur mal sehen, was Du hier so treibst“, sagte er schließlich.

Rufus fühlte Unbehagen in sich aufsteigen. Nicht nur, dass ihn ein Blinder anstarrte, er sprach auch noch davon, nach ihm zu sehen.

Unbeholfen zuckte der Stallknecht mit den Schultern. „Ich lade Mist auf“, erklärte er unsicher. Er wusste wiederum um die Sinnlosigkeit seiner begleitenden Geste, aber er deutete dennoch ein weiteres Mal auf die Mistkarre.

Der alte Mann nickte wissend. „Mach nur weiter“, erwiderte er und starrte ihn weiterhin an.

Rufus presste die Lippen aufeinander und starrte kurz einfach nur auf die Mistkarre.

„Ich bin jetzt fertig“, sagte er. „Ich bringe den Mist jetzt weg.“

Der alte Mann hob belustigt die Augenbrauen und nickte langsam. Rufus war sich nicht sicher, ob er ihn verstanden hatte.

Er machte einen Schritt zur Seite und stellte fest, dass er nun nicht mehr genau im Blick des alten Mannes stand. Das erleichterte ihn irgendwie. Er hob die Mistkarre an und schaute den Fremden noch einen Augenblick lang an.

„Gut“, sagte er schließlich und fuhr die Karre zum Misthaufen und entlud sie dort.

Als er wieder zu den Ställen kam, war der alte Mann verschwunden.

Mittags machte Rufus den Abwasch am Hof.

Natürlich wusch er sich und seine Kleidung vorher im Feldbach. Er hatte bereits als Kind gelernt, dass man ein paar hinter die Ohren bekam und davon gejagt wurde, wenn man den Geruch aus dem Stall mit in die Waschecke brachte. Und später gab es dann noch Ärger dafür, dass man seine Arbeit nicht erledigt hatte.

Es war unbequem, gebeugt vor der großen Wanne zu stehen und das Geschirr mit Bürste und Lappen zu säubern. Das Wasser war kalt und stank schnell nach Essensresten. Ein riesiger Berg an Tellern und Bechern aus Ton, Holz und Horn, metallenen Pfannen, Töpfen und Geschirr stand ungeordnet neben ihm aufgestapelt. Der wackelige Stapel war jederzeit bereit zu kippen, wenn man unvorsichtig war. Natürlich hätte das schmerzhafte Strafen mit sich gebracht.

Gwenda, die Magd aus einem fernen Land mit dem langen schwarzen Zopf, der ihr fast bis zum Boden reichte, brachte ihm regelmäßig Waschkraut. Sie sprach nur wenig und gebrochen. Man sah ihr im Gesicht an, wie schwer sie arbeitete. Aber in ihr loderte ein unbeugsamer Stolz, den sie auch gerne mit einem kühnen Lächeln zur Schau stellte. Sie trug zwar die Kleidung einer gewöhnlichen Magd, aber sie strahlte das Wesen einer Prinzessin aus. Rufus bewunderte sie dafür.

Sikko passte streng darauf auf, dass der junge Knecht nicht verschwenderisch mit dem Kraut umging. Der große und schwergewichtige Mann mit der Halbglatze, dem braunen Haarkranz und dem dicken Schnurrbart hatte in seinem Leben vermutlich noch nie gelächelt. Er war hart und jähzornig. Allein das Gehen schien ihn immer schon anzustrengen, oft schnaufte er schwer dabei. Er wurde jedoch nie müde, Nackenschläge zu verteilen.

„Nimm nicht so viel von dem Waschkraut“, polterte es undeutlich und mit drohendem Tonfall aus ihm heraus, als er an Rufus vorbei ging.

„Ein bisschen muss ich schon nehmen, sonst wird es ja nicht sauber“, entgegnete der, ohne seine Arbeit zu unterbrechen. Er bereute seine Worte sogleich, aber er konnte nicht anders.

Sikko stoppte. Rufus überlegte, dass es den schweren Mann wahrscheinlich viel Energie kosten würde, sein Gewicht zu stoppen oder wieder in Gang zu bringen. Er erwartete die Strafe für seine Frechheit. Aber heute blieb der Nackenschlag aus.

