Die Schneckenlinie - Barbara Heckler - E-Book

Die Schneckenlinie E-Book

Barbara Heckler

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Beschreibung

Frankreich, Sommer 1784/1984: Was tun, wenn alles ganz anders verläuft, als erwartet? Nach einem Unfall stellt Laurent fest, dass die Gesetze seiner Wirklichkeit nicht mehr für ihn gelten. In Vickys Leben fühlt sich gerade alles verkehrt an und nun muss sie die Sommerferien auch noch in einem verschlafenen Küstenort in der Bretagne verbringen. Julien hadert mit seinen Gefühlen und den Mädchen. Dabei steht ihm noch eine Bewährungsprobe anderer Art bevor. Immer wieder kreuzen sich ihre Wege - doch werden sie zusammenhalten, wenn plötzlich merkwürdige Ereignisse in Plourhan sur mer geschehen?

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Buchbeschreibung:

Frankreich, Bretagne – Sommer 1784/1984:

Was tun, wenn alles ganz anders verläuft, als erwartet? Nach einem Unfall stellt Laurent fest, dass die Gesetze seiner Wirklichkeit nicht mehr für ihn gelten.

In Vickys Leben fühlt sich gerade alles verkehrt an und nun muss sie die Sommerferien auch noch in einem verschlafenen Küstenort in der Bretagne verbringen.

Julien hadert mit seinen Gefühlen und den Mädchen. Dabei steht ihm noch eine Bewährungsprobe anderer Art bevor.

Immer wieder kreuzen sich ihre Wege, doch werden sie zusammenhalten, wenn plötzlich merkwürdige Ereignisse in Plourhan sur mer geschehen?

Über die Autorin:

Barbara Heckler lebt mit ihrem Mann in einer Kleinstadt nördlich von München. Sie hat drei erwachsene Kinder. Wenn sie nicht schreibt, ist die Diplom-Psychologin als Therapeutin tätig.

Für Sophie, Nicola, Carolin und Thomas

Eine kurze Anmerkung zuvor ...

Die Geschichte von Laurent, Vicky und Julien spielt in der Bretagne, dem nordwestlichen Teil Frankreichs, der vom Ärmelkanal auf der einen und vom Atlantik auf der anderen Seite begrenzt wird. Den kleinen Küstenort Plourhan sur mer habe ich mir ausgedacht – er könnte überall an einer der beeindruckenden Küsten der Bretagne liegen.

Auch die handelnden Personen gibt es nicht wirklich (mit Ausnahme der Herren Lafayette, Washington und Napoleon, die zwar nicht persönlich auftreten, aber doch in einer Beziehung zu den Hauptfiguren stehen).

Für die im Text verschiedentlich eingestreuten französischen Worte und Ausdrücke muss man kein Französisch können. Oft handelt es sich um Personenbezeichnungen (Monsieur/Madame), Koseworte (ma petite), Kraftausdrücke (ta geulle) oder auch einfach um typisch französische Sprachanhängsel (n’est-ce pas). Das Verständnis erschließt sich in der Regel aus dem Gesamtzusammenhang.

Karte

Kapitel

Prolog

Ankunft in der Fremde

Freund und Feind

Die Comtesse

Das Porträt im Schloss

Der Kokon

Der Besucher am Strand

Joëlle

Das Treffen am Fluss

Ein Riss in der Hülle

Nationalfeiertag

Zwischen den Zeiten

Der verlassene Hof

Aufschub

Die Felsenkante

Rückkehr

Bis zum nächsten Sommer

Personen-Übersicht

Danksagung

Leseprobe: Teil 2: Das Dokument

PROLOG

Château de Corentin – Bretagne – Juli 1784

Laurent lag bewegungslos auf dem Bauch und hielt den Atem an. Abgesehen vom Plätschern des Flüsschens unter ihm und François’ leisem Brummen hörte er nichts. Das Zwitschern der Vögel, das Gemurmel der Strömung, das leichte Rauschen der Blätter im Wind, selbst das Ächzen der Holzbohlen klammerte sein Bewusstsein aus. In diesem Augenblick existierte außer seinem Bruder – dem immer ein Teil seiner Aufmerksamkeit galt – und seinem Vorhaben nichts anderes auf der Welt. Vorsichtig ließ er die dünne Schnur in seiner rechten Hand im Wasser hin und her schwimmen – gerade so schnell, um das Interesse, nicht aber das Misstrauen einer nahen Forelle zu wecken. François, der das Tier ebenfalls bemerkt hatte, brummte kehliger und lauter. Ohne den Fisch aus den Augen zu lassen, ließ Laurent ein leises Zischen hören und François beruhigte sich.

Die Forelle unterhalb des Holzsteges war ein vorsichtiges Tier und musterte den Köder, der sich so verführerisch langsam durch ihr Gesichtsfeld schob. Einen Augenblick lang war sie versucht, die andere Uferseite aufzusuchen, wo sie häufiger Beute gemacht hatte. Ohne ihrem Fischhirn die Chance zu geben, auf seine Erfahrungen und Instinkte zu bauen, schnappte sie nach dem Köder. Mit der Plötzlichkeit des gleißenden Schmerzes in ihrem Kiefer kam die späte Erkenntnis, dass sie das gegenüberliegende Ufer nie mehr erreichen würde.

