Die Schreie der Mohnblumen - Martha Kindermann - E-Book

Die Schreie der Mohnblumen E-Book

Martha Kindermann

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Beschreibung

Ich bin die Hüterin des Waldes. \Ja, es gibt ne neue. War nicht meine Idee./ Ich bin das Herzstück des Evergreen Forest \Und nein, mein Haar ist nicht rosa, sondern Schwarz wie Ebenholz./ Ich bin die Bewahrerin allen Lebens \Dienerin des Todes./ und das Mädchen, das die Welt zugrunde richten wird... Ich bin Poppy, die Mohnblume, deren Schreie solange Tod und ewige Finsternis über die Menschen bringen werden, bis ein Märchenprinz auftaucht und ein Kuss wahrer Liebe, mein Herz auftaut. \Erwähnte ich, dass ich mit Agoraphobie lebe und noch nie geküsst wurde? Nein? Tja, so ist es, also macht euch keine Hoffnung, sondern ein Testament./

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Copyright 2022 by

Dunkelstern Verlag GbR

Lindenhof 1

76698 Ubstadt-Weiher

http://www.dunkelstern-verlag.de

E-Mail: [email protected]

ISBN: 978-3-910615-70-0

Alle Rechte vorbehalten

Für Margrit,

die tapferste Blume unter der Sonne, die dem Geruch frischgedruckter Bücher nicht widerstehen kann.

Poppy ist und war schon immer für dich!

Triggerwarnung

Liebe Lesende,

dieses Buch enthält neben unverblümt blumiger Sprache potenziell triggernde Inhalte. Falls ihr denkt, ihr könntet davon betroffen sein, findet ihr am Ende des Buches eine Liste mit den Triggerthemen. Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch.

Inhalt

Prolog

Arnit

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Arnit

Poppy

Arnit

Moss

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Arnit

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Poppy

Moss

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Poppy

Arnit

Arnit

Poppy

Poppy

Arnit

Poppy

Moss

Arnit

Poppy

Arnit

Epilog

Moss

Danksagung

Triggerwarnung

»Auch wer um die ganze Welt reist,

um das Schöne zu suchen,

findet es nur,

wenn er es in sich trägt.«

Ralph Waldo Emerson

Prolog

Was ist »Aschenbrödel« eigentlich für ein Scheißname? Kann mir das mal einer sagen?

Ja, ich weiß, ich habe gerade andere Sorgen und sollte mir den Kopf nicht über ein Märchen zerbrechen, welches mir einst das Liebste unter den fantastischen Geschichten meiner Kindheit war, aber …

Okay, anders: Wenn du … sagen wir mal … gefangen … wärst – stellst du es dir vor, ja? Gut! Wenn du bis in alle Ewigkeit festsitzen würdest, einem Schicksal ausgeliefert, welches du … na ja … nicht ganz freiwillig gewählt hast … wenn deine biestige Halbschwester dich 24/7 bevormundet und dich mit ihrer grellen Stimme beinahe in den Wahnsinn treibt, und … du … ganz zufällig mit Tieren sprechen kannst … dann stellt sich doch zwangsläufig die Frage: Wo sind die Haselnüsse, die Fee, die Ballkleider und natürlich der Prinz? Und schon überkommt mich wieder der Gedanke, womit das arme Ding, dessen Großherzigkeit mich immer berührt hat, einen derartig bekloppten Namen verdient hat?

Hach, auch egal! Aschenbrödel hin oder her … es gibt keine gläsernen Schuhe, die an meine Plattfüße passen würden, in hamsterarschlochviolettfarbenem Tüll sehe ich vermutlich aus wie eine Presswurst und Männer auf Pferden, die in den Forest reiten, um sich unsterblich in das verdreckte Waldmädchen zu verlieben … merkst du selber, oder? Völlig Banane!

Ich bin die Hüterin des Waldes, wache über Fauna und Flora des Evergreen Forest und lebe in einem mächtigen Baum, der sich aus der natürlichen Kraft der Mohnblumen und den widernatürlichen Überresten eines steinernen Gebäudes formte. Mein Leben ist eine einzige Freakshow und ich die Person im Rampenlicht.

Ich habe all das, was ich nie wollte: Verantwortung, Macht und düstere Gedanken, welche die Stimme meiner toten Schwester weiter nähren, um meinen Geist zu verdunkeln und die Mäzenin des Todes in mir zu erwecken.

Ich weiß nicht, wie lange ich gegen die Verlockung der Dunkelheit ankämpfen kann. Ich weiß nicht, ob meine Freunde noch immer versuchen, mich aus diesem Gefängnis zu befreien oder ob sie mich längst vergessen haben.

Ich weiß nicht, ob ich vergeblich auf den Kuss der wahren Liebe warten muss, der alles verändern und mir meine Lebensfreude zurückbringen könnte.

Aber in einer Sache bin ich mir sicher: Ich würde mir, ohne zu zögern, beide Fersen abhacken, wenn ich die Zeit zurückdrehen, wieder einfach nur Poppy, die agoraphobe Krankenschwester, sein könnte und es Magie nur in Märchen gäbe.

Arnit

Linnea, was machst du da?«

Ja, Doktor Fiorello, das würde ich auch sehr gern wissen, zumal ich an einen Waschtrog gefesselt und geknebelt auf dem Boden einer Holzhütte sitze und diese Frau bei ihren vergeblichen Versuchen zu zaubern beobachte.

Mmh, ja, zaubern, richtig gehört! Die ist vollkommen irre und es ist mir absolut schleierhaft, was unser netter Herr Doktor mit ihr zu schaffen hat, wo er doch eigentlich die Chefin höchstselbst ehelichen wollte. Zugegeben, die ist nicht weniger gruselig, und wenn ich den Unterhaltungen meiner Peiniger hier Glauben schenken darf, dann weilt sie zudem nicht mehr unter uns. Schade eigentlich. Ich werde ihre gemeinen Sprüche über mein äußeres Erscheinungsbild wohl vermissen. Schließlich war sie eine der wenigen im WONC, die mich überhaupt wahrgenommen hat. Okay, sie hat mich eigentlich immer nur beleidigt, wenn sie sich dazu herabließ, mit mir zu sprechen, aber es war eine Unterhaltung und kann somit als menschliche Konversation gewertet werden.

»Sieh ihn dir an, Fio«, entgegnet die Hexe mit dem rosafarbenen Haar, während sie seltsame Bewegungen mit ihren dürren Fingern vollführt. »Er schaut so traurig und verstört aus. Wie ein scheues Kitz.«

»Ist das verwunderlich?«, fragt der Herr Doktor und spricht mir damit aus der Seele. »Er wurde samt einem Haufen magischer Wesen und gemeinsam mit dem Gebäude, in dem er gearbeitet hat, in einen mystischen Stab gesogen, in den Forest gebeamt, von bösartigen Mutantenmohnblumen attackiert und musste dabei zusehen, wie du seine Chefin auf Ameisengröße geschrumpft und im Boden verschwinden lassen hast, während sich im Hintergrund die Gesteinsüberreste und Killerblumen zu einem neuen Ältesten vereinigten.«

Genau! Wer dreht da bitte nicht völlig durch? Ich bin ein einfacher Kerl, von ungefähr zweiundzwanzig Jahren (ja, lange, traurige und komplizierte Geschichte), mag die Routine meines Jobs im Whim of Nature Conservatory, in welchem ich seit siebenundvierzig Monaten als Nachtwächter tätig bin, und hätte auf diesen kranken Hokuspokus der letzten Tage gut und gerne verzichten können.

»Eben, Fio«, trällert die von Sommersprossen übersäte Gruselbraut, »ich möchte ihm etwas Gutes tun, ihn aufheitern und …«

»Und?«, hakt mein sympathischer Vorgesetzter ein und verschränkt die Arme fragend vor der Brust.

»Und dafür ist nur ein winzig kleiner Zauber notwendig.«

»Aha«, murmelt Doktor Fio, und wenn ich Augenbrauen hätte, dann würden sie sich ebenso in die Höhe ziehen wie seine. »Dir ist aber schon bewusst, dass deine Grünlinge … na ja …«

»Kaum mehr auf meine Rufe regieren? Mich freundlich begrüßen, sich an mich schmiegen, aber meine Magie nicht mehr ausführen?« Er nickt und ich verstehe nur Bahnhof. »Glaub mir, Fio, niemand weiß dies besser als ich. Meine Zeit als Livtinga ist vorüber. Der Älteste hat die wahre Erbin gefunden und Poppy zur Hüterin des Waldes gemacht. Damit sind meine floralen Zauber auf sie übergegangen und machen aus mir wieder eine … beinahe normale Frau, die sich glücklich an deine Seite lehnen kann.«

Poppy. Ich habe keine Peilung, was ein ›Ältester‹ oder eine ›Lidingsda‹ ist, aber an Poppy erinnere ich mich gut. Sehr gut.

