Die Schönheit des Lichts - Etel Adnan - E-Book

Die Schönheit des Lichts E-Book

Etel Adnan

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Beschreibung

"»Ich begegnete ihr vor acht Jahren in einem etwas mondänen Rahmen, inmitten wichtiger Menschen der Kunstbranche. Alle redeten, außer ihr. Sie stand mit dem Rücken zu den Leuten vor einem riesigen Kamin. Und schaute reglos ins Feuer. Ich wagte es nicht, sie anzusprechen, so intensiv schaute sie es an. Ich hatte ein paar ihrer Texte gelesen, darunter bemerkenswerte Gedichte, und ein Interview mit Hans Ulrich Obrist, in dem sie mich durch ihren umfassenden Blick auf die Welt beeindruckt hat. Sicher war sie eine Künstlerin, aber eben ›nicht nur‹, wie es so schön heißt. Dieses ›nicht nur‹ wollte ich kennenlernen.« - Laure Adler In diesen Gesprächen, die Laure Adler mit Etel Adnan wenige Monate vor deren Tod im Herbst 2021 geführt hat, zeichnet die Künstlerin tiefgründig und emotional die Erfahrungen nach, die ihr poetisches und malerisches Schaffen begründen. Sie erzählt von ihrer Kindheit im Libanon, ihrem Studium an der Sorbonne, den Jahren in New York und vor allem in Kalifornien, bis zu ihrer späten (und »anstrengenden«) Anerkennung auf der documenta in Kassel im Jahr 2012. Das Gespräch zwischen Laure Adler und Etel Adnan wird schnell komplizinnenhaft, denn es ist auch das manchmal schwierige Schicksal von Frauen, das betrachtet und hinterfragt wird. Der Ton der 96-jährigen Etel Adnan ist lebendig, geradezu jugendlich und durchdrungen vom Glauben an die Schönheit, die allem innewohnt: die Schönheit der Welt, die Schönheit der Kunst, der Farben, des Bergs, des Meeres, des Lichts. »Die Farben des Mittelmeers sind ein Wunder, so schön sind sie.« "

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Seitenzahl: 160

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Etel Adnan | Laure Adler

Die Schönheit des Lichts

Gespräche

Aus dem Französischen von Sina de Malafosse

Eine Freundin

Ein dickes Auto auf einem Highway durch die amerikanische Wüste zu fahren sei, wie in ihre Hefte zu kalligraphieren, sagte sie. Wenn man jeden Tag aufmerksam und treu einen Berg betrachte, könne man seine Freundin werden. Wozu es bei ihr übrigens kam. Alles Existierende weckte ihre Neugier und oft ihre Begeisterung. Sie empfand nie Überdruss und war stets wach, als ob es bereits ein solches Glück sei, zu leben, dass sie sich nichts entgehen lassen wollte. Sie liebte wilde Ranunkeln und blutrote Anemonen. Sie war auch eine Freundin der Blumen.

Ich bin ihr vor acht Jahren in einem etwas mondänen Rah- men, inmitten bedeutender Menschen der Kunstbranche, begegnet. Alle redeten, außer ihr. Sie stand mit dem Rücken zu den Leuten vor einem riesigen Kamin und schaute reglos ins Feuer. Ich wagte nicht, sie anzusprechen, so intensiv schaute sie es an. Ich hatte ein paar ihrer Texte gelesen, darunter bemerkenswerte Gedichte, und ein Interview mit Hans Ulrich Obrist, in dem sie mich durch ihren umfassenden Blick auf die Welt beeindruckt hatte. Sicher war sie eine Künstlerin, aber eben »nicht nur«, wie es so schön heißt. Dieses »nicht nur« wollte ich kennenlernen.

Während unserer Arbeit an der Zeitschrift L’Entretien begannen mein Partner Alain und ich ein zartes Band der Freundschaft mit ihr zu knüpfen. Anfangs kamen wir, um Fragen zu stellen. Bald kamen wir wieder, um sie zu sehen, um bei ihr zu sein, ihrer beglückenden Gesellschaft wegen.

Jahre vergingen, in denen wir Etel besuchten, um über das Salz des Lebens und die Schönheit der Welt zu sprechen.