Laurent hatte das kurze Zögern des Tieres wahrgenommen und mit der gesammelten Angelerfahrung seiner dreizehn Jahre gewusst, dass eine Entscheidung unmittelbar bevorstand. Obwohl er weiterhin völlig bewegungslos auf den Holzplanken lag, bereiteten sich seine Muskeln in Armen und Händen vor. Seine Schultern zogen sich kaum merklich zusammen und seine bloßen Zehen gruben sich in das morsche Holz. Die Forelle schnappte nach dem Köder und Laurent riss entschlossen an der Schnur. Er sprang auf die Beine und zog den Fisch mit Schwung aus dem Wasser. Durch einen kurzen Schlag auf den Kopf betäubte er das zappelnde Tier und stopfte es schnell in seine nierenförmige Korbtasche, da François den glitschigen Fischkörper nicht ansehen konnte.

»Teufel, aber auch«, rief er mit einem Seitenblick auf seinen Bruder, »und das war nur der Erste für heute!«

François wandte den Kopf ein wenig ab und brummte, dann fixierte er eine Lichtreflexion der Morgensonne auf dem Holz des Stegs und wiederholte mit seiner üblichen monotonen Stimme:

»… Erste für heute … Erste für heute …«

Laurent seufzte still, atmete durch und positionierte sich erneut auf dem Steg.

»Komm schon … du bist wieder nicht bei der Sache.« Er hielt seinem Bruder die Schnur hin. »Hier, willst du auch mal halten?« François zog seine stark ausgeprägten Brauen zusammen und seine Nase zuckte. Zögernd riss er sich von der Wasserspiegelung los und richtete seine braunen Augen auf Laurents Hand.

»Nein, … will nicht!« François konzentrierte sich wieder auf die Lichtflecken auf der Wasseroberfläche und fuhr langsam mit seinen langgliedrigen Fingern über eine Stelle des morschen Steges. Ein kehliges Schnurren stieg aus den Tiefen seines Kehlkopfs auf. Laurent zuckte mit den Schultern und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf das leise Plätschern des Wassers unter sich.

Die letzte Nacht war wieder eine von François’ unruhigen Nächten gewesen. Bereits vor der Morgendämmerung war Laurent von den Geräuschen aus dem Nebenzimmer aufgewacht. Ein enervierendes Auf und Ab von Schritten, das manchmal abrupt für einige Zeit verstummte. Nachdem Laurent das Stakkato der Schritte erst im Halbschlaf wahrgenommen hatte, weckte ihn die Stille dazwischen umso zuverlässiger, da er nie genau wusste, wann François seine Wanderung wieder aufnehmen würde. Einige Zeit hatte er versucht, mit dem Kissen auf dem Kopf zurück in den Schlaf zu finden. Mit der Endgültigkeit des sonntäglichen Kirchenläutens grub sich das Tapptapp aus dem Nebenzimmer in sein Bewusstsein und mit Bedauern verabschiedete sich Laurent von seiner Nachtruhe.

Wo blieb denn nur Gustave? Während die Schritte nebenan sich in monotoner Folge wiederholten, stand Laurent auf, schlurfte auf die Verbindungstüre zum Nebenzimmer zu und öffnete sie vorsichtig. Wenn François in einer seiner üblen Stimmungen war, hütete man sich besser vor einem überraschenden Auftauchen. Schmerzhaft erinnerte sich Laurent an die Bisswunde, die François ihm vor zwei Jahren zugefügt hatte, als er ihn unvorsichtigerweise von hinten an der Schulter berührt hatte. Meistens galt François als ungefährlich. Dann wagten es Madame de Plourhan, seine Mutter und Gustave, sein persönlicher Kammerdiener und Aufpasser, François der Öffentlichkeit zu präsentieren.

In seinen üblen Stimmungen blieben François nur die endlosen Wanderungen in seinem Zimmer, das weit genug von den Wohn- und Wirtschaftsräumen entfernt lag, um sein wunderliches Gebrabbel und sein durchdringendes Schreien für die übrigen Bewohner erträglich zu machen. Manchmal hätte es Laurent vorgezogen, sein Schlafzimmer wie seine Geschwister ebenfalls im gegenüberliegenden Westflügel zu haben. Tatsache war, dass Laurent – obwohl sonst nicht mit Geduld und Nachsicht seinen Mitmenschen gegenüber gesegnet – im Umgang mit seinem sonderlichen Bruder ein seltenes Talent entwickelt hatte, diesen zu beruhigen. Kaum hatte Laurent im Alter von fünf Jahren das Lesen und Schreiben gelernt, setzte er sich geduldig zu seinem vier Jahre älteren Bruder und begann diesem das Alphabet beizubringen. Ein Unterfangen, an dem zuvor nicht nur Monsieur Colbert, der Hauslehrer, sondern auch zwei seiner Vorgänger gescheitert waren. Laurent fand mit kindlichem Gespür einen Weg zu François’ Bewusstsein, indem er die Buchstaben auf Karten schrieb und auf die Rückseite jeweils ein Tier zeichnete, dessen Name mit eben jenem Buchstaben begann. Um die Sache für François attraktiv zu gestalten, überredete Laurent Madame Kernec, die Köchin, dazu, kleine süße Plätzchen zu backen, die er François erst bei erfolgreicher Deutung der Buchstaben zusteckte. Das Lesen entwickelte sich mit der Zeit zu François’ Zuflucht und vermochte seine häufig unerklärlichen Anfälle von Panik und Wut einzugrenzen. François las alles, was ihm in die Hände fiel – von der monatlichen Modegazette seiner Schwester Marie-Jeanne bis zu Diderots Enzyklopädie. Erstaunlicherweise war er bereits nach einmaligem Lesen meist in der Lage, den Text Wort für Wort wiederzugeben. Laurent erinnerte sich gut an einen Besuch des Pferdemarktes in Plourhan sur mer, als François die Auktionsliste der angebotenen Tiere aufs Stichwort herunterleiern konnte und Verwalter Poisson auf diese Weise einige günstige Geschäfte tätigen konnte. Die Besucher der Auktion erinnerten sich später vor allem an François’ Tobsuchtsanfall, als er in Panik um sich schlagend dem Dorfgeistlichen Abbé Prévost ein blaues Auge geschlagen hatte, nachdem dieser ihm die Hand auf den Arm gelegt hatte, in der Absicht, sein leierndes Gemurmel zu unterbrechen.