Die hübsche Krankenschwester mit den Knopfaugen und der großen roten Blume in ihrem pechschwarzen Haar stand so oft in der Eingangshalle des WONC und versuchte mutig, einen Fuß aus dem Gebäude zu setzen. Um mich war es sofort geschehen. In der ersten Sekunde, als ich das scheue Reh sah, schlug mein Herz bis zum Hals und ich saß so lange mit offen stehendem Mund hinter meiner Glasscheibe, bis mir die Spucke von der Unterlippe tropfte. Kein Scheiß. Sie hat vermutlich null Ahnung, wer ich bin, aber … puh, ich bekomme schon feuchte Hände, wenn ich gerade nur an sie denke. Poppy – allein ihr Name. Poppy – klingt wie ein knusprig gebratener Marshmallow, der mich mit seinem süßen Duft in Versuchung führen will und … ja, es wird peinlich.

Nur so viel: Wir kamen vor knapp vier Jahren beinahe zeitgleich in der wissenschaftlichen Einrichtung an. Sie als Azubine mit einer heftigen Angststörung, die sie an dieses Gebäude band, und ich als frischgebackener Schulabsolvent, ohne Plan, der einen Job brauchte, der ihm genügend Raum zur Selbstfindung einräumte.

Anscheinend hat Poppy den Schritt nach draußen geschafft, was ziemlich beeindruckend ist, während ich auf den Zauber einer Verrückten warte, der einen Funken Glück in mein Leben bringen soll.

Ha. Glück! Was ist das?

Meine Eltern starben, als ich noch klein war – so sagt man, mir fehlt jegliche Erinnerung an sie – und so kam ich mit ungefähr acht Jahren (ja, immer noch die lange, traurige, komplizierte Geschichte) in eine Einrichtung, die die Bezeichnung ›Heim‹ nicht verdient hat.

Ich leide an einer seltenen Form der Alopezie, besser bekannt als Haarlosigkeit, und wurde durch mein seltsames Erscheinungsbild nie in eine Adoptivfamilie vermittelt. Ich wuchs von den anderen Waisenkindern gemieden in einem baufälligen Haus am Stadtrand auf, verließ mein Zimmer nur, um in die Schule zu gehen, auf der es mir nicht besser erging, und um den kargen Mahlzeiten beizuwohnen.

Ich vertiefte mich in meine Bücher, flüchtete mich in fantastische Welten und fing an, mir nerdige Hobbys zuzulegen. Ich kann tödliche Waffen aus Papier falten, mit einer Büroklammer oder Haarnadel wirklich jedes Schloss knacken, löse den Zauberwürfel in unter zehn Sekunden und was vielleicht das Coolste ist … ich empfinde keine Schmerzen. Also körperlich. Im Ernst! Ich könnte über glühende Kohlen laufen, mir in den Finger schneiden oder die Arschbacken aneinanderkleben, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. Ja, ich weiß, dass ich seltsam wirke und vermutlich allein sterben werde, aber ich bin auch mächtig stolz darauf, was ich mit viel Fleiß und Durchhaltevermögen (und mentalen Superkräften, die ich geheim halte) alles erreichen konnte.

Bis hierhin.

Bis zu dem Zeitpunkt, der mein langweiliges Leben auf den Kopf stellte, meine Überzeugungen über den Haufen warf und mich letztendlich an den Zuber in dieser Hütte mit diesen Menschen fesselte, die mich ruhigstellen wollten, bevor ich sie und mich selbst verletze.

»Aber?«, holt mich Doktor Fiorellos lauernde Stimme aus meinen düsteren Gedanken. »Wie willst du Arnit dennoch helfen?«

»Mit Basilikum, Fio. Ganz harmlos.«

Sie kichert.

O nein, sie kichert. Das kann nichts Gutes bedeuten!

»Den haben wir in rauen Mengen vor der Hütte wachsen, Linnea. Du brauchst ihn nur zu pflücken. Ganz ohne den Einsatz von Magie und ohne ein schlechtes Gewissen, diese wohlschmeckenden Grünlinge umzubringen. Sie wachsen nach und werden uns in wenigen Tagen erneut das Essen verfeinern.«

Jetzt reden die auch noch über Essen. Reichen die Fesseln und der Knebel denn nicht aus? Nur weil ich mal kurz die Beherrschung verloren und wie ein kleines Kind herumgeschrien habe, bevor ich mich apathisch an einen Baum klammerte und jämmerlich zu weinen anfing. Anschließend habe ich meinen Kopf wohl etwas zu heftig dagegen geschlagen – ey, ich spüre keine Schmerzen, also – ja, das war nicht gerade eine Sternstunde meines tristen Daseins, aber auch kein Grund mich ruhigzustellen, oder?

Ich schweife ab. Was war jetzt mit Basilikum?

»Die Grünlinge fachen meine Magie nicht mehr an, das ist wahr, aber der Funke des Übermächtigen brennt weiterhin in mir, Fio. Ich werde keine Leitern aus Wurzeln mehr erschaffen können oder die Seerosen dazu bringen, dir eine kalte Dusche zu verpassen, aber meine Fingerspitzen kribbeln wie eh und je. Ich muss herausfinden, wie ich diese Energie bündeln und in sichtbare Magie verwandeln kann. Und das erste Wunder dieser Art wird Arnit helfen. Versprochen!«

Und wenn ich das nicht will? Wenn ich zufrieden bin, so wie es eben ist und ihr mich lediglich losbinden müsstet, um mir wahrlich einen Gefallen zu tun?

»Na gut«, sagt Fiorello besänftigt und sinkt auf meiner persönlichen Sympathieskala mindestens drei Stufen nach unten. »Was kann ich tun?«

Linnea, wie die Hexe wohl heißt, fällt dem Doktor mit ihren zerbrechlichen Ärmchen um den Hals und küsst ihn. Würg. Okay, vielleicht bin ich bloß neidisch, weil ich noch nie die Lippen einer Frau auf meinen spüren durfte … Ich stelle es mir vor. Gelegentlich. Na gut, oft. Aber die Frau meiner Träume sollte definitiv ein paar Rundungen mehr aufweisen. Bei Linneas elfenhafter Erscheinung müsste ich permanent Angst haben, dass der Wind sie einfach davonpustet oder sie unter meinen Berührungen zerbricht wie ein Streichholz. Nichts für mich!

»Mach ihn los und bring ihn vor die Hütte! Ich warte draußen und erwecke das Wunder in mir.«

Sie teilen einen weiteren Kuss, bevor die Bohnenstange in grauer Schwesternkleidung durch die morsche Tür verschwindet und der Doktor vor mir auf die Knie sinkt. Irgendwie wird mir das grad ein wenig zu intim.

»He, Arnit«, sagt er und lächelt. Ich würde ja antworten, aber der widerliche Blätterball in meinem Mund hindert mich daran. »Ich verrate dir ein Geheimnis: Sie«, er deutet in die Richtung, in der Linnea vor wenigen Augenblicken verschwunden ist, »jagt auch mir gelegentlich Angst ein, glaub mir. Aber sie ist die wundervollste, liebreizendste und beeindruckendste Frau, die ich kenne. Ich liebe einfach alles an ihr, auch ihre eigentümlichen Wunder, weil ich ihr bedingungslos vertraue und mir sicher bin, dass sie dir nichts Böses will.«

Ich nicke, obwohl ich nicht überzeugt bin. Eingelullt von seiner netten ›IchverstehdichMannMasche‹, aber nicht überzeugt.

»Ich nehme dir den Knebel und die Fesseln ab und bitte dich, nicht sofort wieder durchzudrehen. Okay, Kumpel?«

Ich nicke. O Mann, bin ich ein Wackeldackel oder was?

»Gut, dann los, Arnit. Bereit?«

Ich nicke erneut, schließe die Augen und atme so tief ein, dass ich meine, sämtliche Luft der Umgebung in meine Nase zu ziehen. Er bindet mich los, zieht mich auf die zittrigen Beine und führt uns nach draußen ins unendliche Grün des Evergreen Forest.

