Die Schande der Alwine Schimpfhuber - Christian Albrecht - E-Book

Die Schande der Alwine Schimpfhuber E-Book

Christian Albrecht

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Beschreibung

Im katholisch-konservativen Oberösterreich der 1960er Jahre wird die minderjährige Alwine Schimpfhuber Opfer einer Vergewaltigung. Weite Teile der Dorfbevölkerung geben ihr die Schuld, sie wird geächtet, vom Priester wird sie aus dem Religionsunterricht ausgeschlossen. Der Täter indes beichtet seine Untat gemäß dem Gebot des katholischen Glaubens seinem Dorfpfarrer, dieser gibt das ihm Anvertraute im trunkenen Halbschlaf preis. Seine Haushälterin, welche die gegrummelten Wortfetzen wohl zu deuten weiß, befindet sich in einer argen Gewissensnot. Sollte sie ihren gütigen Pfarrer bloßstellen? Alwine, die zu allem Ungemach schwanger ist, will fort aus ihrem Heimatdorf und bedrängt ihre Mutter, die sich an den jüdischen KZ-Flüchtling Alon Brunstein erinnert, der gegen Ende des Zweiten Weltkrieges von ihrer Familie vor den braunen Häschern versteckt worden war. Schweren Herzens plant sie die Umsiedlung ihrer Tochter nach Zürich, wo der einstige Kriegsgefangene in einer prunkvollen Villa am Zürichsee lebt. In der Schweiz lernt Alwine Köbi Tschopp, den Spross einer Zürcher Hoteliersfamilie, kennen. Kann sie doch noch glücklich werden und die schreckliche Vergangenheit ruhen lassen? Eine vergessene Schachtel, in der sich ein Dutzend Briefe von Alwines Mutter befinden, führen ihre Tochter Tikva auf die Spur ihrer wahren Herkunft. Alsbald fährt sie in die Steiermark, um ihren Vater zu finden. Eine tragische Familiengeschichte über drei Generationen, die mit eigenwilligen Charakteren und auch heiteren Aspekten aufzeigt, dass der Wunsch nach Rache nur selten versiegt.

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Über den Autor

Christian Albrecht ist Verlagsleiterbei einer Lokalzeitung in Zürich.

Fahrt mit der Summerauerbahn durch das Mühlviertel

Ihm war, als führe er durch ein längst vergangenes Jahrhundert – die Landschaft mit ihren Hecken, die abseits der Dörfer gelegenen Bahnhöfe mit ihren geheimnisvollen Namen wie Pregarten oder Kefermarkt, ja gar die Fahrgäste im Zug. Da wusste er, hier würde er die Geschichte, welche seit geraumer Zeit in seinem Kopf wohnte, ansiedeln.

 

Für Melanie, Valérie und Ewy

Christian Albrecht

Die Schande derAlwine Schimpfhuber

© 2016 Christian Albrecht

Umschlaggestaltung: Christian Albrecht, Corinna PodlechLektorat/Korrektorat: Corinna Podlech, Hamburg© Bildrechte Cover/Illustration: Luigi Copello, Chiavari GE, Italia

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN: 978-3-7345-1321-3 (Paperback)ISBN: 978-3-7345-1322-0 (Hardcover)ISBN: 978-3-7345-1323-7 (e-Book)

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Schande der Alwine Schimpfhuber

1. TEIL

„Die im Balkankonflikt durch Vergewaltigung geschwängerten Frauen haben nach christlicher Lehre kein Recht auf Abtreibung; vielmehr sollten sie das Geschehene als einen Akt der Liebe begreifen. Dies ist die Kernaussage der gestrigen Rede des Papstes Johannes Paul dem II …“ Tikva wechselte den Sender des Autoradios. Aus den saftlosen Boxen, welche zur Standardausstattung des VW-Polo gehörten, schlich sich der Rolling Stones-Song „Sympathy for the devil.“

„Diese weltfremde Bigotterie des Unfehlbaren ist zum Kotzen. Die Narrenfreiheit, die diesem senilen Trottel gewährt wird, ist grob fahrlässig, zumal weltweit Millionen von Christen die Botschaften des Papstes arglos aufsaugen.“

„Die päpstliche Weisung für künftige Vergewaltigungsopfer: Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, so biete ihm auch die linke dar“, spann Ueli ins Lenkrad grinsend das unfehlbare Gedankengut weiter.

„Tikva, du tust dem katholischen Glauben Unrecht. Schließlich hast du dein Leben ebensolch antiquierter Gesinnung zu verdanken“, bemerkte Martin, der quer auf dem Rücksitz lag. „Dein Glück, dass vor 26 Jahren in jener stinkkatholischen Gegend niemand auch nur auf den Gedanken gekommen ist, dich abzutreiben. Ich jedenfalls bin froh, dass es dich gibt.“ Und zur unumstößlichen Versicherung von Tikvas Existenz reckte er sich und strich ihr von hinten über ihr dichtes aschblondes Haar. Sie schüttelte seine Hand ab, indem sie sich drehte, um nun, unwirsch auf dem Beifahrersitz kniend, seine schmalzige Bemerkung zu verhöhnen: „Denn du bist mein ganzes Glück auf Erden … Warum bist du nicht deutscher Schlagersänger geworden?“

„Weder der Papst, Drafi Deutscher noch Rex Gildo dürften es leugnen“, warf Ueli, der stets um Vermittlung bemüht war, ein, „dass wir die Passhöhe erreicht haben und zur Vesperzeit in Eisenerz ankommen werden.“

Tikva, die junge Frau hebräischen Namens mit der kurzen, fleischigen Stupsnase, deren Aussehen schwerlich auf eine Jüdin hätte schließen lassen, war froh, dass Ueli an der Reise in die Steiermark teilnahm. Ueli, der lediglich Bruchstücke ihrer Geschichte kannte. So wusste der Kollege von der Uni auch nur ansatzweise um Tikvas Beweggründe für diese Exkursion nach Eisenerz. Dennoch erahnte er Ungutes; um sich jedoch die Freude auf ihre gemeinsame Reise nicht vorzeitig zu vergällen, hatte er sich wohlweislich gehütet, genauer nachzufragen. Somit verwehrte Ueli dem unterschwelligen Bodensatz, der sich bei ernsthaften, zielbewussten Unternehmungen gemeinhin bildet, dank seiner erfrischenden Unbekümmertheit die Gärung. Letztlich unterschied sich das Trio vordergründig kaum von unzähligen weiteren Jugendlichen, die während der Sommerferien den Kontinent in sämtliche Himmelsrichtungen durchquerten.

Die bleierne Hitze, die in jenen Tagen über Mitteleuropa lag, war unerträglich. Die Passstraße führte in steilen Windungen talwärts und mit jeder Serpentine schien die Temperatur um ein paar Grad zu steigen. Zudem war die Heizung des Autos defekt. Nun, genau genommen war sie nicht defekt, nein, sie lief auf vollen Touren; der Regler klemmte, sie ließ sich nicht drosseln.

