Die Schattentochter - Jill Childs - E-Book

Die Schattentochter E-Book

Jill Childs

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Beschreibung

Die verloren geglaubte Tochter ist zurück. Doch wer ist sie wirklich?

Als die dreijährige Sara verschwindet, wird die Familie Turner im Schmerz auseinandergerissen. Noch Jahre später zucken sie bei jedem Klopfen an der Türe zusammen, in der Hoffnung es könnte Sara sein.

Eines Tages werden sie in einem Café von einem Mädchen  angesprochen, die behauptet Sara zu sein. Die großen grünen Augen, das glatte Haar – es könnte tatsächlich stimmen, dass vor ihnen die vermisste Tochter steht. Aber wo war sie all die Jahre und warum kam sie nicht früher zurück?

Bald schon zieht Sara wieder in ihr altes Kinderzimmer ein. Doch nicht alle freuen sich über ihre Rückkehr. Dunkle Familiengeheimnisse drohen ans Licht zu kommen und jemand möchte das mit allen Mitteln verhindern …


Für alle Fans von Big Little Lies und The Silent Wife. Von der Autorin der Bestseller "Die Affäre" und "Das Klippenmädchen".

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Seitenzahl: 423

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Über das Buch

Die verloren geglaubte Tochter ist zurück. Doch wer ist sie wirklich?

Als die dreijährige Sara verschwindet, wird die Familie Turner im Schmerz auseinandergerissen. Noch Jahre später zucken sie bei jedem Klopfen an der Türe zusammen, in der Hoffnung es könnte Sara sein.

Eines Tages werden sie in einem Café von einem Mädchen  angesprochen, die behauptet Sara zu sein. Die großen grünen Augen, das glatte Haar – es könnte tatsächlich stimmen, dass vor ihnen die vermisste Tochter steht. Aber wo war sie all die Jahre und warum kam sie nicht früher zurück?

Bald schon zieht Sara wieder in ihr altes Kinderzimmer ein. Doch nicht alle freuen sich über ihre Rückkehr. Dunkle Familiengeheimnisse drohen ans Licht zu kommen und jemand möchte das mit allen Mitteln verhindern …

Für alle Fans von Big Little Lies und The Silent Wife. Von der Autorin der Bestseller "Die Affäre" und "Das Klippenmädchen".

Über Jill Childs

Jill hat schon immer Geschichten geliebt - echte und erfundene. Über 30 Jahre lang bereiste sie als Journalistin die ganze Welt - je nachdem wohin die Nachrichten sie führten. Heute lebt sie als Autorin mit ihrem Mann und ihren Zwillingen in London.

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Jill Childs

Die Schattentochter

Aus dem Englischen von Anna-Saida Jessen

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

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Widmung

Prolog

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Ein Brief von Jill

Danksagung

Impressum

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Für Emily

Prolog

Kein Tag vergeht, an dem ich nicht an dich denke, mein armes, verlorenes Kind. Kein Tag? Kaum ein Augenblick vergeht.

Ich dachte, der Schmerz würde im Laufe der Jahre weniger werden. Dem ist nicht so. Ich trage ihn mit mir herum, Tag und Nacht, wie einen schwarzen Schatten, der mir folgt und langsam die Luft abdrückt.

In manchen Nächten schrecke ich schlagartig auf, mit schweißnassem Gesicht, kurzatmig, panisch. Starre mit weit aufgerissenen Augen die Umrisse der Straßenlaternen an, die sich hinter den Gardinen abzeichnen. Was, wenn du für immer verloren bist? Was, wenn es zu spät ist und du diese Welt vor mir verlassen hast, wenn sie ohne dich für immer bedeutungslos, kalt und leer bleibt?

Nein. Das kann ich nicht glauben. Das werde ich nicht glauben. Ich werde dich wiedersehen. Ich muss.

Ich zwinge mich, ruhiger zu atmen, knipse die Nachttischlampe an und blinzele in der plötzlichen Helligkeit. Alles ist noch da, unverändert und real. Der Schminktisch, der Kleiderschrank, die Kommode. Auf dem Stuhl liegen meine Kleider für den nächsten Tag bereit. Neben mir das Wasserglas, die Oberfläche reflektiert zitternd das Licht.

Ich nehme dich wahr. Du lebst, das kann ich spüren. Wo auch immer du bist, mein Liebling, es gibt dich.

Etwas in mir entspannt sich, und ich seufze auf.

Die Jahre lösen sich in Wohlgefallen auf und bringen mich für einen Augenblick ganz zurück zum Anfang. Zu dem süßen, milchigen Geruch deiner Haut, den Büscheln feuchten Haares, die dir am Kopf kleben, dem Schwung deiner Lippen. Du bist perfekt, wie du dort in meinen Armen liegst, klein wie ein Vogel und ebenso leicht. Dein Gesicht ist rot, die papierdünne Haut verknittert, und die Augen sind im hellen Licht fest verschlossen.

Oh, mein Liebling, bitte komm zurück zu mir. Such mich. Und komm, bevor es zu spät ist.

PAULA

1

In Gedanken war ich noch ganz woanders, als ich auf Grans Haus zuging und meine Schulter vom Gewicht einer schweren Einkaufstasche nach unten gezogen wurde.

Es war früher Abend, und eine leichte Brise kam auf. Auf der anderen Straßenseite, vis-à-vis den viktorianischen Reihenhäusern, befand sich ein kleines Wäldchen. Als Kind hatte ich dort gespielt, war auf Bäume geklettert und hatte kopfüber von tief hängenden Ästen gebaumelt. Nun wiegten sie sich schläfrig hin und her, und die Schatten unter ihnen bewegten sich im Takt dazu.

Ich war den ganzen Tag an der örtlichen Kunstschule gewesen. Hatte mich wie gewöhnlich vormittags um den Kaffeeausschank gekümmert, war dann geblieben und hatte Jorge dabei geholfen, die anderen Freiwilligen abzutelefonieren, um die Leerstellen im Schichtplan der nächsten Woche zu füllen. Wieder einmal hatte er versucht mich zu überzeugen, dass ich mich auf den Job als Assistant Manager bewerben sollte.

»Du wärst perfekt«, meinte er mit leuchtenden Augen hinter den Brillengläsern, und der spanische Akzent war deutlicher hörbar als sonst. Dann gestikulierte er theatralisch in Richtung des chaotischen Papierberges neben uns, ein Haufen aus Briefen und unbezahlten Rechnungen, gespickt mit neongelben Klebezetteln voller hastig notierter Fragen, von denen die meisten wohl für immer unbeantwortet blieben. »Du bist eine Mutter, Paula. Und außerdem eine Kreative.« Ich liebte die Art, wie er meinen Namen aussprach, die lang gezogenen Vokale: Poh-la. »Wir brauchen jemanden wie dich, eine von uns, die uns versteht.«

Es klang verlockend. Sie waren ein freundlicher Haufen von Künstlerinnen und Künstlern, Lehrende und Studierende gleichermaßen. Ich hatte mich von Anfang an wie zu Hause gefühlt. Unsere resolute Nachbarin Iris hatte mich dazu überredet, mitzumachen. Seit sie als Schulleiterin in den Ruhestand gegangen war, hatte sie alle möglichen neuen Aufgaben übernommen, und sie war keine, die sich mit einem Nein zufriedengab. An dem Tag, an dem ich zum ersten Mal einen Kurs besuchte, war ich ihr nervös die Steinstufen hinauf und durch die schweren Türen in die Eingangshalle gefolgt, über die ausgeblichenen Linoleumböden und zur massiven Treppe mit dem stattlichen Handlauf aus Eisen.