Als Laurent sich nach der früh unterbrochenen Nacht, an diesem frühen Morgen seinem Bruder vorsichtig näherte, kam ihm Gustave mit triefäugigem Gesicht von der Türe entgegen. Auf einem Tablett trug er eine Tasse, die einen widerlich schmeckenden Sud enthielt. Dieser sollte laut Doktor Dumas’ Einschätzung eine beruhigende Wirkung auf François haben.

Gustave sah man eine durchwachte Nacht an den tiefen Schatten unter den Augen und seinen ausgeprägten Falten an. Er hatte inzwischen ein biblisch hohes Alter erreicht und würde wohl bald in seinen Aufgaben von einem jüngeren Bediensteten ersetzt werden müssen, da er François während seiner Anfälle kräftemäßig kaum mehr gewachsen war.

François beachtete weder Gustave noch seinen Bruder. Er brabbelte mit leiser, monotoner Stimme vor sich hin und lief unruhig vom Fenster zum Schrank und zurück. Dabei bewegte er sich in einem wiegenden Gang mit ausgreifenden Schritten. Hin und wieder blieb er am Fenster stehen und sah hinaus. Laurent war sicher, dass François nichts von der Wiesenlandschaft, den Nebelschleiern des aufziehenden Morgens und den Vogelstimmen wahrnahm. Was in François’ Kopf vorging, blieb ihm ein Rätsel. Allerdings wusste er recht genau, was François in dieser Stimmung helfen würde.

»Ich gehe mit ihm raus«, schlug er Gustave vor, »wir könnten runter zum Fluss gehen und Forellen fangen.« Gustave zögerte, als sei er sich nicht sicher, ob er seinen Schützling jetzt nach draußen lassen konnte.

»Komm schon, Gustave«, schmeichelte Laurent und legte seinen nicht unbeträchtlichen Charme in diese Worte. »Du könntest ein Stück mitkommen und dich am Ufer auf den alten Baumstumpf setzen.«

Während Gustave mit sich rang, holte Laurent bereits ein paar Kniehosen und das Hemd vom Vortag mit dem Fleck auf der Kragenrüsche aus seinem Zimmer und warf es sich über. Ohne François anzurühren, stellte er sich ihm in den Weg, wartete, bis sich François’ Aufmerksamkeit auf ihn richtete. Er sah ihm fest in die Augen und sagte deutlich: »Angeln?«

Er wartete, bis sein Bruder diese Information aufgenommen hatte und interpretierte ein leichtes Blinzeln als Zustimmung. Laurent wies auf François’ Kleidung, die Gustave ordentlich auf einer Chaiselongue nebeneinandergelegt hatte, so dass François sich beim Anziehen jeden Tag in genau der gleichen Reihenfolge daran entlangarbeiten konnte und so in der Lage war, sich selbst anzukleiden.

Zwar gehörte es als Kammerdiener zu Gustaves Aufgaben, ihm dabei behilflich zu sein, François aber duldete kaum jemals die Berührung durch einen anderen Menschen, weshalb Laurent und Gustave sich das systematische Auslegen der notwendigen Kleidungsstücke ausgedacht hatten. Nach einem Jahr geduldigen Übens war François nun in der Lage, sich selbst anzukleiden.

»Anziehen«, befahl Laurent. Er hatte festgestellt, dass François ihn besser verstand, wenn er in kurzen Anweisungen mit ihm sprach. Tatsächlich unterbrach François seine Wanderung durchs Zimmer und wandte sich der Chaiselongue zu. Ergeben holte Gustave einen leichten Umhang für jeden Jungen und Laurent griff nach seiner Anglertasche und hängte sie sich über die Schulter.

Sie verließen das Schloss über den Küchenausgang, um Hippolythe, den Majordomus, nicht zu wecken. Inzwischen war die Nacht einer diffusen Dämmerung gewichen und obwohl es kühl und dunstig war, wusste Laurent, dass sich wieder einer jener frischen und warmen Sommertage ankündigte, die er so liebte. Verdrießlich dachte er darüber nach, dass er einen Gutteil dieses herrlichen Tages mit dem Pauken von Lateinvokabeln und mathematischen Gleichungen verbringen würde. Monsieur Colbert war für die Lockungen eines Sommertages vollkommen unempfindlich und nötigte seinem unwilligen Schüler nach dem Pflichtprogramm oft noch ein philosophisches Streitgespräch auf, das angesichts Laurents jugendlichem Alter und seiner Ungeduld völlig an diesem vorbei ging. Umso mehr würde er diesen unverhofften Ausflug genießen. Laurent sog die Gerüche des erwachenden Tages in sich ein und freute sich daran, dass er außer dem Gezwitscher der Vögel und dem sanften Murmeln des nahen Flüsschens keine störenden Geräusche hörte. François murmelte kryptische Sätze oder summte nur leise vor sich hin und Gustave hatte Mühe, mit seinen jugendlichen Schützlingen Schritt zu halten. Er keuchte ab und zu kurzatmig. Am Ufer des Bächleins suchte Laurent den Baumstumpf, dessen Krone letztes Jahr von Jean Poisson abgeschlagen worden war, weil sie nach einem Blitzeinschlag fast in den Fluss gestürzt wäre. Er drückte Gustave darauf nieder.

