Die schöne neue Demokratie - Donatella della Porta - E-Book

Die schöne neue Demokratie E-Book

Donatella della Porta

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Beschreibung

Über die Krise der Demokratie wurde in den vergangenen Jahren viel geredet. Doch wie geht es weiter? Ist Rettung in Sicht? Donatella della Porta zeigt in ihrem neuen Buch als eine der weltweit besten Kennerinnen sozialer Bewegungen, welche progressive Kraft sie entwickelt haben und auch in Zukunft entwickeln können. Nicht auf die Eliten und die etablierten Parteien ist zu hoffen, wenn es um neue Ideen und Veränderungen geht, sondern auf Bewegungen und Protestformationen, auf Bürgerinnen und Bürger. So sind etwa in Spanien Podemos und in Bolivien Movimiento al Socialismo an die Stelle etablierter Parteien getreten. In Island und Irland wurden Bürgerversammlungen initiiert, die sich an Verfassungsprozessen beteiligten. Diese Beispiele zeigen, dass die Demokratie der ständigen Erneuerung bedarf. Und gerade in Krisenzeiten bieten sich Gelegenheiten für einen Wandel.

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Donatella della Porta

Die schöne neue Demokratie

Über das Potenzial sozialer Bewegungen

Aus dem Englischen von Herbert Reiter

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Über die Krise der Demokratie wurde in den vergangenen Jahren viel geredet. Doch wie geht es weiter? Ist Rettung in Sicht? Donatella della Porta zeigt in ihrem neuen Buch als eine der weltweit besten Kennerinnen sozialer Bewegungen, welche progressive Kraft sie entwickelt haben und auch in Zukunft entwickeln können. Nicht auf die Eliten und die etablierten Parteien ist zu hoffen, wenn es um neue Ideen und Veränderungen geht, sondern auf Bewegungen und Protestformationen, auf Bürgerinnen und Bürger. So sind etwa in Spanien Podemos und in Bolivien Movimiento al Socialismo an die Stelle etablierter Parteien getreten. In Island und Irland wurden Bürgerversammlungen initiiert, die sich an Verfassungsprozessen beteiligten. Diese Beispiele zeigen, dass die Demokratie der ständigen Erneuerung bedarf. Und gerade in Krisenzeiten bieten sich Gelegenheiten für einen Wandel.

Vita

Donatella della Porta ist Professorin für Politikwissenschaft und Direktorin des Centre of Social Movement Studies an der Scuola Normale Superiore in Florenz.

Für Alessandro Pizzorno,Freund und Lehrer, in memoriam

Inhalt

Danksagung

Kapitel 1Demokratische Erneuerung und soziale Bewegungen

Auswirkungen sozialer Bewegungen und demokratische Erneuerung: eine Einleitung

Demokratische Herausforderungen in der Großen Rezession

Progressive soziale Bewegungen als Orte der Erneuerung

Zur Gliederung des Bandes

Kapitel 2Partizipatorischer Konstitutionalismus: soziale Bewegungen im Verfassungsgebungsprozess

Partizipatorischer Konstitutionalismus: eine Einleitung

Island in der Krise

Die Krise

Mobilisierung für Wandel

Der partizipatorische Verfassungsgebungsprozess

Zur Erweiterung der Analyse: der deliberative Verfassungsprozess in Irland

Zusammenfassende Bemerkungen

Kapitel 3Referenden »von unten«: direkte Demokratie und soziale Bewegungen

Soziale Bewegungen und Referenden: eine Einleitung

»Wasser steht nicht zum Verkauf«: direkte Demokratie gegen die Privatisierung der Wasserversorgung

Die Aneignung politischer Gelegenheiten durch das Referendum

Referenden als Teil von Protestkampagnen

Das Framing des Rechts auf Wasser

Langfristige Ermächtigung über das Referendum hinaus

Zur Erweiterung der Analyse: die Referenden in Schottland und Katalonien

Zusammenfassende Bemerkungen

Kapitel 4Bewegungsparteien in der Großen Rezession

Bewegungsparteien: eine Einleitung

Podemos als Bewegungspartei

Die vielen Krisen: Herausforderungen und Möglichkeiten

Die Mobilisierung von Ressourcen

Das Framing von Alternativen

Die Bewegung und die Partei

Zur Erweiterung der Perspektive: die MAS in Bolivien

Die Aneignung politischer Gelegenheiten: der neoliberale Wendepunkt und die Parteipolitik

Organisatorische Mobilisierung

Das Framing von Alternativen

Zusammenfassende Bemerkungen

Kapitel 5Progressive Bewegungen und demokratische Erneuerung: einige zusammenfassende Bemerkungen

Erneuerung von unten

Bedingungen und Grenzen demokratischer Erneuerung

Demokratie und die populistische Rechte

Demokratische Neuerungen als Auswirkungen sozialer Bewegungen

Institutioneller Wandel in empirischen Demokratietheorien

Demokratische Erneuerung in intensiven Zeiten: mögliche Entwicklungen

Literatur

Danksagung

Dieses Buch beruht auf der Annahme, dass demokratische Konzeptionen und Praktiken ständig überprüft und erneuert werden müssen. In einer Zeit, in der mehrere Krisen gleichzeitig die existierenden Institutionen herausfordern, ist es umso wichtiger, darüber nachzudenken, wie die Demokratie gerettet werden kann. Progressive soziale Bewegungen waren in der Vergangenheit die treibende Kraft einer demokratischen Vertiefung. Sie erarbeiteten und präfigurierten alternative Vorstellungen von Demokratie, Visionen zukünftiger Organisationsformen, die dann häufig in demokratischen Institutionen verankert wurden. Wenn die Demokratie heute von den populistischen Rechten attackiert wird, wird es umso wichtiger zu erforschen, wie die partizipatorische und deliberative Qualität demokratischer Institutionen verbessert werden kann.

Im Folgenden werde ich mich mit einigen dieser Ansätze kritisch auseinandersetzen und dabei bestehende Grenzen und mögliche Verbesserungen beleuchten. In diesem Sinn baut das Buch auf einige meiner früheren Beiträge zu verwandten Themen auf und entwickelt diese weiter: In erster Linie sind hier Can Democracy be Saved? (2013) und Social Movements in Times of Crisis. Bringing Capitalism Back into the Analysis of Protest (2015) zu nennen, aber auch Movement Parties against Austerity (2017), Late Neoliberalism and its Discontents in the Economic Crisis. Comparing Social Movements in the European Periphery (2016) und Social Movements and Referendums from Below: Direct Democracy in the Neoliberal Crisis (2017).

Ich stütze mich auf ein langfristig angelegtes Forschungsprogramm zur institutionellen Beteiligung progressiver sozialer Bewegungen, das an dem von mir geleiteten Center on Social Movement Studies (Cosmos) an der Scuola Normale Superiore in Florenz angesiedelt ist. Am Cosmos habe ich über partizipatorische Verfassungsprozesse, Referenden »von unten« und über Bewegungsparteien geforscht und dabei eng mit meinen Kolleginnen und Kollegen Daniela Chironi, Lorenzo Cini, Jonas Draege, Andrea Felicetti, Joseba Fernandez, Hara Kouki, Lorenzo Mosca, Francis O’Connor, Martin Portos, Anna Subirats zusammengearbeitet, darüber hinaus mit Colin Crouch, Michael Keating, Ken Roberts und Sidney Tarrow, die unsere hochwillkommenen Gäste waren. Ich bin dankbar für die Unterstützung, die ich von der Hertie School of Governance erhielt, und für Gespräche, die ich während einiger Besuche in Berlin mit dortigen Kollegen führen konnte, unter anderem mit Helmut Anheier, Christian Joerges und Claus Offe. Einige wichtige Anregungen erhielt ich auch anlässlich der Präsentation von Teilen meiner Arbeit auf Seminaren und Konferenzen, besonders im Rahmen der Stein Rokkan Lecture der Joint Sessions of the European Consortium for Political Research in Mons im Jahr 2019. Herbert Reiter hat mir durch seine kritische und konstruktive Lektüre geholfen, den Text zu verbessern und mich mit Geduld unterstützt und begleitet, während ich dieses Buch schrieb.