Die verstärkten Brandschutztüren, Spindreihen und schmutzigen, fleckigen Wände erinnerten mich an die Schulzeit. Aber dieses Licht. Es fiel säulenartig von oben durch breite Glasscheiben, und als sie mich mehrere Stockwerke hinauf zum Studio unterm Dach führte, entdeckte ich an allen Wänden die Kunstwerke der Schülerinnen und Schüler: Aquarell- und Ölfarben, Kohle- und Bleistiftzeichnungen, Fotografien von Skulpturen und Collagen.

Oben angekommen kaufte sie uns beiden einen Kaffee am Ausschank – sie schien jeden zu kennen –, bugsierte mich dann ins Studio, wo die Staffeleien mit frischem Papier für die Aktzeichenklasse bestückt worden waren, und auf einen Platz neben ihr.

Das war vor vier Jahren, und ich hatte diesen Kurs seitdem jedes Semester belegt. Nun zuckte ich nicht einmal mehr mit der Wimper, wenn das Aktmodell des Tages ohne viel Aufhebens die Kleider abstreifte und sich auf dem Podest positionierte; dick oder dünn, athletisch oder unförmig, gleichmütig gegenüber der Tatsache, dass ein Raum voller Fremder während der nächsten Stunde jede Falte und jede Wölbung ihres oder seines Körpers im Detail studieren würde, um sie aufs Papier zu bringen.

Das Tor zu Grans Haus knarzte, als ich es aufschob, ehe ich über den ungepflegten, gepflasterten Weg ging. Der Vorgarten sah schäbig aus. Ich bückte mich und hob eine fetttriefende, weggeworfene Chipstüte auf. Ich sollte mich der Sache annehmen und all den Dreck und das Unkraut einmal ordentlich entfernen. Vielleicht Samstag. In meiner Tasche wühlte ich nach den Schlüsseln.

Ich musste über den Job nachdenken. Im Augenblick war ich bloß eine Freiwillige dort, aber dies wäre eine der wenigen bezahlten Stellen mit geregelten Arbeitszeiten und Verantwortung. Ich hatte die Ausschreibung gelesen. Sie suchten jemanden, der mit frischen Ideen das Team stärkte und die Arbeitsabläufe optimierte, und warfen auch noch mit anderen Schlagworten um sich, die mir sagten, dass der Laden dringend eine Umstrukturierung brauchte.

Es wäre eine große Umstellung, wieder richtig zu arbeiten, nachdem ich seit Jahren vor allem Freiwilligenarbeit gemacht hatte, wenn neben der Kinderbetreuung noch Zeit blieb. Wobei sich auch hier mein Aufgabenbereich mittlerweile vergrößert hatte. Ich war in den Elternbeirat an Hannahs Schule gewählt worden und hatte die Verantwortung für die Organisation des Sommerfestes übernommen. Hannah war jetzt acht. Es würde ihr nicht schaden, hin und wieder in der Nachmittagsbetreuung zu bleiben, wenn ich länger arbeiten müsste. Vielen ihrer Klassenkameraden ging es so.

Aber es war nicht nur das, nicht wahr?

Es fühlte sich an, als würde ich etwas hinter mir lassen.

Endlich fand ich den richtigen Schlüssel und hob ihn zum Schlüsselloch. Ich dachte an Will. Was würde er davon halten? Es ging nicht um das Offensichtliche: Zeit und Geld. Es ging um uns und das, was wir durchgemacht hatten. So erweckte es jetzt den Anschein, als wollte ich aufgeben. Eine Tür schließen. Und ich war nicht sicher, ob ich dazu bereit war. Ob er dazu bereit war.

Ich merkte, dass etwas nicht stimmte, sobald ich den Schlüssel im Schloss drehte. Er glitt hinein wie durch Butter und ließ sich auf Anhieb drehen. Ich hielt inne, war völlig verdattert. Das war nicht richtig so. Er blieb immer stecken. Es gab einen Kniff dafür. Gran und ich machten immer Witze darüber, dass man eine Hand am Schlüssel halten musste, während man mit der anderen am runden Messingtürklopfer die Tür langsam zu sich heranzog, bis sie sich an genau der richtigen Stelle im Rahmen befand. Und manchmal, im Winter, wenn sie sich wirklich verkantet hatte, musste man sie auch noch mit dem Knie aufstoßen.

Ich spürte ein Flattern in der Brust, fühlte mich unwohl, ohne so recht zu wissen, warum. Dann drückte ich die Tür auf und trat ein. »Gran?«

Ich schlug die Eingangstür hinter mir zu. Die innere Tür, die kurz dahinter lag, stand offen. Gran hielt sie eigentlich immer verschlossen. So blieb es drinnen wärmer, pflegte sie zu sagen.

»Gran!« Besorgt durchquerte ich den Flur, mein Atem ging schneller.

Aus der Küche am anderen Ende des kleinen Reihenhauses drang leise eine mir unbekannte Stimme, die einer Frau. Ich setzte mich in Bewegung, die Tasche mit den Einkäufen schwer in meiner Hand.

Sie saßen einander gegenüber am Küchentisch. Der gleiche Tisch, an dem Gran mir stets Fischstäbchen und Erbsen oder Kartoffelbrei mit Würstchen serviert hatte, wenn ich als Kind zum Abendessen vorbeigekommen war. Der gleiche abgenutzte, zerfurchte Tisch, an dem zuerst ich, dann Hannah gemalt und gezeichnet und später, als wir älter wurden, die Schulbücher ausgebreitet und seufzend Hausaufgaben gemacht hatten, während Gran uns mit Keksen versorgte.

»Hallo?«

Das war weniger an Gran gerichtet, die mit dem Rücken zu mir saß, als vielmehr an die andere Frau. Sie hielt mit beiden Händen einen von Grans Porzellanbechern umschlossen. Einen von den guten. Ihr Haar war grau meliert und so kurz, dass es ihr wie Igelstacheln vom Kopf abstand. Eine ausgiebige Dusche hätte ihm gutgetan. Sie musste in ihren Sechzigern sein, aber es war schwer einzuschätzen. Die Haut war wettergegerbt und voller Falten. Die Trainingsjacke mit hochgezogenem Reißverschluss wirkte ausgebeult und an den Schultern so verschlissen, dass sie glänzte. Eine prall gefüllte Plastiktüte und eine Reisetasche mit kaputtem Griff standen zu ihren Füßen. Irgendetwas sonderte einen sauren, muffigen Geruch ab; entweder der Körper oder die Besitztümer der Frau.