Ich bin am Arsch. Entweder ich wehre mich und werde die Fesseln erneut zu spüren bekommen oder ich wähle die Ungewissheit und gebe mich in die Hände der Fremden, die nicht von dieser Welt zu stammen scheint und ihre ›Kräfte‹ aus den kribbelnden Fingerspitzen zieht. Am. Arsch.

»Arnit, richtig?«, fragt sie und streckt mir ihre winzige Hand entgegen. »Fangen wir noch mal von vorne an, ja?«

Ich nicke.

Kann das mal aufhören? Vielleicht stehe ich ja schon längst unter ihrem sonderbaren Kribbelfluch und muss mich willenlos ihrem ›Wunder‹ hingeben?

»Ich bin Linnea. Schön, dich kennenzulernen. Fio meinte, du bist so etwas wie der Fels des WONC.« Mein schräger Blick lässt Fiorello einschreiten und genauer ausführen.

»Ich sagte, du wärst die vertraute Konstante, die mich jeden Abend freundlich verabschiedet, zuverlässig das WONC bewacht und sich für unsere Sicherheit die Nächte um die Ohren schlägt. Ich sagte, du seist mit deiner Arbeit verheiratet und man könne sich stets auf dich verlassen.« Doktor Fio lacht, schlägt mir freundschaftlich eine Hand auf die Schulter und gibt Linnea ein Zeichen, mit ihrem Ritual fortzufahren.

»Deine Zuverlässigkeit und deinen Einsatz für das WONC in allen Ehren, Arnit, aber sich allzeit dem Wohl der anderen zu widmen und sich selbst zu vernachlässigen, kann verbittern und sehr einsam machen. Frag Doktor Fiorello, er weiß, wovon ich da rede.« Sie zwinkert ihm zu und fährt fort: »Jetzt wirst du mal nur an dich denken!«

Sie wartet meine Reaktion ab, die mir jedoch im Hals stecken bleibt und mich nervös auf weitere Anweisungen lauern lässt.

»Breite mal deine Arme aus. So!« Sie öffnet die ihren inbrünstig und animiert auch Fiorello, gleichzuziehen. Ungläubig und wenig begeistert schaue ich von einem zum anderen, reiße dann, erst zaghaft, schließlich motivierter, meine Arme auseinander und spüre ein Lachen in mir aufsteigen, welches ich nicht zu erklären vermag. Glücklicherweise kann ich es zurückhalten und weiterhin den unbelehrbaren Skeptiker raushängen lassen.

»Und jetzt, Arnit«, fährt Linnea mit geschlossenen Augen und eindringlicher Stimme fort, »lass dich fallen!«

Ich tue es!

Einfach so. Als hätte sie doch magische Fähigkeiten. Ohne nachzudenken, lasse ich mich aus dem Stand, bei einer Körpergröße von einem Meter fünfundneuzig, eine nicht zu verachtende Höhe, in den Basilikum fallen, der die Sonnenseite der Hütte rahmt. Ein sanfter Wind streicht über meine nackten Unterarme, das Gesicht, die Glatze und erfüllt mich mit einem wohligen Gefühl, welches ich nicht in Worte fassen kann.

Es fühlt sich … warm an. Weich. Schützend. Es überzieht jede Faser meines Körpers und lässt mich glückselig erschauern. Toll!

Ich genieße diesen Zustand noch eine Weile, bevor ich mich langsam aufsetze und in die entsetzten Augen der Wunderheilerin blicke, die sich erschrocken die Hand vor den Mund schlägt.

»Das wollte ich nicht«, nuschelt sie verlegen und kommt näher. Augenblicklich verändert sich mein positives Gesamtbefinden und nackte Panik versucht mich zurück in alte Muster zu zerren.

»Was genau wolltest du nicht?«, frage ich stockend und richte mich nun zu voller Größe auf.

»Nun ja …«, versucht sie, eine Antwort zu finden, die mich wohl besänftigen soll, »Basilikum hat eine beruhigende Wirkung auf den Menschen, deshalb dachte ich …«

»Ja?«

Fiorello hält mich auf, legt beide Hände auf meine Schultern und blickt mir beschwichtigend in die Augen.

»Arnit, Linnea hat recht. Auch im WONC werden mit Basilikum Forschungsreihen zur AntiStressWirkung durchgeführt. Es hätte klappen können, und na ja …«

»Was soll dieses Na ja, Herr Doktor? Ihr Tonfall passt für mich gerade nicht zum schuldigen Herumgestottere Ihrer kleinen Freundin.«

Ich schlage seine Hände von meinen Schultern und will mir aufgebracht über das Kinn fahren, als ich innehalte und mein Herz einen Schlag aussetzt.

In Zeitlupe lasse ich meinen Arm sinken und drehe ihn wie das elfte Weltwunder vor meinem Gesicht hin und her. Der Arm … er ist … behaart. Dunkle kurze Haare überziehen die braune Haut, setzen sich sogar auf den Fingern fort. Ich lasse sie erneut in mein Gesicht gleiten und erspüre den prächtigen Bart, der sich auf meiner aalglatten Kinnpartie breitgemacht hat und zudem … zu tanzen scheint.

Ich. Träume. Shit.

Die Finger wandern weiter gen Norden. Ich erfreue mich an Wimpern und Augenbrauen, die mir auf Grund meiner Alopezie ein Leben lang verwehrt blieben. Eine medizinische Ursache für meine Haarlosigkeit am gesamten Körper konnten die Ärzte nie ausmachen. Es gab keine genetische Auffälligkeit, keine angeborene Mutation, die meine DNA besonders macht … und doch musste ich nie Geld für Rasierschaum oder Klingen ausgeben, durfte mich als ›nackter Affe‹ beschimpfen lassen oder mit einem verminderten Selbstwertgefühl leben, weil mich keiner in den Arm nahm und mir sagte, dass ich genug, dass ich schön sei.

Als ich meine Glatze erreiche, schlägt die Ernüchterung mit voller Breitseite zu. Arnit mit dem tanzenden Zauberbart trägt auf dem Kopf weiterhin ›barfuß‹.

Poppy

Poppy! Poppyyyyyyyy!

Die schrecklich nervtötende Stimme meiner gestörten Halbschwester reißt mich aus dem Dämmerzustand und schafft es binnen weniger Sekunden, dass ich mich wieder so richtig schön beschissen fühle.

Steh endlich auf, du wertloses Stück! Stell dich deiner neuen, beeindruckenden Wirklichkeit und bring ein wenig Verderben über den Forest, Schwesterherz!

»Sie existiert nur in meinem Kopf! Sie existiert nur in meinem Kopf!« Aber egal, wie oft ich mir dieses Mantra verzweifelt vorbete, weil mir jeder noch so unangenehme Tinnitus im Ohr lieber wäre als dieses biestige Weib – ich werde sie einfach nicht los. Wie ein lästiges Hühnerauge. Sie flüsterst mir aus den Gesteinsüberresten entgegen, die den Ältesten seit seiner Verwandlung zieren, schreit mich an, sobald ich mich in die Wärme der belebenden Rinde schmiegen will und versüßt mir jeden verdammten Tag mit ihren fiesen Kommentaren.

Ich vermisse die Zeit, in der ich, verborgen unter der Erde, meine Ruhe hatte. Ich war allein, aber es war friedvoll und ich hatte ein Feld von rotem Klatschmohn um mich herum, der meinen Problemen aufmerksam lauschte und mir irgendwie Geborgenheit schenkte. Ich war in einer märchenhaften Zwischenwelt gefangen, die sich jedoch viel weniger nach einem Gefängnis anfühlte als alles, was ich jetzt erdulden muss.

Seit das Beben durch den Forest ging, Narcissas Geist in den neuerweckenden Ältesten einzog und ich das Erbe Lady Alissas als Hüterin des Waldes antrat, ist alles anders. Ätzend anders.

Ich habe das Gefühl für Zeit und Raum verloren. Ich weiß nicht, ob ich mich seit zwei Tagen oder fünf Wochen im Schutz des alten Baumes verstecke. Ich weiß nur, dass ich, sobald ich einen Fuß auf den Boden außerhalb der Livtingafestung setze, eine Spur der Verwesung und des Todes hinterlasse.

Kein Blatt und kein Tier überlebt eine Begegnung mit mir, als sei ich die Manifestation alles Bösen und nur dafür geschaffen, den Weltuntergang herbeizuführen.

