Die Wohltäterin - Jill Childs - E-Book
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Die Wohltäterin E-Book

Jill Childs

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Beschreibung

Das Geheimnis kann dich zerstören - und alles, was du liebst ...

Nachdem Becca von ihrem Mann verlassen wurde, nimmt sie einen weiteren Job in einem Restaurant an, um über die Runden zu kommen. Während sie nachts arbeitet, sind ihre Kinder Rosie und Alex alleine zu Hause. Dann trifft Becca auf Maddy, der es noch viel schlechter geht. Maddy hat alles verloren und etwas so Traumatisches erlebt, dass sie nicht darüber sprechen kann. Und Becca beschließt, Maddy zu helfen.

Je mehr sie Maddy in ihr Leben lässt, desto mehr Unstimmigkeiten fallen ihr auf. Diese weigert sich hartnäckig über ihre Vergangenheit zu sprechen, und während Becca versucht, die Wahrheit herauszufinden, wird Maddys Verhalten zunehmend unberechenbar. Besonders beunruhigend ist, dass sie eine immer stärkere Bindung zu der fünfjährigen Rosie aufbaut. Hat Becca statt einer Freundin, die schlimmste Feindin in ihr Leben gelassen?

Für alle Fans von Big Little Lies und The Silent Wife. Von der Autorin der Bestseller "Die Affäre" und "Das Klippenmädchen".

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Seitenzahl: 450

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Jill Childs

Die Wohltäterin

Übersetzt von Nina Restemeier

Übersicht

Cover

Titel

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Inhaltsverzeichnis

Titelinformationen

Informationen zum Buch

Newsletter

Kapitel 1 — Maddy

Kapitel 2 — Becca

Kapitel 3 — Maddy

Kapitel 4 — Becca

Kapitel 5 — Sarah

Kapitel 6 — Maddy

Kapitel 7 — Becca

Kapitel 8 — Maddy

Kapitel 9 — Becca

Kapitel 10 — Sarah

Kapitel 11 — Becca

Kapitel 12 — Sarah

Kapitel 13 — Becca

Kapitel 14 — Maddy

Kapitel 15 — Sarah

Kapitel 16 — Maddy

Kapitel 17 — Becca

Kapitel 18 — Maddy

Kapitel 19 — Sarah

Kapitel 20 — Becca

Kapitel 21 — Maddy

Kapitel 22 — Sarah

Kapitel 23 — Becca

Kapitel 24 — Maddy

Kapitel 25 — Sarah

Kapitel 26 — Maddy

Kapitel 27 — Sarah

Kapitel 28 — Becca

Kapitel 29 — Maddy

Kapitel 30 — Becca

Kapitel 31 — Maddy

Kapitel 32 — Becca

Kapitel 33 — Maddy

Kapitel 34 — Sarah

Kapitel 35 — Maddy

Kapitel 36 — Becca

Kapitel 37 — Sarah

Kapitel 38 — Maddy

Kapitel 39 — Maddy

Nachwort

Danksagung

Impressum

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Kapitel 1

Maddy

Ich kenne dich. Ich kenne dich auf eine Weise, die du dir nicht einmal vorstellen kannst.

Ich weiß, welche Zeiten du einhältst, welche Orte du besuchst. Du weißt nicht, dass ich hier bin. Für dich bin ich unsichtbar. Hier, zusammengekauert in der Ecke des Ladeneingangs, mit angezogenen Knien. Ich senke den Kopf, wenn du dich auf dem Weg zur Arbeit mit klackernden Absätzen näherst, und du gehst vorbei, ohne mir auch nur einen Blick zuzuwerfen. Du hast keine Ahnung, dass du beobachtet und verfolgt wirst.

Heute Morgen bist du spät dran, und dein kleines Mädchen, das du an der Hand hinter dir herziehst, versucht, mit dir Schritt zu halten, während ihr die Straße zur Schule hinunterhetzt. Sie ist hübsch zurechtgemacht: die Haare zurückgekämmt, die Schuluniform sauber und gebügelt. Sie ist ein bisschen mager. Vielleicht, weil ihr Geldsorgen habt, vielleicht ist sie auch einfach so gebaut. An der Ecke biegst du rechts ab und verschwindest aus meinem Blickfeld. Jetzt bist du weg, für heute.

Ich komme schwerfällig auf die Beine, sammle meine Tüten zusammen und setze mich langsam in Bewegung, die Straße hinunter Richtung Park. Dort im Eckcafé, ganz am Ende, habe ich die Chance auf ein Frühstück. Vielleicht kommt Mick auch. Er kann dort sein Handy aufladen. Die Betreiber sind nett. Das erkenne ich an ihren Augen. Sie verstehen mich. Sie wissen anscheinend, wie es ist, wenn man Hunger hat.

Der Mann war gestern Abend wieder bei dir, stimmt’s? Ich habe gesehen, wie du ihn an der Tür des Mietshauses begrüßt hast und wie er die Arme nach dir ausgestreckt hat, als er aus der Dunkelheit und Kälte zu dir hineintrat. Du hast nicht gemerkt, dass ich dich verborgen in den Schatten vom Eingang des Elektronikgeschäfts auf der anderen Straßenseite beobachtete.

Warum lässt du ihn immer wieder zu dir kommen? Liebst du ihn? Ich hoffe, er bezahlt dich nicht. Bitte nicht. Das würde ich nicht ertragen. Der schicke Mann mit dem Kaschmirmantel. Wie immer spät, deine Tochter lag schon lange im Bett. Ich möchte dich verstehen. Möchte dich kennenlernen.

Ich hielt Wache, bis die Cafés schlossen. Auch im Thai-Restaurant an der Ecke wurde es dunkel. Ich wartete, bis er wieder ging. Warum schleicht er in der Nacht zu deiner Tür und wieder weg wie eine streunende Katze? Warum habe ich euch noch nie bei Tag zusammen gesehen? Ist er verheiratet? Du hast etwas Besseres verdient.

Das möchte ich dich fragen, irgendwann. Du weißt nicht, wie sehr ich mir das wünsche. Ich möchte ein echter Mensch für dich sein, endlich sichtbar. Ich wünsche es mir, aber noch mehr fürchte ich mich davor. Was würdest du sagen? Könntest du mir jemals verzeihen? Ich habe es nie vergessen, verstehst du? Habe nie aufgehört, nach dir zu suchen. Nur die Hoffnung, dich zu finden, hat mich in dieser Welt gehalten.

Also zögere ich. Warte auf den richtigen Zeitpunkt. Darin bin ich gut geworden. Abwarten. Und beobachten.

Kapitel 2

Becca

Ich weiß nicht, wann ich sie zum ersten Mal gesehen habe – ich meine, sie wirklich wahrgenommen habe. Es war nur wegen Rosie.

Ich weiß, es klingt herzlos, aber es gibt heutzutage so viele Obdachlose. An dunklen Orten schießen sie wie Pilze aus dem Boden. Gebeugte Gestalten in Ecken und Hauseingängen, vor Ladenfronten zusammengekauert, die Beine in schmuddeligen Schlafsäcken, schäbige Plastiktüten mit ihren Habseligkeiten um sich gehäuft.

Es ist nicht so, dass ich sie nicht bemerke. Das tue ich. Ich bin mir ihrer schmerzlich bewusst. Jedes Mal, wenn ich an jemandem vorbeigehe und so tue, als sähe ich ihn nicht, fühle ich mich schuldig. Das ist unmenschlich. Ich schäme mich dafür, dass ich genug zu essen und ein Dach über dem Kopf habe, und andere nicht. Aber wie soll ich schon helfen? Ein Pfund hier, fünfzig Pence dort. Das kommt mir so unzureichend vor, dass ich am Ende gar nichts tue.

Darüber habe ich mit Mark früher oft gestritten. Er war immer sauer, wenn ich stehen blieb, um einem Bettler Münzen zu geben. Er nannte mich naiv, als wäre Freundlichkeit etwas, aus dem ich noch herauswachsen müsste.

»Die geben es doch nur für Alkohol oder Drogen aus«, spottete er. »Damit tust du ihnen keinen Gefallen, nicht wirklich.«

Eine Zeit lang habe ich dem Mann vor dem Supermarkt jeden Tag eine Tasse Kaffee gekauft, aber irgendwann wurde er etwas merkwürdig, beschwerte sich, dass nicht genug Milch und Zucker drin sei, und beschimpfte mich, seitdem ging ich ihm aus dem Weg. Psychische Probleme, eindeutig. Trotzdem sollte heutzutage niemand im Freien schlafen müssen, nicht in unserer Gesellschaft. Auch wenn wir größere Sorgen haben.