Wie alt sie auch sein mochte, ihr Blick war wach. Sie sah mir direkt in die Augen. Wenn sie von meinem Erscheinen in der Küche überrascht war, ließ sie es sich nicht anmerken. Stattdessen musterte sie mich leicht neugierig, als kümmerte es sie überhaupt nicht, was ich von ihr dachte, und wartete ab.

Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Hallo. Ich bin Paula, die Enkelin.«

Keine Antwort.

Ich stellte die Einkäufe auf der Anrichte neben dem Waschbecken ab und beugte mich dann zu Gran, um ihr einen Kuss auf die Wange zu geben. »Alles in Ordnung?«

Gran lächelte. »Maria war gerade dabei, mir von Hildegard zu erzählen.« Sie lehnte sich Rat suchend nach vorn. »Das stimmt doch?«

Die Frau nickte.

Gran fuhr fort und setzte mich ins Bild. »Bei Hildegard handelte es sich um eine Nonne, von der offenbar die allerschönste geistliche Musik überliefert ist. Wann, meintest du, lebte sie? Frühes Mittelalter?«

»Im zwölften Jahrhundert.« Die Frau sah jetzt wieder Gran an. »Nicht nur Musik. Auch religiöse Schriften, und sie hat gepredigt. Und sie war Naturwissenschaftlerin. Eine echte Gelehrte. Zu der Zeit waren Frauen eigentlich keine …« Sie stockte, und jetzt schienen sie sich beide wieder an mich zu erinnern, die ich dort neben dem Tisch stand und sie erwartungsvoll musterte.

Gran sagte: »In der Kanne ist Tee, Liebes, falls du möchtest. Braucht vielleicht einen neuen Aufguss.«

»Danke.« Ich nickte ihr zu und drehte mich dann um, damit ich die Einkaufstasche ausräumen konnte, kramte im Kühlschrank herum, um Platz für Milch und Wurst zu schaffen, und verstaute Dosen und Kekspackungen im Regal. Während ich in der Küche herumlief, setzten sie ihre Unterhaltung fort.

Gran war charmant, umgarnte die Frau – wie hieß sie noch gleich, Maria? Erkundigte sich, woher sie so viel wusste.

»Ich verbringe viel Zeit in der Bücherei«, erklärte Maria, »vor allem im Winter. Die haben dort alle Zeitungen. Ich bleibe gern auf dem Laufenden. Und an den Nachmittagen gehe ich die Regale durch.«

Plötzlich knarzte im Stockwerk über uns der Fußboden. Ich schreckte auf und starrte zur Decke. War dort oben jemand? Ich lauschte angestrengt. Schwere Schritte erklangen aus Richtung Treppe.

Ich schielte zu Gran hinüber. Sie hatte überhaupt nicht reagiert, plauderte weiter über die Bücherei und die Veränderungen, die sie im Laufe der Jahre gesehen hatte. Sie hörte mittlerweile nicht mehr so gut; vielleicht hatte sie nichts mitbekommen.

Aufgewühlt lief ich in den Flur und wandte mich der Treppe zu, war bereit, hochzugehen. Doch in dem Augenblick erschien ein Mann oben am Treppenabsatz, der sich mit einem von Grans Handtüchern das Haar trocken rubbelte. Als er mich sah, zuckte er zusammen, fasste sich aber sofort wieder und nickte mir vorsichtig zu, die Augen auf mein Gesicht gerichtet, und wartete auf eine Reaktion von mir.

Er war untersetzt und kräftig, jünger als Maria. Ein Tattoo in tiefem Dunkelblau lief ihm wie eine Art gezackter Kragen um den Hals, verschwand auf einer Seite im Ausschnitt seines ausgefransten T-Shirts und kam dann unter dem Ärmel wieder zum Vorschein, wo es sich zu einem Armband verschlang. Vielleicht eine Dornenranke oder eine Schlange, die sich in den Schwanz biss. Ich riss meinen Blick los und sah ihm wieder ins Gesicht.

»Hallo.« Ich zögerte. »Wer sind Sie?«

»Ich bin Tomas.« Sein Akzent war osteuropäisch. »Hallo.« Er senkte den Arm, und das Handtuch – eines von Grans bestickten – rutschte herunter.

»Was tun Sie hier?«

Er gestikulierte lahm hinter sich. »Ich nehme eine Dusche. Hat sie gesagt, die Frau.« Achselzuckend verschwand er daraufhin mitsamt dem Handtuch wieder im Badezimmer.

In der Küche, offenbar nichts ahnend, unterhielten sich Gran und Maria immer noch.

Ich beugte mich zu Gran hinunter. »Weißt du, dass da oben ein Mann ist?«

Für einen kurzen Moment schien sie verwirrt, doch dann lächelte sie und nickte. »Ganz recht, Liebes. Er ist ein Freund von Maria.«

»Hast du ihm erlaubt zu duschen?«

Sie sah verblüfft aus. »Na ja, ich habe es nicht verboten. Er meinte, er hätte sich seit Tagen nicht mehr ordentlich gewaschen, der Ärmste.« Sie schaute Rat suchend über den Tisch. »Stimmt doch, oder, Maria?« Dann wandte sie sich wieder mir zu und flüsterte: »Diese Unterkünfte sind nicht besonders schön, verstehst du? Selbst wenn sie ein Bett bekommen, und das ist gar nicht so leicht, gibt es kaum Warmwasser. Und die Seife ist dauernd leer.« Sie unterbrach sich und sah mich besorgt an. »Warum fragst du? Stimmt etwas nicht?«

2

An das Schloss dachte ich erst später wieder, als ich die beiden endlich zur Tür brachte und dann zurückkehrte, um Gran zu helfen, die den Tisch abräumte, abwusch und den Ofen anmachte. Will war an jenem Abend bei einem Dinner, irgendwas mit einem Pharmavertreter, und Hannah übernachtete bei ihrer derzeit mal wieder besten Freundin Lizzie. Normalerweise kam sie mit, wenn ich ein- oder zweimal die Woche zum Essen zu Gran ging.

Mein Gedanke war, dass ich so nach Gran sehen konnte, ihr ein wenig Gesellschaft leisten und sicherstellen, dass sie etwas Anständiges aß. Sie dachte vermutlich, dass sie das Gleiche für uns tat.

»Gran, das Schloss ist anders. Hattest du jemanden dafür hier?«

Gran lächelte. »Dieser Mann hat es repariert. Tomas. Ein aufgeweckter junger Mann, nicht? Er hat etwas draufgesprüht.«

»Etwas draufgesprüht?«

Sie zuckte die Achseln. »Irgendwas, das er im Keller gefunden hat. Da unten steht alles Mögliche. Das meiste davon altes Zeug von deinem Großvater. Er hat angeboten, mir beim Ausräumen zu helfen.«

Ich stellte mir vor, wie der Typ Großvaters Werkzeuge und Heimwerkermaterialien durchwühlte. Wahrscheinlich waren die etwas wert.