„Schrubbst halt mehr“, grollte Sikko. Einen Augenblick lang starrte er dem Knecht noch in den Nacken. Dann spuckte er verächtlich ins Waschwasser und setzte sich wieder in Bewegung, um kurz darauf die Küchenmägde anzuschreien.

Rufus tat das einzige, was ihm übrig blieb: Er arbeitete weiter.

Er hörte, wie Sikko in der Küche eine Magd schlug. Wut stieg in ihm auf, aber er konnte nichts an der Situation ändern. Schlechtes Gewissen machte sich in ihm breit bei dem

Gedanken, er hätte Sikko so verärgert, dass dieser nur seinetwegen eine Magd geschlagen hätte. Er versuchte, sich noch mehr auf seine Arbeit zu konzentrieren.

Kurz darauf kam Gwenda aus der Küche zu ihm. Rufus blickte auf. Sie hatte einen deutlichen, roten Abdruck einer Hand in ihrem Gesicht. Sie lächelte gleichmütig. Ihre Augen blitzten furchtlos und in ihrem ungebrochenen Stolz auf. Fast, als hätte sie einen Kampf gewonnen.

Sie legte dem Knecht, dem der Mund erschrocken aufstand, eine Handvoll von dem Waschkraut auf die Ablage über der Wanne. Sie blinzelte ihm zu, als wollte sie ihm sagen, dass es nichts gab, für das er erschrocken schauen müsste. Ein paar Kräuter warf sie gleich in das Waschwasser. Dann strich sie sich über das Ohr, wie sie es oft tat, und verschwand wortlos wieder in der Küche, betont aufrecht, geradezu schreitend.

Rufus lächelte in seine Wanne hinein, während er sich wieder über den Abwasch her machte.

Mit einem Mal stand Alfrun neben ihm. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt, den Kopf leicht schief gelegt und eine Augenbraue hochgezogen. Rufus fühlte sich erwischt und schuldig.

„Hast Du wieder Philipps Mistkarre weggebracht?“, fragte sie im Verhör-Ton.

Rufus war erleichtert: Er hatte kurz befürchtet, sie würde ihm wegen Gwenda sauer sein.

„Ja“, gestand er.

„Lass sie doch mal stehen“, forderte Alfrun streng. „Soll Sikko ihm doch endlich beibringen, dass es nicht in Ordnung ist, seine Arbeit stehen zu lassen.“

„Ein Fremder hat die Karre umgeworfen und ausgekippt. Ich musste alles wieder aufräumen“, erklärte Rufus.

Alfrun schüttelte den Kopf und zeigte damit, dass dies für sie keine zufriedenstellende Rechtfertigung dafür war, ständig die Arbeit eines anderen zu machen.

„Das wäre doch umso besser gewesen“, entgegnete sie. „Die Strafe für Philipp wäre wohl unvergesslich gewesen.“

Nun schüttelte Rufus den Kopf.

„Die Karre stand vor meinem Stall“, klärte er sie auf. „Sikko hätte wohl als erstes mich bestraft, und erst anschließend Fragen gestellt. Wenn überhaupt.“

Alfrun gab einen Laut der Unzufriedenheit von sich.

„Da sprechen wir nochmal drüber“, sagte sie in einem Tonfall, der zum Teil gespielt drohend klang, und zum Teil ernst.

Rufus lächelte leicht und nickte.

„Und glaub nicht“, sagte sie schnippisch und mit erhobenem Kopf, „dass mir entgangen ist, wie Du mit der Küchenmagd geturtelt hast.“

Sie drehte sich um und verschwand durch die Tür. Ein erstarrter Knecht blieb zurück. Erneut hatte er das Gefühl, ertappt worden zu sein, und sich schuldig fühlen zu müssen.

Ein weiteres Mal tat Rufus das einzige, was ihm gerade übrig blieb: Er arbeitete weiter.

Als er wieder ganz in seine Arbeit vertieft war, fuhr ihm der Schreck durch alle Glieder. Der Berg an Geschirr, den er immerhin bereits um die Hälfte reduziert hatte, brach laut krachend zusammen. Teller rollten umher, Scherben lagen auf dem Boden.

Praktisch mittendrin stand der alte Mann im langen, braunen Mantel, seinen Hut auf dem Kopf und seinen Wanderstab in der Hand. Er sah nicht erschrocken aus, vielmehr entschlossen. Aufrecht stand er einfach nur da, wie ein Fels.