Man kann auch anders helfen, und ich spende, so viel ich kann, für wohltätige Zwecke. Die örtliche Kirche betreibt im Winter ein Obdachlosenheim – nun ja, es ist der Gemeindesaal, und montagabends können Obdachlose dort übernachten. Ehrenamtliche Helfer machen ihnen Abendessen und am nächsten Morgen Frühstück. Ich weiß das, denn bevor Rosie in die Schule kam, sind wir dienstagmorgens immer zur Spielgruppe dorthin gegangen, und, oje, der Geruch, wenn man um halb zehn reinkam. Die armen Seelen. Wir mussten alle Fenster aufreißen, egal wie kalt es war, und dann mit Argusaugen darauf achten, dass keines der Kleinkinder auf die Kommode kletterte und hinausfiel.

Aber Maddy? Sie muss wahrscheinlich schon eine Weile in einem der Hauseingänge gesessen haben, ohne dass ich sie bemerkt habe.

Rosie sieht sie zuerst. Sie sieht sie wirklich.

Wir kommen von der Schule und wollen gerade die Hauptstraße überqueren. In einer Hand trage ich eine Einkaufstüte und Rosies Schultasche, mit der anderen versuche ich, sie festzuhalten. Rosie und ihr großer Bruder Alex haben beide ihr eigenes Tempo, wenn wir zusammen unterwegs sind. Er ist ein ungeduldiger Teenager, dem alles peinlich ist, der die Augen verdreht und so schnell wie möglich nach Hause will. Rosie trödelt eher, wie ein Hund an der Leine. Sie ist in ihrer eigenen Welt: eine typische Fünfjährige. Jedenfalls springt die Ampel um und fängt an zu piepen, aber als ich einen Schritt auf die Straße machen will, hält sie mich zurück wie ein Anker. Und an dieser Ampel hat man nie viel Zeit.

»Rosie. Komm jetzt.«

Sie hat sich umgedreht und starrt auf das Bündel von Mensch auf dem Bürgersteig nahe der Kreuzung. Ein guter Ort zum Betteln. Hier müssen die Leute stehen bleiben. Ich sehe sie an. Mit angezogenen Beinen sitzt sie ans Mauerwerk gelehnt, eine schmutzige Decke über den Knien. Sie trägt eine fleckige blaue Steppjacke mit einem Riss oben am Ärmel, aus dem weißes Futter quillt. Ihre Haare sind verfilzt, und die Falten um Mund und Nase sind schwarz vor Dreck, als wäre ihr Gesicht eine Kohlezeichnung.

Ihre Augen sind beeindruckend. Leuchtend blau, wie die Jacke. Durchdringend. Und sie sieht uns direkt an. Still und abschätzend, als würde sie uns lesen. Ein bisschen unheimlich.

Ich schaue zu Rosie hinunter. Sie betrachtet die Frau mit einem komischen Gesichtsausdruck. Nicht angewidert, wie ich eigentlich erwartet hätte, sondern bloß nachdenklich.

Sie zieht an meiner Hand, ohne den Blick von der Fremden abzuwenden. »Die Frau hat kein Zuhause.«

Ich beuge mich zu Rosie hinunter und senke die Stimme. Wie peinlich. Die Frau hat es bestimmt gehört. »Ich weiß, Süße. Aber wir müssen weiter.« Ich ziehe an Rosies Hand, um sie abzulenken und in Richtung Straße zu bewegen.

Sie sträubt sich. »Aber warum?«

Die Ampel springt von dem grünen Männchen auf den Eil-Countdown um. Zehn. Neun. Acht. Zu spät. Ich seufze. Ich habe Tiefkühlerbsen gekauft, die tauen jetzt bestimmt auf. Die Autos geben wieder Gas und fahren an uns vorbei.

»Wie wär’s heute Abend mit Spaghetti Carbonara?« Alex ist nach der Schule bei einem Freund, also sind wir nur zu zweit.

Rosie und die Frau starren einander immer noch an, als könnten sie in der Seele der anderen lesen.

Ich halte ihre Hand fest umschlossen. »Und Knoblauchbrot?«

Rosie blickt zu mir auf und sagt leise, aber entschlossen: »Sie könnte bei uns wohnen.«

»Nein, Schatz. Das könnte sie nicht.« Ich bemühe mich um einen beiläufigen Ton und versuche, die Ampel mit meiner Willenskraft zum Umspringen zu bewegen.

Rosie runzelt die Stirn. »Warum nicht?«

»Wir haben keinen Platz.« Das ist der erste Grund, der mir in den Sinn kommt, doch es stimmt – bei uns ist es ohnehin schon zu beengt.

Rosie schaut nachdenklich drein. »Sie könnte das Schlafsofa haben. Im Wohnzimmer.«

Zum Glück wird die Ampel gelb, und ich mache mich bereit zum Gehen. »Komm jetzt.«

Ich muss sie förmlich über die Straße schleifen. Sie hat den Kopf immer noch nach hinten gedreht und den Blick auf die Frau gerichtet. Rosie ist ein seltsames Kind. Sie ist selbstbewusst und manchmal ein bisschen frech, aber auch gutherzig.

Auf der anderen Seite angekommen, schaut sie endlich wieder nach vorn. Ich blicke kurz über die Schulter zurück zur Ecke. Die obdachlose Frau sieht uns mit einem Lächeln auf den Lippen und einem abwesenden Blick nach. Wie viel sie wohl gehört hat? Wahrscheinlich nichts. Wahrscheinlich ist sie nur auf Drogen.

Ich denke: Das wäre erledigt.

Ich habe ja keine Ahnung.

Kapitel 3

Maddy

Mit der Zeit ist das so eine Sache. Sie verändert sich. Sie wird langsamer, langsamer, bleibt irgendwann ganz stehen. Ampeln springen um, Menschen laufen, hetzen, Läden öffnen, Läden schließen – alles eins.

Aus den Fugen.

Und falls sie doch vergeht, woher soll ich das wissen? Keine Uhr. Stoppt jede Uhr. Ist das Shakespeare? Vielleicht, vielleicht auch nicht. Glockengeläut am Sonntag. Das ist ein Anker, es kündigt den Morgen an. Es ruft die Gläubigen. Ding, Dong, die Hex’ ist tot. Und natürlich die Sonne. Sie ist das Erste, was ich sehe: fleckiges graues Licht, das in die Schwärze sickert und mich aufweckt. Es spaltet mir den Schädel, dabei will ich bloß in Ruhe gelassen werden. Es ist nicht nötig, mich zu wecken. Wozu auch?

Was auch immer in der Nacht zuvor an flüssigem Schmiermittel zur Hand war, am Morgen ist alles weg. Mein Mund ist ausgedörrt, der Kopf brummt, die Füße sind eingefroren. Nichts ist mehr da, um den Schmerz zu lindern. Leere Hände, leere Flaschen – das ist mein Leben. Ich brauche einen Moment, um zu mir zu kommen und zu verstehen, wo ich bin. Für einen Augenblick, während ich mich durch den Morast und die Düsternis an die Oberfläche kämpfe, bin ich wieder ein Kind, in dem kastenartigen Armeebett auf Zypern, Mum und Dad im Nebenzimmer. Der Ventilator an der Decke macht wusch, wusch und wirbelt die Hitze auf. Das ferne Rauschen der Wellen, die an den Strand schwappen und die Steine wie Würfel klappern lassen, wenn sie sich zurückziehen.

Dann bin ich wieder eine junge Frau, schlafe neben John, berauscht vom Sex und vom Wein, langbeinig und träge. Dann setzen die Krämpfe ein, und die Wirklichkeit holt mich ein. Schmerzende Muskeln. Schmerzende Knochen. Füße, Beine, Rücken, Schultern. Beschwerden einer alten Frau, viel zu früh. Ich drehe mich um, habe einen sauren Geschmack im Mund, spüre meine verkrusteten Augen und bin immer noch am Leben, trotz aller Widrigkeiten.

Ich habe einen neuen Platz am hinteren Ende des kleinen Parks gefunden, unten am Fluss. Auf der einen Seite gibt es einen Kinderspielplatz und einen Tennisplatz, auf der anderen Seite Bäume und dichte Büsche. Man muss genau den richtigen Zeitpunkt abpassen. Bei Einbruch der Dunkelheit wird das Tor abgeschlossen. Aber unmöglich ist es nicht. Das sind gute Nächte.