»Ich kann das durchsehen, wenn du es loswerden willst. Du kennst diesen Kerl nicht, Gran. Nicht wirklich.«

Gran sah mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Du hast doch selbst gesagt, dass er gute Arbeit geleistet hat.«

Das hatte ich eigentlich nicht. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder der Käsereibe zu. Heute war ich mit Kochen dran. Lasagne. Ich hatte Gran vorgeschlagen, die Füße hochzulegen und mich machen zu lassen, aber sie wich mir nicht von der Seite. Sie konnte es nicht lassen.

Während ich den Käse in die Soße auf dem Herd rührte und Pasta, Hackfleisch und Soße übereinanderschichten wollte, sah sie mir über die Schulter und gab ein leises Brummen von sich.

»Was?«

»Nichts, Liebes.« Sie beobachtete mich, sagte aber nichts weiter.

Ich atmete tief ein. »Was mache ich jetzt gerade falsch?«

»Nichts!«, versicherte sie noch mal. Schweigen. Sie wollte noch etwas sagen, das spürte ich genau. Schließlich: »Du solltest vielleicht den Herd etwas runterdrehen, das ist alles. Der kann ganz schön heiß werden.«

Ich lächelte in mich hinein, während ich tat wie mir geheißen, dann drehte ich mich um und gab ihr einen Kuss auf die Nasenspitze. Sie stand still daneben, als ich mit dem Aufschichten begann: Hackfleisch, Pasta, Soße; Hackfleisch, Pasta, Soße – die ein bisschen an den Seiten herauslief. Der aufsteigende Dampf roch intensiv nach Fleisch und Tomaten.

Als alles im Ofen war, stand sie mit einem Geschirrtuch neben mir bereit und wartete darauf, dass ich die Töpfe und Pfannen abwusch und zum Abtropfen hinstellte.

»Wo hast du die getroffen?«

Sie sah mich einen Augenblick lang unschuldig an, als wüsste sie nicht, von wem ich sprach, doch dann zuckte sie die Schultern. »Wo man sich eben trifft. Hier und da.« Sie stockte, polierte den Soßentopf. »Maria sitzt manchmal draußen vor Sainsbury’s, wenn es trocken ist. Das ist kein Leben.«

Ich überlegte. Auch ich hatte Menschen dort sitzen sehen, direkt am Eingang, zusammengekauert auf alten Pappen, und neben ihnen zerbeulte alte Blechdosen und ein Schild, auf dem sie um Kleingeld bettelten.

Gran hatte uns immer dazu angehalten, anderen Menschen mit Freundlichkeit zu begegnen. Als ich ein Kind war, fischte sie regelmäßig Münzen aus den Tiefen ihrer Handtasche und wies mich an, sie in eine Sammelbüchse oder den leeren Becher eines Bettlers zu werfen. Ich hasste das. Es gefiel mir nicht, den Bettelnden so nahe zu kommen. Im Allgemeinen stanken sie, und wenn sie mich anlächelten, waren die Zähne meist verfault. Ich spendete hin und wieder an Wohltätigkeitsorganisationen, allerdings sauber und ordentlich, online. Hielt diese Menschen und ihre Probleme eine Armeslänge auf Abstand.

Ich stellte mir vor, wie Gran sich neben Maria hockte, wie ihre Knie dabei vor Anstrengung knackten, und die beiden plauderten; nicht nur einmal, sondern oft genug, um sie schließlich auf einen Tee zu sich einzuladen. Und vielleicht war Maria nicht die Einzige.

Ich drehte mich vom Waschbecken zu ihr um. »Fühlst du dich einsam, Gran?«

»Mach dir keine Sorgen.« Sie seufzte auf. »Maria ist eine interessante Person. Sie war mal Musikerin. In einem Orchester. Sie hatte einfach nur Pech, das ist alles.«

»Aber ich mache mir Sorgen.« Kurz zögerte ich. »Ich weiß, du siehst immer das Gute in den Menschen, Gran. Das liebe ich an dir. Aber …« Mir schossen all die Betrugsmaschen durch den Kopf, die verbreitet waren. »Ich möchte nur nicht, dass du in Gefahr gerätst.«

Sie schnaubte. »Ich kann schon auf mich aufpassen.«

»Was, wenn der Mann etwas gestohlen hätte, als er oben war?« Ich dachte daran, wie roh er ausgesehen hatte. »Was, wenn er dich bedroht hätte?«

»Hat er aber nicht, oder?« Sie hängte das Geschirrtuch wieder an seinen Metallhaken und stützte sich am Tisch ab, als sie vorbeiging. Ich beobachtete, wie sie sich in einen Küchenstuhl sinken ließ. Ihr Gesicht war gerötet, und sie atmete schwer.

»Geht es dir gut?«

Sie war noch dabei, wieder Atem zu schöpfen; winkte ab und gab mir wortlos zu verstehen, nicht so einen Wirbel zu veranstalten.

Ich ging zum Waschbecken und füllte ein Glas mit kaltem Wasser, stellte es vor ihr ab und stand dann neben ihr, strich ihr über die Schulterblätter. Sie wirkte zerbrechlich, die Haut wie Papier über den Knochen. Es machte mir Angst, sie so gebeugt dort sitzen zu sehen. Mir war bisher nicht aufgefallen, wie dünn die Haare auf ihrem Kopf geworden waren. Ihre Knöchel waren dicker, als wäre das Gewicht, das sie neuerdings um die Hüften herum verloren hatte, langsam hinabgerutscht und hätte sich dort gesammelt.

Jahrzehntelang hatte sie sich fast gar nicht verändert. Sie war vor meinen Augen erst sechzig, dann siebzig, dann achtzig geworden. Ich war schon dabei, Pläne für ihren Neunzigsten in zwei Jahren zu machen. Hannah würde im selben Monat zehn werden. Das sollten wir mit einem ordentlichen Familienfest feiern. All diese Jahre war sie schlicht und einfach Gran gewesen, forsch und unerschütterlich, hatte sich um uns alle gekümmert, seit Mum gestorben war, und war ewig jung geblieben. Als ich jetzt erkannte, wie gebrechlich sie geworden war, krampfte sich mein Magen in plötzlicher Panik zusammen.

Ich beugte mich hinunter und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich hab dich so lieb.«

»Ich hab dich auch lieb.« Sie klang immer noch atemlos. »Wir haben großes Glück, wir beide. Schadet doch nicht, es hin und wieder zu teilen, oder?«

Ich zögerte. »Versprich mir eins, ja? Lass sie nicht ins Haus – nicht, wenn du alleine bist. Okay? Das ist gefährlich, Gran. Wenn irgendetwas passiert, könnte ich mir das nie verzeihen.«

Sie rümpfte die Nase, sah stur zur anderen Seite und antwortete nicht.

3

Nachdem wir gegessen hatten, räumte ich den Tisch ab und brachte den Kaffee ins Wohnzimmer, damit Gran es sich dort bequem machen konnte. Es war schon fast halb neun. Heimlich checkte ich mein Telefon, fragte mich, ob mit Hannah alles in Ordnung war. Lizzies Mutter, Moira, hatte versprochen zu schreiben, falls Hannah es sich anders überlegte und abgeholt werden musste.