Kapitel 1Demokratische Erneuerung und soziale Bewegungen

Auswirkungen sozialer Bewegungen und demokratische Erneuerung: eine Einleitung

Die Große Rezession, die bereits 2008 zu spüren war, markiert einen kritischen Wendepunkt, der sozioökonomische und politische Veränderungen anstieß. Einige davon stellten bürgerliche, politische und soziale Rechte infrage und leiteten Prozesse ein, die als Große Regression definiert wurden (Geiselberger 2017). Eine Spirale aus zunehmender sozialer Ungleichheit und wachsendem Misstrauen gegenüber etablierten Institutionen schürte ein Gefühl der Unsicherheit und ließ fremdenfeindliche Reaktionen aufkeimen (Streeck 2017; Bauman 2017a). Während Wissenschaftler*innen darüber debattieren, wie viel Ungleichheit eine Demokratie aushalten kann, ohne zu scheitern (della Porta/Keating 2018), entwickelt sich auch Widerstand gegen diesen Rückschritt. Bürger*innen mobilisieren sich für soziale Gerechtigkeit und »echte Demokratie« (Meyer/Tarrow 2018).

Dieses Buch konzentriert sich auf einige innovative Vorschläge, die von progressiven sozialen Bewegungen entwickelt wurden, um Partizipation und Deliberation zu erhöhen und so die Demokratie zu retten. Sie nutzten die Möglichkeiten der direkten Demokratie, hielten entweder selbst Referenden ab oder infiltrierten Referenden »von unten«, die durch andere Akteure »von oben« initiiert worden waren (della Porta/O’Connor u. a. 2017a). Parteiensysteme wurden dramatisch erschüttert: Etablierte Parteien brachen zusammen, rechte populistische Parteien und – in einigen Fällen – linke Bewegungsparteien erlebten einen unerwarteten Aufschwung (della Porta/Fernandez u. a. 2017). Ähnlich unerwarteten Erfolg hatten Kandidat*innen, die sich innerhalb der alten Linken, wie etwa der Labour-Partei in Großbritannien oder der Demokratischen Partei in den Vereinigten Staaten, verstärkt für soziale Gerechtigkeit und Bürgerbeteiligung einsetzten. Mit Bezug auf diese Entwicklungen weise ich darauf hin, dass Krisenzeiten auch Zeiten raschen Wandels sind, die bestehende Institutionen herausfordern, aber auch Möglichkeiten für eine Vertiefung der Demokratie eröffnen können.

Dieses Kapitel stellt mögliche innovative Beiträge der Zivilgesellschaft vor, die in der Demokratietheorie und in verschiedenen Ansätzen der sozialen Bewegungsforschung thematisiert und diskutiert wurden. Bewegungen wurden dabei vor allem als Protestakteure untersucht, die auf der Straße für oder gegen politischen Wandel kämpfen. Die soziale Bewegungsforschung hat aber auch auf ihre Funktion als Träger innovativer Ideen verwiesen, da Bewegungen ständig Gegen-Expertisen und neue Wissensformen erarbeiten und verbreiten. Hierfür sind soziale Bewegungen mit spezifischen ontologischen, epistemologischen und methodologischen Stärken ausgestattet. Dieses Kapitel widmet sich daher den Kanälen, über die Ideen sozialer Bewegungen in Institutionen eindringen, und arbeitet die Bedingungen heraus, die die Entwicklung innovativer Ideen und pluralen Wissens begünstigen (oder behindern). Dem liegt die Annahme zugrunde, dass progressive Bewegungen durch das bereitgestellte alternative Wissen und die Ideenvielfalt zu einer Vertiefung der Demokratie beitragen können.

Demokratische Herausforderungen in der Großen Rezession

In den Ländern, die von der Finanzkrise am härtesten getroffen wurden, insbesondere in der europäischen Peripherie, stellten Protestwellen die Austeritätspolitik infrage, die nationale Regierungen unter dem starken Druck internationaler Institutionen wie der Europäischen Union (EU), der Europäischen Zentralbank (EZB) und des Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeführt hatten. Diese Protestwellen – wie die Indignados oder die Occupy-Bewegungen – widerspiegelten und verstärkten aber auch eine Legitimitätskrise, die durch ein Verhalten ausgelöst wurde, das die Protestierenden als Ausdruck der Kälte und Gleichgültigkeit der politischen Institutionen gegenüber dem Leid ihrer Bürger*innen verstanden (della Porta 2015). Infolge der unterschiedlichen zeitlichen Abläufe und Charakteristika der Finanzkrise sowie der internen politischen Möglichkeiten und Risiken, mit denen sich die sozialen Bewegungen konfrontiert sahen, nahm der Protest in den einzelnen Ländern verschiedene Formen an (della Porta u. a. 2016).

Die Große Rezession hatte unmittelbare und oft dramatische politische Auswirkungen auf die »real existierenden Demokratien«, wie Robert Dahl (2000) sie nannte, und besonders auf deren repräsentative Institutionen. Die Krise des Vertrauens in diese Institutionen führte zu Forderungen nach Verfassungsreformen, mit deren Hilfe politische Gemeinschaften neu begründet werden konnten. Die real existierenden Demokratien gerieten unter Druck, wodurch aber auch das Potenzial zur Erneuerung sichtbar wurde. Die vielfältigen Krisen (finanzielle, soziale, politische) verstärkten die Spannungen insbesondere zwischen zwei Lagern in Wissenschaft und Politik. Auf der einen Seite befinden sich diejenigen Wissenschaftler*innen und Politiker*innen, die die Bürger*innen als zu emotional und ungebildet ansehen, um fundierte Entscheidungen zu fällen, und die daher die Notwendigkeit technischer Expertise unterstreichen. Auf der anderen Seite stehen diejenigen, die einer »Econokratie« vorwerfen, politische Entscheidungen zu treffen, unter dem Deckmantel, diese seien gar nicht politisch, sondern rein technisch (Earle u. a. 2017), und die gleichzeitig die Idee einer »Epistokratie« ablehnen, in der nur die kompetentesten Personen wählen dürfen. Meiner Meinung nach benötigen wir in Demokratien eher mehr als weniger Bürgerbeteiligung. Ausgehend von einer partizipatorischen und deliberativen Sichtweise werde ich daher nachfolgend einige demokratische Erneuerungen betrachten, die in diese Richtung weisen.

Die Infragestellung der repräsentativen Demokratie während der Großen Rezession verdeutlicht, wie dringend es ist, über demokratische Qualitäten nachzudenken. Und tatsächlich ist der Begriff »Demokratie« umstritten: Unterschiedliche Auffassungen von Demokratie betonen jeweils andere Qualitäten und kommen zu abweichenden Bewertungen demokratischer Praktiken. Als Begriff mit einer langen Geschichte hat Demokratie »unterschiedliche Dinge für unterschiedliche Personen zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten bedeutet« (Dahl 2000: 3). Mit der Zeit entstand eine Minimal-Definition von Demokratie, die lediglich auf die Verantwortlichkeit gegenüber den Wähler*innen abzielt. Zudem wurde Demokratie mit den westlichen politischen Systemen gleichgesetzt (Held 2006: 166). Die weitverbreitete Krise der Demokratie stellt dies nun infrage. Wurde in der historischen Entwicklung des Diskurses über real existierende Demokratien die Verantwortlichkeit gegenüber den Wähler*innen als der wichtigste demokratische Mechanismus verstanden, so richten Kritiker*innen der heutigen repräsentativen Demokratien ihr Augenmerk auf andere demokratische Qualitäten (Rosanvallon 2006). Die etablierten Konzepte und Praktiken der Demokratie werden insbesondere durch solche herausgefordert, die politische Theoretiker*innen mit Begriffen wie partizipative Demokratie, starke Demokratie, diskursive Demokratie, kommunikative Demokratie, Wohlfahrtsdemokratie oder assoziative Demokratie beschrieben haben (vgl. della Porta 2013, Kap. 1).

Spannungen entwickelten sich vor allem in Bezug auf zwei wesentliche Merkmale real existierender Demokratien, die häufig als deren Basis verstanden werden: Übertragen der Machtausübung und mehrheitliche Entscheidungsfindung (mit unterschiedlichem Ausmaß des Minderheitenschutzes durch verfassungsmäßig verankerte Rechte und institutionelle Gewaltenteilung). Diese beiden Elemente standen in der Tat in einem Spannungsverhältnis mit demokratischen Qualitäten, die die Bausteine anderer Demokratiekonzepte bilden.