»Hier kannst du dich ein bisschen hinsetzen. Wir sind dort vorne auf dem Steg.«

Gustave wollte wieder aufstehen, aber Laurent machte eine abwehrende Handbewegung und bedeutete François, ihm den Uferpfad entlang, zu folgen. Sicherlich war Gustave schon uralt und verdiente ein bisschen Erholung, schoss es Laurent durch den Kopf. Im Grunde aber wollte er den Alten beim Angeln nicht in der Nähe haben. Gustaves asthmatisches Schnaufen und seine Neigung, unvermittelt aufzuspringen, wenn François Anzeichen von beginnender Unruhe zeigte, vertrieb mit Sicherheit die Fische. Außerdem – dem Alten tat etwas Ruhe gut.

Bevor der Pfad am Ufer eine Biegung nach links machte, blickte Laurent zurück und winkte beruhigend zu Gustave hinüber. Mit schnelleren Schritten hielt er auf einen kleinen Steg zu, der einige Meter weit ins Bächlein ragte. Dies war die beste Stelle. Das Wasser unter dem Steg strudelte munter vorbei – eine Lieblingsstelle auch für die Forellen. Das Wasser war an dieser Stelle nicht tief und man konnte den felsigen Untergrund des Flüsschens sehen.

Laurent wies François an, sich bäuchlings auf den Steg zu legen. Er streckte sich neben ihm aus, sorgfältig darauf bedacht, François’ Körper an keiner Stelle zu berühren. Während er sich langsam entspannte und der unebenen Maserung der verwitterten Holzplanken unter sich bewusst wurde, merkte er, dass François an seiner Seite gleichmäßiger atmete und schließlich leise zu brummen anfing, ein Zeichen beginnenden Wohlbefindens. Laurent hielt Ausschau nach dem ersten Fisch, während seine Finger in seiner Anglertasche nach der Schnur mit dem Köder tasteten. Vorsichtig ließ er den Haken ins Wasser gleiten und wartete.

Nachdem der erste Fisch gefangen war, dauerte es nicht lange, bis Laurent einen zweiten und dritten in seine Tasche hinein gleiten lassen konnte.

Er beglückwünschte sich bereits zu seinem Anglerglück, als dieses auf einmal wie abgeschnitten war. Kein Fisch ließ sich mehr blicken und François an seiner Seite begann langsam unruhig zu werden.

Mittlerweile drückte die harte Holzfläche des Steges unbequem und Laurents Körper fühlte sich steif und unbeweglich an. François erhob sich mit ungelenken Bewegungen und jammerte monoton vor sich hin. So schnell es seine tauben Füße zuließen, kam Laurent auf die Beine. Unvermittelt schoss François an ihm vorbei und glitt auf der Wasserlache neben der Anglertasche aus. Laurent gelang es gerade noch, seinen Bruder aufzufangen und vor einem unfreiwilligen Bad im Fluss zu bewahren. Zwar war Laurent für seine dreizehn Jahre ein bereits hoch aufgeschossener Junge und beinahe so groß wie sein Bruder. An Gewicht konnte er es jedoch nicht mit François aufnehmen. So rang er noch darum, die Balance nicht zu verlieren, als sich François verstört der körperlichen Berührung bewusstwurde und panisch seinen Bruder von sich stieß. Um Gleichgewicht bemüht, setzte Laurent einen Fuß zurück, trat direkt in die glitschige Wasserlache und stürzte. Ein gleißender Schmerz fuhr ihm durch den Schädel, als er mit dem Kopf auf den harten Holzbohlen aufschlug. Vage wurde ihm bewusst, dass er gleich darauf ins Wasser neben den Steg rutschte. Die Kühle des Baches registrierte er bereits nicht mehr.

François erstarrte mitten in der Bewegung. Dann krümmte er sich zusammen und umfing mit seinen langen Armen seinen schmalen Körper. Tief aus seiner Kehle löste sich ein Laut, der lauter und höher zu einem Kreischen wurde.

ANKUNFT IN DER FREMDE

Plourhan sur mer – Bretagne – Juli 1984

Vicky näherte sich der Scheibe bis auf wenige Millimeter, holte tief Luft und hauchte. Ein trüber Nebel legte sich kreisrund auf das Glas und sie malte mit dem Finger schnell Punkt-Punkt-Komma-Strich-fertig-ist-das-Mondgesicht.

»Vicky! Muss das sein!« Genervt rollte ihre Mutter mit den Augen. »Weißt du eigentlich, wie schmutzig diese Fenster sind? Später isst du mit diesem Finger et voilà!« Elaine Meinhardt ließ offen, welche Konsequenzen in diesem Fall zu befürchten wären.

Maman hatte Deutsch mit ihr gesprochen, um sicherzugehen, dass sie auch wirklich alles verstand. Seit klar geworden war, dass Vicky mit ihrer Mutter den Sommer in Plourhan sur mer verbringen würde, hatte Elaine Meinhardt fast nur Französisch mit ihr geredet, um sie wieder mit ihrer zweiten Muttersprache, wie sie es nannte, vertraut zu machen. Zwar verstand Vicky das meiste auf Französisch – mit dem Sprechen haperte es noch.