Ich war nie sicher, wie es ablaufen würde, wenn sie sich mit Lizzie traf. Erst vorgestern Abend hatte sie sich in den Schlaf geweint und erzählt, wie gemein Lizzie gewesen war, dass sie sich mit ein paar anderen gegen sie verbündet und erklärt hatte, Hannah dürfe nicht mitmachen. Am nächsten Tag waren sie wieder allerbeste Freundinnen gewesen, als wäre nichts passiert. Es fiel mir schwer, da mitzukommen. Ich wünschte mir, dass Hannah ein anderes Mädchen fand, mit dem sie sich zusammentun konnte, aber sie folgte Lizzie, mit den blonden Zöpfen, den bauchfreien Oberteilen und diesem losen Mundwerk, sklavisch überall hin.

Jetzt nutzte ich die Gelegenheit, mit Gran allein zu sein, nahm meinen ganzen Mut zusammen und sprach das Thema an, das mich den gesamten Abend beschäftigt hatte. »Gran, ich denke darüber nach, mich auf einen Job zu bewerben. An der Kunstschule.«

Gran richtete sofort den Blick auf mich. »Ein Job?«

Ich schluckte. »Assistant Manager. Ich helfe da sowieso dauernd aus, weißt du, an der Kaffeetheke und so. Sie brauchen jemanden, der gut organisiert ist und sich um den Papierkram kümmert. Vielleicht ein paar neue Ideen einbringt. Die sind ein bisschen betriebsblind geworden.« Zögernd hielt ich inne, versuchte ihren Gesichtsausdruck zu deuten. »Ich glaube, sie wären auch flexibel, solange ich die Arbeit erledige. Wegen Hannah, meine ich.«

Sie dachte nach. »Du hast Kunst schon immer gemocht. Und du bist gut, Paula. Mach nicht dieses Gesicht. Es stimmt. Du hast Talent. Ich habe immer erwartet, dass du es zum Beruf machst.«

»Na ja, das hier ist wirklich eher Verwaltung.«

Sie sah mich abschätzend an. »Was sagt Will?«

Ich wandte den Blick ab. »Also, ich habe eigentlich noch nicht …«

»Was war das?« In plötzlicher Anspannung sah Gran zur Tür, die zum Eingangsbereich führte.

»Was denn?«

»Hast du es nicht gehört?« Sie manövrierte sich, so schnell sie konnte, aus dem Sessel, stützte sich auf den Armlehnen ab, um auf die Füße zu kommen. »Die Tür.«

»Echt?« Ich hatte nichts gehört. »Erwartest du jemanden?«

Sie durchquerte das Zimmer und strich dabei ihr Kleid glatt. Ihre Wangen waren leicht gerötet.

Ich stand ebenfalls auf und lief hinter ihr her in den Flur. Wenn jemand von Tür zu Tür ging, um etwas zu verkaufen oder Spenden zu sammeln, konnte ich nicht darauf vertrauen, dass sie Nein sagte. Ehe er sichs versah, säße dieser Mensch schon mit einer Teetasse und Gebäck im Wohnzimmer und würde sich Grans Lebensgeschichte anhören.

Als ich sie einholte, hatte sie die Haustür schon geöffnet, stand, die Hand um den Rahmen geklammert, im Eingang und starrte auf die dunkle, leere Straße hinaus.

Ich fragte: »Ist da jemand?« Es sah nicht danach aus.

Gran rang wieder nach Atem und klopfte sich mit der freien Hand vorn gegen die Strickjacke.

Ich gab mir einen Ruck und nahm ihren Arm. »Komm, Gran. Setzen wir uns wieder.« Dann löste ich ihre andere Hand vom Türrahmen und stützte sie, und wir drehten langsam um. Sie zitterte.

Mit dem Fuß stieß ich die Tür zu und hielt Gran fest, während wir im Schneckentempo durch den Flur und zurück ins Wohnzimmer gingen.

Keuchend ließ sie sich in den Sessel fallen. Ihre Hände waren ungewöhnlich kalt, und ich kniete mich neben sie und rieb sie warm. Die Haut war wie Papier, die Adern darauf zeichneten die Konturen einer wohlbekannten Landkarte. Langsam verblasste die Rötung ihrer Wangen.

»Geht es dir wirklich gut?«

Sie nickte bloß.

»So siehst du nicht aus.« Unentschlossen beobachtete ich, wie ihr Atem tiefer wurde und sich beruhigte. »Wie wär’s, wenn ich morgen den Doktor anrufe? Du warst lange nicht mehr zum Check-up, oder? Ich bringe dich hin.«

Sie schüttelte ärgerlich den Kopf. »Nur eine Alterserscheinung, das ist alles. Ich nehme schon genug Tabletten.«

Ich schaffte es, den Mund zu halten. Sie mochte es nicht, wenn zu viel Gewese um sie gemacht wurde, doch ich sorgte mich dennoch um sie.

»Wir können nicht auf dich verzichten – das weißt du, oder?«

»Eines Tages werdet ihr das müssen.« Sie war immer noch außer Atem, brachte aber ein schiefes Lächeln zuwege. »Niemand ist unsterblich.«

»Sag das nicht.«

Sie wirkte erschöpft, ihr Blick verharrte ziellos auf dem alten, gemusterten Teppich.

Nach einer Weile sagte ich: »Wie auch immer, Gran, geh abends nicht mehr an die Tür. Das könnte wer weiß wer sein.«

Ich dachte an Tomas mit seinen Tattoos und Maria, die am Küchentisch saß und Tee trank.

Ich war nicht immer da. Konnte nicht ständig ein Auge darauf haben, wer vorbeikam. Sie war so gutherzig, aber wehrlos. Wer auch immer konnte das ausnutzen.

»Bitte ignorier es beim nächsten Mal, wenn du meinst, ein Klopfen zu hören, ja?«

Sie schaute mir direkt in die Augen, und ihr Blick war so intensiv, dass er mir durch Mark und Bein ging. »Das kann ich nicht«, flüsterte sie. »Was, wenn …?«

Ich blinzelte, begriff nicht. In ihrem Gesicht lag eine solche Trauer, dass mir der Atem stockte.

»Was meinst du damit?«

Sie hielt inne, sah mich weiterhin an. Langsam füllten sich ihre Augen mit Tränen.

»Gran?« Ich drückte ihre Hände. »Was meinst du damit? Was, wenn … was?«

Ihre Lippen bebten. »Was, wenn sie es ist?« Sie sprach so leise, dass ich mich weiter vorbeugen musste, um etwas zu verstehen. »Was, wenn sie mich gesucht hat und zurückkommt? Was, wenn sie kommt und ich sie nicht hereinlasse?«

4

Ich war es nicht gewohnt, in ein leeres Haus heimzukommen.