Insbesondere Theoretiker*innen eines partizipativen Demokratieverständnisses haben seit Langem auf die Bedeutung vielfältiger Beteiligungsmöglichkeiten verwiesen, um Bürger*innen über Wahlen hinaus einzubeziehen (Arnstein 1969; Pateman 1970; Barber 1984). Ihrer Auffassung nach finden Wahlen zu selten statt, bieten nur begrenzte Alternativen und sind vielfältig manipulierbar. Partizipation dagegen wird als geeignetes Mittel betrachtet, um durch ermächtigende Interaktionen gute Bürger*innen zu formen. Partizipation auf verschiedene Weise und in unterschiedlichen Phasen des demokratischen Prozesses gilt als wesentlich, um Bürger*innen an Visionen des Gemeinwohls heranzuführen und das Vertrauen in und die Unterstützung für politische Institutionen zu erhöhen. Partizipative Ansätze weiten die semantische Bedeutung von Politik und fordern Demokratie nicht nur in Parlamenten und Regierungen, sondern in allen gesellschaftlichen Bereichen, am Arbeitsplatz und in der Nachbarschaft, in Schulen und Krankenhäusern, in der Gemeinde und in transnationalen Organisationen.

Das Mehrheitsprinzip in der Entscheidungsfindung wurde ebenfalls aus verschiedenen Gründen kritisiert. Zum einen könnte die Macht der Mehrheit die Rechte von Minderheiten gefährden, sodass einige dieser Rechte verfassungsmäßig verankert werden müssten. Zum anderen ist die Annahme unlogisch, die zahlenmäßig am stärksten unterstützten Präferenzen seien auch die besten für alle. In Anbetracht dieser Unzulänglichkeiten mehrheitlicher Entscheidungsprozesse haben deliberative normative Theorien die Bedeutung unterstrichen, die der Schaffung qualitativ hochwertiger diskursiver Räume zukommt, in denen Teilnehmer*innen Argumente austauschen und geteilte Definitionen des Gemeinwohls entwickeln können (Dryzek 2000; Cohen 1989; Elster 1998; Habermas 1992). Je mehr sich die Interessen und kollektiven Identitäten in einem solchen qualitativ hochwertigen diskursiven Prozess herausbilden, desto legitimer und effizienter wird das Ergebnis sein. In diesem Sinne entsteht Legitimität nicht durch die Anzahl vorhandener Präferenzen für eine bestimmte Lösung, sondern durch einen Entscheidungsfindungsprozess, in dem sich die Bürger*innen aufeinander beziehen können, indem sie die anderen anerkennen und von diesen anerkannt werden. Entscheidungen sind demokratisch nicht in dem Maße, in dem sie von der Mehrheit getragen werden, sondern in dem sich Meinungen durch einen deliberativen Prozess bilden können, in dem Argumente offen ausgetauscht werden. In qualitativ hochwertigen diskursiven Räumen können Bürger*innen, als Gleiche unter Gleichen, die Beweggründe der anderen verstehen und sie gegen sich herausbildende Fairnessnormen abwägen. Darüber hinaus helfen öffentliche Arenen mit einer hohen diskursiven Qualität den Teilnehmenden, bessere Lösungen zu finden. Indem sich Träger*innen unterschiedlichen Wissens und verschiedener Expertise untereinander austauschen (und nicht nur selbst ernannte »Expert*innen«) werden die Teilnehmenden dazu angeleitet, die eigenen Präferenzen zu ändern und sich weniger mit individuellen materiellen Interessen, dafür mehr mit dem Gemeinwohl zu befassen. Zwar ist umstritten, ob Deliberation zwingend zur Konsensbildung oder zur Änderung von Präferenzen führt (Dryzek 2010), in jedem Fall erfordert die diskursive Qualität aber die Anerkennung der anderen als gleich und eine unvoreingenommene Einschätzung ihrer Beweggründe.

Einige Wissenschaftler*innen, die partizipative und deliberative Demokratiekonzepte verbinden, betonen, wie wichtig es ist, Räume frei von institutioneller Macht zu schaffen (Mansbridge 1996) und »Prozesse engagierter und verantwortungsvoller demokratischer Beteiligung« zu entwickeln, die »Demonstrationen und Sit-ins, Musikstücke und Cartoons ebenso umfassen wie Parlamentsreden und Briefe an den Herausgeber« (Young 2003: 119). Insbesondere subalterne Gegen-Öffentlichkeiten (Arbeiter*innen, Frauen, ethnische Minderheiten usw.) bringen parallele diskursive Arenen hervor, in denen Gegen-Diskurse entwickelt werden, die die Bildung und Neubestimmung von Identitäten, Interessen und Bedürfnissen erlauben (Fraser 1990).

Partizipative und deliberative Demokratiekonzepte stellen einige Grundannahmen der real existierenden Demokratien infrage, aber auch der technokratischen Alternativen zu ihnen. Anhänger*innen der von Colin Crouch (2003) definierten »Postdemokratie« sehen eine Verbindung zwischen der Krise der Demokratie und zu viel Partizipation. Neoliberale Ansätze kritisieren die aus ihrer Sicht unvernünftig hohen Erwartungen an den Staat und schlagen technokratische Lösungen vor, um die »Überfrachtung« des Staates mit Ansprüchen zu reduzieren. Diese Vorschläge gehen zurück auf eine in den 1970er Jahren im sogenannten trilateralen Bericht veröffentlichte Analyse (Crozier u. a. 1975). Da die Bürger*innen unfähig seien, politische Komplexitäten zu verstehen und fundierte Meinungen zu formulieren (vgl. Schumpeter 1942), würde die Verantwortung gegenüber den Wähler*innen die gewählten Repräsentant*innen dem Druck egoistischer Individuen aussetzen. Die vorgeschlagenen Lösungen bestehen daher darin, die staatlichen Kompetenzen zu reduzieren, indem der Markt von staatlicher Kontrolle befreit wird. Stattdessen sollte Macht an solche Institutionen übertragen werden, die gegenüber den Wähler*innen nicht verantwortlich sind. Da die Vertreter*innen technokratischer Lösungen die Bürger*innen als egoistisch, ungebildet und daher unfähig einschätzen, auch nur ihr eigenes privates Wohl zu verfolgen, fürchten sie die Unvernünftigkeit der Masse. Die Abwesenheit eines Drucks von unten fördert demnach parteiübergreifende Vereinbarungen und reduziert Ungleichheiten, während der Druck sozialer Bewegungen Polarisierung schürt und Ungleichheiten vergrößert (McAdam/Kloos 2016).

Im Gegensatz dazu vertrauen partizipative und deliberative Konzeptionen den Bürger*innen, ihrem Wissen und ihren Beweggründen. Öffentliche Debatten gelten als formativ: Partizipation bringt demnach bessere Bürger*innen hervor, denn »Menschen können kompetenter und verantwortungsvoller werden, wenn man ihnen erlaubt, an öffentlicher Deliberation und tatsächlicher Entscheidungsfindung teilzunehmen« (Setälä 2009: 3). Direkte Formen der Demokratie können Bürger*innen aktivieren, indem sie sie ermächtigen und so ihren Sinn für Bürgerpflicht und ihre politische Wirksamkeit verstärken (Smith/Tolbert 2004): Auf diese Weise bieten sie eine »Erziehung in demokratischer Bürgerschaft« (Dyck 2009: 540). Während Minimal-Konzepte von Demokratie unterstellen, dass sich Ideen, Interessen, Präferenzen und/oder Identitäten außerhalb des demokratischen Prozesses herausbilden, unterstreichen partizipatorische und deliberative Konzeptionen die Fähigkeit demokratischer Arenen, die Entwicklung inklusiver kollektiver Identitäten zu fördern. Da die Kompetenz von Expert*innen (etwa der Ökonom*innen) durch Politisierungsprozesse der Wissenschaften infrage gestellt wird (della Porta/Keating 2018), ist »Econokratie« keine Lösung für die unter Druck geratenen real existierenden Demokratien. Im Gegenteil. Econokratie riskiert, nicht nur die Legitimität der Entscheidungsträger*innen zu verringern, sondern auch die Effizienz der Entscheidungen. Sie hilft den Menschen nicht dabei, bessere Bürger*innen zu werden, sondern drängt sie an den Rand der Gesellschaft und macht sie empfänglicher für Populist*innen.