Das kann ich nicht zulassen. Auch wenn ich die letzten zwanzig Jahre meines Lebens hinter sicheren Mauern, zu Hause oder im WONC verbracht habe – ich liebe diese Erde, ich liebe die Grünlinge, die tierischen Bewohner unseres wundervollen Planeten und auch die wenigen Menschen, die mir am Herzen liegen. Meine Eltern beispielsweise, oder Linnea und Fio.

Wenn ich ihr Leben und das aller anderen Organismen bewahren möchte, werde ich im Ältesten verweilen, bis der Tod mich zu sich holt und Narcissas giftspritzende Stimme endlich für immer verstummt. Ich werde einsam sterben, aber ich werde ohne Schuld von dieser Erde gehen. Es gibt keinen Ausweg, und damit habe ich mich abgefunden.

Wie kann man nur so verbohrt und egoistisch sein, Poppy?

Warum nur muss ich mir ausgerechnet mit der Drachenlady eine Blutlinie teilen? Warum nur erfuhr ich erst nach ihrem Tod, dass die gütige Lady Alissa, der ich mich schon so lange Zeit verbunden fühlte, meine leibliche Mutter war und kein anderer als Narcissas Vater, Kerr Dimas, mein Erzeuger?

So viele Fragen quälen mich und bringen mich Nacht für Nacht um den Schlaf. Was ist mit meinen Zieheltern? Wussten sie es? Waren sie von Anfang an in den kranken Plan der Dimas’ involviert? Warum hat Lady Alissa ihr Leben gegeben, wo ich sie doch jetzt am allermeisten gebraucht hätte? Ich kann nur Spekulationen anstellen, mich selbst bemitleiden und auf ein baldiges Ende hoffen.

Dein erbärmliches Dasein kotzt mich an, Poppy! Du hast zwei Arme, zwei pummlige Beine, ein intaktes Gehirn und kannst dein Schicksal noch zum Guten wenden. Du bist zur Hälfte eine Mäzenin des Todes. Es ist deine Pflicht, diesen elenden Wald zu vernichten und für florale Ruhe auf dem Planeten zu sorgen. Du brauchst nur mit dem Finger schnippen und schon erstirbt alles, dem du dich in einem Umkreis von zwanzig Metern näherst. Das ist eine verfluchte Gabe, Poppy, und du wirfst dein Talent weg und verwehrst dich deiner Bestimmung. Schändlich! Einfach schändlich!

»Halt deine toxische Klappe, Narcissa. Du bist nicht mehr mein Boss und ich habe dir nichts zu sagen. Lass mich einfach in Ruhe und frag dich lieber, warum du so ein Hühnerauge bist, das seinen Mitmenschen das Leben zur Hölle gemacht hat.«

Ich hatte nie eine Wahl, kleine Schwester, und das weißt du!

»Man hat immer eine Wahl, Narcissa. Du hättest in den Armen einer geliebten Person sterben und die Welt verschonen können.«

Ich bin ungerecht und zynisch. Beides Charakterzüge, die ich von mir nicht kenne und auch niemals in mein Profil schreiben wollte, aber Gespräche mit Narcissas Geisterstimme lassen mich ihr immer ähnlicher werden. Ich hasse es.

Sie ist eine Mäzenin des Todes und alles Lebendige ihr Feind. Wie in mir die Herzen beider Mächte – die lebendige Kraft der Hüterin des Waldes und der todbringende Fluch der Mäzen – schlagen können, ist ein weiteres Rätsel, das ich gern gelöst hätte.

Dann schwing deinen fetten Arsch hoch und finde es heraus, verdammt. Die Villa meines Vaters ist voll mit seinen Aufzeichnungen, die dir sicherlich Klarheit über deine lächerliche Hybridabstammung liefern können. Bei dieser Gelegenheit könntest du auch das nervige Moosglöckchen aufsuchen und ihr befehlen, den ganzen Schlamassel rückgängig zu machen.

Diese Leier schon wieder!

Ich hatte Pläne, Poppy. Ich hatte ein Leben, einen Verlobten. Wir standen so kurz vor unserer Verwandlung. Die freiwillige Blutspende der Livtingas hätte mich zur mächtigsten Frau der Welt gemacht und nicht dich, du bedauernswertes kleines Ding. Aber nein, die rosa Elfe stiehlt mir den Mann, die Macht, vereitelt meinen genialen Plan und bannt meinen Geist in diesen Baum. Aaaaaargh! Ich hasse sie! Mehr als dich. Und das soll schon etwas heißen.

Bla, bla, bla – ich kann es nicht mehr hören. Mehrmals schon hat mich ihr Klagelied aus dem Ältesten gescheucht, nur um verstört und tieftraurig den Rückweg antreten zu lassen, da der Wald vor meiner Nase und durch meine pure Anwesenheit starb. Das ist schrecklich. Einfach schrecklich. Ich vermisse ShinyHorst, die wollüstige Vera und all die anderen Grünlinge, die ich in meinem Apartment im WONC versteckte und die mich und meine Macken einfach so liebten, wie ich nun einmal bin. Etwas verkorkst vielleicht, aber freundlich und nicht gemein und todbringend.

Schon seltsam. Mein ganzes Leben habe ich mich verkrochen, versteckt und meiner Angst unterworfen. Und kaum mache ich Fortschritte, fühle mich wohl im Evergreen Forest und beginne mich frei zu bewegen, lacht mir das Schicksal fies ins Gesicht und belegt mich mit diesem mordenden Fluch, der mich erneut in Ketten legt.

Ich wünschte, Linnea wäre hier. Sie könnte mir zuhören, mir beistehen, mir dabei helfen, die grüne Seite meiner Seele zu festigen und die Dunkelheit in den Hintergrund zu drängen. Ihr fröhliches Lachen würde mich aus diesem depressiven Loch holen und vielleicht den unbändigen Lebensmut in mir wecken, den ich vor der Verbannung spürte.

Die Agoraphobie hat mich gehemmt, mich abgeschottet und vor der Realität beschützt, aber sie hat mich nicht traurig oder lebensmüde werden lassen. Ich war glücklich in meinen vier Wänden, genoss die Arbeit mit Patienten und hätte mit nur einer fehlenden Zutat ein perfektes Leben geführt.

Nur eine einzige Zutat. War es zu viel verlangt?

Ich möchte die Liebe erfahren. Ich möchte einen Mann – denn ich glaube, ich stehe auf Männer – kennenlernen, der mich so ansieht wie Fio seine Linnea. Dem meine Angststörung und die zwei Kilo zu viel auf der Waage völlig egal sind und der mich wie eine Prinzessin auf Händen trägt. Ich sehne mich nach Kitsch, RomantikOverkill und einer rosaroten Brille auf Wolke sieben.

Aber he – kehren wir zurück in die Realität. Als Hüterin des Waldes habe ich mich der Bewahrung allen Lebens verschrieben und sollte keine Männer neben dem Ältesten dulden. Und als Mäzenin … da bräuchte es schon einen Kerl, der gegen meinen Fluch immun ist und keine Schmerzen kennt. Und mal ehrlich … ich mag naiv sein, aber nicht gänzlich bescheuert. Solche Typen gibt es nicht.

»Halloooooooo?«

Was? Moment. Da ruft doch jemand. Aalso ein Mann … vermute ich, denn ich höre eine tiefe Stimme in unmittelbarer Nähe.

Überraschung! Dein schillernder Prinz steht vor dem Schloss!

»Wirklich wahr?«, frage ich mit laut pochendem Herzen.

Du hohle Nuss. Das war ein Scherz. Schon vergessen? Für dich gibt es keinen passenden Arsch auf deinen übergroßen Nachttopf.

»Du bist wirklich das Letzte, Narcissa!«

Verwirrt kauere ich mich in einer dunklen Ecke des mutierten Lebensbaumes zusammen und halte mir beide Ohren zu.

»Hallooooo? Jemand zu Hause? Ich bin auf der Suche nach der Hüterin des Waldes, oder so.«

Oder so? Was hast du dir denn da für einen Vollhorst an Land gezogen? Naaaw, verdammt, warum nur ist mein Geist an dieses Stück Holz gebunden? Ich würde zu gern ein wenig Ameisenzerquetschen mit dem vorlauten Nichtsnutz da draußen spielen.

Ich kann nur den Kopf über Narcissas gehässige Worte schütteln und beten, dass der Fremde schnell verschwinden möge. Denn wenn er kein Prinz ist, mir verwunschene Haselnüsse vorbeibringt oder einen gläsernen Schuh anzubieten hat, der mich aus diesem Albtraum rettet, dann soll er mich gefälligst in Ruhe verzweifeln lassen.