Nachdem ich die Haustür hastig hinter mir geschlossen hatte, machte ich im Erdgeschoss alle Lampen an, um die Schatten zu vertreiben. Immer noch im Mantel goss ich mir in der Küche ein Glas Weißwein ein und leerte auf diese Weise die geöffnete Flasche in der Kühlschranktür. Aufräumen. Dafür waren Mütter schließlich da, oder? Um Liegengebliebenes zu beseitigen.

Die Küche sah makellos aus, der silberne Chrom glänzte, das schmutzige Geschirr steckte in der Spülmaschine, alle Oberflächen waren am Morgen saubergewischt worden. Ich stand einen Augenblick neben dem Waschbecken, atmete ruhig, das Glas in der Hand. Weiches Licht fiel auf die Terrasse und verglomm langsam in der Dunkelheit im Garten dahinter.

Um ins Bett zu gehen, war es noch zu früh. Morgen würde zwar ein langer Tag werden – mit Gran Schuhe zu kaufen war niemals leicht –, aber ich war noch nicht müde. Ich ging hinüber ins Wohnzimmer und zappte durch die Programme, blieb jedoch nirgendwo hängen. Ich checkte mein Telefon. Keine Nachrichten von Will, um mir mitzuteilen, wann er nach Hause kam. Nichts von Lizzies Mutter. Es war jetzt recht spät. Hannah würde schon schlafen.

Mein Blick fiel auf die Fotos auf dem Kaminsims: Hannah als pausbäckiger Säugling; dann in ihrem Hochstuhl, den Mund vom Essen verschmiert, lachend; ein Foto mit Zöpfen aus der Vorschule. Da war sie erst vier. Die Uniform war ganz neu, und ihre winzigen Händchen ragten nur halb aus den Ärmeln des Blazers heraus. Auf dem letzten Bild war sie sechs Jahre alt, fast sieben. Sie stand an einem Strand, die Füße fest im Sand verankert, das Haar zerzaust und mit Sand paniert, und aß ein Eis.

Sie war schon so lange der Mittelpunkt meiner Welt, dass es mir schwerfiel, ohne sie zu sein. Ich blies die Wangen auf. Sie wurde schnell groß. Ich musste mich daran gewöhnen. Auf keinen Fall wollte ich eine dieser anhänglichen Mütter sein, die sich ins Leben ihrer Töchter einmischten, weil in ihrem eigenen nichts passierte.

Ich nahm mir meinen Laptop und trank einen Schluck Wein, während das Gerät hochfuhr. Vielleicht sollte ich es einfach tun. Ich könnte mir das Bewerbungsformular einmal ansehen und es versuchen. Später könnte ich immer noch einen Rückzieher machen.

Also rief ich die Website der Kunstschule auf, rüstete mich mit einem weiteren Schluck Wein und begann zu tippen.

5

Die ganze Zeit, die wir beim Shoppen waren, Hannah, Gran und ich, wurde ich das Gefühl nicht los, dass uns jemand beobachtete.

So genau wusste ich nicht, woher das Gefühl kam. Aber immer wieder, wenn ich gerade Grans breite Füße in ein Paar Schnürstiefel zwängte oder ihr auf die Beine half und sie am Arm zum Spiegel führte, damit sie sich in Augenschein nehmen konnte, stellten sich die Härchen in meinem Nacken auf, und ich sah mich verstohlen nach allen Seiten um, ob jemand in unsere Richtung sah. Was war denn los mit mir?

»Wie findest du die hier?« Hannah schwang ein Paar Riemchensandalen vor meinem Gesicht herum. Quietschrot, mit Pfennigabsatz. »Nicht für die Schule«, fügte sie schnell hinzu, als sie mein Gesicht sah.

»Vielleicht, wenn du ein bisschen älter bist«, wich ich aus. »Aber heute kaufen wir sowieso nichts für dich, schon vergessen? Nur für Gran.«

»Okay!« Sie blies die Wangen auf. »Weiß ich doch.« Damit stapfte sie vor sich hin murrend davon.

Ich verdrehte die Augen und widmete meine Aufmerksamkeit wieder Grans Füßen. »Wie fühlen die sich an?«

»Drücken etwas an den Zehen.« Sie schaute mich resigniert an. »Ich weiß nicht, Paula.«

Ich sah zu Hannah, die mit der Hand an den Regalen entlangstreifte und offensichtlich auch die Nase voll hatte, und warf dann einen Blick auf meine Armbanduhr.

»Wie wär’s, wenn wir es fürs Erste gut sein lassen und zu Mittag essen? Du kannst bestimmt eine Tasse Tee vertragen.«

Das Café des Kaufhauses platzte bereits aus allen Nähten. Sobald wir unsere Sandwiches und Getränke ausgesucht hatten, schickte ich Gran und Hannah los, um einen freien Tisch zu finden, und stellte mich an der Kasse an. In gewisser Hinsicht war das ein Ablenkungsmanöver, damit Gran nicht mitbekam, wie teuer alles war, denn das hätte unausweichlich zu einer Diskussion geführt, weil sie sofort erschrocken ihr eigenes Portemonnaie gezückt hätte.

Während ich mich in der Schlange langsam weiter nach vorn schob, versuchte ich die beiden im Auge zu behalten, die sich ihren Weg durch die vollen Tische bahnten und Ausschau hielten, ob irgendwo etwas frei wurde. Grans Bewegungen waren langsam und vorsichtig, so als fühlte sie sich unsicher auf den Beinen. Eine Woge der Zuneigung für beide überrollte mich, die Alte und die Junge, beide auf ihre Weise verletzlich und jede darauf bedacht, auf die andere aufzupassen.

Endlich war ich weit genug vorn, um das schwere Tablett auf den Metallstangen vor der Kasse abzustellen, dann hob ich wieder den Blick und schaute nach, ob sie schon Erfolg hatten. Ihr Timing war hervorragend gewesen, und sie hatten einen Tisch direkt am Fenster mit Aussicht auf die High Street ergattert.

Während ich noch hinübersah, eilte eine junge Kellnerin zu ihnen, räumte das schmutzige Geschirr der vorigen Gäste ab und wischte den Tisch mit einem Lappen sauber. Gran setzte sich, knöpfte die Jacke auf und sah aus dem Fenster, wo Hannah ihr etwas zeigte.

Dann sah ich sie: Eine hochgewachsene junge Frau, wohl Anfang zwanzig, näherte sich von der anderen Seite des Cafés schnell dem Tisch. Mir stockte der Atem. Sie fiel in der lärmenden Menschenmenge auf, weil ihr Blick so hochkonzentriert auf Gran gerichtet war, auf die sie schnurstracks und zielstrebig zumarschierte. Selbst aus dieser Entfernung erkannte ich, wie fest sie die Zähne zusammenbiss. Sie trug tief sitzende Jeans und eine hüftlange Jacke, die Haare waren zu einem langen, geraden Bob geschnitten.

Ohne zu wissen, warum, war ich aufgewühlt. Ich wollte sie warnen, wollte Gran und Hannah zurufen, sie sollten sich umdrehen, bevor es zu spät war. Ich tastete in der Tasche nach meinem Handy, überlegte, ob Gran ihres dabeihatte und ob es eingeschaltet war.