Selbst in real existierenden Demokratien wurden repräsentative und Mehrheitsinstitutionen durch verschiedene Formen der Partizipation und Deliberation (wenigstens) ergänzt (Barber 1984; Fishkin 1997). Demokratische Staaten und Gesellschaften haben in ihrer jeweiligen Entwicklung die idealtypischen Prinzipien der repräsentativen Demokratie abgeschwächt und sie mit solchen verknüpft, die aus anderen Demokratiekonzepten stammen (della Porta 2013). Sie haben unter indirekter Anerkennung der Unzulänglichkeiten von Machtdelegierung und Mehrheitsentscheidung verschiedene Institutionen mit unterschiedlichen demokratischen Qualitäten verbunden. Partizipatorische Konzepte sind in den demokratischen Staat durch Reformen eingedrungen, die Kanäle für Bürgerbeteiligung in Schulen, in Fabriken und in Nachbarschaften eröffneten, aber auch durch die politische Anerkennung von Bewegungsorganisationen und des »Rechts auf Dissens«. Referenden, die einst als Überbleibsel direkter Demokratie betrachtet wurden, kommen wieder zunehmend zum Einsatz, ebenso wie Konsensentscheidungen und Institutionen, in denen das Delegationsprinzips begrenzt ist, etwa durch Berufung von Repräsentant*innen durch Losentscheid. Demokratische Neuerungen – von partizipativer Haushaltsplanung bis zu deliberativen Miniöffentlichkeiten (Font u. a. 2014) – sollen dazu beitragen, das Vertrauen der Bürger*innen in die Demokratie wiederherzustellen sowie ihre Expertise und ihr Wissen einzubeziehen.

Die Legitimation der real existierenden Demokratien erforderte spezifische Bedingungen, die heute immer weniger gegeben sind (vgl. della Porta 2013). Politische Massenparteien ermöglichten, das Delegationsprinzip mit Formen der Bürgerbeteiligung zu verbinden und Repräsentant*innen längerfristig verantwortlich zu machen (Pizzorno 1993). Darüber hinaus benötigte das Mehrheitsprinzip einen Nationalstaat, der die Grenzen des Demos definierte, in dessen Namen (und Interesse) Entscheidungen getroffen wurden. Schließlich baute die repräsentative Demokratie, auch wenn sie keine soziale Gleichstellung verlangte, doch auf der Annahme auf, politische Gleichheit werde soziale Ungleichheit verringern, die ansonsten den freien Zugang zu politischen Rechten gefährden würde. Die repräsentative Form der Demokratie entwickelte sich somit in Kontexten, die durch Parteiendemokratie, nationale Souveränität und einen fest etablierten Wohlfahrtsstaat charakterisiert waren.

Die Schwächung der politischen Parteien, der Nationalstaaten und der sozialstaatlichen Einrichtungen veränderte die Funktionsweise repräsentativer Demokratien, dieselben Faktoren eröffneten aber auch Möglichkeiten für Experimente mit anderen Demokratiekonzeptionen. Wie Pierre Rosanvallon (2006: 8) vorgeschlagen hat, kam es in der Entwicklung der Demokratie, neben dem Aufbau der Institutionen, die eine Verantwortlichkeit über Wahlen etablierten, zur Konsolidierung eines außerhalb der staatlichen Institutionen verankerten Kontrollkreises. Diese zweite Konzeption der Souveränität fand ihren Ausdruck in einer wachsenden Kontrollfunktion der Zivilgesellschaft.

Kurz gesagt, die demokratischen Erneuerungen basieren auf der Überzeugung, dass in Zeiten wirtschaftlicher, sozialer und politischer Krisen eher mehr als weniger Bürgerbeteiligung nötig ist. Da die Krise der Demokratie durch einen zunehmenden Einfluss von Eliten innerhalb real existierender Demokratien – besonders in ihrer postdemokratischen Version – neue Nahrung erhält, brauchen wir mehr Bürgerbeteiligung, um demokratische Legitimität und Effizienz (auf der Input- und der Outputseite) wiederherzustellen. Partizipation ist nicht nur notwendig, um das Vertrauen in die Institutionen zurückzugewinnen, sondern auch ein Weg, um guten Bürgersinn zu entwickeln. Krisen verursachen Wandel und eröffnen zugleich Möglichkeiten, diesen Wandel zu gestalten. Präfiguration demokratischer Partizipation wird daher noch wichtiger, innerhalb und außerhalb öffentlicher Institutionen.

Dem durch rechten Populismus verstärkten Rückgang der Qualität der Demokratie lässt sich nicht begegnen, indem man das Volk zu unfähigen Staatsbürger*innen erklärt und nach technokratischen Lösungen ruft. Ein »Zeitalter des Misstrauens« gegenüber den demokratischen Institutionen verlangt vielmehr institutionelle Anpassungen, die die Herausforderungen in Ressourcen verwandeln kann. Soziale Bewegungen handeln (gemeinsam mit Richtern und unabhängigen Behörden) als Instrumente externer Kontrolle und permanenter Infragestellung in der von Pierre Rosanvallon (2006: 26) sogenannten Gegen-Demokratie, indem sie im Namen der Gesellschaft das Wort ergreifen, über die Regierenden und ihre Aktionen urteilen oder Forderungen entwickeln. Sie kompensieren die Erosione des Vertrauens und tun dies durch die Organisation des Misstrauens.

Vor diesem Hintergrund müssen progressive soziale Bewegungen, wie ich im folgenden Abschnitt dieser Einleitung ausführen werde, als Träger demokratischer Erneuerung gesehen werden, die die Qualität von Partizipation und Deliberation verbessern können. Dieser Band richtet sein Hauptaugenmerk auf die Beteiligung progressiver sozialer Bewegungen an der Konzeption und Implementierung von Innovationen in die institutionelle Politik und benennt die Grenzen und Potenziale. Wie politische Parteien oder Interessengruppen vertreten auch soziale Bewegungen unterschiedliche Standpunkte zur Demokratie: In einigen Fällen unterstützen sie demokratische Institutionen, in anderen stellen sie sie infrage. In einer Zeit, in der die Sorge um eine mögliche gesellschaftliche Spaltung infolge einer von xenophoben Bewegungen und Parteien getriebenen Großen Regression wächst, will ich das Potenzial progressiver sozialer Bewegungen für eine alternative Politik und zur Vertiefung der Demokratie aufzeigen. Dabei verbinde ich soziale Bewegungsforschung mit Demokratietheorie und analysiere einige von progressiven sozialen Bewegungen besonders propagierte demokratische Neuerungen, die sich auf partizipative und deliberative Praktiken stützen. Ich konzentriere mich auf aktuelle Beispiele und unterstreiche die Rolle, die progressive soziale Bewegungen in Zeiten spielen können, die durch Krisen und Veränderungen charakterisiert sind.

Progressive soziale Bewegungen als Orte der Erneuerung

Soziale Bewegungen wurden vor allem als Protestakteure untersucht, die auf die Straße gehen, um politischen Wandel voranzutreiben oder sich ihm zu widersetzen. Einige Forscher haben aber auch auf ihre innovative Funktion bei der Entwicklung und Verbreitung neuer Ideen verwiesen, unter anderem in Bezug auf demokratische Institutionen. Traditionell als Akteure »vor den Toren« des institutionellen Systems betrachtet, betreten soziale Bewegungen institutionelle Arenen aber in verschiedener Form und über unterschiedliche Kanäle.

Soziale Bewegungen wurden als wichtige Akteure betrachtet, die das Wort ergreifen, öffentliche Räume schaffen und an ihnen teilhaben. Sicherlich setzten sich nicht alle sozialen Bewegungen für Demokratie ein: Einige (vor allem rechte) Bewegungen bezeichneten sich selbst als antidemokratisch, andere (einschließlich linker Bewegungen) brachten autoritäre Wendungen hervor. Wie Charles Tilly (2004: 125) unterstrich, besteht allerdings »eine große Übereinstimmung zwischen Demokratisierung und sozialen Bewegungen«. Er schreibt:

»Die Wurzeln der sozialen Bewegungen finden sich in der teilweisen Demokratisierung, die britische Untertanen und nordamerikanische Kolonien gegen diejenigen vorgehen ließ, die sie im 18. Jahrhundert regierten. Über das ganze 19. Jahrhundert hinweg erblühten soziale Bewegungen und entwickelten sich, wo immer es zu einer weiteren Demokratisierung kam, während sie schwächelten, wenn autoritäre Regime Demokratie verhinderten. Diese Entwicklung setzte sich im 20. und 21. Jahrhundert fort; die Landkarten der Entwicklung von Institutionen und sozialen Bewegungen überlappen sich weitgehend.« (Tilly 2004: 125)

In dem Maße, wie Demokratisierung soziale Bewegungen begünstigte, unterstützte deren Mehrheit die demokratischen Reformen, die ihre Entwicklung beförderten.