Am liebsten mag ich die Rhododendren. Sie sind in der Mitte hohl und ziemlich trocken. Man kann unten reinkriechen und sich drinnen, unter dem Blätterdach, aufsetzen. Als wir Kinder waren, dienten sie uns als Höhlen – nicht hier, sondern in Yorkshire. Als Versteck. Und später für Buchstabierwettbewerbe. Rhododendron. Rhythmus. Bei Wörtern wie diesen trennt sich die Spreu vom Weizen.

Die Gerüche versetzen mich zurück. Feuchte Erde. Pflanzensäfte. Blüten. Der Campingplatz in Yorkshire. Ununterbrochener Regen. Und davor, beim Spielen mit dem Nachbarsmädchen in Zypern, gleißendes Sonnenlicht und der Geruch von frischem Schweiß und Tannennadeln. Wie hieß sie noch mal? Daphne? Wo sie jetzt wohl ist?

Mit trüben Augen spähe ich hinaus auf den dichten Nebel, der vom Fluss aufsteigt und die Bäume einhüllt. Das Grau des Winters – ich versuche, an den Frühling zu denken. Werde ich ihn überhaupt erleben? Aus, aus, kleine Kerze! Leben ist nur ein wandelnder Schatten. Geradezu morbide, dieses schottische Stück. Von sich selbst besessen. Aber wenn man mich so ansieht, bin ich wohl eher eine der unheimlichen Schwestern als Lady Macbeth. Eine alte Hexe. Vierundfünfzig. Mit einem Bein im Grab, wenn ich nicht aufpasse.

Das Licht findet mich sogar hier, seine langen Finger stoßen zwischen den Blättern hindurch, ein grünlicher Schimmer. Das ist immer der schlimmste Teil des Tages hier draußen: der Anfang. Die Kälte dringt dir bis in die Knochen. Knochenkälte. Kein Dach. Keine Toilette. Kein Waschbecken. Kein heißes Wasser. Nicht einmal eine andere Person. Kein warmes, atmendes menschliches Wesen, das mir einen guten Morgen wünscht und mir ins Gesicht schaut, als ob es mich wirklich sehen könnte, kein Spiegel, der mir sagt, dass ich noch lebe. Knackende Gelenke. Rückenschmerzen. Dampf steigt auf, als ich ins Gebüsch pinkle und herauskrieche. Guten Morgen, ein neuer beschissener Tag, ob du willst oder nicht. Bist also immer noch da, Maddy, altes Haus. Auf geht’s.

Gestern hat mir ein junger Mann einen Becher Tee und ein Käse-Gurken-Sandwich gekauft. Die Freundlichkeit von Fremden ist immer wieder erstaunlich. Hühnchen wäre mir zwar lieber gewesen, aber ich will nicht meckern.

Und das kleine Mädchen an der Kreuzung. Sie hat mich gesehen. Ich bin also tatsächlich noch da. Die Erinnerung an sie dringt durch meine Schmerzen. Daher kam die Leichtigkeit in meinem Kopf, als ich eingeschlafen bin. Das war es. Das kleine Mädchen. Ich stehe auf, strecke mich langsam und spüre die schwache Sonne auf dem Gesicht, blass hinter den Wolken, aber trotzdem da. Vielleicht ist sie der Weg, den Gott mir aufzeigt, meine Chance. Denn ich habe die beiden zusammen gesehen – das Mädchen von der Kreuzung und das andere kleine Mädchen –, wie sie rechts und links von der Frau die Hauptstraße hinunterhüpften. Es war ein Samstag. Und einmal kamen sie auch zusammen von der Schule nach Hause, Hand in Hand. Freundinnen.

Ich hebe die prallen Plastiktüten, schwer von der Feuchtigkeit, an den zerrissenen Henkeln auf und mache mich auf den Weg zum hinteren Teil des Parks, in Richtung des Cafés, das bald öffnet. Immer einen Fuß vor den anderen, so komme ich voran.

Da ist noch eine Zeile in meinem Kopf. Irgendwas mit Wald und Flut. Aber das ist nicht von Shakespeare. Denk nach, Maddy. Komm schon, du kennst das. Ein moderner Dichter, ich habe ihn auch unterrichtet, einer irgendwo aus dem Norden. Auden! Genau! Der alte W. H. Auden, richtig?

Fegt weg den Wald und des Meeres Flut, nie wird es sein, so wie es war. Nie wieder gut.

Kapitel 4

Becca

Es dreht sich alles ums Geld. Ich werde am Fünfzehnten bezahlt, und es ist jeden Monat schwer, über die Runden zu kommen. Ich arbeite gern in der Weinbar, doch es ist nur ein Teilzeitjob, und Kochen wird nie gut bezahlt, selbst wenn man einen Anteil der Trinkgelder erhält. Aber ich will mich nicht beklagen, denn die Arbeitszeiten sind günstig. Die Mittagsschicht passt perfekt zu den Schulzeiten, und Jane ist sehr entgegenkommend. Selbst wenn die Gäste noch lange beim Kaffee sitzen, lässt sie mich immer pünktlich gehen.

Aber der Dezember ist hart. Ich vergleiche Preise und halte nach Schnäppchen Ausschau, doch Alex wünscht sich ein Computerspiel, das ein kleines Vermögen kostet, und mit vierzehn ist er pfiffig genug, den Unterschied zwischen dem Original und einer billigen Kopie zu erkennen. Und auch Rosie hat ein paar anständige Weihnachtsgeschenke verdient.

Und dann die Sache mit dem Essen. Wenn ich das Weihnachtsessen ausrichte und Mark und seine Mutter dabei sind, will ich eine gute Show abliefern und es richtig machen. Ich bin immer noch sauer deswegen. Mark hat mich unter Druck gesetzt, und ich wünschte, ich wäre nicht eingeknickt.

Ich hatte vorgeschlagen, ihm die Kinder am Morgen vorbeizubringen, damit er ihnen die Geschenke geben kann. Aber das wollte er nicht – er wollte, dass wir alle zusammen feiern, als wäre zwischen uns nichts vorgefallen. Er hat behauptet, er wolle nur das Beste für die Kinder. Es gehe nicht um ihn, sondern nur um sie. Als ob ich nicht in jeder Minute meines Lebens alles für Alex und Rosie geben würde.

Dann bettelte er: »Nur dieser eine Tag im Jahr, Becca. Bitte, gesteh mir das zu. Ich bitte dich.«

Und als ich standhaft blieb und sagte, ich müsse darüber nachdenken, wurde er schließlich garstig und warf mir vor, ich sei selbstsüchtig und böse und was nicht alles. Er schrieb mir einen seiner kindischen Briefe voller vulgärer Beleidigungen und Drohungen.

Ich habe alle seine giftigen Briefe behalten, sorgfältig verstaut in einem alten Koffer, damit Alex sie nicht zufällig findet. Vielleicht brauche ich Beweise, falls in Zukunft irgendjemand seine Meinung ändert und meint, ich hätte ihn nicht verlassen sollen, er sei doch so ein liebevoller Mann. Tja, das kann er auch sein, oberflächlich betrachtet. Niemand außer mir hat gemerkt, wie subtil dominant und manipulativ er im Laufe der Jahre wurde. Vielleicht brauche ich die Beweise auch für mich selbst, an den Tagen, an denen ich nicht ganz glauben kann, dass ich ihn tatsächlich verlassen habe, und wie rachsüchtig er wurde, als es so weit war.

Jedenfalls hat er mich mürbe gemacht, und ich habe zugestimmt, ihn und seine Mutter zu einem letzten Weihnachtsessen als Familie zu empfangen. Und dann nie wieder.

Also war mein Bankkonto schon überzogen, als die Gasrechnung hereinflatterte – noch dazu eine hohe: Wie soll man die Heizung herunterdrehen, wenn es so verdammt kalt ist? –, und ich habe versucht, bis zum Fünfzehnten irgendwie über die Runden zu kommen, und gebetet, dass die Kinder nicht auf einmal Geld für irgendetwas brauchen. In der Schule ist immer irgendwas – ein Geschenk für einen Lehrer, eine Sammlung oder Spenden für irgendwelche Zwecke.

Am Fünfzehnten schaffe ich es nicht vor Schulschluss zum Geldautomaten, denn in der Weinbar ist zu viel los. Aber auf dem Heimweg bitte ich Alex und Rosie, einen Augenblick zu warten, während ich den Kontostand checke und einen Packen Bargeld abhebe, mit dem ich die restlichen Weihnachtseinkäufe erledigen will. Das ist eine Angewohnheit von mir. Ich besitze zwar Karten, doch ich habe einen besseren Überblick über meine Ausgaben, wenn ich das Geld in der Tasche habe und die Scheine abzähle. Es hält mich davon ab, zu viel auszugeben.