»Entschuldigung!« Die korpulente Frau hinter mir klang genervt. »Sie sind dran.«

Ich wandte mich wieder der Kasse und dem jungen Kassierer zu, der demonstrativ in den nun leeren Raum zwischen uns blickte und darauf wartete, dass ich aufrückte. »Ja, Verzeihung. Natürlich …«

Ich schloss die Tasche und schob das Tablett zum Kassierer. Dann versuchte ich mich auf die Fragen des jungen Mannes zu konzentrieren, der wissen wollte, was ich gewählt hatte, und dann, als er alles eingegeben hatte, wie ich bezahlen wollte. Ich beeilte mich mit allem, schnappte mir das Tablett und bahnte mir, so schnell es ging, einen Weg durch die Tische und Kauflustigen zu Gran und Hannah.

Wenig überraschend erreichte die junge Frau den Tisch vor mir. Ich verstand nicht, was sie sagte, aber es war augenscheinlich, dass Gran sie hörte. Sie warf den Kopf herum und riss die Augen auf. Als ich am Tisch ankam, wich alle Farbe aus ihrem Gesicht. Ihr Mund stand offen. Sie sagte kein Wort, sondern sah der Fremden nur fest in die Augen.

»Alles in Ordnung?«, entfuhr es mir, als ich den Schock auf Grans Gesicht sah. Ich stellte das Tablett so abrupt auf den Tisch, dass die Tassen auf ihren Untertellern klapperten und Tee aus der Metallkanne aufs Plastik schwappte. »Bist du okay, Gran?«

Gran hatte mich am Handgelenk gepackt und hielt mich fest.

Ich drehte mich zu der Frau, erwartete, dass sie sprechen, dass sie eine Erklärung abgeben würde.

Sie zitterte. Dann zog sie einen Stuhl heraus und ließ sich darauf sinken, als fürchtete sie, sonst umzukippen. Auch ich setzte mich, zwischen Gran und sie. Mir gegenüber saß Hannah mucksmäuschenstill auf ihrem eigenen Stuhl und beobachtete stumm und mit ernstem Gesicht die Szene.

Einen Moment lang geschah gar nichts. Das Scheppern und Schnattern im Café schien zu verklingen, während ich versuchte, mir einen Reim auf all das hier zu machen. Die Spannung an unserem Tisch war jetzt mit Händen greifbar.

Die junge Frau hatte die Hände in den Schoß gelegt und friemelte an ihren Fingern herum. Sie senkte den Kopf und betrachtete sie.

Ich wandte mich Gran zu. Sie hatte die Hände zum Gesicht gehoben, hielt sich die Wangen, die Finger gespreizt und den Mund dazwischen noch immer geöffnet. Tränen schossen ihr in die Augen, wobei ihr Blick weiter auf die Fremde gerichtet war.

»Gran?« Ich beugte mich näher zu ihr und sprach leise, wollte ihre Aufmerksamkeit bekommen. »Gran, was ist los? Was hat sie gesagt?«

Ihre Stimme war kaum ein Flüstern. »Sie ist es.« Ihre Lippen bebten. »Sie ist zurückgekommen.«

»Zurückgekommen?« Ich schüttelte den Kopf. »Was meinst du damit? Wer …?«

Gran antwortete nicht. Das brauchte sie nicht. Noch während ich sie ansah, veränderte sich ihr Gesichtsausdruck, aus dem anfänglichen Schock wurde freudige Fassungslosigkeit.

Von einem Augenblick zum nächsten, dort in diesem lauten Café, veränderte sich alles.

Denn schlagartig begriff auch ich, wer sie war.

Sie war zurück, und nichts würde mehr sein wie zuvor.

6

Zwanzig Jahre zuvor

Als die ganze Sache passierte, war ich noch ein Kind. Sie versuchten, es von mir fernzuhalten, und es gab vieles, was ich erst viel später verstand, aber selbst damals spürte ich, dass wir in eines dieser Erdbeben geraten waren, die eine Familie höchstens einmal in einer Generation erschüttert und die Landschaft für immer verändert.

Alan, mein großer Bruder, war so viel älter als ich – ganze zehn Jahre –, dass wir unsere Kindheit nie wirklich miteinander teilten. Als ich in die Schule kam, war er schon ein Teenager und entweder nicht da, weil er Rugby, Fußball oder Kricket spielte, oder unerreichbar, weil Mum ihn zum Lernen in sein Zimmer verdonnert und mir untersagt hatte, ihn dort zu stören. Er wollte sowieso nicht viel mit mir zu tun haben. Ich war noch nicht mal wichtig genug, um zu nerven. Er übersah mich, so unbedeutend war ich.

Aber ich mochte seine Freundinnen, als sie irgendwann auftauchten, und begriff nicht, dass sie sich nur mit mir abgaben, um sich bei ihm einzuschmeicheln. Da war Roxanne, die andauernd kicherte und Bänder in meine Haare flocht. Josie, die mir ihr durchdringendes, schweres Parfüm auf die Handgelenke sprühte. Belinda mit der wuscheligen Lockenmähne und einem herzhaften Lachen, die mir Tennis beibringen wollte. Und Fran, die unendlich lange Brettspielstunden mit mir im Wohnzimmer ertrug, während sie darauf wartete, dass Alan vom Sport nach Hause kam.

Und dann kam Jackie. Sie war von Anfang an anders – selbst ich bemerkte das.

Die anderen scharwenzelten um Alan herum und machten sich zum Gespött der Familie, denn uns war glasklar, dass diese Mädchen keine Chance hatten, obwohl sie sich vor Eifer überschlugen, damit mein großer, breitschultriger Bruder sie wahrnahm. Er registrierte kaum, welche von ihnen welche war.

Jackie hingegen war weit davon entfernt, sich wie die anderen an der Haustür herumzudrücken, und kam lange Zeit überhaupt nicht zu uns nach Hause. Das erste Mal, das wir von ihr erfuhren, war, als Alan Dad mit hochrotem Gesicht fragte, ob er das Auto leihen und zu einer Party außerhalb der Stadt fahren könnte. Ich spitzte die Ohren. Alans Tonfall ließ mich aufhorchen, so zaghaft und verlegen sprach er. Mum und Dad bemerkten es ebenfalls. Als Alan erleichtert den Raum verließ, weil er die Erlaubnis bekommen hatte, sah ich, wie Dad Mum mit hochgezogenen Augenbrauen einen Blick zuwarf. Wir begriffen, dass etwas im Busch war.

Samstagabend lungerte ich an der Treppe herum und behielt seine Zimmertür im Auge, als er sich fertig machte. Im Haus stank es nach billigem Aftershave. Schließlich kam er heraus und sah ängstlich und gar nicht wie er selbst aus. Die Haare, die sonst nach oben standen, hatte er sorgfältig mit Gel geglättet. Er trug seine besten Jeans, eng anliegend und frisch gebügelt, und ein brandneues Band-T-Shirt, das ich nie zuvor gesehen hatte.