Vicky kniff die Augen zusammen und versuchte, sich an den kleinen Küstenort in der Bretagne zu erinnern. Sie war vier oder fünf Jahre alt gewesen, als sie mit ihrer Mutter ihre Großeltern dort zuletzt besucht hatte. Kurz darauf waren zuerst Grandmère und dann Grandpère gestorben. Jetzt versuchte sie, sich den kleinen Ort ins Gedächtnis zu rufen. In Vickys diffuser Erinnerung nahmen steingraue Häuser und enge Gässchen langsam Gestalt an. Auch an das Meer erinnerte sie sich. Mal war es da und mal sah man kilometerweit nur eine schmutziggraue Sandfläche mit einzelnen Felsen. Beklommen fragte sie sich, was sie sechs Wochen lang ohne ihre Freunde in diesem Nest anfangen sollte. Zum Glück hatte sie Mr. Bingley dabei.

Vicky ließ sich in ihren Sitz am Fenster zurückfallen. War die Zugfahrt anfangs neu und aufregend gewesen, so zog sie sich nun unübersehbar in die Länge. Erst mit dem ICE von Köln nach Paris. Dort in den Zug nach Rennes und nun saßen sie in einer Bahn, die langsam von einem Bahnhof zum nächsten zockelte.

Nachdem sie ihr Buch ausgelesen hatte, sämtliche Rätsel in ihrem Heft gelöst und ihren Proviant aufgegessen hatte, war ihr nur noch langweilig. Auch der Blick aus dem Fenster hatte mittlerweile jeden Reiz verloren. Mit dem merkwürdigen Gefühl, in einer Zeitschleife zu hängen und auf ewig in dem niemals ans Ziel kommenden Zug zu sitzen, fing sie an, ihre Mitreisenden zu mustern.

Auf dem Platz neben der Abteiltüre hatte es sich ein Mann bequem gemacht und war eingeschlafen. Seinen leicht geöffneten Lippen entwichen monotone Schnarchgeräusche, die durch die Vibrationen des fahrenden Zuges an das Tremolo eines zufriedenen Katers erinnerten.

Vicky gegenüber saß eine ältliche Französin mit ausgeprägtem Doppelkinn. Gab es eine Bezeichnung für mehr als zwei Kinne? Unauffällig zählte Vicky nach und kam auf vier sich überlappende Hautfalten. Während sie noch diesen Gedanken nachhing, packte die Dame ein Croissant aus und biss geziert davon ab. Fasziniert beobachtete Vicky, wie sich die Kinne der Frau beim Kauen in Bewegung setzten.

Es dauerte nicht lange, bis die Frau das Starren bemerkte und Vicky einen giftigen Blick zuwarf. Abrupt stellte die Frau die Kaubewegungen ein und die übereinander liegenden Kinne durchlief ein Zittern.

Vicky schoss die Röte ins Gesicht und verlegen senkte sie die Augen. Hektisch begann sie Mr. Bingley zu streicheln, der es sich im Fußraum des Abteils gemütlich gemacht hatte.

Der Hund, durch diese plötzliche Zuwendung aus seinem Dämmerschlaf gerissen, kam auf die Beine, streckte sich ausgiebig und gähnte, wobei er ein beeindruckendes Gebiss sehen ließ. Ungeniert blies er seinen Hundeatem in Richtung der vierfachkinnigen Dame.

Diese öffnete empört den Mund, zweifellos, um sich über Vickys und Mr. Bingley Betragen zu beschweren. Aus dem Zuglautsprecher dröhnte ein kaum verständlicher Redeschwall und schnitt ihr das Wort ab. Die anderen Reisenden hatten offenbar die Ankündigung der nächsten Station erkannt. Der Mann an der Türe erwachte mit einem Keuchen. Die Dame mit den vier Kinnen presste die Lippen aufeinander und packte den Rest ihres Croissants ein. Synchron griffen sie nach ihren Gepäckstücken und verschwanden.

Vicky wandte sich ihrer Mutter zu: »Wie lange dauert es noch, bis wir da sind?«

Elaine Meinhardt, die gedöst hatte, öffnete die Augen und sah auf ihre Armbanduhr: »Ich glaube, in einer halben Stunde sind wir da, ma chère«. Elaine räusperte sich – wie immer, wenn sie Deutsch sprach, rundete sie den Satz gerne mit einem französischen Ausdruck ab.

»Warum müssen wir denn überhaupt dort hin?«, maulte Vicky.

»Das habe ich dir doch schon so oft erklärt« Elaine seufzte. »Das Haus von Grandpère und Grandmère steht jetzt leer. Ich muss entscheiden, ob ich es verkaufe oder nicht, compris?«

»Aber ich kenne dort doch niemanden. Das wird bestimmt totlangweilig!«

»Das findet sich schon« Elaine Meinhardt war in diesem Punkt zuversichtlich. »Meine Freundin Philine hat auch einen Sohn – vielleicht in deinem Alter, so zwölf oder dreizehn Jahre alt, n’est ce pas?«

Vicky verdrehte die Augen. Das konnte heiter werden. Sie würde sich auf jeden Fall nicht mit irgendeinem französischen Blödmann anfreunden. Ihrer Erfahrung nach waren Jungs eher nervig. Sie interessierten sich für merkwürdige Dinge, wie das Sammeln der Gimmicks aus Magazinen oder bastelten an ihren Fahrrädern herum und lasen nichts außer Comics.