Als Bernhard Comment mich fragte, wer mir für ein Buch mit einem Künstler oder einer Künstlerin einfalle, dachte ich sofort an Etel. Ich wusste, dass es Freude, Wahrheit, Intensität bedeuten würde. Kurz zuvor hatte ich ein Buch mit Christoph Boltanski fertiggestellt, ein wahrer Konzeptkünstler, der sich als liebenswerter Mensch und Lebemann herausgestellt hatte. Man denkt (ich denke) ein bisschen zu oft, dass Kunstschaffende nur Geist sind und der Leib wenig Raum in ihren Überlegungen einnimmt.

Bei Etel wusste ich, dass sie über ihre Gefühle als Grundfeste für ihr Schaffen sprechen würde. Und doch wurde ich über alle Maßen überrascht. Re Kreation. Rekreation. Es kam zu einer Reihe von erhellenden Momenten, in denen ich, auch dank der Unterstützung ihrer Lebensgefährtin Simone Fattal, Zugang in die Welt ihrer Vorstellungskraft erhielt. Was sich daraus ergab, werden Sie in diesen schlichten, impulsiven, offenen Gesprächen entdecken.

 

Laure Adler

Im Februar 2022

1.

LAURE ADLER: Etel Adnan, Sie sind Schriftstellerin, Dichterin, Künstlerin, Sie sind im Libanon geboren. Mit welcher Sprache sind Sie aufgewachsen?

 

ETEL ADNAN: Ich bin ein etwas besonderer Fall, vor allem für die damalige Zeit. Meine Mutter war eine Griechin aus Smyrna (heute Izmir), das heißt aus der Türkei, und mein Vater ist in Damas geboren, war aber auch Offizier des Osmanischen Reichs, ihre gemeinsame Sprache war also Türkisch, bei mir zu Hause in Beirut wurde Türkisch gesprochen, aber meine Mutter sprach natürlich Griechisch mit mir. Bis ich zwanzig war, sogar vierundzwanzig, wuchs ich also mit Griechisch und Türkisch auf, und mit Französisch, weil der Schulunterricht damals strikt auf Französisch stattfand, Arabisch wurde nicht gelehrt. Ich habe Arabisch auf der Straße aufgeschnappt, wie es so schön heißt, bei den anderen Kindern. Ich bin also viersprachig aufgewachsen.

 

LAURE ADLER: Wann haben Sie verstanden, dass Sie eine Künstlerin sind?

 

ETEL ADNAN: Erst viel später, ich war schon dreißig und lebte in Amerika. Ich war dort, um in Berkeley meine Doktorarbeit zu schreiben, und zwei oder drei Jahre später fand ich eine Stelle als Lehrerin für Philosophie an einem College, und da ich Kunstphilosophie unterrichtete, hat die Fachbereichsleiterin für Kunst – in Amerika wird Kunst zum Glück auf dem gleichen Niveau gelehrt wie Philosophie oder Biologie – zu mir gesagt: »Wie können Sie Kunstphilosophie unterrichten, ohne künstlerisch tätig zu sein?« Sie hat mich ermutigt: »Kommen Sie, kommen Sie in unsere Fachbereichsräume, Sie finden dort alle Materialien, um Kunst zu machen.« Also ging ich in meiner Freizeit dorthin, und nach ein paar Monaten schaute sie sich meine Arbeiten an und erklärte: »Wissen Sie, Ihr Geist ist auf natürliche Weise gebildet, Sie brauchen keinen Unterricht.« Und ich wurde Malerin … einfach so.

 

LAURE ADLER: Also eine späte Eingebung?

 

ETEL ADNAN: Ja, und das hat auch gleich ein Sprachproblem gelöst, denn ich war vorher an der Sorbonne, musste vom Französischen ins Englische wechseln und habe ein paar Jahre gebraucht, bis mir das Denken auf Englisch leichtfiel.

 

LAURE ADLER: Sie sind 1925 geboren und somit Teil einer Generation, in der es an den Universitäten sehr wenige Frauen gab. Wie haben Sie es geschafft, in diesen kleinen Kreis vorzustoßen? Es waren sicher nicht viele Mädchen …

 

ETEL ADNAN: Sie haben vollkommen recht, vor allem in Berkeley. An der Sorbonne gab es viele Mädchen, Frauen. Als ich im September 1949 nach Paris kam, war richtig Nachkriegszeit, die Menschen waren noch vom Krieg gezeichnet, sie sprachen ständig darüber, vielleicht nicht direkt, aber sie sagten: »In Kriegszeiten muss man dieses oder jenes tun.« Vor allem meine Zimmervermieterin sprach oft so.