Es ist eisig, ein richtiger Kälteeinbruch, und jetzt fängt es auch noch an zu regnen. In den paar Minuten, die es dauert, den Automaten zu bedienen, sterben mir die Finger ab. Ich bin fast fertig, da zieht Alex an meinem Arm.

»Mum. Sag ihr, sie soll das lassen. Bitte.«

Er sieht gequält aus vor Scham. Die beiden sind so unterschiedlich. Wie Tag und Nacht. Und mit vierzehn ist er gerade in einem schwierigen Alter.

Das ist wieder mal typisch Rosie. Ich habe ihr gesagt, sie soll einfach für zwei Minuten stehen bleiben, aber sie ist losgezogen und beugt sich über die Obdachlose, die sich ein Stück die Straße hinunter vor dem Regen in den Eingang eines Wohngebäudes zurückgezogen hat.

»Rosie!«

Sie reagiert nicht. Sie beugt sich vor, stützt die Arme auf die Oberschenkel und betrachtet die Frau, als wäre sie ein interessantes Insekt. Allein bei dem Anblick überläuft mich ein Schauer. Ich will nicht unhöflich sein, aber diese Frau stinkt bestimmt furchtbar. Und ich möchte Rosie nicht in ihrer Nähe wissen.

»Rosie!« Keine Antwort. Worüber sie auch reden – und ich sehe, dass sie reden –, Rosie ist ganz vertieft. Ich blicke zu Alex hinunter. Er verzieht das Gesicht – ich erkenne den gleichen Ekel an ihm, den ich mir nicht anmerken lassen will.

»Holst du sie bitte, Alex?«

Er zieht die Schultern hoch und marschiert davon. Ich wende mich wieder dem Automaten zu und entnehme den Kontoauszug. Das Geld ist eingegangen, Gott sei Dank. Ich fordere zweihundertfünfzig Pfund an und ziehe den Reißverschluss des Geheimfachs meiner Handtasche auf, um das Geld sofort zu verstauen.

»Lass los!«

Ein hohes Kreischen. Ich drehe mich um, fluche verhalten. Alex hat Rosie an der Schulter gepackt und versucht, sie wegzuzerren, aber sie wehrt sich und schlägt um sich. Mit einer Hand trifft sie ihn und verpasst ihm eine Ohrfeige. Die Frau, eine unförmige Masse aus alten Klamotten, erhebt sich aus den Schatten und nähert sich den beiden, um einzuschreiten. Sie hat die Hände gekrümmt wie Klauen. Sie greift nach meinen Kindern.

»Halt!« Ich renne zu ihnen, meine Schuhe patschen auf den nassen Bürgersteig, ich trenne die beiden, packe sie an den Armen und drehe sie um, um sie wegzuführen.

»Tut mir leid«, rufe ich der Frau über die Schulter zu, ohne ihr ins Gesicht zu sehen. Zu nah, sie war ihnen viel zu nah. Ich brauche Abstand. Der Regen ist heftiger geworden, peitscht uns ins Gesicht. Wir müssen nach Hause, ins Warme.

Nach ein paar Schritten wende ich mich an meinen Sohn: »Um Himmels willen, was ist los mit dir?«

Sofort sagt Alex: »Ich war das nicht. Das war …«

Ich schiebe sie weiter. »Das reicht. Ich will es nicht hören.«

Schmollend trabt Alex neben mir her, die Augen zu Boden gerichtet. Ich spüre seinen finsteren Blick, ohne ihn zu sehen.

Rosie hebt den Kopf und schaut mich an. Sie wirkt kein bisschen eingeschüchtert, sondern keck und selbstbewusst, als wäre sie sich sicher, dass sie recht hat und ich bloß überreagiere.

»Was denn, Mummy? Ich habe doch bloß mit der Frau geredet.«

»Zwei Minuten.« Der Regen wird heftiger, prasselt mir auf die Nase und tropft mir vom Kinn. »Wirklich. Kannst du nicht mal zwei Minuten lang tun, was man dir sagt?«

Sie zuckt mit den Schultern, wirkt ungerührt. Ein paar Minuten lang kämpfen wir uns in einer Reihe voran, stemmen uns gegen den Wind. An der Ecke zu unserer Straße lockere ich meinen Griff.

»Ich weiß was, was du nicht weißt.« Rosie wirft Alex um mich herum einen Blick zu, um zu sehen, ob er darauf anspringt. Er funkelt sie finster an. »Maddy. Sie heißt Maddy.« Rosie lächelt triumphierend zu mir auf. Ich höre förmlich, wie sie, tief über den Haufen gebeugt, der die Obdachlose ist, mit ihrer fröhlichen, betörenden Stimme fragt: »Hallo, ich bin Rosie. Und wie heißt du?«

»Weißt du, was noch?«

Wir stehen vor unserem Wohnhaus, und ich wühle in meiner Manteltasche nach dem Haustürschlüssel. Meine Hände sind so taub, dass ich ihn kaum ins Schloss bekomme. Sobald die Tür offen ist, drängt Alex sich an mir vorbei und stürmt hinauf zu unserer Wohnung im obersten Stock.

Ich bin erleichtert, dass wir hier drinnen sind, in Ruhe, in Sicherheit, geschützt vor Wind und Regen. Ich bugsiere Rosie die Treppe hinauf, und wir drängen uns hinein. Alex verschwindet im Kinderzimmer. Ich nehme Rosie den Mantel ab, dann ziehe ich sie hinter mir her in die Küche, wo ich ihr die nassen Haare abrubbele.

Sie redet immer noch. »Sie heißt genauso wie ein Kuchen, hat sie gesagt.«

Ich höre nur halb zu. »Ein Kuchen?«

Sie nickt nachdrücklich und kichert vor sich hin. »Sie ist lustig.«

Ich setze sie mit ihrem Malbuch an den Küchentisch, schalte den Wasserkocher ein, packe die Einkäufe aus und koche Tee. Die Füße tun mir weh, mein Kopf dröhnt, und ich zittere. Der Regen ist durch meinen Mantel gedrungen und hat nasse Flecken auf meinen Schultern und Oberarmen hinterlassen. Ich sollte mich umziehen, aber es ist schon halb fünf, und ich möchte, dass um fünf das Abendessen auf dem Tisch steht, sonst werden wir bis zur Schlafenszeit nie fertig mit Hausaufgaben und Baden und allem.

Erst um acht Uhr, als Rosie schon schläft und Alex nach seinen Schularbeiten ausgestreckt auf dem Boden liegt und mit flitzenden Daumen in ein Computerspiel versunken ist, hole ich meine Handtasche, um das Geld herauszunehmen und zu verstauen. Mein Magen geht auf Talfahrt, als ich durch Haarspangen und zerknüllte Taschentücher, Bonbonpapiere und versprengte Münzen wühle und meine Finger nichts anderes ertasten als das Innenfutter und Leere, aber keine Scheine.

Ich lasse mich schwer auf den Küchenstuhl fallen, starre aus dem Fenster in die Dunkelheit und sehe mein blasses Gesicht und die gekrümmten Schultern in der Scheibe gespiegelt. Entsetzt. Erledigt. Mir ist schlecht. Ich sehe es vor mir. Der gedruckte Kontoauszug. Dann das Rattern des Geldautomaten, das Bündel Geldscheine, zweihundertfünfzig Pfund, die im Ausgabeschlitz stecken und darauf warten, entnommen zu werden.

Ich blicke hinunter auf meine Finger, die einander auf dem Küchentisch umklammern, so dass die Knöchel weiß werden. Rosies Schrei. Die bedrohliche Obdachlose. Meine Lippen zittern. Ich weiß genau, was passiert ist. Ich habe das Geld dort vergessen. Zweihundertfünfzig Pfund, dem glücklichen Finder auf dem Silbertablett serviert. Und es geht nicht bloß um das Geld. Es geht um die Geschenke für die Kinder. Das Essen. Es ist Weihnachten.

Irgendwie schaffe ich es, mich in Bewegung zu setzen.

»Alex, ich bin fünf Minuten weg. Bitte. Bleib einfach hier, ja?«

Er blickt nicht einmal auf, ist meilenweit weg in seinem Spiel. Er wird nicht abhauen. Ich werde damit durchkommen, solange Rosie nicht aufwacht.