Dann zeig dich! Versprüh deine tödliche Magie und das Problemchen ist aus der Welt geschafft.

»Was?«, empöre ich mich lautstark. »Ich soll ihn einfach umbringen? Das ist dein Vorschlag?«

Natürlich. Schnapp ihn dir, Kleines, opfere ihn dem Ältesten und verpass uns allen einen netten Energiekick.

Ich ignoriere ihre gestörten Fantasien und träume von stillem, ewigen Frieden, Mohnblumen und einer Schachtel Pralinen – eingewickelt in knisterndes, rot schimmerndes Papier. Mein Puls sinkt, meine Atmung beruhigt sich, aber der unbekannte Besucher im Forest scheint nicht so schnell aufgeben zu wollen:

»Mmmh, ja … ich bin immer noch hier, also … versuche ich es mal anders.«

Anders? Auch wenn ich keine Ahnung habe, was der Fremde damit bezweckt … ich bin zugegebenermaßen neugierig.

»Hier ist Arnit … der Nachtwächter aus dem WONC.«

O nein! Loseralarm. Der nackte Affe hat seine Arbeitsstelle verloren, als das Gebäude in den Forest gebannt wurde, und nun geht er uns auf die Nerven.

»Arnit«, hauche ich und klemme nervös meine spröde Unterlippe zwischen die Zähne. Arnit – unser Nachtwächter aus dem WONC. Ich könnte mich fragen, was er hier treibt, aber ich kenne die Antwort. Der stille Mann mit den Ozeanaugen gehört eben so zum Inventar des Instituts wie Fio, Narcissa oder ich es tun und wurde vermutlich durch Alissas Frön geschickt. Ich sollte Luftsprünge machen, eine bekannte Stimme zu hören, aber ehrlich gesagt haben wir immer nur stille Blicke oder ein verhaltenes Lächeln ausgetauscht, was seine Worte völlig fremd klingen lässt.

Arnit ist ein geheimnisvoller Kerl, den ich nie richtig einschätzen konnte. Still, ein wenig unnahbar, aber süß. Seine Augen haben es mir angetan, und auch sein freundliches Lächeln besänftigte meine aufgewühlte Seele, wenn ich mal wieder versuchte aus dem ›Käfig‹ zu entfliehen, in den ich mich nur allzu freiwillig zurückgezogen hatte. Ich habe generell eine Schwäche für Typen in Uniformen, aber Arnit – bei Arnit ist es etwas anderes. Ich hatte in all den Jahren, die wir nun schon dieselbe Luft atmen, immer das Gefühl, wir verstehen uns auch ganz ohne Worte. Als genüge ein Zwinkern oder Schmunzeln und der andere spüre die Freundlichkeit hinter der kleinen Geste.

»Kannst du still sein? Bitte? Ich möchte hören, was Arnit zu sagen hat, Narcissa«, maßregele ich meine ungeliebte Halbschwester also und lasse die Vorfreude nun doch ein wenig zu.

Wie süüüüüüüß. Der haarlose Bär von Nachwächter hat es dir wohl angetan, was?

»Quatsch. So ein Blödsinn. Ich kenne ihn ja gar nicht. Aber im Gegensatz zu dir war er immer sehr nett zu mir und …«

Und da du ein Herz für Versager und Underdogs hast, wirst du ihm all seine Wünsche erfüllen? Aus dir wird nie etwas werden!

Soll mir recht sein. Ein Nichts zu sein ist allemal besser, als von der ganzen Welt gefürchtet und gehasst zu werden.

»Ja … also … ich warte hier mal noch ’ne Weile. Ist ja warm und so. Und wenn du dann irgendwann rauskommen magst, Poppy, dann werde ich da sein und dir auflauern. Aaaaalso, das klang jetzt seltsam. Aaaaalso, ich möchte …«

»Arnit?«, rufe ich, gesteuert vom Prickeln meines Bauchnabels, ohne weiter darüber nachzudenken, wie einfältig und gefährlich mein Handeln sein könnte. Er hat sich auf den Weg zum Ältesten gemacht, um mich zu treffen. Mich. Poppy, die verkorkste Krankenschwester/Amazone/mordende Hybridin. Egal. Er ist hier, und er wird einen triftigen Grund dafür haben, den ich erfahren möchte. »Geh bitte ein wenig auf Abstand und komm nicht näher als dreißig Meter an den Baum heran, okay?«

»Okaaaaay?«, vernehme ich seine irritierte Stimme und lausche sich entfernenden Schritten auf steinigem Waldboden.

Dann atme ich tief ein und aus, straffe die Schultern und trete erhobenen Hauptes in meinem oberpeinlichen Aufzug aus dem Versteck.

Beim Nordwind, hoffentlich werde ich ihm keine Angst einjagen. Hoffentlich wird er bei meinem Anblick nicht sofort die Flucht ergreifen. Hoffentlich bleibt er eine kleine Weile. Hoffentlich ist die Entfernung nicht zu groß, dass ich einen Blick in die Tiefen seiner Ozeanaugen werfen kann, und hoffentlich werde ich ihn nicht umbringen!

Arnit

Alles cool, Arnit, alles cool. Poppy war immer sehr freundlich zu mir und nur, weil sie jetzt die Hüterin irgendeines seltsamen Fantasybaumes ist, wird das nichts an unserem Verhältnis ändern. Das Wort ›Verhältnis‹ lässt mich schmunzeln. Als ginge meine Beziehung zu dieser Wahnsinnsfrau über meine Träume und ein nettes Kopfnicken ihrerseits hinaus. Pfft. Ich soll sie nur im Auge behalten, während Fio den Vater der Chefin sucht. Und meine einzige Challenge dabei ist, nicht draufzugehen. Nicht, ihr näher zu kommen oder den Umstand auszunutzen, dass wir uns hier an einem romantischen Ort befinden und beide irgendwie gestrandet und allein sind. Nein. Schön professionell bleiben und die Aufgabe im Blick behalten.

Shit, sie kommt. Ich bin doch irgendwie leicht nervös. Okay … sehr nervös.

Egal.

Was ist das? Sie trägt … was? Eine Bastmatte, oder so? Ansonsten ist sie … nackt. Also bis auf die roten BHTräger, weiße Rüschensocken und ihre Gummilatschen. Jap, kann man machen. Nur das mit dem ›professionell‹ bleiben … puh, das kann ich jetzt wohl vergessen.

»Hi, Arnit«, tönt ihre warme Stimme etwas brüchig an mein Ohr.

Ich hebe den Kopf und plötzlich weicht Poppy einen Schritt zurück. Oh, nicht doch! Mein Anblick ist zu abstoßend. Ich wusste es. Verdammter Basilikumzauber!

»Ähm, warst du beim Friseur?«, fragt sie aus dreißig Metern Entfernung.

»Ähm, nein«, antworte ich hirnrissig und schlage mir eine Hand an die Stirn. »Also … irgendwie doch. Linneas Zauber ist schief gegangen und jetzt bin ich … behaart.«

»Außer am Kopf«, ergänzt sie überflüssigerweise.

»Jap, außer am Kopf.« Ich streiche mir über die Glatze und versuche mich sogar an einem winzigen Lächeln.

»Sieht gut aus!«, entgegnet Poppy und ich traue meinen Ohren kaum. »Ja, ehrlich. Steht dir, Arnit. Ich mag den Bart, der ständig seine Form ändert. Etwas gewagt vielleicht, aber irgendwie witzig.«

Sie lächelt. Ich verrate ihr besser nicht, dass mein neuerlicher Bart ausschließlich die Form wandelt, wenn ich nervös und nicht Herr der Lage bin. Von Schnauzer über Ziegenbärtchen bis hin zu Koteletten oder klassischem Vollbart ist alles möglich, wobei ich keinerlei Kontrolle darüber habe, welches schmucke Bild sich meinem Gegenüber präsentiert.

»Was machst du hier?«, fragt sie und ich schüttle irritiert den Kopf, um mich konzentriert am Gespräch beteiligen zu können. Leider werde ich prompt davon abgehalten, eine normale Antwort zu formulieren, als eine Welle der Verwesung ausgehend von Poppy auf mich zurollt. Beginnend an ihren Füßen welken Moos, Gras, Blumen und Sträucher, die Erde färbt sich schwarz und keine zwei Meter vor mir erstarrt ein Mistkäfer, nur um gleich darauf zu Staub zu zerfallen.