Elaine Meinhardt atmete tief durch. Die lange Reise hatte sie mehr angestrengt, als sie zunächst gedacht hatte. Sie presste eine Hand auf ihren bereits etwas rundlichen Bauch und spürte es im Inneren rumpeln. Trotz ihrer Erschöpfung musste sie lächeln – die Zwillinge waren von der Reise offenbar ebenfalls etwas aus der Ruhe gebracht und fingen an, sich auf ihrem begrenzten Raum ausgiebig zu strecken.

Vom Bahnhof nahmen sie sich ein Taxi zu dem kleinen Häuschen ihrer Eltern und Elaine holte den Schlüssel, den sie seit Jahren verwahrte, aus ihrer Tasche. Nachdem ihre Eltern so kurz nacheinander gestorben waren, war sie – abgesehen von den Beisetzungen – nie wieder in ihrem Heimatort gewesen.

Nachdenklich betrachtete Elaine das Haus, von dem sie wusste, dass es mehr als 200 Jahre alt war. In diesem Haus war sie aufgewachsen und hatte eine glückliche Kindheit verbracht. Seit sie in Deutschland lebte, war sie trotzdem nur noch selten hier gewesen – der Weg war einfach immer zu weit und zu lang gewesen. Nach dem Tod ihrer Eltern vor einigen Jahren, hatte sie dies bitter bereut und nie mehr an dieses Haus denken können, ohne dieses schmerzhafte Ziehen tief im Innersten. In den letzten Jahren war das Anwesen von einer Schwester ihrer Mutter bewohnt worden. Elaine war es recht gewesen – konnte sie so einen Besuch noch eine Weile hinauszögern. Jetzt war auch ihre Tante gestorben und es war an der Zeit, sich um das Haus zu kümmern.

Es war merkwürdig und gleichzeitig einfacher, als Elaine erwartet hatte, das Haus zu betreten. Wie zu erwarten, schlug ihnen ein muffiger Geruch nach ungelüfteten Räumen entgegen. Elaine stellte ihren Koffer im Flur ab, eilte zum ersten Fenster und riss es auf. Zögernd und stumm folgte ihr Vicky durch die Räume. Elaines Eltern hatten düstere und schwere Schränke, Kommoden und Tische, die sie ihr ganzes Leben lang begleitet hatten, in jeden Winkel des Hauses gestellt und die Tante hatte weitere Möbelstücke hinzugefügt. Laut überlegte Elaine, von welchen Stücken sie sich am ehesten würde trennen können. Oder sollte sie das Häuschen gleich mit allen Möbeln verkaufen?

Vicky zuckte mit den Schultern und zog versuchsweise eine der sperrigen Schubladen auf. Ein Sammelsurium von Zetteln, Bindfadenknäueln und stummelkurzen Bleistiften fand sich neben einem Stapel gelblicher Stoffservietten. Übertrieben laut schob Vicky die Schublade wieder zu und schüttelte sich. Elaine musste lachen und Vicky grinste zurück. Dunkel wurde Elaine bewusst, dass all diese Schränke und Kommoden nicht leer sein konnten, sondern die umfangreichen Zeugnisse des Lebens ihrer Eltern enthalten mussten.

Wenigstens heute würde sie sich noch nicht der Aufgabe stellen, diese Hinterlassenschaft durchzusehen und auszusortieren. Zunächst einmal brauchte sie eine belebende Tasse Kaffee. Zielstrebig suchte sie die Küche auf und inspizierte den Gasherd. Nachdem sie den Gashahn aufgedreht hatte und einen altersschwachen Wasserkessel aufgesetzt hatte, machte sie sich auf die Suche nach Kaffeepulver. Eine Blechdose mit kitschigem Blumenaufdruck enthielt ein braunes Pulver, das zwar entfernt nach Kaffee roch – überlagert wurde dieses Aroma jedoch von einem strengen, säuerlichen Geruch. Bei näherem Hinsehen fielen Elaine zwischen dem feingemahlenen Pulver etwas gröbere schwarze Kügelchen auf. Sie rümpfte die Nase und stellte sie die Dose zurück.

In diesem Moment klopfte es an der Küchentüre und eine große, hagere Frau schob sich ins Zimmer. Sie war im gleichen Alter wie Elaine, wirkte aber auf eine natürliche Art nachlässig und nicht so gepflegt wie diese. Ihre dunklen Haare hatte sie mit Haarklammern aus dem Gesicht gesteckt und ihre haselnussbraunen Augen strahlten.

»Elaine! Dass du endlich wieder nach Hause kommst!« Sie breitete die Arme aus und fiel Elaine um den Hals, was schwierig war, da sie in einer Hand eine Thermoskanne und in der anderen ein Kuchenpaket vom Bäcker balancierte.

Elaine hatte gehofft, dass Philine vorbeikommen würde und strahlte, während sie sich ausgiebig drücken und auf die Wangen küssen ließ. Als sie wieder zu Atem kam, hielt sie die andere Frau auf Armeslänge von sich und betrachtete sie glücklich.

»Philine, wie schön, dich zu sehen. Du musst mir unbedingt erzählen, wie es dir geht und ...“ Elaine hielt inne und lächelte.

Philine blinzelte und ihre Augen leuchteten feucht. Sie sah sich in der Küche um und entdeckte den antiken Wasserkessel, der bereits vor sich hin simmerte. »Aha, da komme ich wohl gerade richtig!«

»Naja«, meinte Elaine, »das Kaffeepulver hier kannst du nur noch zum Blumendüngen nehmen.« Angewidert zog sie die Nase kraus.