Im Gesäuse, einem wilden Tal, welches die Ennstaler Alpen rigoros durchtrennt, legten die drei Reisenden einen Kaffeehalt ein. Die Sommerhitze schien der Landschaft die Farbe entzogen zu haben. Ein Schwarzweißbild ohne Grautöne: unten die schwarzen Tannen mit ihren weit ausladenden Ästen, oben die blendenden Kalksteingipfel der Hochtorgruppe.

Ueli weilte einst als Kind mit seinen Eltern – beide begeisterte Bergsteiger – während einer Woche in diesem Landstrich im Urlaub. Unterkunft hatte ihnen die Oberst-Klinke-Hütte gewährt. Jählings ward er des grobschlächtigen Hüttenwarts erinnert, eines feisten Hünen mit gezwirbeltem Schnauz, welcher in der Vorstellung des Kleinen schon bei Tage nichts weniger als den leibhaftigen Oberst Klinke verkörperte und ihm schließlich während der endlosen Nächte im voll gepferchten Matratzenlager in Furcht erregenden Träumen als blutrünstiger Schlächter erschien. Als dann zum Frühstück der Hüttenwart die großen Tee-, Milch- und Kaffeekannen auftrug, derweil sich seine Muskeln unter dem eng anliegenden Unterhemd strafften, suchte der verängstigte Knabe Zuflucht hinter seines Vaters breitem Rücken.

In Eisenerz, am Ziel ihrer Reise, ließ sich das bachnasse Trio erschöpft in die Stühle eines Straßencafés sinken. Die Rundsicht auf den pittoresken, mittelalterlichen Bergmannsplatz war großartig. Kaum hatte der Kellner die drei moussierenden Seidl Bier serviert, erkundigte sich Tikva nach einem gewissen Hubert Stögermaier.

„So lass uns doch erst mal ankommen“, monierte Martin.

„Der Hubsi zieht täglich seine Runden von Kneipe zu Kneipe – ist ja schließlich in Rente. Noch vor einer Stunde war er hier. Derzeit dürfte er draußen in der Jausenstation Oberegger an der Gerichtsgrabenstraße am Stadtausgang Richtung Präbichl sein“, erklärte der leutselige Ober.

Tikva nahm hastig einen Schluck Bier, scherte sich nicht um den Strich Schaum, der an ihrer Oberlippe klebte, legte einen Hunderter auf den Tisch, sprang auf und wandte sich zum Auto. Sie lehnte an der Türe des staubigen Golf, während ihr ungeduldig-gebietender Blick schrie: „Ich will jetzt zu Stögermaier – wir sind schließlich keine Touristen. Ich habe nicht die geringste Lust, an diesem trostlosen Ort, dessen angebliche Schönheit ich weder sehen kann noch will, Bier zu trinken. Ich will jetzt endlich Stögermaier sehen“.

Martin kapitulierte. Mit einem kurzen, entschuldigenden Blick zu Ueli hob er sein Glas und leerte es in einem Zug. Der Kellner bedankte sich für das Trinkgeld und rief ihnen nach: „Macht übrigens gschmackige Schnitzel, der Wolfgang. Ist ja schließlich auch mein Cousin“.

Sie folgten dem Verkehrsschild Präbichel-Frauenmauerhöhle, und schon nach ein paar hundert Metern erreichten sie die kleine Jausenstation.

Die Gaststube war gut besucht. Sie setzten sich an den einzigen freien Tisch in der Ecke. Martin hielt sich an die Empfehlung des mit dem Gastgeber versippten Kellners und bestellte sich ein Wienerschnitzel; Ueli entschloss sich für eine Jause. Tikva wollte nichts, sie fragte den Jausenwirt stattdessen just nach Stögermaier.

„Der Stögi war heute noch nicht hier. Ich nehme jedoch hoffnungsfroh an, dass er uns binnen der kommenden halben Stunde besuchen wird“, antwortete dieser, während er mit dem Handrücken ein paar Brotkrumen vom Tisch fegte. „Sind Sie Verwandte von Hubert?“, fragte er frank und frei, war er doch sichtlich erstaunt, dass sich jemand nach diesem zurückgezogenen Sonderling erkundigte.

Ein schwefliger Blitz durchzuckte Tikvas Augen, als wäre ihr die Galle in die Augen geschossen. Sie blieb stumm.

Martin starrte betreten auf sein Bier und Ueli warf dem Wirt, der sich bereits wieder abgewandt hatte, mit der dem Fragenden geschuldeten Höflichkeit, bar einer triftigeren Erklärung, in den Rücken: „Nicht direkt.“

Des Hubert Stögermaiers Leben bewegte sich, seitdem er im Ruhestand war, in einem kleinen, überschaubaren Kreis. Am Morgen pflegte er auszuschlafen. Danach braute er sich einen großen Braunen, den er auf seinem kleinen Balkon geräuschvoll schlürfend genoss. Dann führte er seinen Dackel, den er sich unmittelbar nach seiner Pension als Verbündeten gegen die drohende Einsamkeit angeschafft hatte, auf den nahe gelegenen Spielplatz. Dort konnte Waldi, so nannte er das verfettete Tier, ungestört sein Geschäft verrichten, denn die Kinder bevölkerten die Wiese erst am Nachmittag. Darauf begaben sich die beiden ins Gasthaus Erzberg, woselbst für wenig Geld deftige steirische Speisen gereicht wurden. Schließlich gönnte sich Hubert einen ausgedehnten Mittagsschlaf, um alsdann zur Vesperzeit mit Waldi an der Leine in gemütlichem Trott zur etwas abgelegenen Jausenstation „Wolfgang Oberegger“ zu spazieren. So suhlte sich der einstige Versicherungsagent in seinen täglich wiederkehrenden Ritualen. Ein Gefangener, gleich einem Treibholz in einer Wasserwalze.

Just als der Gastwirt die Speisen auftrug, öffnete sich die Türe und ein massiger Mann mit geölten weißen Locken betrat das Lokal. „So, da habt ihr euren Stögermaier“, sagte der Wirt halblaut mit einer leichten Kopfbewegung in Richtung des Weißgelockten, während er Ueli die Brettljause samt Kirschwasser zum Tunken auftischte. Warnend verwies er auf den scharfen Schliff des Messers, welches er zuvor hinter dem Tresen Effekt heischend über den Wetzstahl gezogen hatte. Martins platt gehämmertes Wienerschnitzel überraschte mit einer hauchdünnen Panade, die sich da und dort vom Fleisch losgesagt hatte, um ihm mit stattlichen Aufwölbungen Plastizität zu verleihen. Überdies erinnerte das Fleischstück seiner zerklüfteten Formung wegen an den Vierwaldstädtersee.