„Ich bin blind“, rief er, sich offenbar rechtfertigend. Es klang fast entrüstet, so als wollte er einer Schuldzuweisung zuvorkommen und sie mit aller Entschlossenheit von sich weisen.

Auf Rufus wirkte dieses Bild ein wenig, als wäre dieser Satz schon oft in dieser Art gefallen. Es erschien ihm geradezu wie eine generelle Erklärung für praktisch alles. Es kam ihm ein wenig selbstgerecht von dem alten Mann vor.

Der Knecht wollte etwas sagen, doch der alte Mann kam ihm zuvor.

„Der Geruch hat mich hierher geführt“, behauptete er. „Gibt es hier etwas zu essen?“

Die Küchenmägde kamen herbei gelaufen, um zu sehen, was passiert war.

Kapitel 2: Wie kann man ein Königreich vergessen?

Rufus war äußerst selten in der Taverne.

Er arbeite schwer für kaum mehr als das bloße Überleben. Vergnügen bestand für ihn darin, mit seinen wenigen Freunden Zeit zu verbringen. Sie hielten sich gerne draußen auf. Die Hügel, die das Dorf umgaben, boten Bäume, auf die man klettern konnte. Am See konnte man an den wärmeren Tagen schwimmen gehen, so fern König Victor nicht gerade im Schloss residierte und den See für sich beanspruchte. Sie kannten auch ein paar Höhlen, in denen sie sich gerne mal vor dem Alltag versteckten. Aber für all das war viel zu selten Zeit. Es gab immer genug Arbeit, die gemacht werden musste.

Es war nicht gerade hell in der Taverne, und es war nicht gerade sauber. Die Luft war abgestanden wie das Bier in den Krügen. Die Geräuschkulisse bestand aus Grummeln, Schimpfen, schmutzigen Witzen und Gelächter. Der Knecht kannte die Menschen hier nicht und fühlte sich fehl am Platz.

Er saß dem alten, blinden Mann gegenüber. Vor beiden stand ein Teller mit einer deftigen Mahlzeit. Der Duft des Essens stieg Rufus in die Nase. Er roch das Fleisch, die Kartoffeln und das Gemüse. Er bekam Hunger.

„Greif zu“, ermutigte ihn der alte Mann. Der Blinde fühlte nach seinem Besteck, ergriff es, lud zielsicher das Essen auf die Gabel und begann zu essen.

Rufus fürchtete, dass er heute sein gesamtes Erspartes verlieren würde, nur um mit einem Fremden eine viel zu teure Mahlzeit in einer ungemütlichen Taverne zu sich zu nehmen. Und wenn das Ersparte nicht reichen würde, dann hätte er eine Menge Ärger am Hals.

Ein Gefühl der Hilflosigkeit überfiel ihn. Er verstand immer noch nicht ganz, wie er in diese Situation gekommen war.

„Ich muss noch arbeiten“, erklärte er missmutig.

„Umso wichtiger, etwas im Magen zu haben“, entgegnete der alte Mann gleichmütig und schob sich eine weitere voll beladene Gabel ohne Bedenken in den Mund.

Rufus stimmte ihm zu. Und schließlich musste das Essen bezahlt werden, ob er es nun aß oder nicht.

Mit schlechtem Gewissen fing er an zu essen.

„Ich bin Botmar“, stellte sich der blinde, alte Mann schließlich vor.

„Ich bin Rufus“, erwiderte der Knecht.

Für eine Weile saßen sie einfach nur da und aßen.

„Ich verstehe nicht“, sagte Rufus schließlich zögerlich, „wie Ihr es geschafft habt, die Küchenmägde dazu zu bringen, den Abwasch für mich zu machen.“

Botmar lachte leise in seinen Bart.

„Wer kann schon einem blinden, alten Mann etwas abschlagen“, erklärte er mit einem schelmischen Blinzeln.

Aber er wirkte auch, als hätte er mehr auf Rufus‘ Frage antworten können. Sein bärtiges, faltiges Gesicht erschien dem Knecht verschmitzt, als würde der alte Mann darauf warten, dass Rufus selbst die Antwort findet.