»Macht nichts, ich habe alles dabei, was wir brauchen.« Philine setzte Thermoskanne und Kuchenschachtel auf dem verblichenen Wachstuch des Küchentisches ab. »Komm, wir haben so viel zu reden.«

Nachdem ihre Mutter in der Küche verschwunden war, trat Vicky durch die breiten Flügeltüren des Wohnraumes auf eine steinerne Terrasse. Rings um sie herum erstreckte sich ein weitläufiger Garten – oder das, was von einem Garten übrig war. Mit Mühe konnte man noch erkennen, dass die Wildnis vor ihr einmal von Menschen angelegt worden war. Jahrelanges ungehemmtes Wachstum hatten aus dem Rasen eine üppige kniehohe Wiese und aus den Büschen dahinter einen bretonischen Urwald werden lassen.

Vicky sah sich staunend um und Mr. Bingley, der ihr aus dem Haus gefolgt war, schnüffelte begeistert hinter ihr her. Nach den eintönigen Geruchserlebnissen im Zug sog er diese neuen Düfte ekstatisch in sich ein. Besonders attraktiv wehte ein Geruch von verwesender Maus zu ihm hinüber und glücklich begann Mr. Bingley einen kleinen Kadaver am Rand der Terrasse zu beschnuppern.

In diesem Augenblick schoss aus dem Dickicht von Büschen und Wiese ein felliges schwarzes Tier, stürzte sich auf den völlig überraschten Hund, packte die zerrupfte Maus und verschwand so schnell, wie es gekommen war. Mr. Bingley ließ ein entrüstetes Heulen hören. Vicky schloss aus dem Fauchen, das diese Attacke begleitet hatte, dass es sich um eine übel gelaunte Katze handeln musste. Der Hund fiepte erbärmlich und Vicky besah sich seine Schnauze, die parallele Kratzer zierten.

»Nana, mein Kleiner«, beruhigte sie ihn. »Das war aber eine böse Katze.«

Das Gras neben Vicky raschelte erneut und sie blickte auf. Ein schlaksiger, dunkelhaariger Junge in ihrem Alter schob sich an ihr vorbei. Er war dünn, trug ein ausgebleichtes blaues T-Shirt und eine auf Kniehöhe abgeschnittene Jeans.

»Hey, war das deine blöde Katze?«, rief Vicky ihm auf Deutsch hinterher.

Der Junge drehte sich um und musterte sie finster.

»Eh?«

Vicky glotzte zurück und versuchte, den Satz auf Französisch zu formulieren. Plötzlich schien sich ihre Zunge zu verknoten und stammelnd brachte sie ein paar Worte heraus, die, wie ihr sofort klar wurde, kaum als Französisch durchgehen würden.

Der Junge starrte sie an und fragte langsam: »Was hast du ... gesagt?«

Vicky konzentrierte sich, sammelte ihre Französischkenntnisse zusammen und brachte stockend einen Satz zustande, indem sie sich erkundigte, ob er der Besitzer dieser unmöglichen und gemeingefährlichen Katze sei, die soeben ihren Hund angefallen habe. Zumindest hoffte sie, dass es sinngemäß so ankam, wenn auch keineswegs so höflich.

»Angefallen?«, wiederholte der Junge ungläubig und musterte Mr. Bingley, der weiterhin unwürdig wimmerte und seine Schnauze leckte.

»Dieser Hund ist ... dreimal so groß, wie mein Kater!« Er sprach langsam, betonte jedes Wort einzeln und unterstrich diese Aussage, indem er seine Hände ausbreitete, wie ein Angler bei der Beschreibung seines letzten Fangs.

Obwohl Vicky ihn so tatsächlich besser verstehen konnte, ärgerte sie sich sogleich, dass er mit ihr sprach, als ob sie schwer von Begriff sei. Mit dem Ärger flutete flammende Röte über ihr sommersprossiges Gesicht und brachte sie noch mehr auf. Glücklicherweise lenkte ihr Zorn sie von ihren konstruierten und gestammelten französischen Sätzen ab und gab in ihrem Gehirn den Zugang zu einem Sprachspeicher frei, den sie seit ihrer frühen Kindheit nur mehr selten benutzt hatte.

»Wer bist du denn überhaupt und was hast du hier zu suchen?« Ihre Lippen formulierten die Frage ebenso vorwurfsvoll, wie völlig eigenmächtig.

»Das könnte ich dich auch fragen«, versetzte der Junge unfreundlich.

Vicky versuchte, ihr brennendes Gesicht zu ignorieren, und straffte die Schultern.

»Ich heiße Viktoria Meinhardt, meiner Mutter gehört dieses Haus und das hier ist Mr. Bingley. Er ist ein Labrador.« Sie machte eine vage Bewegung in Richtung des Hundes, der inzwischen von einer umherschwirrenden Libelle von seinem Schmerz abgelenkt wurde.

»Mistärr Bingläh?«, wiederholte der Junge und sein Gesicht zeigte mehr als deutlich, was er von einem solchen Hundenamen hielt.

»Genau, mein Vater wollte ihn ja gern Mr. Darcy nennen. Aber ich mag Mr. Bingley viel lieber. Mr. Darcy ist so ein hochmütiger und eitler Angeber.« Vicky hatte vorübergehend ihren Ärger vergessen.