Stögermaier setzte sich direkt neben dem Eingang an einen Tisch der eben frei wurde. Den Dackel bugsierte er, indem er mit dem Außenrist nachhalf, behutsam in die Ecke. Tikva rückte ihren Stuhl etwas beiseite, um an Uelis Schulter vorbei das Gesicht dieses korpulenten, älteren Herrn studieren zu können. „Der Schnitt und die Farbe seiner Augen, die hässliche, breite Stupsnase, die Züge um den Mund“, zischelte sie Martin erregt ins Ohr, „es besteht kein Zweifel.“

„Die Ähnlichkeiten gewisser Gesichtspartien sind frappant, doch lass uns erst essen, danach gehen wir gemeinsam zu ihm an den Tisch“, riet Martin von vorschnellem Handeln ab.

Er widmete sich wieder seinem inkarnierten Vierwaldstättersee und kaute just an dem etwas gar sehnigen Gestade des Rütli, als Tikva unversehens das Messer auf Uelis Holzteller packte und schnellen Schrittes geradewegs auf Stögermaier zuging.

Kein Wort – ein Stich – ein schneller Tod.

 

26 Jahre ehedem, in einem Mühlviertler Maisfeld

Erbärmlich scheppernd verkündete die Fabrikglocke der Leinenweberei Stirnbuchser in Saumbach im oberösterreichischen Mühlkreis den Feierabend und entließ Alwine Schimpfhuber aus ihrem grautristen Gemäuer. Die knapp 16-jährige Fabrikarbeiterin verabschiedete sich von ihren Arbeitskolleginnen und machte sich mit dem Fahrrad auf den Nachhauseweg, der übers freie Feld, unterbrochen durch ein kleines Wäldchen, nach Affenschlag führte. Die Fahrrinnen des leicht ansteigenden Feldweges waren mit großen Bollensteinen durchsetzt, sodass man sich schlechtweg in einem ausgetrockneten Bachbett wähnte. Alwine lenkte ihr Fahrrad mit großem Geschick über und um die Steine, von denen sie mittlerweile jeden zu kennen glaubte, denn sie arbeitete bereits ein halbes Jahr in der Weberei. Flink wechselte sie von links nach rechts, um alsbald für einige Meter auf dem Wiesenstreif in der Wegmitte zu verharren.

In jenem trauten, von Wäldern und fruchtbaren Feldern überzogenen Landstrich, der stark kupiert und durch etliche Gräben durchschnitten, den südwestlichen Ausläufer des Granit- und Gneishochlandes der böhmischen Masse bildete, drohte die Sonne bereits hinter dem hohen Rücken des nahen Schalensteiner Bergs abzusterben. Ihre letzten Strahlen verloren sich auf dem staubigen Feldweg. Es war Freitag und im Nachbardorf war Tanz angesagt. Gewiss würde auch der Streitheimer Gerold, den Alwine vor einem guten Monat am Jubiläumskonzert der Nebenschlager Blasmusik kennengelernt hatte, zugegen sein. Freilich hatte sich Gerold, als er sie nach der Veranstaltung nach Hause begleitete und sich auf ihr Drängen hin in sicherer Distanz zum Ortseingang von ihr verabschiedete, etwas gar aufdringlich gebärdet. Gleichwohl, was ein richtiger Mann ist, der ist auch ein Draufgänger; dies hatte sie ihre Mutter oft sagen hören. Während Alwine lustvoll sinnierte, wie weit sie heute ihren Verehrer in seinen Zudringlichkeiten gewähren lassen würde, teilten sich zu ihrer Rechten die hoch stehenden Halme eines Maisfeldes. Eine kräftige Hand packte sie am Arm, zerrte sie vom Fahrrad und schleifte sie in den dunkelfeuchten Untergrund des Getreidefeldes. Schweiß, Dreck, Gestank, Gestöhne, Blut, Schmerz, Schleim, Ekel.

Der halbnackte, junge Mädchenkörper, die Hilflosigkeit, die verzweifelten Schreie, das weiße Fleisch, die zarte Haut, seine Macht, seine Dominanz über das weibliche Wesen, die starken Stöße seines steifen Gliedes in die Enge ihrer unberührten Scheide, sein heftiger Orgasmus.

Hubert Stögermaier richtete sich schwerfällig auf. Er keuchte. Ein Gemisch aus Sperma und Blut tropfte auf seine hellbeige Hose, die wulstig seine Fußgelenke umschloss. Ein lauer, unangenehmer Sommerwind spielte mit dem schleimigen Faden, der an seiner Eichel haftete. Er bückte sich und streifte sich die Unterhose über sein halb erschlafftes Glied. Nun zog er die Hose hoch und ging, ohne sich umzusehen – weshalb sollte er auch? – die wenigen Schritte zu seinem Auto, welches er zuvor im Schutze einiger kranker Tannen am Rande eines schütteren Wäldchens abgestellt hatte.

Weinend kroch Alwine aus dem Getreidefeld. Das zerrissene Kleid klebte an ihrem Körper. Ihr Gesicht glich einer Freske, eine Maske aus Erde und Blut, durch welche sich die Tränen einen Weg bahnten. Ihr Fahrrad lag mitten auf dem Feldweg. Alwine fasste ihr Gefährt beim Lenker, richtete es auf und wollte aufsteigen, doch das Brennen und Stechen im Unterleib hinderten sie daran. So ging sie zu Fuß, ihr Fahrrad stoßend, die letzten drei Kilometer nach Affenschlag. Die Sonne, Alwines einzige Zeugin, schickte sich an, diesen schändlichen Tag feigherzig zu verlassen, lediglich das bronzene Kreuz auf der Kirchturmspitze glühte in ihrem finalen, gebündelten Strahl, als Alwine Affenschlag erreichte. Die Straßen waren belebt, im Garten der Gaststätte „Zum Kirchenwirt“ ging es hoch zu und her und etliche Mädchen und Burschen machten sich bereits auf den Weg zur Tanzveranstaltung nach Nebenschlag. Einem elenden Gespenst gleich, überquerte Alwine in einem Spießrutenlauf, den sie selbst nicht gewahrte, den Dorfplatz, an welchem ihr Elternhaus lag. Die Dunkelheit im Hausflur, welche lediglich durch einen schmalen Lichtstreifen, den die offene Küchentür freigab, durchbrochen wurde, ließ sie erschauern. Es war ihre erste Empfindung, seitdem sie aus dem Maisfeld gekrochen war. Ihre Eltern saßen mit Alwines jüngeren Brüdern in der Küche beim Abendbrot. Der Vater, erst eben von der Arbeit nach Hause gekommen, thronte wie gewohnt an der Stirnseite des Tisches und bemerkte seine Tochter als erster im grellen Kegel des von der Küche austretenden Lichtes.