„Ihr habt sie angelogen“, überlegte Rufus laut, „oder zumindest einen Scherz gemacht. Ihr habt die Damen damit verwirrt und reingelegt.“

„Nein“, entgegnete Botmar ernst und schüttelte den Kopf. „Ich habe niemanden angelogen. Ich habe auch nicht gescherzt. Und reingelegt habe ich erst recht niemanden.“

„Wollt Ihr tatsächlich behaupten, es sei wahr“, fragte der Knecht in einem besonders zweifelndem Tonfall, „dass Ihr ein Zauberer seid?“

„In gewisser Weise“, antwortete der alte Mann lächelnd. Er hatte dabei wieder seinen verschmitzten Gesichtsausdruck. „Wenn man den Begriff großzügig genug auslegt oder einfach richtig versteht.“

„Und weiterhin sagt Ihr“, fragte Rufus weiter nach, „dass Ihr auf der Suche nach weiteren Zauberern seid, die von Legenden prophezeit wurden?“

Botmar nickte nachdenklich. „So kann man es wohl ausdrücken“, erwiderte er schließlich ernster.

„Und ich soll Euch dabei helfen“, schloss der Knecht in einem Tonfall, der keinen Zweifel daran ließ, dass er nicht für einen Moment daran glauben würde, was der alte Mann behauptet hatte.

Der Blinde schaute einfach nur in seine Richtung, sowohl ein wenig belustigt, wie auch erwartungsvoll.

„Was sollten das für Legenden sein?“, fragte Rufus herausfordernd und lehnte sich vor.

„Ja, kennst Du denn nicht die Legende von dem Zauberer von Asenwald?“, rief Botmar plötzlich ungewöhnlich laut und belustigt, so als müsse doch jeder diese Legende kennen.

„Was ist das für eine Geschichte?“, fragte jemand vom Nachbartisch.

„Du kennst den Zauberer vom Asenwald auch nicht?“, fragte der alte Mann. Er schaute sehr bewusst in Rufus‘ Richtung, der die gespielte Verwunderung des Blinden sehr wohl als solche vernahm.

„Ein Zauberer?“, fragte der Tischnachbar des ersten Fragestellers. „Wo liegt denn Asenwald?“

Botmar legte seine Gabel weg.

„Hat man hier in Magan noch nie von dem geheimnisvollen Odal gehört? Der Asenwald liegt in Odal. Odal ist ein vergessenes Königreich“, erklärte er mit einer ausschweifenden Handgeste. Sein theatralischer Tonfall brachte Rufus dazu, einen leicht verdrossenen Gesichtsausdruck zu zeigen. Ein Händler mit Fellumhang stand auf, nahm seinen Bierkrug mit und stellte sich neben den Tisch von Rufus und dem alten Mann.

Dietlinde, die mit ihrem Mann Leander die Taverne leitete, lachte laut. „Wie kann man denn ein Königreich vergessen?“, fragte sie ungläubig und stemmte die Hände in die Hüften. Ihr Ausruf brachte zwei weitere neugierige Besucher der Taverne dazu, sich zu nähern.

„Es ist voller Wunder“, entgegnete Botmar weiterhin theatralisch in ihre Richtung und drehte sich dann zur anderen Seite, in den Raum hinein und fügte hinzu: „und voller Gefahren.“

Rufus schüttelte mit einem abwertenden Lächeln den Kopf. Das Gesagte war keine Antwort auf die gestellte Frage. Er schaute sich um. Dann erstarrte er und machte große Augen: Einer nach dem anderen wurde auf den alten Mann aufmerksam und zeigte Interesse. Langsam standen die Leute auf und kamen näher. Dietlindes Mann Leander kam von hinten aus der Küche, kindliche Neugier stand ihm ins Gesicht geschrieben.

„Gefahren?“, fragte der Wächter Volkhard, der gerade zur Tür herein gekommen war. Rufus kannte ihn vom Sehen. Er war der Größte im Dorf, und er war stark und furchtlos.

„Niemand geht leichtfertig in den Asenwald von Odal“, raunte Botmar, als könnte ein zu lautes Sprechen darüber bereits Gefahren heraufbeschwören. „Und niemand, der jemals in den Asenwald gegangen ist, kam wieder raus, so wie er vorher war“, fügte er mit erhobenem Zeigefinger hinzu.

Der eine oder andere atmete bei den Worten hörbar ein.