In diesem Band befasse ich mich in erster Linie mit sozialen Bewegungen, die als progressiv bezeichnet werden können. Auch wenn Fortschritt ein umstrittener Begriff ist (Allen 2016), gehe ich davon aus, dass er Akteure definiert, die für eine inklusive Vision einer gerechten Gesellschaft und eine Vertiefung der Demokratie eintreten. Hierbei berücksichtige ich die dialektische Natur des Begriffs Fortschritt. Er wurde benutzt, um menschliche Emanzipation gegenüber sozialer Dominanz zu betonen, aber auch als Rechtfertigung von Herrschaft kritisiert, da er »eine universalistische teleologische Denkweise [impliziert], nach der einige Gesellschaften oder Gruppen diesen Telos früher als andere erreicht haben und damit die Autorität und vielleicht sogar den Auftrag haben, weniger fortgeschrittene Menschen aus ihrer selbstverschuldeten Unreife herauszureißen in das Licht der Vernunft und Freiheit, möglicherweise sogar, indem sie ihren unverständigen oder trägen Widerwillen mit Gewalt überwinden« (Forst 2019: 1).

Diese Spannung zwischen der normativen Bedeutung und der historischen Anwendung beachtend folge ich Forsts Aufruf zur Entwicklung einer nicht verdinglichten, nicht teleologischen, nicht dominierenden, aber emanzipatorischen Definition von Fortschritt. Unterscheidet man zwischen technologischem und moralisch-politischem Fortschritt, bleibt, wie Forst betont, »die entscheidende Frage, die durch das Konzept des moralisch-politischen Fortschritts aufgeworfen wird, wie die Macht strukturiert ist, die einen solchen Fortschritt und die Wege dorthin definiert […] Technologischer Fortschritt kann nicht als sozialer Fortschritt der Lebensbedingungen gelten ohne soziale Bewertungen, für was er gut ist, wer von ihm profitiert und welche Kosten er generiert. Genauso wenig kann wahrer sozialer Fortschritt als moralisch-politischer Fortschritt existieren, wo die Veränderungen erzwungen sind und als Kolonisierung erfahren werden. Technologischer Fortschritt muss sozial akzeptiert sein und sozial akzeptierter Fortschritt ist Fortschritt, der durch die Mitglieder der betreffenden Gesellschaft bestimmt und herbeigeführt wird.« (Forst 2018: 1)1

In diesem Sinn definiere ich solche sozialen Bewegungen als progressiv, die sich wie die sogenannten links-libertären Bewegungen der Vergangenheit für soziale Gerechtigkeit und positive Freiheit einsetzen (della Porta/Rucht 1995). Fortschritt wird somit verstanden als »die Befreiung (oder Emanzipation) von Kollektiven (beispielsweise Bürger*innen, Klassen, Nationen, Minderheiten, Einkommensgruppen, auch die Menschheit), sei es die Befreiung aus Not, Unwissenheit, ausbeuterischen Verhältnissen und Furcht, oder die Freiheit solcher Kollektive, sich selbstständig zu regieren, ohne von anderen abhängig zu sein oder kontrolliert zu werden. Darüber hinaus gilt die Freiheit, die aus der Befreiung resultiert, gleichermaßen für alle, und Gleichheit gilt als Kriterium, um sicherzustellen, dass die Befreiung nicht ein bloßes Privileg bestimmter sozialer Gruppen wird.« (Offe 2011: 79–80) In den Worten von Forst (2019: 1) befasse ich mich mit »Ermächtigungsinitiativen«, »besonders denjenigen, in denen unterprivilegierte Gruppen […] Beteiligungsrechte durch soziale Kämpfe gewinnen«, um so die Handlungsmacht für Individuen wie für Kollektive auszuweiten. Unter ihnen befinden sich Bewegungen, die Forderungen nach einer breiteren Einbindung der Bürger*innen und einer Verringerung von Herrschaft innerhalb nationaler Grenzen und über sie hinaus ansprechen (Ypi 2012). Zwar richtet sich das Hauptaugenmerk meiner Analyse auf progressive Bewegungen, ich werde aber argumentieren, dass einige Forderungen dieser Akteur*innen nach umfassenderer Beteiligung und öffentlicher Anerkennung sich über die ursprünglich treibenden Kräfte hinaus ausbreiten und von Akteur*innen mit ambivalenteren Haltungen zur globalen Gerechtigkeit erhoben werden können. Ich werde auch erörtern, in welchem Ausmaß sich regressive Akteur*innen demokratische Neuerungen aneignen, die von progressiven sozialen Bewegungen eingeführt wurden.

Die Forschung zu sozialen Bewegungen hat sich vor allem auf deren progressive Variante konzentriert und auf ihr emanzipatorisches Potenzial verwiesen. Zu Beginn der sozialen Bewegungsforschung unterstrichen Wissenschaftler*innen, die der sogenannten Chicagoer Schule nahestehen, in Studien zum kollektiven Verhalten, dass kollektive Phänomene nicht einfach soziale Krisen widerspiegeln, sondern neue Solidaritäten und Normen hervorbringen, die den Wandel, insbesondere im Wertesystem, vorantreiben. Forscher*innen zum kollektiven Verhalten bezogen sich auf diese Interpretationen, wenn sie soziale Bewegungen in Zeiten intensiven sozialen Wandels untersuchten (vgl. Blumer 1951; Gusfield 1963; Turner/Killian 1987). Im symbolischen Interaktionismus verwurzelt, räumten sie der Bedeutung, die Akteur*innen sozialen Strukturen zuschreiben, eine besondere Relevanz ein. Sie interessierte vor allem, wie soziale Aktionen, die auf neuen Normen basieren, institutionelles Verhalten veränderten (vgl. della Porta/Diani 2006: 12–13).

Auch Forschung zu neuen sozialen Bewegungen, die soziale Veränderungen auf der Makroebene stärker berücksichtigt, erkannte in sozialen Bewegungen den Motor der Erneuerung. Alain Touraine (1985), der die wissenschaftliche Debatte für neue Konflikte öffnete, betrachtete soziale Bewegungen als Gegenspieler der dominierenden Mächte in unterschiedlichen Gesellschaften. Gegenwärtig sah er sie um die Kontrolle in sich abzeichnenden programmierten Gesellschaften ringen, in denen Wissen besonders relevant ist. Mit einem ähnlichen Ansatz untersuchte Alberto Melucci (1982, 1989, 1996) Bewegungen als Produzenten von Normen in modernen Gesellschaften, die er als hochdifferenziert definierte. Diese Gesellschaften investieren nach Melucci zunehmend in die Bildung individueller autonomer Aktionszentren, kontrollieren aber auch stärker die Motive menschlichen Handelns. Insofern propagieren neue soziale Bewegungen, anstatt lediglich materielle Vorteile anzustreben, andere Codes, um den Eingriffen des Staats und des Markts in das alltägliche Leben der Bürger*innen zu widerstehen. Konflikte beziehen sich demnach vornehmlich auf die Kontrolle von Bedeutungen, die Verbreitung von Informationen, die Produktion und den Gebrauch wissenschaftlicher Erkenntnisse und die Schaffung kultureller Modelle für individuelle und kollektive Identitäten. Traditionell mit disruptiven Formen politischer Partizipation verbunden, nehmen Bewegungen in der Habermasʼschen Beschreibung des Gesellschaftslebens eine positive Rolle bei der Mobilisierung zum Widerstand gegen die Invasion der Logiken des Systems ein (Habermas 1981).