»Cool!«, kommentierte ich.

Normalerweise hätte er sich nicht zu einer Reaktion herabgelassen, aber jetzt blieb er stehen. »Findest du?«

Eifrig darauf bedacht, das Richtige zu sagen, nickte ich. »Yeah, voll cool.«

Er zauste mir durchs Haar und ging weiter, sah aber zufrieden aus. Als er, Dads Autoschlüssel schwingend, das Haus verließ und Mum ihn ermahnte, vorsichtig zu sein, nichts zu trinken, weil er doch fuhr, und wirklich um Mitternacht zu Hause zu sein, da sie noch wach sein würden, antwortete er mit einem gewohnt übermütigen »Jaja«.

Als ich später im Bett lag, malte ich mir die Lautstärke und die Stimmung auf der Party aus, küsste meinen Handrücken, um Jungsküssen zu üben, schloss verträumt die Augen und stellte mir meinen Bruder mit seiner großen Liebe vor.

Ich lag nicht ganz falsch. Von da an tauchte der Name Jackie immer wieder auf, wurde beiläufig, aber regelmäßig in die Familiengespräche eingestreut.

Jackie mag diesen Film.

Das Buch? [Errötend] Also, Jackie meinte, das war gut.

Ich bin Sonntag nicht da. Yeah, tatsächlich treffe ich Jackie.

Er erzählte uns nie viele Details. War verschlossen. Aber das machte es umso spannender. Wir hatten ihn noch nie so erlebt.

Dad begann zu fragen: »Also, wann lernen wir diese Jackie denn mal kennen?«

Und Mum, die offenbar im Bekanntenkreis herumgefragt und kein Glück gehabt hatte, hakte nach: »Woher kommt Jackie, Schatz? Ist sie an deiner Schule?«

Und schließlich fragte Dad: »Gibt es deine Freundin wirklich, Alan? Oder nimmst du uns auf den Arm?«

Nach Monaten ständigen Fragens gab er nach und lud sie für einen Samstag zum Barbecue ein. Er ließ es klingen, als wären Barbecues am Wochenende ganz normal bei uns, was nicht stimmte. Dann überwachte er die Vorbereitungen, als erwarteten wir königlichen Besuch. Dad musste den alten Holzkohlegrill aus dem hintersten Winkel der Garage holen und sauber machen. Mum verbrachte den ganzen Vormittag damit, raffinierte Salate zuzubereiten, den Fisch vorzubereiten und Koteletts zu marinieren.

Als es endlich an der Tür klingelte, rauschte ich zwei Stufen auf einmal nehmend die Treppe hinunter. Alan war als Erster da, und sobald er geöffnet hatte, lehnte er sich beschützend aus der Tür und flüsterte etwas. Mir wurde flau im Magen, als ich ihn so sah, als hätte die Welt sich gerade auf den Kopf gestellt. Wir vier waren uns als Familie immer sehr nah gewesen, Schulter an Schulter gegen den Rest der Welt. Und jetzt verließ er unsere Gemeinschaft, beugte sich verschwörerisch zu dieser unbekannten Fremden hinunter und schenkte ihr statt uns seine Loyalität.

Mum kam aus der Küche, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und setzte zur Begrüßung ein strahlendes Lächeln auf. Alan trat zur Seite, und da stand sie. Jackie.

Nach aller Geheimniskrämerei um diese neue Freundin hatte ich ein Model erwartet. Einen Popstar mit einem auf den Körper gesprühten Outfit und verrückter Frisur. Eine Prinzessin mit langen Engelslocken und High Heels. Vielleicht sogar ein Goth-Girl mit weißer Haut und schwarzen Lippen. Aber das Mädchen, das mit einem Blumenstrauß in den Händen dastand, sah erschreckend normal aus. Sie trug einen modischen Kurzhaarschnitt und goldene Ohrstecker, eine ausgefranste Jeans und eine perfekt sitzende, gebügelte blaue Bluse.

Sie strahlte alle der Reihe nach an und erhellte damit den schummrigen Vorflur.

»Ist sie das?« Ich glotzte sie ungeniert an.

Alan wirbelte herum und bedachte mich mit einem wütenden Blick.

Mum rettete mich, indem sie vortrat und das Mädchen so begeistert begrüßte, als hätte sie ihr Leben lang darauf gewartet, sie zu treffen. Vielleicht hatte sie das ja. Jackie überreichte Mum die Blumen, und Mum brach die peinliche Stille, die entstanden war, mit einer überschwänglichen Dankesbekundung. »Wie schön! Das hätte doch nicht sein müssen! Bitte komm mit in den Garten. Ist der Tag nicht traumhaft schön? Wir haben so ein Glück.«

»Ist sie da?« Dad kam von der Terrasse, sein Haar stand ihm wild vom Kopf ab, wo er mit der Hand hindurchgefahren war, außerdem hatte er einen schwarzen Streifen von der Grillkohle im Gesicht und eine von Mums Schürzen unordentlich am Bauch verknotet.

Beim Anblick von Dad, der sich solche Mühe gab und doch so liebenswert verloren aussah, löste sich auch der Rest Beklommenheit in Wohlgefallen auf, und wir mussten alle lachen.

Ich erinnere mich nicht an den Rest des Tages, aber von da an war Jackie ein Teil der Familie. Sie passte dazu; sogar besser, scherzten wir, als Alan je gepasst hatte.

Dann war ich ein paar Jahre mit meinen eigenen Meilensteinen beschäftigt: Ich lernte Radschlagen und Blockflöte, meisterte schriftliche Division und Rechtschreibung, fand eine beste Freundin und wurde von ihr hintergangen, und lernte dann aber, zu guter Letzt, eine verlässlichere Nachfolgerin kennen.

Alan machte seinen Abschluss und begann am städtischen College eine Ausbildung zum Mechaniker. Er hatte schon immer gern an Rädern und Autos herumgeschraubt. Jackie bekam einen Ausbildungsplatz als Krankenschwester, weniger als eine Stunde entfernt. Sie trafen sich jedes Wochenende, entweder in unserem Haus oder bei ihr. Deshalb war niemand überrascht, als sie schließlich verkündeten, sie wollten heiraten. Logisch, das lag auf der Hand! Mum und Dad nuschelten etwas darüber, ob sie denn schon alt genug wären, doch sie waren selbst nicht viel älter gewesen, und für mich war Alan immer ein Erwachsener gewesen. Darüber hinaus durfte ich im stolzen Alter von neun Jahren Brautjungfer sein, gemeinsam mit Jackies jüngerer Schwester.

Alan und Jackie hatten nicht viel Geld, aber sie mieteten eine Wohnung, und im folgenden Jahr bekamen sie ein kleines Mädchen. Sara. Alle halfen aus. Mum und Dad erstanden ein Secondhand-Babybett und einen Kinderwagen von jemandem aus der Gemeinde, und Dad half Alan an den Sonntagen, die Abstellkammer zu streichen und in ein Kinderzimmer zu verwandeln. Jackies Eltern kauften Babyspielzeug und winzige Klamotten in Puppengröße.