Verstohlen blickte Rufus sich um. Tatsächlich war jetzt die gesamte Menge der anwesenden Leute um seinen Tisch herum versammelt und konzentrierte sich vollständig auf den blinden, alten Mann.

„Erzähle mehr“, forderte Leander. Der Besitzer der Taverne hatte einen fremdländischen Akzent und dunkle Haut. Auch er war vor Jahren aus einem anderen Land gekommen. Aber von Odal hatte er anscheinend auch noch nicht gehört – und er war begierig, mehr darüber zu erfahren. Seine Augen leuchteten.

„Das will ich gerne tun“, sagte Botmar großmütig und nahm erst mal eine Gabel seines Essens.

Während er kaute, war es still in der Taverne. Die Leute um ihn herum warteten gespannt.

„Aber“, sagte der Bline langgezogen, „vielleicht habt Ihr zuerst einen Groschen übrig für einen armen alten Wanderer, der blind ist und ohne Begleitung durch die Wildnis gereist ist, um Euch von den Wundern und Schätzen aus dem Asenwald in Odal berichten zu können. Vielleicht auch zwei Groschen.“

Rufus fiel bei diesen Worten der Unterkiefer runter. Eben war der alte Mann ein Zauberer, dann wieder ein armer und schutzloser Wanderer. Eben noch erzählte er fremden Leuten Märchen, im nächsten Augenblick wollte er dafür auch noch Geld haben. Er lehnte sich zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und lächelte ein humorloses Lächeln. Jetzt würden die Leute anfangen, ihn zu beschimpfen.

Aber wieder fiel ihm der Unterkiefer runter: Die Leute kramten in ihren Taschen nach Geld. Das taten sie auch nicht mürrisch, als müssten sie etwas bezahlen, was sie gar nicht wollten. Nein, sie wirkten sogar begierig darauf, den alten Mann bezahlen zu dürfen.

Rufus beobachtete, wie die Münzen auf den Tisch klimperten und einen kleinen Haufen bildeten.

Mit offenem Mund und großen Augen schaute er Botmar an. Der schien zu ihm zurück zu schauen, und zwar mit einem wissenden und triumphierenden Blick. Als hatte er die Gedanken des Knechtes gelesen und dem Burschen gerade eine Lektion erteilt.

„Ich danke Euch vielmals“, sagte Botmar in einem Tonfall von Demut und Dankbarkeit. „So kann der alte Mann sich ein gutes Essen leisten.“

„Das Essen geht aufs Haus“, sagten Dietlinde und Leander gleichzeitig im entschlossenen Tonfall.

Rufus wäre fast vom Stuhl gefallen.

Kapitel 3: Was ist Zauberei?

„Ihr seid ein Blender, ein Täuscher, ein Lügner“, warf Rufus dem blinden Botmar aufgeregt vor. „Ihr habt mit nichts als Worten und Fantastereien den Leuten das Geld aus der Tasche gezogen!“

Sie hatten die Taverne verlassen und gingen auf Kopfsteinpflaster langsam in Richtung des Schlosstores. Botmar gab den Weg und die Geschwindigkeit vor. Rufus wusste überhaupt nicht, warum er den alten Mann begleitete.

Er selbst vermutete, weil er noch verwirrt war. Er hatte gesehen, wie ein alter Mann eine Geschichte erzählt hatte. Er hatte gesehen, wie die Leute ihm dafür vollkommen grundlos Geld gaben, um seine Mahlzeit davon zu bezahlen. Und er hatte gesehen, dass ihm die Mahlzeit dann auch noch geschenkt worden war. Und ihm selbst noch dazu.

Botmar schüttelte ernst den Kopf. „Nichts von alledem bin ich“, entgegnete er ernst, „und niemandem habe ich etwas aus der Tasche gezogen. Die Leute haben freiwillig und gerne etwas Geld gespendet, ohne dass sie das hätten tun müssen.“

„Ich verstehe jetzt eure Worte“, erklärte Rufus. „Wenn man den Begriff weit genug auslegt, dann seid Ihr ein Zauberer, sagt Ihr. Das nennt Ihr also Zauberei!“

Bitterkeit und Geringschätzung lagen in seiner Stimme und in seinem Blick.

Der alte Mann schien von seinen Worten nicht beeindruckt zu sein. Gelassen schritt er den Weg entlang. Sein Gesicht war heiter. Er wirkte unbeschwert.