Auch jüngere sozialwissenschaftliche Literatur hat soziale Bewegungen als Bildungsstätten verstanden (Welton 1993), die Wissen durch diskursive Prozesse aufbauen, die aus »Gesprächen und Unterhaltungen – den Sprechakten – und schriftlicher Kommunikation der Bewegungsmitglieder [bestehen], die im Kontext von oder in Bezug auf Bewegungsaktivitäten stattfinden« (Benford/Snow 2000: 623). Hinsichtlich der Bedeutung der Bewegungen als Wissensproduzenten haben Eyerman und Jamison (1991: 68–69) drei Dimensionen ihrer kognitiven Praxis hervorgehoben: eine kosmologische Dimension, also die »gemeinsamen Weltbild-Annahmen, die einer sozialen Bewegung ihre utopische Mission geben«; eine technologische Dimension, die sich auf »die spezifischen technologischen Fragen [bezieht], um die herum sich spezifische Bewegungen entwickeln«; eine organisatorische Dimension als »ein besonderes organisatorisches Paradigma, was bedeutet, dass sie sowohl Ideale als auch Verfahren besitzen, um die Produktion und […] Verbreitung von Wissen zu organisieren«.

Untersuchungen der Wissenspraktiken innerhalb sozialer Bewegungen haben deren Bandbreite hervorgehoben, ausgehend »von Dingen, die wir für gwöhnlich nach eher klassischen Grundsätzen als Wissen definieren, wie etwa Praktiken, die dem Wissen von Wissenschaftlern und Politikexperten verpflichtet sind und parallel zu ihm verlaufen, bis zu mikro-politischen und kulturellen Interventionen, die mehr mit ›Know-how‹ oder der ›kognitiven Praxis, die jede soziale Aktivität prägt‹, zu tun haben, und die mit den grundlegendsten sozialen Institutionen wetteifern, die uns lehren, wie wir in der Welt existieren sollten« (Casas-Cortés u. a. 2008: 21). Soziale Bewegungen werden in der Tat »1) aktiv in der Ko-Produktion, Infragestellung und Transformation wissenschaftlicher Expertendiskurse; 2) schaffen kritische Subjekte, deren Diskurse neue Demokratievorstellungen hervorbringen; und 3) generieren reflexive konjunkturelle Theorien und Analysen, die sich gegen stärker dogmatische und orthodoxe Herangehensweisen an sozialen Wandel stellen und so zu ethischen Wissensarten beitragen« (Ebd.: 22). Wissenspraktiken sind formell und informell, da das Aktivistenwissen durch unterschiedliche Arten von Wissenspraktiken geformt wird, durch Konzepte, Theorien und Vorstellungswelten ebenso wie durch methodologische Apparate und Forschungsinstrumente. Darüber hinaus »beinhalten sie weniger offensichtlich mit Wissen verbundene Praktiken, einschließlich der Erzeugung von Subjektivitäten/Identitäten, Diskursen, gesundem Menschenverstand und Projekten der Autonomie und Existenzgrundlage« (Ebd.: 28).

Soziale Bewegungen sind in erster Linie wichtige Akteure in der von Rosanvallon (2006) so definierten Gegen-Demokratie, da sie hegemoniales Denken und besonders dessen Auswirkungen auf Untergebene kritisieren. Progressive soziale Bewegungen besitzen tatsächlich eine anti-hegemoniale Funktion (Freire 1996), denn »der Charakter und relationale Modus unterdrückter Menschen tendiert dazu, von der Identifikation mit dem Unterdrücker und dem oft unbewussten Wunsch gekennzeichnet zu sein, ihn/sie hinsichtlich Identität, Position in der Sozialstruktur und Umgang mit dem ›anderen‹ nachzuahmen. Wird diese oft unbewusste Tendenz nicht erkannt und aktiv dekonstruiert, ist es wahrscheinlich, dass die unterdrückerische Beziehung reproduziert wird, dieses Mal mit neuen Protagonisten« (Motta/Esteves 2014: 2). Die Kritik sozialer Bewegungen an dem bestehenden Wissen strebt besonders das Ent-Lernen dominanter und dafür das Er-Lernen oppositioneller und befreiender Diskurse an (Foley 1999: 4).

Lernen ist demnach auf Emanzipation ausgerichtet, geht über eine Kritik des hegemonialen Denkens hinaus und experimentiert stattdessen mit Alternativen. Als selbstreflektierende Akteure erwerben und produzieren progressive soziale Bewegungen Wissen in unterschiedlichen Phasen ihres Handelns. Sie lernen während gewohnter Aktivitäten wie Meetings, Protesten, Organisation und Bildungsaktionen ebenso wie durch Selbstreflexion über ihre Aktionen (Mayo/English 2012: 202–203).

Kritische und kreative Wissensansätze sind auf soziale Veränderung ausgerichtet. Wissenschaftler*innen haben das Potenzial progressiver sozialer Bewegungen unterstrichen, alternative Analysen anzubieten und ausgehend von eigener Erfahrung Antworten auf Ausbeutung und Ausgrenzung zu suchen. »Während wissenschaftliches Wissen danach strebt, verallgemeinerbare theoretische und methodologische Modelle zu entwickeln (auf einige hiervon stützen sich Bewegungsakteure durchaus), basiert ›Volkswissen‹ auf fundierter Erfahrung, die bestimmte Prozesse sozialer Emanzipation auf andere Weise verstärken kann« (Casas-Cortés u. a. 2008: 48).

Das Wissen sozialer Bewegungen gilt als verortet anstatt universell, als engagiert anstatt unparteiisch, als auf Veränderungen an den Wurzeln des Systems ausgerichtet anstatt an Symptomen (Mayo 1999). Es versucht, nützliche Fertigkeiten bereitzustellen, ein kritisches Verständnis von Macht und Handlungsfähigkeit zu entwickeln (Foley 2004) und das Lokale mit dem Globalen zu verbinden (Crowther u. a. 2005). Das produzierte Wissen ist »eingebettet in und [wird] verkörpert durch gelebte, ortsbezogene Erfahrungen, die andere Antworten anbieten als eher abstraktes Wissen: Wissen, das verortet und verkörpert ist anstatt angeblich neutral und distanziert« (Casas-Cortés u. a. 2008: 42–43). Bewegungen generieren Wissen, das aus der Praxis in die Theorie transportiert wird (Gordon 2007). Ihr Wissen gilt daher als grundsätzlich darauf ausgerichtet, Theorie und Praxis zu verbinden und dabei die Realität als Ausgangspunkt zu nehmen: »Das Ziel ist es, einen geeigneten und operativen theoretischen Horizont zu schaffen, sehr nahe an der Oberfläche des ›Gelebten‹, wo das Einfache und Konkrete der Elemente, aus denen es entstand, Bedeutung und Potenzial gewinnen« (Malo de Molina 2004: 13).

Das Wissen sozialer Bewegungen ist auch deshalb so bedeutsam, weil es zu einem großen Teil aus der Aktion heraus entsteht. Besonders die Theoriebildung der Bewegungen »basiert auf dem Prozess, ›soziale Bewegungen‹ gegen Opposition hervorzubringen. Es ist immer bis zu einem gewissen Grad Wissen-im-Kampf, und sein Überleben und seine Entwicklung sind immer umkämpft und in einem Gestaltungsprozess. Sein häufig partieller, unsystematischer und provisorischer Charakter macht es für uns nicht weniger wertvoll, auch wenn dies teilweise erklären könnte, warum akademische soziale Bewegungstheorie sich zu oft damit zufriedengibt, ›den Rahm abzuschöpfen‹ und all das zu vernachlässigen – oder zu übersehen –, was geschehen muss, bevor institutionalisierte Theoriebildung zu sozialen Bewegungen in der Form erscheint, die sich leicht aneignen lässt« (Barker/Cox 2002: 11). Die auf alternativem Wissen und alternativen Praktiken beruhende Theoriebildung ist somit ein Aspekt bei der Bildung kollektiver Institutionen wie sozialer Bewegungsorganisationen, von denen erwartet wird, dass sie die Bürger*innen im Widerstand und Erreichen des Wandels bestärken (Ebd.: 21).

Kurz gesagt: Progressive soziale Bewegungen betrieben und betreiben demokratische Erneuerung. Sie experimentieren intern mit neuen Ideen, nehmen alternative Formen demokratischer Politik vorweg und verbreiten diese Ideen innerhalb von Institutionen. Sie verändern demokratische Staaten nicht nur durch Kämpfe für politischen Wandel, sie kritisieren auch grundlegend konventionelle Politik und sprechen so metapolitische Themen an. Und nicht zuletzt experimentieren sie mit partizipativen und deliberativen Ideen. Historisch waren progressive soziale Bewegungen die Träger partizipatorischer und deliberativer demokratischer Qualitäten. Sie forderten notwendige Anpassungen in demokratischen Institutionen und spielten eine entscheidende Rolle im Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit und für Demokratie. In diesen Kämpfen haben sie innovative Ideen und alternatives Wissen hervorgebracht. Dies war und ist umso wichtiger in Krisenzeiten, die die alten Institutionen scheinbar nicht bewältigen können. Anstatt graduellem Wandel erfordern diese kritischen Wendepunkte neue Ideen, ja sogar neue Paradigmen, mit denen soziale Bewegungen bereits experimentiert haben. Wie erwähnt erproben soziale Bewegungen intern demokratische Neuerungen. Ihre Aktivitäten sind auf Präfiguration alternativer Formen interner Demokratie ausgerichtet. Als selbstreflektive Akteure testen sie neue Demokratieideen, die dann die Basis bilden können für Veränderungen der demokratischen Governance.

Ausgelöst durch die Unzufriedenheit mit einer zentralisierten und bürokratischen repräsentativen Demokratie drängten sogenannte neue soziale Bewegungen seit den 1970er Jahren auf verschiedene Partizipationsformen in der Entscheidungsfindung, die sich dann durch eine Art »Ansteckung von unten« ausbreiteten (Rohrschneider 1993). In letzter Zeit brachten die globalisierungskritische Bewegung und die Anti-Austeritäts-Proteste neues Wissen über direkte demokratische Prozesse hervor (Cox 2014: 965). Zu Beginn des neuen Jahrtausends befasste sich die globalisierungskritische Bewegung mithilfe ihrer durch die Zapatisten inspirierten reflexiven Praktiken und deliberativen Räume insbesondere mit der Wissensgenerierung. In den 2010er Jahren kritisierten die Protestierenden auf dem Tahrir-Platz, auf der Puerta del Sol, auf dem Syntagma-Platz oder im Zuccotti-Park, später im Gezi-Park, oder auf dem Place de la République die existierende repräsentative Demokratie als tief korrupt. Gleichzeitig erprobten sie verschiedene Demokratiemodelle, wobei sie partizipative und deliberative Qualitäten besonders betonten. Die acampadas – Langzeit-Camps auf besetzten öffentlichen Plätzen – wurden als Protest- und Organisationsform zum Inbegriff eines demokratischen Experiments, das in verschiedene Kontexte übernommen und adaptiert wurde. Mit dem Ziel der Partizipation und Deliberation entwickelten sich die acampadas aus früheren Praktiken interner Demokratie wie den Sozialforen und versuchten, aus deren Schwächen zu lernen und sie zu beheben (della Porta 2015). Dabei fanden neben einer Partizipation von unten, die von den progressiven sozialen Bewegungen so geschätzt wurde, egalitäre und inklusive öffentliche Räume besondere Aufmerksamkeit (della Porta 2013). Den acampadas war die Konsensbildung sehr wichtig. Deshalb bevorzugten sie die Beteiligung von Laien – Bürger*innen, die Gemeinschaft –, die sie als Individuen, weniger als Mitglieder von Parteien, Vereinen oder Verbänden mobilisierten (Juris 2012), indem sie ihre persönliche Erfahrung und ihr Wissen wertschätzten.

Aktuelle progressive Bewegungen betrachten Transparenz, Gleichheit und Inklusivität als wichtige demokratische Werte. Die Camps unter freiem Himmel sollten den öffentlichen und transparenten Charakter des Prozesses unterstreichen, in dem sich Bürger*innen die öffentlichen Räume wieder aneigneten. Durch die Wahl öffentlicher Räume als Hauptorte des Protests betonten die Aktivist*innen die Inklusivität des Prozesses, der die gesamte Agora einbeziehen sollte. Die Heterogenität der Teilnehmer*innen wurde als besonders positiver Aspekt der Camps unterstrichen. Personen aus verschiedenen Klassen, mit unterschiedlichen Hintergründen und Ideologien saßen zusammen und redeten miteinander (Gerbaudo 2012: 69). Durch die Besetzung zentraler, städtischer öffentlicher Räume und deren suversive Nutzung strebten die acampadas die Wiederherstellung einer Öffentlichkeit an, in der Probleme und Lösungen unter Gleichen diskutiert werden konnten (Halvorsen 2012: 431). Die allgemeinen Versammlungen sollten die einfachen Leute – keine Aktivist*innen, sondern normale Bürger*innen – durch Plakate und individualisierte Nachrichten mobilisieren. Im Camp-Alltag wurden auch alternative Praktiken entwickelt, wie etwa Freiküchen, Sanitätszelte, Bibliotheken, Medienzentren und Informationspunkte für Besucher*innen und neue Teilnehmer*innen (Graeber 2012: 240).

Bei all dem versuchte man, das Prinzip direkter Demokratie mit der Suche nach Konsens zu verbinden. Konsensuelle Entscheidungsfindung baute auf Praktiken auf, die der horizontale Flügel der globalisierungskritischen Bewegung entwickelt hatte (della Porta 2009). Man ging davon aus, dass durch Inklusivität und Respekt gegenüber den Meinungen aller auch bei großen Versammlungen mit Hunderttausenden Teilnehmer*innen eine kollektive Denkweise entsteht. Für einen konsensuellen, horizontalen Entscheidungsfindungsprozess wurden zunächst kleine Gruppen gebildet, die dann in den größeren Versammlungen wieder zusammenkamen. Deliberation durch Konsens wird allgemein als Instrument gegen Bürokratisierung, gegen die Routinisierung von Versammlungen und als Möglichkeit verstanden, eine Gemeinschaft zu bilden (Graeber 2012: 23). Die acampadas waren Orte des Protests, aber auch des Informationsaustauschs, des voneinander Lernens, der individuellen Sozialisation und der Wissensgenerierung. Ihr letztendliches Ziel war es, mit dem Wissen, der Erfahrung und den starken Emotionen der Teilnehmer*innen eine Gemeinschaft zu schaffen. Auf den besetzten öffentlichen Plätzen sollten Utopien entstehen, die das Medieninteresse erweckten und so zur Teilnahme inspirierten. Sie sollten aber auch »einen Raum für partizipatorische Basisdemokratie bereitstellen; für Ritual- und Gemeinschaftsbildung, Strategieentwicklung und Aktionsplanung, öffentliche Bildung und die Präfiguration alternativer Welten, die Visionen der Bewegung verkörpern«. Gleichzeitig waren die Camps ein Ort der Vernetzung und Koordination (Juris 2012: 268). Camps wurden somit nicht nur als Orte des Redens und Zuhörens betrachtet, sondern auch der Bildung kollektiver Identitäten durch die Entwicklung starker Emotionen und den Aufbau langfristiger Beziehungen. Indem sich unterschiedliche Menschen in offenen und öffentlichen Räumen begegneten, sollten enge Bindungen und ein Zugehörigkeitsgefühl geschaffen werden. Die Camps sollten somit Zeichen des Widerstands sein, aber durch das Experimentieren mit einer anderen Demokratieform auch neue Beziehungen vorwegnehmen.

Einige der erwähnten innovativen Vorstellungen von Demokratie bildeten die Basis für institutionelle Experimente, die durch dieselben Prinzipien der Partizipation und Deliberation inspiriert waren. Soziale Bewegungen beschäftigen sich nämlich nicht nur intern mit Praktiken demokratischer Erneuerung, sondern sie tragen diese auch in die Institutionen hinein. Kurz gesagt: Soziale Bewegungen erheben Forderungen nicht nur hinsichtlich spezifischer Politiken, sondern auch hinsichtlich der Art und Weise, wie das politische System als Ganzes funktioniert: also in Bezug auf seine institutionellen und formalen Verfahren, die Elitenrekrutierung und die informelle Machtkonfiguration (Kitschelt 1986). Bewegungen haben vieles erreicht: die Dezentralisierung politischer Macht; Bürgeranhörungen zu bestimmten Beschlüssen; Einspruchsverfahren gegen Entscheidungen der öffentlichen Verwaltung; Zeugenaussagen vor repräsentativen Institutionen und der Justiz; Anhörungen als Gegen-Experten; rechtliche Anerkennung und materielle Anreize. Repertoires kollektiven Handelns, das früher geächtet und als Problem für die öffentliche Ordnung behandelt wurde, wurde langsam legal und legitim (della Porta/Reiter 1998). Direkte Demokratie entwickelte sich zu einem Zugangskanal, der die in repräsentativen Demokratien bestehenden Instrumente ergänzt (della Porta/O’Connor u. a. 2017a). Soziale Bewegungen tragen auch zur Schaffung neuer Arenen öffentlicher Politik bei, wie etwa Expertenkommissionen oder spezifische administrative oder politische Abteilungen, beispielsweise Staatsministerien oder Büros für Frauen- oder Umweltfragen. Bewegungsaktivisten wurden als Mitarbeiter*innen in öffentliche Einrichtungen internationaler Organisationen wie der EU aufgenommen (Ruzza 2004). In Regulierungsbehörden entstehen Möglichkeiten für eine »konfliktuelle Kooperation«, von der Konsultierung über die Eingliederung in Komitees bis zur Machtdelegierung (Giugni/Passy 1998: 85). Diese Institutionen geben Forderungen sozialer Bewegungen weiter. Sie verbünden sich sogar mit Bewegungsaktivisten, mit denen sie in regelmäßigem Kontakt stehen können (Ebd.).

Zu den demokratischen Neuerungen zählen in jüngster Zeit auch partizipatorische Arenen, in denen sich normale Bürger*innen an öffentlichen Debatten über wichtige (und häufig kontroverse) Themen beteiligen können. Vor allem auf lokaler Ebene gab es verschiedene Versuche, Partizipation durch hochqualitative kommunikative Arenen und die Ermächtigung der Bürger zu steigern. Mit Graham Smith (2009) lassen sich zwei institutionelle Zusammenschlüsse unterscheiden: assemblarische oder normalerweise durch Los bestimmte Mini-Öffentlichkeiten. Besonders die erste Form sah die Beteiligung von Aktivist*innen sozialer Bewegungen an Nachbarschafts- oder thematischen Versammlungen, in beratenden Komitees, bei partizipatorischer strategischer Planung und Ähnlichem vor. Von Porto Alegre aus, einer brasilianischen Stadt mit 1 360 000 Einwohner*innen, verbreiteten sich beispielsweise die Bürgerhaushalte, die von den Vereinten Nationen als eine von vierzig vorbildlichen Verfahren auf globaler Ebene anerkannt wurden (Allegretti 2003: 173). In einem strukturierten Mitwirkungsprozess werden die Bürger*innen eingeladen, an Versammlungen und Komitees teilzunehmen und über die Verteilung bestimmter öffentlicher Gelder zu entscheiden. Auf diese Weise sollen soziale Gleichberechtigung erreicht und Gelegenheiten der Ermächtigung geschaffen werden. Zugleich geht es um effektive und faire Problemlösungen, aber auch um eine breite, tiefe und beständige Beteiligung. Dem Bürgerhaushalt wird nachgesagt, ein vorteilhaftes Umfeld für Zusammenschlüsse zu schaffen und aktives Handeln, stärkere Vernetzung und Mitarbeit aus einer stadtweiten Perspektive heraus zu fördern (Baiocchi 2002). Die partizipativen Instrumente unterscheiden sich zwar stark in ihrer Beteiligungsintensität, ihrer Dauer und ihrem Einfluss, alle aber zeigen die Grenzen einer rein repräsentativen Demokratiekonzeption auf. Das Ziel, leitende Funktionen durch größere Transparenz und besseren Informationsfluss zu optimieren, ist verbunden mit dem Bestreben, soziale Beziehungen durch die Rekonstruktion sozialer Bindungen, die Förderung von Solidarität und letztendlich durch die »Demokratisierung der Demokratie« neu zu gestalten (Bacqué u. a. 2005). Die Instrumente wurden hinsichtlich ihrer besseren Fähigkeit untersucht, Probleme zu lösen, wie sie beispielsweise beim lokalen Widerstand gegen den Bau großer Infrastrukturprojekte entstehen (Bobbio/Zeppetella 1999). Sie sollen darüber hinaus die Legitimität öffentlicher Entscheidungen erhöhen, da »alle potenziell betroffenen Gruppen dieselben Möglichkeiten haben, sich an dem Prozess zu beteiligen, und dieselben Rechte, Themen vorzuschlagen, Lösungen zu formulieren oder als selbstverständlich geltende Vorgehensweisen kritisch zu diskutieren, und da Entscheidungen durch den Austausch von Argumenten herbeigeführt werden« (Baccaro/Papadakis 2008: 1).

In diesem Band werden nicht nur demokratische Neuerungen innerhalb der Bewegungen und Forschungsergebnisse zu partizipatorischen Institutionen und sozialen Bewegungen diskutiert (vgl. dazu della Porta 2013, 2015b). Einige institutionelle Auswirkungen aktueller progressiver Bewegungen werden auch dahingehend untersucht, wie sie ihre partizipatorischen und deliberativen Konzeptionen und Praktiken bei Verfassungsprozessen, Verfahren direkter Demokratie und in der Parteienpolitik verbreiten. Wie erwähnt besteht eine Hauptannahme dieser Arbeit darin, dass progressive soziale Bewegungen in Zeiten, in denen die Spannungen in Demokratien zunehmen, wichtige Ressourcen anbieten können, um demokratische Partizipation und Deliberation neu zu beleben. Institutionelle demokratische Neuerungen und soziale Bewegungen wurden meist isoliert voneinander betrachtet:

»Deliberative Demokratie und kollektives Handeln wurden oft gegeneinandergestellt, da sie widersprüchliche Wege vorschlagen, das Gemeinwohl zu gestalten, auf der einen Seite basierend auf kooperativer Diskussion, auf der anderen auf kontroversem Protest und Verhandlung. Soziale Bewegungen haben aber die Aufnahme und Organisation demokratischer Innovationen in großem Ausmaß geprägt. Historisch trat die erste Welle deliberativer und partizipatorischer Institutionen in den 1970er Jahren auf, als Antwort auf die Forderungen sozialer Bewegungen nach einer größeren Inklusivität des politischen Prozesses. Durch die Teilnahme an oder im Gegenteil den Boykott neuer Formen des demokratischen Engagements beeinflussen soziale Bewegungen auch die Art und Weise, wie demokratische Neuerungen funktionieren. Schließlich haben die internen demokratischen Praktiken sozialer Bewegungen und ihre Reflexionen über die Grenzen informeller Entscheidungsfindung das Forschungsfeld der deliberativen Demokratie inspiriert, das im Gegenzug die Forschung über kollektives Handeln beeinflusst hat.« (Talpin 2015: 781)

Wie ich im Folgenden argumentieren werde, können soziale Bewegungen eine Schlüsselrolle dabei spielen, demokratische Neuerungen (mit denen sie intern experimentieren) in öffentliche Institutionen einzubringen, unter Nutzung bestimmter institutioneller Mechanismen wie Verfassungsprozesse, Verfahren direkter Demokratie und Parteienpolitik.

In jedem der drei folgenden Kapitel werde ich deshalb auf die Instrumente der sozialen Bewegungsforschung zurückgreifen, um einige der demokratischen Neuerungen zu erläutern, die durch partizipatorische Verfassungsprozesse, Referenden »von unten« und Bewegungsparteien bewirkt wurden. Soziale Bewegungen müssen existierende Institutionen herausfordern und Risse (oder wenigstens Wendepunkte) im System verursachen. Die soziale Bewegungsforschung hat die Bedeutung politischer Gelegenheiten betont und hierbei sowohl das bedingte Vorhandensein potenzieller Verbündeter (ihre politischen Positionen und ihre Stärke) als auch stabilere Zugangskanäle zu politischen Institutionen (vor allem funktionale und territoriale Machtverteilung) betrachtet (vgl. della Porta/Diani 2006, Kap. 7). Die Hauptannahme besteht darin, dass das Öffnen politischer Gelegenheiten kollektive Mobilisierung und ihre Formen beeinflusst, da rational denkende Aktivist*innen eher in kollektives Handeln investieren, wenn ihre Anstrengungen sich zu lohnen scheinen. Umfassend überprüft in länder- und zeitübergreifender Perspektive (vgl. etwa Kriesi u. a. 1995; della Porta 1995; Tarrow 1989), legt der Ansatz der politischen Gelegenheiten nahe, dass Protest häufiger und weniger radikal ist, wenn Außenseiter*innen stabile und/oder bedingte Zugangskanäle zu Institutionen offenstehen. Auch angesichts wirtschaftlicher Krisen und struktureller Schwäche der unteren Klassen haben Forscher*innen sowohl die Entstehung von Protest als auch seinen Erfolg mit dem Öffnen von politischen Gelegenheiten erklärt (Tarrow 2011).