Es gab also viele Frauen an der Sorbonne, aber in Berkeley war das Gegenteil der Fall, es gab nur ein paar Studentinnen und sehr wenige Professorinnen. Laura Nader zum Beispiel, die Schwester von Ralph Nader, dem polemischen Essayisten und amerikanischen Politiker libanesischer Herkunft, war ihr ganzes Leben lang Professorin für Anthropologie in Berkeley, und sie hat oft erzählt, dass sie dort eine der ersten Professorinnen war. Mitte der sechziger Jahre gab es an meinem College eine junge Frau, die in Geschichte promovieren wollte, und der Fachbereichsleiter sagte zu ihr: »Wissen Sie, ich rate Ihnen davon ab, in meinem Fach sind Frauen unerwünscht.« Ich habe auch ein Jahr in New Haven gelehrt, wo wir im Fachbereich nur zwei Frauen waren. Eine junge Frau, die Annie Scholhar hieß und im Übrigen einen Roman über die Zeit dort geschrieben hat, und ich. Und wir wurden wirklich ignoriert. Wenn wir eine Frage stellten, antworteten uns die Professoren und Studenten nicht einmal. Erst mit der Revolution der sechziger Jahre änderte sich die Einstellung, ein bisschen zugunsten Schwarzer Menschen und sehr zugunsten der Frauen.

 

LAURE ADLER: Sie waren eine Pionierin, sowohl, was das künstlerische Schaffen, als auch, was das Lehren von Kunstgeschichte betrifft.

 

ETEL ADNAN: Absolut, am College lehrten einige Frauen, aber nicht an den großen Universitäten.

 

LAURE ADLER: In manchen Ihrer Bücher erklären Sie, dass Sie Kunst nie gelernt hätten, aber oft in Museen gegangen seien, und wenn ich mich nicht irre, waren insbesondere der Louvre und die Venus von Milo künstlerische Erweckungserlebnisse.

 

ETEL ADNAN: Ja, das stimmt. Als ich in Paris studierte, lebte ich zu Beginn in der Cité universitaire, dann in der Rue de Tournon, und ich schwänzte viele Vorlesungen. Ich war draußen in den Straßen unterwegs, für mich war Paris die Stadt, das Leben, das Studium hingegen interessierte mich nicht so sehr wie andere Studierende, die den ganzen Tag darauf verwendeten. Ich verbrachte meine Tage draußen, erkundete zu Fuß die Stadt und landete oft im Louvre. Ich hatte zuvor noch nie Gemälde gesehen, in den Museen in Beirut gab es damals keine.

Ich bin in einem Haus ohne Telefon oder Radio aufgewachsen, wir gingen überall zu Fuß hin … Das alles bedaure ich nicht, ich will nur erklären, welche Offenbarung die Malerei in Frankreich für mich war, umso mehr, weil ich Professor Souriaus Vorlesung zur Ästhetik besuchte. In den Louvre zu gehen war für mich, wie ins Kino zu gehen, ich dachte nicht auf bestimmte Weise über Malerei nach, ich schaute einfach, und ich erinnere mich, noch an meinen allerersten Besuch: Am Eingang, oben an der Treppe, hing Nike von Samothrake, und das war eine Erweckung. Und dann die Venus von Milo, um die ich bei den ersten Malen herumflatterte wie ein Falter ums Licht, so außergewöhnlich ist dieses Werk und ebenfalls eine Offenbarung. Wie kann dieses Objekt aus Fleisch und Stein zugleich sein? Das ist das Geniale an der griechischen Bildhauerei.

 

LAURE ADLER: Und in der gleichen Phase kam dann bald die Offenbarung Miró?

 

ETEL ADNAN: Anfang der Sechziger war Miró überall in Paris. In einer Galerie in der Rue Bonaparte waren vier von fünf Bildern, vor allem Drucke und Lithographien, von Miró! Miró und Picasso waren die beiden Maler, die zu meiner Studienzeit Paris bestimmten.

 

LAURE ADLER: Woher kommt bei Ihnen der Wunsch zu malen?