Ich bekomme echt Panik, weil innerhalb weniger Sekunden das wenige Grün, was ich eben noch betrachtet habe, tot ist, und die Spur der Fäulnis langsam, aber sicher näher kommt.

»Du brauchst keine Angst zu haben, Arnit!«, ruft Poppy, doch ich glaube ein genuscheltes »Hoffe ich« wahrzunehmen. »Mein Radius beträgt zwanzig, vielleicht fünfundzwanzig Meter, also wird er dir nichts anhaben können.«

Toll, wie beruhigend. Drei Schritte näher zu ihr und ich wäre nicht mehr als ein Häufchen Asche? Rosige Aussichten. Dabei wäre ich bis gerade eben durchaus bereit gewesen, sehr viel näher als nur drei Schritte an sie heranzukommen.

»Also«, nimmt sie den angerissenen Faden wieder auf, »was willst du von mir?«

Zuerst, dass du mich am Leben lässt, denke ich. Dann, dass du mit mir einen Kaffee am Automaten trinken gehst, danach Film gucken, Händchen halten und … ach so … jetzt? Ähm …

»Nun … ich …«, druckse ich herum. Es ist ja auch völlig egal, was ich sage, Hauptsache, ich bleibe mit ihr in Kontakt, provoziere sie nicht und behalte sie im Auge. So was von ›im Auge‹. »Ich habe gehofft, du könntest eventuell meine Haare entfernen. Aalso alles wieder rückgängig machen, verstehst du? Linneas Kräfte sind mehr oder weniger versiegt und mein Versuch, für sie als Laborratte herzuhalten, ist gründlich in die Hose gegangen.«

Sie nickt.

Das ist gut, oder?

»Arnit, ich würde dir ja echt gern helfen, ehrlich. Aber ich töte unfreiwillig alles, was mir in die Quere kommt und ich beherrsche diese dunklen Mächte nicht. Magst du vielleicht noch einmal darüber nachdenken, ob ich Hand an dich und deine Haare legen soll?«

Sie will Hand an mich legen? Wow! Bilder, verschwindet sofort aus meinem Kopf! Poppy ist eine Lady und hat diese Form der Fantasie nicht verdient.

»Äh, gut. Wie lange soll ich darüber nachdenken?«, sage ich also im Affekt und könnte mich ohrfeigen. Ach du Scheiße … habe ich das eben wirklich gefragt? Ich meine, die Antwort ist ganz klar: Ich wäre offen für vieles, was Poppy mit mir anstellen könnte. Aber nein, solange ihre Finger töten und pulverisieren, verzichte ich darauf, auch wenn dies bedeutet, dass ich mit Augenbrauen und einem nervösen Bart leben muss.

O Mann, die ganze Situation ist so abgefahren.

»Keine Ahnung, Arnit«, meint Poppy lächelnd, »vielleicht baust du dir einen Unterschlupf, kochst dir etwas zu essen und morgen um die gleiche Zeit treffen wir uns hier wieder und besprechen das weitere Vorgehen.«

Sie streckt mir die Zunge raus, grinst und geht zurück in ihren Baum.

Hä? Wie bitte? Was? War das Sarkasmus?

Ich habe keinen blassen Schimmer, ob sie mich gerade auf den Arm genommen oder mir eine Schonfrist eingeräumt hat. Ich meine, vielleicht muss sie für dieses Zurückverwandlungszauberdings ja irgendwie trainieren … also, bis morgen. Oder ihr ist wirklich wohler bei der Sache, wenn ich noch mal ’ne Nacht darüber schlafe. Ja. Schade eigentlich. War ein kurzes Stelldichein.

Na gut, okay. Dann werde ich mir jetzt Holz suchen und ein nettes kleines Lager errichten. Der Weg zurück zur Hütte ist zu weit und vermutlich würde ich mich ohnehin haltlos verlaufen. Ich habe so viele Geschichten und Filme rund um die Wildnis oder das Leben zwischen Orks und Ogern gelesen und gesehen, dass es ein Leichtes sein müsste, eine gescheite Behausung für eine Nacht zu erbauen. Außerdem habe ich ein extrem schickes Samtsofa zwischen den Kiefern entdeckt, das vermutlich, genau wie ich und der Rest vom WONC, an diesen magischen Ort gebeamt wurde. Es sah bequem aus und wird meinem schmerzenden Hintern heute Nacht eine bessere Unterlage sein als die Hütte des Grauens.

Doch zunächst muss ich den Baum dahinten ein wenig gießen. Meine Blase drückt schon viel zu lange.

Ha, da liegt sogar ein Teil der Reklameschrift des WONC. Das umgedrehte ›W‹. Vielleicht will es mir sagen: Mach ruhig! Pinkle voll auf mich drauf, um der ganzen Scheiße mal so richtig …

»Au!«

Nanu? Ist da wer? Da hat doch eindeutig jemand gerufen, oder? Komisch. Ich wende mich einmal um die eigene Achse, kann aber keinen Menschen ausmachen, zu dem dieser Schmerzensschrei passen könnte.

»Au! Geh runter von meinem Gesicht, du Vollarsch!«

Erschrocken mache ich einen Satz nach hinten und stolpere unsanft über eine Wurzel, die mich sogleich auf den Hintern befördert.

»Ahh! Shit!«, entfleucht es mir, bevor mir jedes weitere Wort vor Schreck im Hals stecken bleibt.

Vor mir, halb verscharrt unter Kiefernnadeln, Moos und Dreck, glotzen mich zwei winzige stahlblaue Augen an. Die dazugehörige Nase – oder besser gesagt ›Schnauze‹ – rümpft sich, und ›es‹ spuckt einen Klumpen Erde zwischen kleinen, spitzen Zähnen aus und sagt:

»Könntest du mich in deiner unendlichen Güte vielleicht mal aus dem Boden ziehen? Schließlich hast du mit deinem Tritt in mein Gesicht nicht gerade zu einer Verbesserung meiner beschissenen Lage beigetragen.«

Ich werd nicht mehr.

Da … da … da liegt ein … sprechendes Frettchen … verbuddelt im Wald. Vermutlich mehr tot als lebendig, und ich Trampel trete auch noch auf es – ihn – drauf?

Schnell rapple ich mich auf, hebe das M (oder eben W) von dem Fabeltierchen herunter und fange an zu buddeln, um auch noch den Rest des Verschütteten freizulegen.

Doch der kleine Kerl regt sich nicht. O nein, habe ich …

»Alter«, brummt es und zeigt grimmig seine mickrigen Reißzähne, »ich spür meinen Arsch nicht. Fuck! Mein Hinterteil ist zu schön, zu knackig für Taubheit. Shit, ich habe mein bestes Körperteil verloren, meinen Frauenmagnet. Mein Leben ist vorbei! Scheiße! Buddel mich einfach wieder ein.«

»Verstanden«, hauche ich, bleibe jedoch dümmlich stehen, als mir die Tragweite seiner Bitte bewusst wird. Aalso annähernd bewusst … vielleicht.

Seit Tagen schon verdaue ich tanzende Grünlinge, explodierenden Schlafmohn, Waldhexen mit rosa Haaren, deren Zauberkräfte meinen Bartwuchs in Gang bringen und beobachte Poppy, wie sie ihre Umgebung killt. Jeden noch so abnormalen Scheiß habe ich ertragen, ohne in Ohnmacht zu fallen oder wegzulaufen. Aber ein sprechendes Frettchen mit hellblauen Augen und einem üblen Wortschatz? Nein, nein, nein. Das Pferd aus dem Märchen ›Die Gänsemagd‹ war schon krass, aber eben nur eine erdachte Figur. Dieser Nager hier … ist echt! Echt, echt. Also so richtig echt!

»Halloo! Großer starker Maann? Holst du mich jetzt bitte endlich hier raus?«

Atmen, Arnit! Einfach atmen!

Okay, ich schaff das.

Ich greife das gelähmte Tierchen und hebe es mit beiden Händen ungefähr auf Augenhöhe, um mich gut unterhalten zu können. Pfft! Abgefahren! Ich bin wirklich nur noch von Freaks umgeben!

»Danke, Großer!«, stößt es hervor und zwinkert mir anerkennend zu. Es zwinkert? Geht das denn? Ich glaube nicht, aber Tiere sprechen normalerweise auch nicht und Bärte tanzen nicht. »Sag mal, kennen wir uns?«

Mmh, keine Ahnung. Bei all den zahlreichen sprechenden Tieren, die ich so zu meinen Bekannten zähle … ähm … nein.