In meinem immer noch nassen Mantel und mit wehenden Haaren renne ich die Treppen hinunter und auf die Straße. Der prasselnde Regen vereist meine Wangen. Bitte, lieber Gott, mach dass es noch da ist. Bitte. Ich brauche das Geld, wirklich. Nicht für mich, für die Kinder.

Es ist bestimmt weg, das ist mir schon beim Laufen klar. Mein Atem geht schwer und keuchend vor Panik. Seit ich da war, sind Stunden vergangen. Dutzende werden den Automaten benutzt haben. Sicher war irgendjemand direkt hinter mir und hat das Geld genommen. Aber ich muss es versuchen. Ich muss zumindest nachsehen. Wenn ich gleich morgen früh bei der Bank anrufe, können sie vielleicht die Aufzeichnung der Überwachungskameras ansehen, herausfinden, wer es genommen hat, und denjenigen irgendwie ausfindig machen.

Als ich um die Ecke auf die Hauptstraße abbiege, schlägt mir der Wind ins Gesicht. Die Straße glänzt feucht und reflektiert die schrillen Farben der Weihnachtsbeleuchtung und Dekoration in den Pubs und Bars und Restaurants. Raucher drängen sich in den Eingangsbereichen, die Kragen gegen die Kälte hochgeschlagen. Dunkle Horden von Pendlern auf dem Heimweg kommen mir mit eingezogenen Köpfen, die Hände tief in den Manteltaschen vergraben, von der U-Bahn-Station entgegen und versperren mir den Weg. Panisch drängle ich mich zwischen ihnen hindurch, remple gegen Schultern, als käme es jetzt noch auf eine Minute an, als könnte ich jemanden auf frischer Tat dabei ertappen, wie er unser Geld einsteckt.

Als ich mich nähere, kann ich durch die Menge schon einen Blick auf den Geldautomaten erhaschen. Da ist jemand. Eine dunkle, gedrungene Gestalt, still im Regen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Die kauernde Gestalt einer Frau.

Ich breche aus der Menge aus und renne das letzte Stück. Sie ist es. Füllig, nicht von Fett, sondern von mehreren Schichten alter Klamotten. Ich erreiche den Automaten, starre ihn an, betaste den leeren Schlitz, wo das Geld gewesen ist. Ich wusste es. Dass es weg ist. Ich musste es bloß mit eigenen Augen sehen.

Neben mir kommt sie auf die Beine und nähert sich. Mir liegt auf der Zunge: Wenn du mich um Geld anbetteln willst, vergiss es. Ich bin jetzt selber pleite. Doch sie nickt mir bloß zu, wirkt nicht überrascht. Der Geruch von Fett und altem Schweiß weht zu mir herüber. Zu nah.

»Sie haben sich aber ganz schön Zeit gelassen.«

Sie steckt eine Hand in die Tasche, holt ein Bündel Geldscheine heraus und hält es mir hin. Ich greife danach und zähle. Zweihundertfünfzig Pfund. Mein Geld. Das ist es doch, oder? Verwirrt sehe ich sie an.

Sie schürzt die Lippen und mustert mich. »Es ist alles noch da.«

Ich bin beschämt. »Ich meinte nicht …«

Sie winkt ungeduldig ab. Ihr Gesicht wirkt ausgezehrt vor Kälte. Die Haare kleben ihr in nassen Strähnen an den Wangen. Sie muss ein Eisklumpen sein. Ich schüttele den Kopf und versuche, das alles zu verstehen.

»Woher wussten Sie das?«

»Ich wusste es nicht.« Sie neigt den Kopf. »Ich habe bloß nachgesehen, nachdem Sie weggegangen sind. Sie waren so in Eile.«

Natürlich war ich das. Ich konnte es nicht abwarten, meine Kinder von ihr, von ihrem Gestank fortzuziehen.

Sie fährt fort: »Direkt nach Ihnen kam ein junger Mann. Er hätte das Geld genommen. Wenn er sich nicht so gefreut hätte, wäre er mir gar nicht aufgefallen.« Sie stößt ein kurzes, scharfes Lachen aus. »Ich habe ihn verscheucht. Habe die Verrücktennummer abgezogen, Sie wissen schon.« Sie hebt die Hände, wedelt damit herum und heult auf.

Ich starre sie ungläubig an. Sie sieht tatsächlich verrückt aus.

»Und Sie haben die ganze Zeit hier gesessen?« Ich rechne nach. Vier Stunden. Bei schneidendem Wind und eisigem Winterregen hat sie auf mich gewartet und mein Geld gegen die Welt verteidigt.

»Ich wollte damit nicht weggehen.« Sie zögert, als wäre es schwer zu erklären. »Stellen Sie sich vor, jemand hätte es gesehen. Was dann los gewesen wäre.« Sie schluckt, und ich sehe die Sorge in ihrem Gesicht. »Ich wusste, dass Sie früher oder später zurückkommen würden.« Sie lacht wieder. »In Ihrem Fall eher später.«

Sie bewegt sich zurück in Richtung des Hauseingangs, wo sich geschützt vom schlimmsten Regen immer noch ihre Plastiktüten häufen. Ich blicke auf das Geld in meiner Hand, nehme einen Zehn-Pfund-Schein, zögere, füge noch einen zweiten hinzu, dann laufe ich ihr nach und halte sie ihr hin.

»Ich bin Ihnen so dankbar.«

Sie schnalzt mit der Zunge und schiebt das Geld von sich. »Ist schon gut.« Sie lächelt, und ihre blauen Augen blitzen. »Kaufen Sie Rosie etwas Schönes.«

Es ist ein Schock, sie Rosies Namen sagen zu hören. Als ob sie uns kennen würde, als ob sie eine Freundin wäre. Das gefällt mir nicht. Ich möchte ihr den Namen wieder entreißen, aber es ist Rosies, nicht meiner.

»Maddy, richtig?« Ich denke daran, wie Rosie gekichert hat. »Irgendwas mit einem Kuchen?«

Sie lacht, urplötzlich und überraschend. »Das hat sie erzählt? Das fand sie lustig, oder?« Sie lächelt bei der Erinnerung daran. Dieses einminütige Gespräch mit meiner Kleinen muss das Highlight ihres Tages gewesen sein. Das Gespräch, das ich so abrupt unterbrochen habe. Mit wie vielen Leuten sie heute wohl sonst noch geredet hat? Vielleicht mit niemandem.

»Entschuldigung, ich muss zurück. Die Kinder sind allein …«

Plötzlich wirkt sie zornig. »Sie sollten sie nicht allein lassen. Nie.« Mit einer Hand scheucht sie mich weg. »Sie sind noch viel zu klein.«

»Ich weiß. Normalerweise mache ich das auch nicht, aber …« Ich beiße mir auf die Lippe. Ich möchte ihr sagen, was für ein Riesenverlust es gewesen wäre, wie dringend wir das Geld brauchen, das ich nun fest in der Manteltasche umklammert halte, das uns über Weihnachten und bis ans Monatsende bringen wird. Aber auf einmal fühle ich Tränen in mir aufsteigen, und ich muss schwer schlucken, um sie zurückzuhalten. Mein Unterkiefer ist angespannt und zittert. Ich bringe kein Wort heraus.

Aus einem Impuls heraus gehe ich an ihr vorbei und hebe die prallen Tüten auf.

Sie sind schwer vor Nässe, die Henkel sind glitschig. Als ich mich wieder umdrehe, schaut sie mich fragend an, und ich zögere und befürchte, ich könnte das Falsche getan haben. Ich nehme ihren Arm und spüre, wie sie nachgibt, sich führen lässt.

»Sie sind tropfnass. Kommen Sie wenigstens mit zu mir und trocknen sich ab.«

Alex’ Gesicht klebt am Fenster, er blickt vom dritten Stock herunter, von hinten angestrahlt vom Wohnzimmerlicht. Er winkt, als er mich sieht, und ich spüre seine Erleichterung. Doch dann lässt er die Hand sinken. Er hat sie an meiner Seite gesehen, nass und dreckig, als sie mit mir durch das Tor getreten ist und den Fußweg entlangschlurft.

Das Treppenhaus ist verlassen, und ich bin froh darüber. Dankbar, dass auf allen Etagen die Wohnungstüren geschlossen sind. Besorgt, dass ihr saurer, ranziger Geruch hängen bleiben und mich in Schwierigkeiten bringen könnte.

Als wir in die Wohnung kommen, ist Alex verschwunden. Er hat sich im Kinderzimmer versteckt.

Ich schließe die Tür und lege einen Finger auf die Lippen. »Die beiden schlafen«, flüstere ich.

Sie antwortet, ein bisschen keck: »Das will ich wohl meinen.« In dem engen Flur bleibt sie stehen, sieht sich im schwachen Licht um: die offene Tür zu unserem kleinen Wohnzimmer, vollgestellt mit Möbeln und Kindersachen, daneben mein Schlafzimmer mit der zerknitterten Bettdecke, die geschlossene Tür zum Kinderzimmer, und zu ihrer Rechten das Badezimmer und die große, offene Küche, das Herzstück der Wohnung.

Ich hatte erwartet, dass sie dankbar sein würde, überwältigt von meiner Güte, weil ich ihr unsere Tür geöffnet habe, wenn auch nur für einen Moment.

Stattdessen rümpft sie die Nase und sagt: »Ein bisschen klein, oder nicht?«

Ich atme tief durch. »Tee?«

Sie nickt. Als sie einen Schritt vorwärtsgeht, hinterlassen ihre nassen Schuhe Flecken auf dem Teppich.

»Ist das das Badezimmer?«

Ich stelle ihre dreckigen Tüten auf der Fußmatte ab und nicke.

»Gut.« Sie geht noch ein paar Schritte und späht hinein. »Am allerliebsten hätte ich ein heißes Bad. Darf ich?«

Ich gehe saubere Handtücher holen, entscheide mich für die alten, die wir in den Ferien zum Schwimmen mitnehmen, und frage mich, was um Himmels willen ich da angefangen habe.

Sie verschwindet im Bad, und ich schleiche herum und lausche. Es ist ganz still. Dann höre ich das Wasser rauschen. Es rauscht so lange, dass ich schon Angst habe, die Wanne könnte überlaufen. Wir baden nur mit wenig Wasser, um die Wasserrechnung niedrig zu halten – in der Hinsicht sind die Kinder gut erzogen. Wieder Stille. Ich nehme meinen Mut zusammen und klopfe an die Tür.

»Maddy, ich stelle eine Waschmaschine an, möchten Sie …«

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht? Kochwäsche, das tötet die Bakterien ab.«

Eine Pause, dann geht die Tür einen Spalt auf, und eine duftende Dampfwolke quillt heraus. Sie hat sich eindeutig am Schaumbad bedient. Ein schmaler, nackter Arm schiebt einen Haufen dreckiger Kleidung heraus. Eine durchnässte Masse auf dem Teppich. Die Tür geht wieder zu.

Ich bemühe mich, nicht zu würgen, wende das Gesicht ab und fasse alles zu einem dreckstarrenden Bündel zusammen, das ich in die Küche trage und vor der Waschmaschine auf den Boden fallen lasse.

Ich bin nicht empfindlich. Ich bin es gewohnt, schmutzige Unterhosen und Bettwäsche zu waschen. Rosie passiert immer noch hin und wieder ein Malheur. Außerdem neigt sie dazu, sich nachts übergeben zu müssen, die arme Kleine. Ich brauche nur ihr schwaches »Mummy, Mummy!« zu hören, und ich lasse alles stehen und liegen und renne zu ihr. Dann sitzt sie meistens aufrecht im Dunkeln in dem unteren Bett, blass und mit zerzausten Haaren, und bringt gerade noch heraus: »Ich brauche die Schüssel«, bevor sie sich erbricht. Alex im oberen Stockbett bekommt meistens gar nichts davon mit.

Aber das hier ist etwas anderes. Es ist nicht nur der Dreck einer Erwachsenen, sondern vor allem einer Fremden. Ich habe keine Ahnung, was da alles drin ist. Bakterien. Läuse. Ich beuge mich über den Haufen und schiebe ihn vorsichtig mit dem Fuß auseinander. Ich sehe einen vergilbten BH, robust und zweckmäßig. Drei oder vier dreckverkrustete Steppwesten. Eine dünne schwarze Strickjacke und eine dickere rote. Eine Fleecejacke. Die zerrissene Jacke, die sie obendrüber trägt. Mindestens drei Socken, schwarz vor Dreck. Irgendwo muss auch eine Unterhose sein, aber ich will gar nicht genauer hinsehen.

Ich falte die Jacke zu einem Ball und schnüre sie fest zusammen, damit sie nicht noch mehr Füllung verliert. Wenn nach ihrem Bad noch Zeit ist, kann ich das für sie ausbessern. Dann stopfe ich alles in die Waschmaschine, fülle so viel Waschpulver hinein, wie in das Einspülfach passt, und stelle ein extralanges Programm ein, Kochwäsche. Als sie anfängt zu rotieren und zu schwappen, trete ich ans Spülbecken und schrubbe mir die Hände.

Im Kinderzimmer ist es dunkel und still, als ich die Tür einen Spalt aufschiebe. Rosie liegt ausgestreckt auf dem Bett, hat die Decke weggestrampelt und die Arme ausgebreitet. Ich lächle, gebe ihr einen Kuss auf die Stirn und atme ihren frischen, sauberen Duft ein.

Alex im oberen Bett hat sich der Wand zugedreht, die Spielekonsole wirft ein schwaches Licht. Er hat seine Kopfhörer auf. Er weiß, dass ich im Zimmer bin, das spüre ich an seiner angespannten Körperhaltung und dem flachen Atem, aber er zieht es vor, mich zu ignorieren. Das tut er häufig in letzter Zeit, seit ich seinen Vater verlassen habe.

Ich berühre ihn an der Schulter. »Alles klar, Kumpel?«

Einen Moment lang regt er sich nicht, als überlegte er, ob er mich beachten soll oder nicht. Schließlich dreht er sich ein wenig, nimmt die Kopfhörer ab und fragt: »Was macht sie hier?«

Ich zögere. »Ich hätte fast unser Geld verloren. Unser Weihnachtsgeld. Sie hat darauf aufgepasst.«

Er antwortet nicht.

»Sie bleibt nicht lange.« Ich halte inne und lausche dem Regen, der ans Fenster prasselt. »Draußen schüttet es.«

Er grunzt. »Sie stinkt.«

»Komm schon, das ist nicht nett.«

Ich seufze. Ich möchte mich nicht mit ihm streiten. Im Moment halten mein Sohn und ich einen zerbrechlichen Waffenstillstand ein. Er findet sich damit ab, dass er sich mit seiner kleinen Schwester ein Zimmer teilen muss, und gibt sich Mühe in der Schule, und im Gegenzug setze ich ihm nicht mehr wegen seiner Computerspiele zu. Ich schaue ihn an, wie er da mit seinen langen Gliedmaßen schmollend auf dem oberen Bett liegt. Er war einmal so ein süßer Junge, genauso großherzig wie Rosie.

Um ihn zu besänftigen, sage ich: »Außerdem ist sie gerade im Bad und macht sich sauber.«

Er dreht sich um und schaut mich mit großen, entsetzten Augen an. »In unserem Bad? Igitt.«

Ich streiche ihm die Haare aus der Stirn, und er weicht zornig zurück. Er macht sich zu viele Sorgen. Ich weiß, dass er sich für Rosie und mich verantwortlich fühlt – seit letztem Frühling, nachdem ich Mark verlassen habe. Alex stand ihm am nächsten und vermisst ihn am meisten. Und Mark nutzt das aus. Ich habe gehört, wie er zu Alex gesagt hat, er sei jetzt »der Mann im Haus«. Er müsse jetzt »auf Mum und die Schwester aufpassen«. Es ist grausam, einem Vierzehnjährigen eine solche Bürde aufzuerlegen. Und sexistisch, weil es impliziert, ich sei irgendwie keine echte Erwachsene, weil ich eine Frau bin. Typisch Mark.

»Stell dich nicht so an«, sage ich. »Das ist in Ordnung.«

Er sieht mich zweifelnd an. »Was, wenn es in der Schule herauskommt?«

»Wird es nicht. Wenn du nichts erzählst, erzähle ich auch nichts.« Ich küsse meine Fingerspitze und tippe ihm damit auf die Nase. »Und jetzt schlaf.«

Ich wirtschafte in der stillen Küche herum, koche Nudeln, reibe Käse und taue eine Portion Tomaten-und-Gemüsesoße auf, während ich angestrengt auf Geräusche aus dem Badezimmer lausche. Die Küchenuhr tickt die Minuten hinunter. Die Waschmaschine schleudert. Mein Handy vibriert, und ich zögere einen Moment, bevor ich draufschaue, aus Angst, es könnte Mark sein. Ich habe ihm schon so oft gesagt, er soll die endlosen Nachrichten, die Anrufe, die unangekündigten Besuche zu jeder Tageszeit unterlassen. Er lässt jedes Mal den Kopf hängen und sagt: »Ich vermisse euch eben, ist das so schlimm?«

Aber es ist mehr als das. Ich kenne ihn. Er kann nicht akzeptieren, dass mein Leben ohne ihn weitergeht.

Doch diesmal ist er es nicht. Es ist Sarah von unten.

Hi Süße. Kann R am Mittwoch nach der Schule zum Spielen kommen? LG S.

Ich gehe zum Kalender und sehe nach. Rosie brauche ich gar nicht erst zu fragen, sie und Sarahs Tochter Ella sind unzertrennlich, seit sie im letzten Jahr zusammen in die Schule gekommen sind.

Ich schreibe zurück.

Perfekt. Danke.

Sie antwortet sofort.

Alles gut bei dir?

Ich stelle sie mir vor, drei Etagen tiefer, allein. Ella schläft bestimmt schon. Der Fernseher flackert lautlos, während Sarah in der Wohnung auf und ab läuft, wahrscheinlich mit einem Drink in der Hand.

Ich zögere. Sarah ist mittlerweile eine gute Freundin, warum möchte ich also nicht, dass sie von Maddy erfährt? Es würde ihr nicht passen, da bin ich mir sicher. Und ich schäme mich, zuzugeben, was ich getan habe. Also erzähle ich es nicht. Ich schreibe einfach zurück:

Alles gut. Bis bald. LG

Der Wind peitscht den Regen ans Küchenfenster. Wie muss es für Maddy sein, kein Zuhause zu haben, wo kann sie die Nacht verbringen? Irgendwo muss sie doch schlafen. In einem Heim oder einer Notunterkunft. Die können doch nicht alle voll sein.

»Darf ich mir was borgen? Einen Mantel?«

Ich gehe in den Flur. Sie lugt aus dem Badezimmer, durch den Türspalt sind nur ihr Gesicht und eine Hand zu sehen. Ihre Haare hängen in schlaffen, nassen Strähnen herunter. Einen Mantel?

»Einen Bademantel.« Wieder schaut sie mich an, ungeduldig. »Sie haben meine Sachen.«

»Einen Moment.«

Ich krame in meinem Schrank und hole ein altes T-Shirt und einen Pullover, den ich schon längst dem Sozialkaufhaus spenden wollte, heraus. Dazu Socken und eine Lycra-Jogginghose. Ich weiß nicht, ob ihr die Sachen passen, aber sie sind weit und dehnbar, und außerdem habe ich selber nicht viel und werde ihr sicher nicht meine beste Jeans überlassen.

Ich bin gerade dabei, die Nudeln abzugießen und die Soße zum Kochen zu bringen, da erscheint sie in der Küche. Sie hat sich ein Handtuch um den Kopf geschlungen und lässt das zweite vor der Waschmaschine fallen. Ich deute auf einen Küchenstuhl und bemühe mich, sie nicht anzustarren, als ich die Teller und das Schälchen mit dem geriebenen Käse auf den Tisch stelle und uns beiden Wasser eingieße.

Sie sieht ganz anders aus. Sauberer natürlich, und sie riecht besser, was an sich schon eine Erleichterung ist. Sie muss sich richtig gut abgeschrubbt haben. Die schwarzen Linien, die so tief eingraviert schienen, sind verschwunden, und ihre Haut ist gerötet. Sie hält die Schultern sehr gerade, vielleicht, um das Gewicht des Handtuchturbans auszubalancieren, und es verändert ihr gesamtes Erscheinungsbild. Sie wirkt königlich mit ihren durchdringenden blauen Augen und dem abgeklärten Blick. Und deutlich jünger als vorhin. Ihr Anblick jetzt und die Erinnerung daran, wie sie noch vor einer Stunde ausgesehen hat, muten unglaublich traurig an.

Sie scheint meinen Blick zu deuten. »Sehet!«, verkündet sie mit einer ausladenden Geste und einem spitzbübischen Grinsen. »Sehet, Venus ist auferstanden.«

Es ist seltsam, sie in meinen alten Sachen zu sehen. Wir sind ungefähr gleich groß, aber sie ist magerer als ich, die Hose sitzt ihr locker auf der knochigen Hüfte.

Ich schöpfe Soße auf ihre Nudeln und bedeute ihr, dass sie sich selbst Käse nehmen soll. Ich erwarte, dass sie über das Essen herfällt – wer weiß, wann sie das letzte Mal eine richtige warme Mahlzeit hatte? –, doch sie sitzt einen Moment einfach da und betrachtet schweigend den Teller. Ich zögere. Kurz denke ich, ob sie wohl betet, aber sie wirkt nicht fromm, eher, als wartete sie auf etwas.

»Pfeffer?«

Sie sagt es höflich, trotzdem fühle ich mich getadelt, und hektisch springe ich auf und wusele zum Küchenschrank, um zu sehen, was wir dahaben. Ich finde eine billige Plastik-Pfeffermühle aus dem Supermarkt. Sie sieht sie skeptisch an, als wäre es nicht der Standard, den sie gewohnt ist, dann würzt sie ihre Portion. Wieder eine Pause. Wenn sie so weitermacht, wird das Essen kalt. Ärger steigt in mir auf. Ich weiß nicht, wie es mit ihr ist, ich habe jedenfalls Hunger.

»Ich möchte keine Umstände machen«, sagt sie vorsichtig, »aber könnte ich bitte eine Serviette haben?«

Ich reiße ein Blatt von der Küchenrolle ab und schiebe es ihr hin. »Das ist alles, was wir haben. Mehr können wir uns nicht leisten.«

Sie lächelt und legt es sich graziös auf den Schoß, als wäre es feinste Baumwolle, dann hebt sie das Wasserglas zu einem Trinkspruch, als wäre meine kleine, schäbige Küche ein vornehmer Bankettsaal.

»Auf meine freundliche Gastgeberin«, beginnt sie. »Selbst unbedeutende Menschen können bisweilen Wohltaten mit Wucher vergelten, darum behandle auch den Geringsten nicht übermütig. Wissen Sie, von wem das Zitat stammt?«

Ich schüttele den Kopf, nehme mein Besteck und fange an zu essen.

»Aesop.« Sie sieht mich fragend an. »In einer seiner Fabeln. Ich weiß nur nicht mehr, in welcher.« Sie wirkt besorgt, als sie zu essen anfängt. »Ich habe sie in der Schule gelesen. Wahrscheinlich liest man die heute gar nicht mehr, was? Ein dickes gebundenes Buch mit herrlichen Illustrationen. Irgendwas mit einem Löwen. Nein, nicht der mit dem Dorn in der Pfote, das war Androkles. Was war es nur? Ich kann das Bild förmlich sehen, ein Löwe mit einer gewaltigen Mähne. Mein Vater hat so etwas immer gesagt: Ich sehe sie förmlich vor mir – als er anfing, Namen zu vergessen. Damals habe ich das nicht verstanden. War zu jung. Jetzt verstehe ich es.«

Eine Weile sitzen wir schweigend da und essen. Wie ich so neben dieser Frau sitze, fällt mir auf, wie wenig ich über sie weiß. Ich wollte einfach nett sein, als ich sie zum Aufwärmen und auf eine warme Mahlzeit zu uns eingeladen habe. Aber ich habe es nicht ganz durchdacht. Nun, da ich ihre starke Persönlichkeit zu spüren bekomme, frage ich mich, ob es vielleicht ein Fehler war. Ob ich etwas angefangen habe, das ich möglicherweise bereuen werde.

Vielleicht hatte Alex recht. Ich hätte darauf bestehen sollen, dass sie die zwanzig Pfund nimmt, und weggehen sollen.

Die Waschmaschine schleudert und rumpelt, als wollte sie abheben, dann kommt sie endlich piepsend zum Stehen. Immer noch kauend stehe ich von meinem Stuhl auf und starte den Trocknergang.

Sie fragt: »Wie alt ist Rosie?«

»Fünf.«

Meine Laune hat sich verändert. Ich bin jetzt müde und mürrisch, weil ich die wenigen Stunden des Tages, die ich sonst für mich habe, geopfert habe, und denke an die zusätzliche Arbeit, die sie mir bereitet. Das Geschirr ist schmutzig, und nach dem Essen werde ich das Bad putzen müssen.

»Und Ihr Sohn?«

»Vierzehn.«

Auf einmal komme ich mir unhöflich vor, aber ich möchte nicht, dass sie zu viel über unsere Familie erfährt. Ich kann sie immer noch nicht einschätzen. Vielleicht ist sie drogenabhängig oder gewalttätig oder hat irgendeine ansteckende Krankheit, die für die Kinder gefährlich sein könnte. Wieso ist sie obdachlos, wenn das heutzutage doch niemand mehr sein müsste? Was ist in ihrem Leben so schiefgelaufen, dass sie in diesem Hauseingang gelandet ist?

»Wie wunderbar!«, sagt sie plötzlich.

Ich blicke auf. Sie hat ein wehmütiges Lächeln auf dem Gesicht, und ich drehe mich um, um zu sehen, wohin sie schaut. Nichts, nur die Wand. Das kleine Fenster mit dem Kaktus auf der Fensterbank. Die Pinnwand voller Kinderzeichnungen und Schulbriefe. Was ist ihr ins Auge gefallen?

»Was für ein Glück Sie haben«, sagt sie beinahe selbstmitleidig. »Sie haben eine Uhr.«

Ich seufze und antworte nicht. Draußen prasselt der Regen stärker denn je, peitscht in plötzlichen Böen gegen die Scheibe. Ich kann es nicht ändern, aber mir passt das nicht. Sie passt mir nicht.

Als sie ihren Teller leer gegessen hat, tupft sie sich die Lippen mit dem Küchentuch ab und lächelt. »Ambrosia«, sagt sie. »Die Speise der Götter. Das ist einer der größten Segen des Lebens, ein gutes Essen in einem echten Zuhause.«

Jetzt fühle ich mich schuldig, weil ich, trotz aller Schwierigkeiten, so viel habe und sie eindeutig so wenig. Sie wirkt verschroben – immer diese Zitate und die pingeligen Tischmanieren –, aber ich habe ein Dach über dem Kopf und Essen auf dem Tisch und wunderbare Kinder, und was hat sie? Ich stehe auf, räume die Teller ab und stelle sie in die Spülmaschine. Dann setze ich Wasser auf.

»Tee oder Kaffee?«

»Ich mache Ihnen so viele Umstände.«

Ich mache uns beiden Tee aus demselben Teebeutel, gebe einen Spritzer Milch dazu und stelle ihn in einem von meinen klobigen Steingutbechern vor sie hin. Mit den Augen warne ich sie, jetzt bloß nicht nach Porzellantässchen und Untertasse zu fragen.

Sie lächelt kaum wahrnehmbar, als sie sich bedankt. »Sie sind nett. Sehr nett. Ich kann gar nicht sagen, was mir das bedeutet.«

Ihr steigen Tränen in die Augen, und ich wende mich beschämt ab. Ich bin in einem Zwiespalt – wohin wird sie gehen, wenn ich sie hinauswerfe?

»Gibt es vielleicht ein Wohnheim oder etwas anderes, wo Sie heute Nacht bleiben können?«

Es ist mir wichtig, dass sie langsam darüber nachdenkt, wohin sie als Nächstes geht. Sie darf sich hier bloß aufwärmen, ich nehme sie nicht auf. »Können Sie irgendwo übernachten?«

Sie spricht sehr leise, als schmerzte es, zu erklären. »Eigentlich nicht. Es gibt mehr Menschen als Plätze, wissen Sie?« Sie zögert. »Und das sind keine Orte, wo man sein möchte. Vertrauen Sie mir.«

Ich schüttele den Kopf. Ihr vertrauen? Wie könnte ich das? Ich kenne sie nicht, weiß nicht, was sie tun würde. Aber wie kann ich sie hinauswerfen, wenn es immer noch regnet? Das ist nicht richtig.

»Möchten Sie … Ich denke, Sie könnten im Wohnzimmer schlafen«, höre ich mich sagen.

Bei den Worten leuchten ihre Augen.

»Aber nur eine Nacht. Und das war’s. Okay?«

Sie nickt und wirkt so erleichtert und so kleinlaut, dass ich mich ganz elend fühle.

Ich wackle mit dem Finger. »Und Sie bleiben da drin, klar? Ich habe einen leichten Schlaf. Wenn ich Sie höre …«

Sofort hebt sie die Hände, sieht mich mit großen Augen an und fügt sich meinen Regeln.

Ich nehme meinen Teebecher, marschiere ins Schlafzimmer und hole saubere Laken, dann gehe ich ins Wohnzimmer und bemühe mich, genug Platz zu schaffen, um das Schlafsofa auszuklappen.

Sie kommt mir nach und bleibt in der Tür stehen, wärmt sich die Hände an ihrer Tasse und schaut mir verlegen zu, wie ich Laken falte und feststecke und die Gästekissen in Bezüge stopfe. Noch mehr Wäsche.

»Es ist so gemütlich hier.« Sie hält inne. »Ich werde so gut schlafen wie eine Raupe im Kokon.«

Ich werfe das Kissen an die richtige Stelle. An Insekten möchte ich jetzt gar nicht denken.

»Hören Sie, es tut mir leid, aber ich muss das fragen.« Ich hole tief Luft und bereite mich auf die Frage vor, die mir im Kopf herumspukt, seit sie die Wohnung betreten hat. Ich höre auf, die Laken glatt zu streichen, und zwinge mich, zu ihr hinüberzuschauen. »Ich habe Kinder. Sie nehmen doch keine Drogen, oder?«

Die Frage steht eine Weile zwischen uns. Kurz wirkt sie zu indigniert, um etwas zu sagen, und ich glühe vor Scham. Ich musste sie fragen. Ich musste.

Schließlich antwortet sie, betont jedes Wort mit theatralischer Sorgfalt: »Ich versichere Ihnen, dass ich keinen Missbrauch illegaler Substanzen betreibe. Habe ich noch nie, werde ich auch nie. Und ich bin nicht vorbestraft.«

Sie geht zum Fenster hinüber, fingert am Riegel herum und schiebt den Rahmen klappernd nach oben. Sofort fegt ein eisiger Wind hinein. Sie zögert und lässt das Fenster wieder herunter, bis nur noch ein schmaler Spalt offen steht. Ich überlege, ob ich sie auffordern soll, es wieder zu schließen, doch dann hole ich tief Luft und beiße mir auf die Lippen. Wahrscheinlich habe ich sie heute schon genug angegriffen.

Ihr Blick wandert zum Bücherregal. »Lesen Sie viel?«

Ich versuche, mir meine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. »Hab leider nicht viel Zeit.«

»Früher war ich Englischlehrerin«, sagt sie. »Ich liebe Bücher.«

»Warum haben Sie es aufgegeben?« Ich kann mich gerade noch davon abhalten, hinzuzufügen: Wenn Sie es doch so geliebt haben. Es fällt mir schwer, den Sarkasmus aus meiner Stimme herauszuhalten. Ihr königliches Gebaren geht mir auf die Nerven.

Sie wendet den Blick ab und redet weiter, ohne auf meine Frage zu antworten. »Die vermisse ich am meisten. Meine Bücher.«

Ich höre kaum zu. Ich bereue das alles schon, und ich will einfach diese Nacht hinter mich bringen, mich von ihr verabschieden und sie nie wiedersehen.

Sie erzählt weiter. »Nicht die saubere Kleidung oder ein heißes Bad oder gutes Essen und auch nicht die Privatsphäre. Natürlich fehlt mir das auch. Aber Bücher. Sie einfach zu haben. Zu einem Bücherregal hinüberzugehen, den Blick an den Buchrücken entlangstreifen zu lassen, eines auszusuchen und herauszunehmen. Es aufzuschlagen und mit dem Lesen anzufangen.«

Beinahe hätte ich gesagt: Warum gehen Sie nicht in eine Buchhandlung oder eine Bibliothek?, doch dann fällt mir auf, dass sie das wahrscheinlich nicht kann. Nicht in dem Zustand, in dem sie sich normalerweise befindet. Bestimmt ist sie dort nicht willkommen.

Ich blicke auf und sehe, wie ihre Augen glänzen, schon wieder den Tränen nahe, und ich sollte wohl Mitgefühl haben. Ich sollte bewegt sein, doch als ich mich über das Schlafsofa beuge, mich mit Schmerzen in Kopf und Gliedern nach meinem Bett und nach Ruhe sehne, denke ich tatsächlich: Meine Güte, sie hat so viele Probleme, aber sie weint um ihre Bücher. Sie ist wirklich bekloppt.