 

ETEL ADNAN: Ich weiß noch, dass mich die Professorin des besagten Fachbereichs Kunst an der amerikanischen Universität in einen Raum mit vielen Fenstern setzte, da gab es einen Tisch, der die ganze Breite der Wand einnahm, und vor dem Fenster einen kleinen Bach, inmitten der Natur. Die amerikanischen Campus haben die wunderbare Besonderheit, meistens von Bäumen umgeben zu sein. In dem Raum gab es Leinwände, Papier, Pinsel, Spachtel. Als ich ein Blatt Papier nahm, keine Leinwand, gab sie mir Farbtuben, kleine Tuben, die auf dem Boden herumlagen. Ich griff sofort nach einem sogenannten palette knife, ein Messer zum Malen, kein Küchenmesser, und ich glaube, dass der Gegenstand selbst, von seiner Beschaffenheit her, einem nur erlaubt, flächig zu malen. Ich habe das Malen also nicht mit einem Pinsel begonnen, der Pinsel kam später für die Zeichnungen, ich habe wirklich mit diesem Messer angefangen, und es ist mein Werkzeug geblieben. Das Werkzeug bestimmt nicht unwesentlich, was man macht. Es gibt ein Zusammenspiel zwischen den Gegenständen, die man benutzt. Das gilt auch über die Malerei hinaus, das gilt sogar beim Kochen, das gilt bei der Kleidung: Aus einem Seidenstoff werden Sie ein anderes Kleid machen als aus Leinen. So ist es auch in der Kunst – wenn man ein Malmesser verwendet, wird man keine dünnen, präzisen Linien ziehen. In der Musik gilt das auch; Geige zu spielen ist etwas anderes, als Klavier zu spielen. Ich bin sehr empfänglich für die Rolle von Gegenständen im Leben, für die Bedeutung dieses Zusammenspiels. Es ist so: Die Tatsache, dass ich immer ein Messer benutzt habe, erklärt, warum ich Farbfelder male. Anfangs malte ich ganz natürlich flächig, so wie es mir in den Sinn kam, instinktiv. Wie Kinder – niemand bringt ihnen das Zeichnen bei, sie malen einfach drauflos, Malen ist so natürlich wie Sprechen. Das war im Übrigen die Philosophie dieser Professorin, sie sagte: »Alle können malen, so wie alle sprechen können.« Was nicht heißt, dass jeder ein Picasso ist, aber es ist eine Sprache.

 

LAURE ADLER: Ihre Bilder tragen keine Titel, warum?

 

ETEL ADNAN: Ich glaube, dass Titel entweder zu einfach – wenn es ein Berg ist, heißt es Titel: Berg – oder unverständlich sind. Wie soll man ein abstraktes Gemälde auch betiteln? Ein abstraktes Bild ist wie Musik, die nicht wirklich nach einem Titel verlangt, man sagt einfach »Sonate«, und Abstraktion ist visuelle Musik. Das ist das Gleiche, sie ergibt einen Sinn, der nicht dazu gedacht ist, in Worte gefasst zu werden. Als ich Professorin für Kunstphilosophie war, sagten manche meiner Studierenden: »Dieses Bild ergibt keinen Sinn«, und es war sehr schwierig, ihnen ein abstraktes Bild zu erklären, ohne zu schwallen, ohne zu erfinden … Also entgegnete ich: »Nun, wenn ihr zum Beispiel Beethoven hört, sagt ihr auch nicht, dass das keinen Sinn ergibt, und doch könnt ihr es nicht erklären. Bei einem abstrakten Bild ist es ähnlich. Es ist nicht dazu gedacht, in Worte übersetzt zu werden.«

 

LAURE ADLER: Vor mir habe ich eine Abbildung von Bild 38 liegen, in einem Ausstellungskatalog der Galerie Lelong. Es hat keinen Titel, da steht nur: Öl auf Leinwand 34,5 x 45 cm. Das ist, wie Sie Ihre Bilder bezeichnen. Ich kann darin eine Menge sehen, aber was sehen Sie in diesem Bild, das vor nicht allzu langer Zeit entstanden ist?

 

ETEL ADNAN: Ich sehe Erinnerungen an Landschaften, aber keine bestimmte Landschaft, eher Erinnerungen an eine Region. Ich habe ein halbes Jahrhundert lang nördlich von San Francisco, vier Kilometer vom Ozean entfernt gewohnt, und ich sah von meinem Fenster aus die Bucht, es handelt sich also um eine Ansammlung von Erfahrungen …

 

LAURE ADLER: Ein wenig wie bei Cézanne.