»Ah, ich habs. Der Nachwächter aus dem WONC, richtig?«

Es lacht – er lacht. Ich muss aufhören, ihn wie einen Vierbeiner zu behandeln. Immerhin weiß er tatsächlich, wer ich bin.

»Hast dir endlich ein paar Haare implantieren lassen, was?« Er lacht schon wieder. »Richtig so. Konnte man ja nicht mit ansehen, oder?« Er grinst und ich möchte ihn schlagen. Aber mal ehrlich. Er kann sich nicht wehren. Das wäre irgendwie arschig von mir. »Wie hat dich Narcissa immer genannt? Haarloser Affe?« Er lacht und mir reißt gleich die Hutschnur. »Ha, zu witzig. Aber he, SchönheitsOPs sind heutzutage keine Sache, für die man sich schämen müsste. Jetzt kannst du wenigstens wieder unter normale Menschen gehen, ohne dass sie schreiend davonlaufen.«

Wenn er nur noch einmal dümmlich kichert, packe ich seinen pelzigen Leib zurück in die Erde und verschwinde. Dann kann er sich einen anderen suchen, der ihn bei Laune hält.

»Gut, dann schlage ich vor, du machst mich mal ein wenig sauber, all right?«

All right? Bin ich sein persönlicher Butler, oder was?

»Nachtwächter? Ähm, stehst du irgendwie neben dir?«

Ich verspüre schon wieder den Drang, ihm körperliche Schmerzen zufügen zu wollen.

»Ich habe einen Namen, Frettchen. Nenn mich also bitte Arnit und nicht Nachtwächter. All right?«

Er lacht. Was auch sonst. So ein unsympathischer Troll. Aber das liegt wohl nahe, wenn man ein rattenähnliches Aussehen durch die Gegend trägt.

»Arnit, beruhige dich, mein Freund. Ich bin Moss. Oder was von Moss noch übrig ist. Ich bin Fios Freund und gehe im WONC irgendwie auch ein und aus. Cool, oder?«

»Ja, äußerst cool«, brabble ich vor mich hin und bin genervt. Natürlich ist er Fios Freund. Jeder erfolgreiche Wissenschaftler hat einen tierischen Sidekick. Normal.

»Dein Bart«, beginnt er zu feixen, »der verändert sich. Witzig!« Haha, ich lach mich schlapp. »Aber genug gequatscht. Such mal einen See und bring mich zum Glänzen. Wenn du das machst, hast du auch einen Wunsch frei.«

»Echt jetzt?«, frage ich mit kieksiger Stimme. »Bist du so eine Art Dschini?« Das wäre ziemlich genial, denn dann könnte ich …

»Ach Blödsinn, natürlich nicht. Ich bin nur ein verwunschenes Frettchen. Ich verfüge über beeindruckende Skills, aber keine Zauberkräfte, all right?« Ich nicke enttäuscht. »Ich dachte da eher an Wünsche der anderen Art.« Er leckt sich mit der kleinen Zunge über die Eckzähne.

»Andere Art?«, hake ich nach und frage mich im selben Augenblick, ob ich die Antwort überhaupt hören möchte.

»Arnit, komm schon. Ich spreche von Frauen. Poppy. Ich kann dir Tipps geben, wie du sie für dich gewinnen kannst. Ich meine, das, was ich da vorhin mit anhören musste … puh, das war schon mehr als peinlich. Ich meine, wie du gestammelt hast … zu komisch.«

»Komisch, ja?« Ich werde sauer und verfestige meinen Griff um seinen Fellkörper. »Wenn es dir so eine diebische Freude bereitet, mich fertig zu machen, meine Schwächen zu belächeln oder dein übergroßes Ego zu feiern, dann lege ich dich gern zurück in deine kuschlige Erdhöhle und geh meiner Wege. Ich brauche keinen Fallada, der mich runterzieht.«

O Mann, das tat gut. Hach, Dampf ablassen kann so befreiend sein.

»Arnit, mein Freund, ich …«, säuselt Moss.

»Ich bin nicht dein Freund. Ich bin auch nicht dein Babysitter oder dein Krankenpfleger. Wenn du deine Klappe hältst, werde ich dich waschen und dann in ein hübsches Vogelnest legen oder so. Aber mehr ist nicht drin.«

Er lacht.

Warum? Ich habe ihm gerade offenbart, dass er mich am Arsch lecken kann und er feixt sich einen ab. Seltsamer Typ. Seltsames Wesen!

»Sie spricht mit Pflanzen.«

»Was?«, antworte ich irritiert auf Moss’ Einwurf, während ich mich auf den Weg zum See mache, an dem ich vorhin bereits vorbeigekommen war.

»Poppy, deine Herzdame. Sie beherrscht die Sprache der Pflanzen. Nennt sie ›Grünlinge‹ und gibt ihnen Namen. Sie hatte an die fünfzig Topfpflanzen in ihrem winzigen Apartment im WONC und jede einzelne hatte obendrein einen Namen.«

Der nervt. Was soll ich mit diesen Informationen?

Ich glaube, ich müsste hier mal grundlegend etwas klarstellen:

»Also erstens, Poppy ist nicht meine Herzdame, also spar dir deine dummen Sprüche. Zweitens, ich soll sie lediglich beobachten und bei Laune halten, bis Fio zurück ist, und Linnea …«

»Fio und die Hexe kommen zurück?«, unterbricht er mich mit süßlicher Stimme, die mir die neuerworbenen Nackenhaare zu Berge stehen lässt. Seltsames Gefühl. »Interessant«, faselt Moss und verdreht nachdenklich die Augen, als spinne er sich einen teuflischen Plan zurecht. Ich hatte wahrlich keine Vorstellung davon, wie detailreich die Mimik von Frettchen sein kann. Ich mutmaße mal, dass seine braunweiße Zeichnung im Gesicht diesen Eindruck noch verstärkt.

»Ja, und?«, frage ich ganz beiläufig, um an seinen Gedankengängen teilhaben zu können.

»Ach nichts. Ich freue mich einfach. Fio ist der klügste Kopf, den ich kenne, und Linnea hat magische Kräfte, da …«

»Hatte«, bringe ich ihn auf den aktuellen Stand. »Vergangenheitsform. Linnea hatte Kräfte, ja, aber die sind verschwunden. Auf Poppy übergegangen, wenn ich es richtig verstanden habe.«

Sein Grinsen kehrt zurück und mit ihm auch die abfälligen Kommentare: »Na umso besser. Wir haben also beide ein gesteigertes Interesse an unserer honigsüßen und so drolligen Poppy. Der freizügigen Dramaqueen in Kleinmädchensocken.«

Da ist der See. Ein Glück. Ich werde ihn wohl ertränken müssen. Dann habe ich Ruhe und bekomme meine Aggressionen wieder unter Kontrolle.

»Ich helfe dir, die Braut klarzumachen, weil ich sie besser kenne, als du mir vielleicht zutraust …« Ach, ist das so? »Und im Gegenzug legst du ein gutes Wort für mich ein, sobald sie nicht mehr alles vernichtet, was sie berührt. Denn dann bekomme ich vielleicht meinen Astralkörper und mein perfektes Leben zurück, und ihr beide erhaltet den Preis für das Loserpaar des Jahres. All right?«

Ich hoffe, meine Antwort auf sein dämliches ›All right‹ wird ihm gefallen.

»Schön die Luft anhalten, Moss, damit du kein Wasser in dein putziges Näschen bekommst.«

Mit diesen Worten drehe ich seinen iltisfarbenen Körper zur Wasseroberfläche und tauche ihn unter.

Hach, dieses liebliche Blubbern, das er von sich gibt … Musik in meinen Ohren.

»Je mehr ein Mensch über seine Tugenden

nachdenkt oder weiß,

desto mehr schätzen wir ihn.«

Ralph Waldo Emerson

Poppy

»Es war einmal ein kleines Mädchen, das die Pflanzen und Tiere mehr liebte als ihr eigenes Leben. Sie lebte verborgen und von einem Drachen bewacht in einem dunklen Turm und bekam nie …«

Naaaw, echt jetzt, Poppy? Schon wieder die tragische Geschichte deines armseligen Daseins? Ich kann sie nicht mehr hören! Ja, du bist bemitleidenswert. Ja, du bist chronisch untervögelt. Ja, du bist fetter, als es dir guttut und zudem so naiv wie das letzte Einhorn, das den Goldtopf am Ende des Regenbogens sucht. Aber he, ändere es einfach. Wie oft soll ich noch auf dir rumhacken, bis du das endlich kapierst?