Angesichts dieser unverständlichen Erklärung überlegte der Junge offenbar, ob seine ursprüngliche Einschätzung, dass dieses Mädchen einen deutlichen Sprung in der Schüssel hatte, nicht doch zutreffend war. Er konnte nicht wissen, dass Vickys Vater Professor für englische Literatur des 19. Jahrhunderts war. In seiner Leidenschaft für die Romane von Jane Austen hatte er den Familienhund nach einer ihrer Figuren benannt.

Unbehaglich trat der Junge von einem Bein auf das andere und überlegte offenbar, wie er möglichst schnell hier wegkam, als aus dem Inneren des Hauses gerufen wurde.

»Julien? Wo bist du, chéri? Ich will dich meiner Schulfreundin vorstellen!« An der Flügeltüre zum Wohnraum erschien Philine, gefolgt von Elaine.

»Ah, wie schön,« freute sich Philine und steuerte auf Vicky zu. »Du musst Victoire sein. Habt ihr euch schon bekannt gemacht?« Sie drückte Vicky an ihre knochige Gestalt und küsste sie herzhaft links und rechts auf die Wangen.

»Du siehst aus wie deine Mutter in deinem Alter, ma petite.«

Philine schob Vicky auf den Jungen zu und sagte munter: »Das ist Julien, mein Jüngster. Ich bin sicher, dass ihr beiden euch gut vertragen werdet. Ach was, bestimmt werdet ihr die besten Freunde!«

Julien und Vicky warfen sich einen Blick einmütiger Abneigung zu und schwiegen.

Später lag Vicky in einem der oberen Schlafzimmer und versuchte, trotz der Helligkeit im Raum einzuschlafen. Das Fenster hatte keine Läden oder Rollos und so blieb es um diese Jahreszeit bis spät am Abend taghell.

Nachdem dieser Julien und seine Mutter endlich gegangen waren, hatten Vicky und Elaine die Zimmer im oberen Stockwerk erkundet und Vicky hatte sich einen Raum mit einer verblichenen Tapete in großformatigem Blumenmuster ausgesucht. Das Bett mit einem Bettüberwurf aus einem Stoff des gleichen scheußlichen Musters stand an einer der Seitenwände und ragte mitten in den Raum hinein.

Mama hatte im Schrank einigermaßen saubere Laken gefunden und das Bett neu bezogen – aber auch jetzt noch stieg Vicky der muffige Schrankgeruch des Stoffes in die Nase. Die Matratze war zu weich und sie vermisste ihr Federbett.

Die in Frankreich übliche Konstruktion mittels Laken und Decken, die stramm unter die Unterlage gestopft wurden, fand Vicky sehr eigenartig. Wie es aussah, gab es zwei Möglichkeiten, sich in ein solches Bett zu legen. Entweder man zerrte die festgezurrten Decken unter der Matratze hervor und legte sich auf die übliche Art unter die Decken und Laken. Das hatte im Verlauf der Nacht zwangsläufig zur Folge, dass Schicht um Schicht vom Bett rutschte und man schließlich völlig ausgekühlt aufwachte. Die andere Möglichkeit bestand darin, auf das schlauchförmige Kopfkissen zu klettern und sich wie ein Aal unter die stramm gestopften Decken zu schieben. Diese Position erlaubte aber nur das Schlafen in Rückenlage und man kam sich nach einiger Zeit vor, wie ein Stück Käse auf einem Teller, der mit Frischhaltefolie bespannt ist. Nach kurzem Überlegen entschied Vicky sich für die erste Möglichkeit und wickelte sich in die Decken.

Sie versuchte, den ungewohnten Geruch des Zimmers zu ignorieren. Lieber stellte sie sich vor, wie sie zu Hause bei ihrer Freundin Christina übernachten könnte und vor Heimweh zog sich ihr das Herz zusammen. Die nächsten Wochen dehnten sich endlos vor ihr.

FREUND UND FEIND

Plourhan sur mer – Bretagne – Juli 1984

Die nächsten Tage vergingen entgegen Vickys Befürchtung unerwartet rasch, da sie angefüllt waren mit Einkäufen im Supermarkt am Rand des Städtchens und einer ersten Erkundung des Hauses und des verwilderten Gartens. Vicky ließ sich vom Tatendrang ihrer Mutter anstecken und stöberte begeistert in den vielen Schränken. Leider erwies sich dies als äußerst staubige Angelegenheit. Vicky und ihre Mutter mussten feststellen, dass sich Grandmère und Grandpère kaum jemals von einem winzigen Detail ihres Haushalts getrennt hatten. In den zahlreichen Schüben und Fächern der Möbel fanden sich neben zerfledderten Strickmusterheften und Zettelsammlungen diverser Rezepte und auch Haushaltstipps aus Zeitschriften dreier Jahrzehnte. Sogar ein handschriftlicher Einkaufszettel von Grandmère Marie (1 Päckchen Bouillon; 2 Baguettes; 6 Eier; 1 Päckchen Mehl - und bring diesmal das Buchweizenmehl mit!) flatterte ihnen entgegen.

Als sie einen Stapel staubiger Schulhefte fanden, vertieften sie sich begeistert in einen verblichenen Schulaufsatz der achtjährigen Elaine über ihr schönstes Ferienerlebnis. In überdeutlicher Schönschrift berichtete sie, wie sie ihrem Hund erfolgreich beigebracht hatte, Zahlen bis vier zu erkennen. Daraufhin hatte sie sich bereits eine Karriere als berühmte Dompteurin beim Zirkus ausgemalt.

»Ich wusste gar nicht, dass du einen Hund gehabt hast, Maman?«, lachte Vicky.

»Ah ja«, erinnerte sich Elaine, »mein kleiner Nurcoux