 

ETEL ADNAN: Ja, ja! Dem Berg konnte Cézanne nicht entkommen, das ist nicht einmal eine Entscheidung, dieser Berg ist so außergewöhnlich, dass er sich aufdrängt, und ich hatte vor meinem Fenster einen Berg, doch dieser war auf der einen Seite von der Bucht, auf der anderen vom Ozean umschlossen. Es ist also nicht nur der Berg, sondern der ganze country, der Raum, wenn Sie so wollen, die ganze Region, die ich jahrelang ständig vor Augen hatte, und das sind auf gewisse Weise Impressionen, die sich in meine Gehirnzellen eingeprägt haben und immer wieder vor mir auftauchen, ob ich will oder nicht.

 

LAURE ADLER: Es ist also die Vergegenwärtigung der Einprägung dieser kalifornischen Landschaft, die in Ihrem Atelier wiederauftaucht?

 

ETEL ADNAN: Es ist die Vergegenwärtigung eines Lebens voller Eindrücke. Eine Ansammlung von Erfahrungen, kein bestimmter Ort, auch wenn ich der Berg sage – dieser Berg bot unendlich viele Ansichten, ich ging um ihn herum, stieg hinauf. Er kommt am häufigsten so wieder, wie ich ihn vom Fenster aus sah, ich kann ihn mit geschlossenen Augen zeichnen, so oft habe ich ihn gesehen. Aber ich war näher am Berg als Cézanne. Cézanne ging zu ihm, während ich ihn vor meiner Fensterfront hatte, ich konnte nichts anderes sehen. Meine Bilder sind Kompositionen, die verschiedene Erfahrungen visuell reflektieren, übersetzen. Ich kann Ihnen nicht sagen: Das ist dieser Ort. Es ist eine Collage dieser Orte.

 

LAURE ADLER: Was an Ihrem Vorgehen als Malerin sehr beeindruckt – wir kommen noch auf die Bedeutung von Poesie und Schreiben in Ihrem Werdegang zu sprechen –, ist das gedankliche Gebilde aus Gefühl, der Einprägung der Landschaft und ihrer Übertragung. Sie malen recht kleinformatig, Sie schaffen keine großen Gemälde, bei denen man den Eindruck gewinnen könnte, physisch hineingehen zu können. Nein, man geht hinein, aber durch eine Art Konzentrierung …

 

ETEL ADNAN: Das Format ist klein, aber nicht das Gefühl, das ist sehr wichtig, und ich mache das auch nicht mit Absicht. Intellektuell habe ich das begriffen, als ich zu Beginn meiner Zeit in Kalifornien japanische Briefmarken sah, kleine Postmarken, und auf diesen winzigen Marken waren gewaltige Landschaften zu sehen! Diese Überraschung habe ich mir gemerkt. Das heißt nicht, dass ich es bewusst mache, man arbeitet nicht derart bewusst, es ist eine Wahrheit für sich, man muss sich mit ihr abfinden, und sie tritt zutage. Zum Glück für mich mussten meine Bilder klein sein, weil ich zu Hause immer an einem recht kleinen Tisch gearbeitet habe. Und ich hatte immer Rückenschmerzen, Probleme mit der Kraft, und habe auch deshalb sehr wenige große Bilder gemalt, aber das Gefühl, das ich ausdrücken will, ist nicht klein. Es sind Landschaften, und es ist das Mysterium der Kunst. Man kontrolliert, ohne zu kontrollieren, und so steckt in diesen kleinen Bildern die große Landschaft.

 

LAURE ADLER: Arbeiten Sie jeden Tag?

 

ETEL ADNAN: Nein, ich habe nie etwas systematisch gemacht, ich glaube, ich habe noch nie im Leben gesagt, ich sei beschäftigt. Wenn man mich um etwas bittet, habe ich Zeit, aber das hängt mit dem Charakter zusammen, nicht mit Mühe. Also kann ich, wenn man mich zum Abendessen einlädt, hingehen. Wenn ich reisen will, sage ich nicht: »Nein, ich muss jetzt arbeiten« – ich reise. Ich hatte viele kleine Jobs, bevor ich Professorin wurde, ich nahm die Dinge, wie sie kamen. Manchmal, ich weiß nicht warum, muss ich etwas schreiben, oder es gibt eine Veranstaltung, an der ich teilnehmen muss, oder jemand sagt zu mir: »Weißt du, wir brauchen einen Text für ein Magazin«, und ich schreibe drei Seiten. Ein Verleger meinte zu mir: »Nein, das ist zu kurz, Sie müssen mehr schreiben«, also schrieb ich jeden Tag, und es wurde ein Buch, das Paris mis a nu [Entkleidetes Paris] heißt.