»Du kannst mich runterputzen, solange du willst, Narcissa. Aber lass mir zum Donnerdrommel noch mal meine Trauer und mein Selbstmitleid. Ich bin allein, ich habe einen netten Kerl fortgeschickt, der meine Hilfe erbat und erneut die halbe Nacht versucht herauszufinden, was ich dem Universum getan habe, dass ich bin, was ich nun einmal bin.«

Die mächtigste Frau der Welt?

»Haha, sehr witzig. Das stimmt vielleicht in der Theorie. Die Praxis aber, Schwesterlein, die sieht ganz anders und sehr, sehr, sehr viel düsterer aus.«

Dein Pessimismus ödet mich an. Eigentlich ödet mich alles an dir an. Außer dem Umstand, dass du mit ein wenig Hilfe und Eigenmotivation uns beiden helfen könntest.

»Wie denn, Narcissa? Wie denn? Ich töte, ich weine, ich lasse mich beleidigen, ich starre an die Rinde und die Gesteine des Ältesten und dann geht alles wieder von vorn los.«

Nun, der haarlose Affe da draußen wäre ein Anfang. Du könntest ihm erlauben, dir schöne Augen zu machen, damit du dümmlich grinsen und alles ein wenig leichter nehmen kannst. Dann hilft er dir, Linnea anzulocken, und schwups, sind wir raus hier und erobern uns die Welt zurück.

»Er ist weg, Narcissa. Ich habe ihm die Zunge rausgestreckt und ihn zum Narren gehalten.«

Du wolltest ihn schützen.

»Ja schon, aber … Moment. Hast du gerade etwas Nettes gesagt? O ja, das hast du! Vielleicht färbe ich ja auch langsam ein wenig auf dich ab und nicht nur andersherum. Das wäre eine wirklich gute Neuigkeit.«

Davon will ich nichts hören. Ich werde niemals …

»Guten Morgen, Poppy!«, tönt Arnits angenehme Stimme ins Innere des Lebensbaumes.

… niemals verstehen, wie der hirnlose Arnit es überhaupt zum Nachtwächter geschafft hat.

»Du hast ihn selbst eingestellt, Narcissa«, entgegne ich etwas hibbelig, während ich aufstehe und neugierig durch die Äste des Ältesten nach draußen sehe.

Ach, ich brauchte doch bloß einen Quotenschwarzen, damit Fio meine weltoffene und gerechte Seite erkennt. Seine Kompetenzen waren mir dabei völlig egal.

»Du bist schrecklich«, murmle ich. »Herzlos, gemein und einfach schrecklich.« Aber du wirst mich nicht davon abhalten, die geplatzte Tüte Brausepulver in meinem Bauch, die Arnit verursacht – glaube ich –, zu genießen. Basta!

»Poppy? Bist du wach?«

Ein Schmunzeln huscht über meine Lippen, die gerade noch traurig nach unten hingen. Arnit ist tatsächlich geblieben. Hat gegen jede Vernunft die Nacht im Evergreen verbracht, nur um mir heute seine Antwort zu offenbaren. Irgendwie echt süß.

Bäh, widerlich! Nun geh schon raus, bevor ich dir hier sinnbildlich vor deine Gummilatschen kotze. Ich hasse kindisches Flirtgeflüster! Vor allem unter Versagern, wie ihr beiden es seid.

»Gut, Narcissa, dann genieß deine kleine Auszeit von mir und grübel über all deine Sünden und Verfehlungen nach. Ich bin dann mal weg.«

Und das meine ich verflucht ernst. Yes!

»Guten Morgen, Arnit«, trällere ich und streiche glücklich über einen tanzenden Farn, der sich am Eingang des Ältesten in mein Sichtfeld rollt.

O nein, ich … für einen schwachen Moment habe ich meinen dunklen Mäzenfluch vergessen und … Doch seltsamerweise zerfällt der Grünling nicht zu Staub und reiht sich ein in die tote Landschaft, die ich hier im Evergreen unfreiwillig geschaffen habe. Seltsamerweise winkt er mir zu, streicht über meinen nackten Unterschenkel und schiebt mich sanft einen Schritt weiter nach vorn.

»Nicht!«, schreie ich panisch auf, da ich unbedingt Abstand zu Arnit halten muss, damit nicht noch weitere Leben auf mein Konto gehen.

»Alles okay, Poppy?«, ruft er besorgt zu mir herüber, und am liebsten würde ich diese alberne Barriere überbrücken und ihm näher kommen. Nicht zu nah, nein, aber vielleicht auf eine Armeslänge. Das wäre schön. Irgendwie. Wir kennen uns ja nicht, aber er ist nett, er redet mit mir und ich kann nicht abstreiten, dass ich mich freue, ihn zu sehen. Ich sag nur Brausepulver – es kribbelt in meinem ganzen Körper. Ich mag es. Sehr sogar. Obwohl ich es nicht verstehe.

»Ja«, antworte ich und schüttle über meine kindischen Wünsche den Kopf. »Alles in Ordnung. Ein frecher Farn hat mir nur zeigen wollen, dass er keine Angst vor mir hat. Irre, was?«

O ja, total irre. Und warum erzähle ich das? Um meine Sonderlichkeit zu unterstreichen und ihn erneut zur Flucht zu bewegen?

»Ich habe auch keine Angst vor dir, Schwester Poppy!«, meint Arnit höflich, und eine kleine Welle des Glücks rollt über mich hinweg, als mich diese berufliche Bezeichnung an meine Zeit im WONC und natürlich meinen guten Freund Doktor Fio erinnert.

»Solltest du aber, Arnit«, warne ich eindringlich. »Ein überlebender Farn macht mich noch nicht zur Heilerin der Grünlinge, geschweige denn Menschen.«

Obwohl ich mir kaum etwas sehnlicher wünsche, als diese floralen Kräfte nutzen und für etwas Gutes einsetzen zu können.

»Welchen Namen gibst du dem mutigen Farn, Poppy?«, fragt Arnit und sein Bart verwandelt sich in gar mächtige Backenbürsten, die mich zum Grinsen bringen.

»Mmh, lass mich überlegen«, flirte ich ein bisschen und spüre, wie meine Augen zu leuchten beginnen. »Wie wäre es mit Fillibrod? Klingt spitzbübisch und freundlich, oder?«

Er kräuselt die Lippen, wenn ich das auf die Entfernung richtig erkenne, und meint: »Mir schwebte eher etwas wie ›BraveFern‹ vor. Verstehst du? Mutiger Farn und so. Aber Fillibrod ist auch … äh … ziemlich passend.«

Wir schmunzeln beide.

»Ich möchte im Übrigen immer noch, dass du den Haarzauber von mir nimmst«, holt Arnit mich zurück ins Hier und Jetzt. Vergessen sind BraveFern und Fillibrod und zurück ist die halsabschneidende Angst, die mich seit meiner Berufung zerfrisst. »Ich vertraue dir – Poppy, Hüterin des Waldes – mehr als Linnea und mehr als allen anderen Zauberinnen, die ich so kenne.«

Ich schmunzle. Schon wieder. So langsam werde ich Muskelkater im Gesicht bekommen, wenn ich mich länger mit diesem Sturkopf unterhalte.

»So? Wen kennst du denn sonst noch aus der magischen Welt?«, stichle ich, nur um sein wohlig warmes Lachen noch einmal hören zu dürfen.

»Also, da wären Hänsel und Gretel, das Rumpelstilzchen – selbstverständlich – und glaub es oder glaube es nicht, meine Beziehung zu Fallada, dem sprechenden Pferdekopf, ist auch nicht zu verschweigen.«

»Natürlich«, erwidere ich und kichere, »Fallada ist auch einer meiner größten Helden.«

Arnit richtet sich auf, verschränkt die Arme vor der breiten Brust und zwinkert mir verschmitzt zu, während sein Bart innerhalb eines Wimpernschlages von einem Dreitagebart zum Moustache wechselt und ich mir sicher bin, dass ich Linneas Missgeschick auf keinen Fall rückgängig machen werde. Es grenzt an blanken Hohn, ein so faszinierendes Magieschauspiel aus der Welt zu schaffen.

»Und du, Poppy, du bist noch so viel mächtiger und lustiger und hübscher und klüger und einfühlsamer und …«