„Alwine, wie kommst du denn daher?“, entfuhr es ihm, indem er Partikel des Wurst-Brotgemischs, welches er mit seinen kräftigen Zähnen zermalmt hatte, quer über den Küchentisch spie. Die Mutter schoss vom Tisch auf, sah ihre Tochter und realisierte kraft ihrer weiblichen Eingebung augenblicklich, was Alwine widerfahren war. Sie schloss die Küchentür hinter sich, umarmte ihr Kind und führte sie ins Bad, währenddessen der Vater, außer Stande die Geschehnisse zu deuten, am Küchentisch die Familienehre beschwor.

Die Mutter duschte, wusch Alwine und versorgte ihre äußerlichen Wunden. Sie sprachen kein Wort. Sie führte Alwine auf ihr Zimmer, zog ihr das Nachthemd an und blieb während der ganzen Nacht an der Seite ihrer Tochter, welche kaum Schlaf fand. Immerfort spielte sich dieselbe Szene ab: Die sich teilenden Maisstauden, die massige, gesichtslose Gestalt, der feste Griff um ihren Arm. Der Traumfilm wurde von Mal zu Mal deutlicher, er peinigte die Träumende mit den abscheulichsten Details, und Mitternacht war längst vorbei, als ihr Schänder ein Gesicht erhielt: das Gesicht ihres Vaters. Sie schrie: „Vater“ und fiel endlich in einen tiefen Schlaf.

 

Stammtischrunde in der Gaststätte Zum Kirchenwirt

Schwungvoll trug Karl Schafgartner, der Kirchenwirt in dritter Generation, am Stammtisch drei fachmännisch gezapfte Halbliter Bier auf. Durch das gewollt unsanfte Aufsetzen der Krüge überschäumte das obergärige Gebräu, und einem Lavastrom gleich, kroch der steife Schaum schwerflüssig die Außenwand der Biergläser hinab, um sich auf dem grob gewobenen, dreckiggrünen Tischtuch zu verlieren. Schnurstracks ergriff der Wirt den Ausreibfetzen, der am Riemen seiner speckigen Lederschürze bammelte und suchte damit die Schaumkronen auf der Tischdecke aufzutupfen. Da jedoch das dicke Gewebe den Schaum unverzüglich aufsog, war diese Tupferei längst zu einem symbolischen Akt verkommen, an welchem sich nicht wenige seiner Gäste im Stillen ergötzten.

Eine knappe Stunde war vergangen, seit Alwine in ihrem zerrissenen Kleid, die Ellenbogen auf den Lenker gestützt, den Dorfplatz überquert hatte, und bereits war das Vorkommnis in aller Munde.

„Der Apfel fällt halt nicht weit vom Stamm, deshalb verwundert es mich nicht, dass die Tochter der Schimpfhuber Frieda ein Flittchen ist“, bemerkte Metzgermeister Franz Gamsbichler nach dem ersten Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe.

Sein Gegenüber, der Kommerzialrat Sepp Rumpfhuber, ein Mann von Geist und Anstand entgegnete: „Franz, bevor du nicht präzis weißt, was da geschehen ist, solltest du mit solchen Aussagen vorsichtig sein.“

„Mich brauchst du nicht zu belehren, hat doch ihre Mutter früher sämtlichen Männern im Dorf den Kopf verdreht.“

Tatsächlich war Frieda in ihrer Jugend das aufregendste Mädchen von ganz Affenschlag. Mit ihrem prächtig gelockten schwarzen Haar, den unergründlichen dunklen Augen und ihrem verführerischen Körper, gereichte sie den pummeligen bleichblonden Landpomeranzen zu einem exotischen Gegensatz und war schlicht die begehrteste junge Frau im Dorf.

„Doch durch ihr reserviertes, mitunter gar abweisendes Gehabe“, entgegnete Rumpfhuber, „erstickte sie so manche Träume freiender Burschen im Keim, welche wiederum ihre erlittene Schmach akkurat durch solch üble Nachrede, wie von dir eben geäußert, jämmerlich zu tilgen versuchten.“

Während all dieses Stammtischgeredes pflegte sich der Kirchenwirt, an der Theke lehnend, still im Hintergrund zu halten. Er hatte, wie ein tätowierter Anker an seinem linken Oberarm erahnen ließ, in jungen Jahren als Schiffskoch gearbeitet und unter deutscher Flagge sämtliche Weltmeere durchkreuzt. Nach jenen wilden Zeiten kehrte er zurück in den elterlichen Betrieb und schickte sich nach anfänglicher Auflehnung in den vorgegebenen gemächlichen Trott dieser unspektakulären provinziellen Dorfkneipe. Gemäß seiner gemessenen Art lag ihm nichts ferner, als an dem Dorfgeschwätz seiner Kunden teilzuhaben.

Gamsbichler, der sich durch Rumpfhubers Darlegung persönlich getroffen fühlte – buhlte doch auch er einst erfolglos um die Gunst der unnahbaren Schönen –, wollte mit hochrotem Kopf just zu einer Antwort anheben, als sich Gustav Schimpfhuber zur Runde gesellte. Jener, der in der Küche zurückgelassen, eine Weile dumpf schweigend am Tisch gesessen hatte, um alsdann seine Buben auf ihr Zimmer zu schicken. Danach verließ er ohnmächtig und durstig sein Haus, um wie jeden Abend beim „Kirchenwirt“ einzukehren. Betretene Ruhe herrschte am Tisch, selbst der stets Wort gewandte Kommerzialrat wusste nichts zu sagen, und Gamsbichler half sich mit einem kräftigen Schluck Bier.

Erst der Wirt vermochte die Beklemmung zu lösen, indem er eine Runde frisches Bier, begleitet von einem doppelten Obstler, servierte. „Der wird dir jetzt gut bekommen“, sagte er, als er den Schnaps vor Gustav hinstellte.

„Weiß man schon, was genau geschehen ist?“, erkundigte sich der Tischler Johann Scheinpflug.

Gustav leerte den Schnaps in einem Zug. „Das wüßt' ich auch gerne. Das Kind kam in einem fürchterlichen Zustand nach Hause, hat nichts gesagt und Frieda ging sogleich mit ihr aufs Zimmer.“

„Sie ist doch wohl nicht vergewaltigt worden?“, fragte der Metzgermeister. „Ich sag halt, es gehören immer zwei dazu“, dozierte er und ließ seinen Blick – überzeugt, mit seiner Plattitüde den Kern der Weisheit getroffen zu haben – selbstgefällig von Mann zu Mann gleiten.

Rumpfhuber bedachte ihn mit einem scharfen Blick: „So red' doch nicht so saublöd daher. Es gibt leider immer wieder solche Sittenstrolche, die sich an jungen Mädchen vergehen. Du erinnerst dich sicher an den Fall Schaumberger vom vergangenen Jahr; da war die Sachlage wohl klar.“

Just in diesem Augenblick trat Hubert Stögermaier, Versicherungsinspektor aus Ottenkirchen, an den Tisch. Der eingefleischte Junggeselle pflegte sein Feierabendbier seit geraumer Zeit beim Kirchenwirt zu trinken, da das „Ottenkircher Stüberl“ seit gut zwei Jahren in neuem Besitz war, nun „Pizzeria del Golfo“ hieß und er dort, in jenem südländischen Ambiente, mit Rücken marternden Stabellen in Reih und Glied und obendrein mit unsachgemäß gezapftem Bier, keine Heimat mehr fand. Auch beim „Huberwirt“, dem anderen Gasthof im Dorf, mochte Stögermaier seit anderthalb Jahren nicht mehr einkehren. Dies hatte sich wie folgt ergeben: Während der Faschingszeit hatte er in bierfröhlicher Runde der attraktiven slowakischen Serviererin aus Bratislava, als sie sich über den Tisch lehnte, um ihm sein Bier zu servieren, mit seinen Wurstfingern an die Brüste gegriffen. Die junge Frau fackelte nicht lange und verpasste dem lüsternen Hubert eine tüchtige Watschen. Der Wirt stellte Stögermaier kurzerhand vor die Tür, worauf die übrigen Gäste am Stammtisch für Hubert strammstanden. Mit Aussagen wie: „Wenn man das nicht mehr darf“, oder, „Die hat's mit ihrem freizügigen Ausschnitt geradezu herausgefordert“, stellten sie sich ebenso entschlossen wie überzeugt hinter ihren Kollegen. Dem Frieden, vor allem aber dem Geschäft zuliebe, kündigte der Wirt schweren Herzens seiner impulsiven Angestellten, welche bis zu jenem Eklat die männlichen Gäste aus der gesamten Umgebung geradezu magnetisch angezogen hatte und bei wenig Lohn für guten Umsatz besorgt war. Für Hubert war es wohl eine Genugtuung, dass „dies ordinäre Slawenweib wieder über die Grenz' zurückgschickt wurde.“ Doch sein nachhaltig gekränktes Gemüt verwehrte es ihm, jemals wieder einen Fuß über die Schwelle besagter Gaststätte zu setzen.

„Bist an deinem Bürostuhl kleben geblieben, dass erst so spät kommst“, witzelte der Wirt kumpelhaft, als er das Bier vor Hubert hinstellte.

Sichtlich ungehalten rechtfertigte sich Hubert, der tatsächlich hinter der Zeit war: „Ich führte in Schalenstein mit einem Klienten ein Verkaufsgespräch, welches sich hinzog.“

„Hast du schon vom Unglück, welches Gustavs Tochter widerfahren ist, gehört?“, fragte Rumpfhuber den Versicherungsagenten, der sich soeben einen ersten tüchtigen Schluck Bier gönnte.

„Nein, wie sollte ich auch, ich war ja wie gesagt vor einer halben Stunde noch in Schalenstein.“

Nun schilderten seine Stammtischkumpel das Geschehene, zumindest gefielen sie sich in ihren Mutmaßungen, jeder nach seiner willkürlichen Interpretation, wobei Rumpfhuber sich redlich bemühte, den allzu haarsträubenden Spekulationen aus Rücksicht auf Alwines Vater, welcher stumm und niedergeschlagen das Gerede kaum wahrzunehmen schien, die Spitzen zu brechen. Um acht Uhr machte der Wirt nach einer letzten Runde Obstler Feierabend, da ein Großteil seiner Kunden ohnehin zur Tanzveranstaltung ins Nachbardorf aufgebrochen war. Die Gesellschaft verließ den Gasthof, verabschiedete sich auf der Straße und ein jeder ging seines Weges.

Im Morgengrauen saß Frieda Schimpfhuber noch immer an Alwines Bettkante. „Vater! Wieso, um Himmels Willen, hat Alwine Vater geschrieen?“, ging es ihr immer wieder durch den Kopf. „Sollte Gustav seine eigene Tochter missbraucht haben?“ Erschöpft legte sie sich neben Alwine, die an die Wand gepresst, nun tief zu schlafen schien. Frieda weinte still. Die aufsässigen Gedankenfäden der Nacht, welche den Verdacht gegen ihren Mann unerbittlich zu zementierten schienen, ließen sie keinen Schlaf finden. Jählings erschienen ihr Zeichen von Gustavs Triebhaftigkeit, Zeugnisse seiner Gewalttätigkeit.

Ein beschämendes Geschehnis, welches sich einige Jahre bevor sie den stämmigen Jungturner an den Bezirksgerätemeisterschaften kennen gelernt hatte, zutrug, wusste sie stets zu verdrängen. Doch nun schob sich diese längst eingemottete, unangenehme Geschichte in den Mittelpunkt ihrer Gedanken. In jener Nacht bildeten sich Zweifel zu Tatsachen aus, geriet der längst Rehabilitierte zum ruchlosen Täter, die fußfällig verblendete Sichtweise der einstigen Verliebten gab einer nicht minder verblendeten, anklagenden Auslegung Raum.

 

Ausbruch aus der Hölle

Die Nacht zum 2. Februar 1945 war eisig kalt. Der Zweite Weltkrieg sollte keine hundert Tage mehr dauern. Im Todesblock 20 des KZs Mauthausen, südöstlich von Linz, herrschte vollständige Dunkelheit. Gut 500 sowjetische Kriegsgefangene lagen frierend, eng zusammengepfercht auf ihren Lagern. Lediglich das Wimmern einiger Verletzter und die gelegentlichen Schreie derjenigen, denen im Dunkel der Nacht die erlittenen Schikanen und Qualen des vergangenen Tages gleich einem Film in Endlosschlaufe erbarmungslos wiedergegeben wurden, durchbrachen zuweilen die Ruhe. Wieder eine Nacht, wieder diese unsägliche Hoffnungslosigkeit.

Alon Brunsteins und Jewgenij Naryschkins knochige Hände fanden sich stumm und drucklos, um ihr ebenso wahnwitziges wie minuziös geplantes Vorhaben, den Ausbruch aus dieser lähmenden Ausweglosigkeit, zu besiegeln. Nur ein kleiner Kreis rund um Alon und Jewgenij wusste zunächst um diesen Plan. Erst kurz vor der Durchführung wurden sämtliche Insassen des Todesblocks in das verwegene Vorhaben eingeweiht. Und obgleich die Kunde vom baldigen Ende des Krieges über gewundene Pfade bis zu diesen abgeschotteten Häftlingen drang, gab sich kaum einer falschen Illusionen hin: Sobald die Einnahme des KZ durch die Alliierten bevorstünde – hierbei bestand kein Zweifel – würde das Lager gesäubert. Die Gefangenen würden allesamt hingerichtet werden. Deshalb war die große Mehrheit entschlossen, diese kümmerliche Chance möglichst bald zu nutzen, denn man trifft den richtigen Zeitpunkt selten, indem man ihn hinausschiebt. Es gab ohnehin keine Alternative.

Um zwei Uhr in der Früh griff Alon Brunstein mit dem Feuerlöscher der Baracke, gefolgt von einer Gruppe, welche noch einigermaßen bei Kräften war und sich mit Holzschuhen sowie mit weiteren potentiellen Wurfgeschossen bewaffnet hatte, die Nachtwache an. Hinter den erfolgreichen Angreifern folgte eine zweite Welle, welche, angeführt von Jewgenij Naryschkin, mit feuchten Decken den elektrischen Zaun kurzschloss.

Unverzüglich ertönten die Alarmsirenen. In Windeseile wurden die Posten der überwältigten Wachen neu besetzt. SS-Rottenführer Hellfried Schweingartner, seit einem knappen Jahr stellvertretender Lagerleiter, kletterte noch ein wenig schlaftrunken auf einen der Wachtürme. Auf dem Posten angekommen sah er im grellen Scheinwerferlicht, wie ein Strom hunderter Häftlinge einer breiigen Masse gleich die Mauer überstieg, um mit einem Sprung in den kalten Schnee in eine dünne, schutzlose Freiheit zu gelangen. Für manche der Ausbrecher endete der neue Status ehe er wahrgenommen wurde, im Kugelhagel der Maschinengewehre Schweingartners und seiner Kameraden. Die Mauer selbst war von den Scheinwerfern grell ausgeleuchtet und es stellte für den mittlerweile hellwachen Rottenführer eine sportliche Verlockung dar, Häftlinge, die soeben unter größter Anstrengung die Mauer erklommen hatten und sich zum Sprung aus ihrer Gefangenschaft vorbereiteten, mit einem gezielten Schuss abzuknallen. Jenseits der Mauer waren die Ausbrecher lediglich als ein dunkler Schwarm erkennbar, in welchen aus den Gewehren der Wachen blind geschossen wurde. Eines dieser Geschosse traf Jewgenij Naryschkin in die linke Kniekehle. Trotz teuflischer Schmerzen vermochte der junge sowjetische Soldat in den angrenzenden, Deckung gewährenden Wald zu entkommen.

Die knapp 300 Häftlinge, welche den Maschinengewehrgarben der Wächter entgingen, irrten nun durch den stockdunklen Mauthauser Forst. Die überwiegende Mehrheit lief in größeren oder kleinen Gruppen, welche sich in der Folge mehr und mehr zersplitterten, wohl durch heimatlichen Instinkt geleitet, Richtung Osten. Dutzende Angeschossene und Entkräftete brachen nach wenigen Metern zusammen, um auf dem gefrorenen Waldboden dem Ende ihrer Qualen durch einen stillen Tod zu begegnen.

Ein Stunde war seit der Massenflucht vergangen. Jewgenij Naryschkin kam trotz dem schwächenden hohen Blutverlust gut voran. Er ging alleine auf schmalen, teils unwegsamen Pfaden streng nordwärts, so wie er es mit Alon zuvor abgesprochen hatte. Urplötzlich knackte es im Unterholz hinter ihm. Erschreckt drehte er sich um und nahm eine Gestalt wahr, die sich ihm zügigen Schrittes näherte. Erst als diese dicht vor ihm stand, erkannte er Alon. Die beiden Freunde umarmten sich kurz und gingen weiter. Während Jewgenij seine Geschichte des Ausbruchs erzählte, bemerkte Alon dessen zerfetzte Sträflingshose. Mit dem Ärmel seines Hemdes verband Alon die Wunde notdürftig. Das Projektil, welches tief im Fleisch stak, vermochte er ohne die dazu erforderlichen Instrumente nicht zu entfernen. So zogen sie etwa eine Stunde durch die bittere Kälte, ehe sie sich völlig entkräftet im dichten Unterholz, wo kein Schnee lag, der verräterische Fußspuren hinterlassen hätte, aus Tannenzweigen ein dürftiges Nachtlager errichteten.

Sie hatten noch keine zehn Minuten in beklemmender Ruhe auf ihrer Liegestatt verharrt, als sie vom nahen Weg das Brechen von hartem Schnee wahrnahmen. Für den Bruchteil einer Sekunde wurden sie von einem grellen Lichtkegel gestreift. Nun waren die Schritte ganz nah, es mochten keine zehn Meter sein. Jewgenij klammerte sich an Alon und biss sich in den Ärmel seines Hemdes. Das Knirschen wurde wieder leiser, man schien sie nicht entdeckt zu haben. Nun aber verstummten die Schritte vollends und sie hörten, wie zwei Männer leise miteinander sprachen. Die eine Stimme, dies offenbarte sich selbst im Flüsterton, war das metallene Organ von Sturmmann Anton Eisengruber, der im Lager als „eiserner Anton“ gefürchtet war. Alon reckte seinen Hals und sah durch den Reisigverhau schemenhaft zwei dunkle Gestalten, die soeben auf getrennten Wegen weitermarschierten.

Jewgenij zitterte noch am ganzen Körper, als die beiden Schergen längst davongezogen waren. Es war ein Zittern der Angst wie auch der starken Unterkühlung. Alon massierte seinen Freund mit seinen klammen Fingern an Brust und Händen.

„Jewgenij“, flüsterte er ihm hierbei ins Ohr, um ihn etwas abzulenken, „wenn wir aus diesem Inferno rauskommen, werden wir in der Heimat ein Geschäft aufbauen. Ich weiß noch nicht welcherart, doch ich bin mir sicher, dass wir zusammen bleiben, zu Wohlstand kommen und dereinst eigene Familien gründen werden.“

Alons therapeutisches Fabulieren wurde unversehens durch zwei Schüsse, die kurz hintereinander abgegeben durch den Wald hallten, beendet. Zwei Schüsse nur – gegenüber Dutzenden, als sie über die Mauer des KZ geklettert waren. Maschinengewehrsalven, welche sie dazumal, konzentriert auf den Ausbruch, kaum wahrgenommen hatten. Und nun diese beiden Schüsse, welche sie konsterniert und in absoluter Stille erstarren ließen.

Nach ein paar Stunden der frostigen Ruhe besprachen sich die beiden Fluchtgefährten. Vielmehr war es Alon, der befand, dass Jewgenij zu schwach sei, um weiterzugehen, und dass es daher wohl das Beste sei, wenn er, Alon, sich nun auf den Weg mache, um Hilfe zu holen. Er könne sich die Stelle wohl merken und werde binnen ein paar Stunden zurück sein. Mit einer innigen Umarmung erstickte Alon Jewgenijs Versuch einer Entgegnung, und schon kehrte ihm der Freund den Rücken zu und zog, sich einen Weg durch das dichte Unterholz bahnend, von dannen.

Der Zurückgelassene ließ sich in elender Hoffnungslosigkeit inmitten des endlosen Waldes nordwestlich von Mauthausen auf den Haufen Tannenreisige sinken, unfähig zu schreien, außerstande zu weinen. Hilfe – woher denn inmitten des Feindeslandes? Doch alsbald verspürte er den unbändigen Willen sich zu retten, sich gegen die Resignation aufzulehnen. Er richtete sich auf, suchte auf dem Waldboden nach einem starken, geraden Ast mit Gabelung, der ihm als Krücke dienen sollte und humpelte seinem Kameraden, wenn auch nicht schnell, doch zumindest weitgehend schmerzfrei, nach. Allein sein Fluchtgefährte war längst außer Sicht- und Rufweite.

An jener Weggabelung, an welcher sich die beiden Häscher getrennt hatten, wählte Alon die Mitte. Er kam auf dem nun lichteren Waldboden gut voran. So ging er etwa eine Stunde. Mittlerweile standen die Bäume weniger dicht und ließen Alon auf das baldige Ende dieses großen, dunklen Forstes hoffen. Und wahrhaftig, nach einigen weiteren Kilometern erreichte er den Waldrand. Im diesigen Licht des allmählich erwachenden Tages gewahrte er ein abgelegenes Bauerngehöft, welches sich direkt an den Wald anschloss. Er hielt sich im Schutze von Haselstauden, die flankiert von Hundsrosen und Schlehdorn den Waldrand säumten, und beobachtete das stille Gehöft, welches aus den morgendlichen Bodennebelschwaden ragte. Erschöpft beschloss er in diesem Versteck auszuharren, bis sich auf dem Hof etwas regen würde.

Alon dachte an seine Jugendzeit in Leningrad. Als einziger Sohn eines deutschstämmigen Juden und einer russischen Jüdin wuchs er in ländlicher Umgebung am Stadtrand von Leningrad in einem kleinen Haus, welches inmitten eines großen geheimnisvollen Gartens lag, auf. Seine Mutter arbeitete als Sprachlehrerin am Leningrader Gymnasium, bis sie zur Frühlingszeit des Jahres 1941 ihre sprachlichen Fähigkeiten als Dolmetscherin in den Dienst der sowjetischen Armee zu stellen gedrängt wurde. Im Sommer desselben Jahres geriet sie während der Großoffensive der deutschen Wehrmacht bei Kiew in Gefangenschaft und wurde nach Auschwitz deportiert. Alons Vater, ein bedeutender Physiker, verließ daraufhin das Haus, den geheimnisvollen Garten und seinen Sohn, um sich der Partisanenbewegung anzuschließen, und fiel wenig später im Kampf gegen die Armee seiner Vorfahren an der Front bei Rostow.

Der Knabe blieb allein zurück. Er hatte ein Zuhause, er hatte Geld und im Keller waren Berge von Notvorrat gebunkert; dafür hatte sein Vater, bevor er in den Krieg zog, gesorgt. In jener Zeit der Wirrnisse, welche ihm seine Eltern raubten, besuchte er weiterhin das Gymnasium und abends, in den langen Nächten und an den Wochenenden vertiefte er sich in die Fachbücher seines Vaters, welche die bis zur Decke reichenden Bücherregale an sämtlichen vier Wänden des Arbeitszimmers bis zum Bersten füllten und denen er schon seit seiner frühen Jugendzeit nicht widerstehen konnte. So stellte er sich auf ein tristes, eremitisches Ausharren in seinem Elternhaus am Stadtrand von Leningrad ein.

Doch kaum hatte ihn sein Vater verlassen, verliebte sich der 17-jährige Alon in Olga, die im Hafenquartier mit ihrer Mutter eine Garküche betrieb, wo einfachen Leuten ebensolche Speisen zubereitet wurden. Die Nächte waren hell und lau im geheimnisvollen Garten und erfüllten das glühende Verlangen der freudlosen Kriegskinder nach Zärtlichkeit.

Doch das kleine Glück mit Olga sollte nicht lange währen.

In den ersten Septembertagen wurde die Stadt von der deutschen Wehrmacht bombardiert und hernach durch einen Blockadenring von der Versorgung mit Lebensmitteln weitgehend abgeschnitten. Die Stadt hungerte, die Esswaren wurden rationiert. Im November wurde eine Eisstraße durch den zugefrorenen Ladogasee gebrochen. Die Nahrungsmittel, welche nun auf diesem Weg nach Leningrad gelangten, reichten jedoch bei weitem nicht aus, um die hungernde Bevölkerung der eingeschlossenen Stadt zu versorgen. Zudem wurden die Lastkähne von der deutschen Luftwaffe beschossen, wobei nicht wenige kenterten, um letztlich ihre wertvolle Ladung dem eisigen Wasser des gigantischen Sees zu überlassen.

Dank der Voraussicht seines Vaters hatte Alon keinen Hunger zu leiden. Während in den Wintermonaten Zehntausende Stadtbewohner verhungerten, war es ihm gar möglich, Olga und ihre Mutter mit den Konserven aus seinem Keller versorgen.

Im folgenden Frühjahr beschloss Alon, aus der belagerten Stadt auszubrechen. Auch Olga sollte seinem Plan gemäß mit ihm gehen, doch sie weigerte sich unter Tränen ihre Mutter alleine zurückzulassen.

Alon überließ Olga die Schlüssel seines Hauses und damit den Zugang zu seinen immer noch erheblichen Vorräten an Nahrungsmitteln.

Am Nachmittag des 3. März 1942 fand Alon Unterschlupf auf einem der Lastkähne, welche auf der Eisstraße den Ladogasee querten.

Er hatte kaum einen Fuß auf das östliche Ufer des Sees gesetzt, als er für das Militär angeheuert wurde; denn die Sowjetarmee mobilisierte eifrig weitere Truppen für den Kampf gegen die faschistischen Aggressoren. Er wurde in eine Kompanie eingeteilt, die sich mehrheitlich aus udmurtischen Bauern sowie einigen kalmückischen Nomaden und Fischern rekrutierte, deren Wesensart ihm fremd war und deren Rede er nicht folgen konnte.

Nachdem sich Alon als furchtloser Soldat in verschiedenen Gefechten der Sowjetarmee geschlagen hatte und lediglich einmal geringfügig verletzt wurde, beteiligte er sich in einer rückwärtigen Truppe an der Schlacht im Kursker Bogen und an der geplanten Zerschlagung der deutschen Panzerbrigade. In den Wirren jenes Gefechts geriet er in deutsche Gefangenschaft und arbeitete in der Folge auf einer wahrhaftigen Odyssee durch halb Europa in verschiedensten Lagern.

Seine fundierten Kenntnisse der Physik blieben den Nazis nicht verborgen. Der junge Russe wurde in der Forschung eingesetzt, woselbst er seine Fähigkeiten bei der Entwicklung verschiedener Waffen und Massenvernichtungsgeräten einzubringen genötigt wurde. Die Annehmlichkeiten der wesentlich humaneren Behandlung, die ihm durch seine Sonderstellung zuteilwurde – in Steyr, einem Nebenlager von Mauthausen, schlief er gar in einem Einzelzimmer –, vermochten Alons immer wieder aufkommende Skrupel, ein Handlanger des Feindes zu sein, zu verdrängen. Kurzum, er hielt sich strikt an die gängige Überlebensstrategie, nach welcher sich jeder selbst der Nächste ist.

Schließlich öffnete sich die Haustür des Bauernhofs und eine junge Frau kam, ein Körbchen in der Hand haltend, auf den Hühnerstall zu, der dicht am Waldrand lag, direkt vor Alons Versteck. Sie öffnete die hölzerne Verriegelung des Verschlags und schickte sich an, begleitet vom Gegacker der Hühner, die Eier einzusammeln. Augenblicklich kehrte Alons Aufmerksamkeit zurück, denn er war sich wohl bewusst, dass sich ihm hier eine einmalige Gelegenheit offenbarte. Er kroch aus dem Gebüsch und ging behände auf den Stall zu. Da ihm in jungen Jahren die Muttersprache seines Vaters beigebracht wurde, sprach er in leidlichem Deutsch: „Guten Tag junge Dame, mein Name ist Alon Brunstein, ich bin ein sowjetischer Kriegsflüchtling.“

Erschreckt drehte sich das Mädchen um und gewahrte den großen, spindeldürren Soldaten in seiner verschmutzten, zerschlissenen Sträflingskleidung. Sie wich in die hinterste Ecke des Stalls zurück, eher aufgeregt denn erschreckt, jedenfalls außerstande, sich ihrerseits vorzustellen.

„Ich möchte Ihnen keinen Ärger machen, ich bitte Sie lediglich um etwas Brot zur Stärkung“, sprach er in ruhigem Ton und prägnantem russischen Akzent.

Alons angenehme Stimme, seine flehenden dunklen Augen sowie sein unaufdringliches Auftreten ließen die anfängliche Angst der jungen Frau schwinden: „Mein Name ist Frieda Duschlbauer. Warten Sie hier im Stall, ich komme gleich zurück“, sagte sie mit wiedererlangter, jugendlicher Unbekümmertheit und kehrte, indem sie Alon im Hühnerstall einschloss, das Körbchen in der Hand schlenkernd ins Haus zurück.

„Mit wie vielen Eiern haben uns denn heute die Hühner beteilt?“, fragte die Mutter, als Frieda in die Küche trat.

„Sieben Stück, fünf braune, zwei weiße und einen sowjetischen Flüchtling“, gab Frieda zur Antwort, beflügelt durch ihren Entschluss, dem Not leidenden Soldaten zu helfen. „Alon Brunstein heißt er. Ich habe ihn im Hühnerstall versteckt.“

Bevor Friedas Mutter zu einer Antwort anheben konnte, stürzte ihr Mann in die Küche: „Im KZ Mauthausen sind in dieser Nacht hunderte von Gefangenen ausgebrochen. Sie halten sich in den umliegenden Wäldern versteckt. Suchtrupps sind unterwegs, hat mir soeben der Viertlmayr Karl berichtet, als er mir die Sau brachte.“

In der Tat hatte die Lagerleitung am frühen Morgen eine Treibjagd ausgerufen, an welcher sich nebst den Nazi-Schergen, der Gendarmerie, der Wehrmacht, dem Volkssturm und der Hitler-Jugend auch die aufgehetzte Zivilbevölkerung der Umgebung beteiligte. Frieda blickte ängstlich zu ihrer Mutter, welche ihren Mann ohne Umschweife über den unverhofften Gast im Hühnerstall informierte. Dieser setzte sich auf einen Küchenschemel, steckte sich eine Pfeife an und alsbald war der Raum von wohlriechenden Rauchschwaden erfüllt. Des Bauern humanistische Grundhaltung verwehrte es ihm, den Flüchtling den Häschern auszuliefern. Vielmehr sann er sogleich über ein sicheres Versteck auf seinem Hof nach.

„Im Hühnerstall kann er keinesfalls bleiben“, meinte er nach einer Weile, „und auf dem Heuboden werden die braunen Gesellen zuerst suchen.“

„Wir stecken ihn für die erste Zeit in die Räucherkammer“, schlug die Mutter vor, „und wenn jemand kommt, öffnen wir die Klappe und räuchern ihn ein, bis er nicht mehr zu sehen ist.“

Frieda schmunzelte bei dieser Vorstellung, und ihr Vater spann die Idee gleich weiter, indem er vorschlug, das Küchenbüfett tarnend vor die halbhohe Tür der Räucherkammer zu stellen. „Frieda", ordnete er an, „du kommst jetzt mit mir. Wenn die Luft rein ist, bringen wir unseren Gast in die Küche und du, Hanna, wärmst die Suppe von gestern auf, die wird ihm wieder zu Kräften verhelfen.“

Als die Bäuerin den hohlwangigen Sträfling beobachtete, wie dieser gierig, jedoch nicht ohne Tischmanieren Kachel um Kachel der nahrhaften Mühlviertler Rahmsuppe, unter welche sie überdies zwei frische Eier gezogen hatte, auslöffelte und sich nun über Wurst, Käse und Brot hermachte, ward sie an Mona, eines ihrer Kälber erinnert, welche vor Jahresfrist völlig abgemagert, mit dem Tod gerungen hatte.

„Auch die Mona haben wir wieder aufgemästet“, gab sie sich hoffnungsfroh, als sie das Holzbrett mit überreichlichem Nachschlag auf den Tisch stellte.

 

Im Spannungsfeld zwischen leichtfertiger Hilfsbereitschaft und Selbsterhaltungstrieb

Nach dem Essen bat Frieda Alon in die mit einem Strohsack, einem Harass, einem Nachttopf und einer Petrollampe dürftig umfunktionierte Räucherkammer. Derweil sich Alon in seinem Versteck einrichtete, kam er nicht umhin, an seinen Fluchtgefährten Jewgenij zu denken und an sein Versprechen, ihm, dem verletzten Freund sobald als möglich zu Hilfe zu eilen. Zumal das Versprechen, welches er Jewgenij im finsteren Wald dazumal abgegeben hatte, schlechtweg ein halbherziges war, bemühte er sich nun um einen Persilschein für den Wortbruch, begangen an seinem, ihm auf seiner Flucht lediglich hinderlichen Kumpanen. So erschien es ihm – und an diese Sicht der Dinge klammerte er sich – geradezu legitim, den Fluchtgefährten seinem Schicksal zu überlassen. Denn die Maximen des Krieges setzen sich über Sentimentalitäten hinweg und lassen risikoreiche Aktionen um derentwillen nicht zu, sie fordern den nüchternen, berechnenden Eigennutz.