Der Zufall spielt eine gewaltige Rolle im Leben, wir glauben alles zu steuern, aber wir werden auch durch das gesteuert, was um uns herum geschieht.

 

LAURE ADLER: Gaston Bachelard hat von der Durchlässigkeit zwischen Traum und Malerei, Literatur und Kunst gesprochen. Sind Sie eine seiner Schülerinnen?

 

ETEL ADNAN: Als ich von 1949 bis 1953 an der Sorbonne studierte, waren meine zwei Lieblingsprofessoren Souriau, der Doktorvater meiner Arbeit, die ich nie beendet habe, und Bachelard. Ich besuchte seine Vorlesungen, darunter eine, die mich besonders geprägt hat, über den Begriff der Erfahrung. Bachelard war damals sehr berühmt. Ich halte ihn für einen sehr großen Philosophen, der nicht genug gelesen wird, ich halte ihn für ebenso bedeutend wie Heidegger, denn bei Heidegger gefällt mir, dass bei ihm trotz des Eindrucks von konstanter Abstraktion eine Sensibilität für die Welt existiert, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. Heidegger weckt in mir eine Lust, die Welt zu lieben, weil ich die Welt liebe, und bei Bachelard offenbart sich diese herausragende Eigenschaft, diese Sensibilität für die Welt, sehr deutlich. Bachelard hat die Menschen durch seine Studien zur Kindheit für Poesie empfänglich gemacht. Er ist ein großer Poet, der über die Poesie philosophiert, darin ist er sehr modern. Es gibt zwei französische Denker, die in meinen Augen, direkt oder indirekt, geniale Dinge gesagt haben, und das sind Bachelard und Malraux. Malraux ist ein großer Kunstphilosoph, das weiß jeder, und Bachelard genauso.

 

LAURE ADLER: Sind Sie mit der Bedeutung des Traums als Quelle künstlerischer Schöpfung einverstanden? Greifen Sie auf Ihre Träume zurück und auf das, was von Ihnen unbemerkt geschieht?

 

ETEL ADNAN: Unbemerkt, vielleicht, sicher, aber ich glaube, dass alles künstlerische Schöpfung ist. Das Leben ist Schöpfung. Man nennt das Denken, weil das pointierter ist, denken bedeutet Kommunikation. Aber das ist wie Tag und Nacht. Ja, wir sind lebendig, alles ist Leben, und das Leben nimmt verschiedene Formen an, wie Elektrizität, wie Liebe, es erzeugt Wärme, es erzeugt Kälte, man liebt einen Baum, das hat alles den gleichen Ursprung. Und das Denken, die Poesie, sogar das Gehen – für mich ist das alles verbunden, es gibt keinen Schnitt, wir befinden uns in einem Kontinuum. Das ist das Universum, ein Kontinuum in alle Richtungen, kein Raum ist leer, und eben das sagt Bachelard, er hatte einen Sinn für das Kosmische, in dem alles verbunden ist.

Die verschiedenen Logiken wurden für die Pädagogik erfunden, das heißt, man schafft Kategorien für die Lehre, so wie Aristoteles Kategorien geschaffen hat, aber unglücklicherweise wurden diese für getrennte Absolute gehalten, doch sie sind nicht getrennt, und Bachelard bewegt sich in diesem Kontinuum wie im Inneren einer Sphäre. Man geht in alle Richtungen gleichzeitig, aber entscheidet sich. Ich sehe zum Beispiel dieses Wasserglas, aber das ganze Zimmer ist präsent, dieses Glas befindet sich nicht in einem Nichts. Ich spreche von diesem Glas, aber es existiert nicht allein. Nichts existiert allein, alles ist verbunden. Wir existieren, so scheint mir, nur im Inneren dieser Verbindungen.

 

LAURE ADLER: Und wie wählen Sie, umgeben von all diesen Empfindungen, Ihre Ausdrucksform? Warum ist es von Zeit zu Zeit die Dichtkunst? Warum in anderen Augenblicken Prosa oder Philosophie, und warum kann es auch Malerei sein?

 

ETEL ADNAN: