BeTwin - Martha Kindermann - E-Book

BeTwin E-Book

Martha Kindermann

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Beschreibung

Wenn dir das Rampenlicht die Träume raubt, aber den Weg ins Abenteuer deines Lebens leuchtet... Wenn du über dich hinauswächst, um im goldenen Käfig fliegen zu lernen, statt gefressen zu werden... Wenn du dich in ein Ballkleid zwängst, um ordentlich Staub aufzuwirbeln... ...Dann, Roya Roth, bist du dazu fähig, die Sterne Polars neu zu ordnen und bereit einen Jungen zu lieben, dessen Schatten dir unter die Haut geht!

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Prolog
1. April, Tag der Auswahltests
Tag 242
Das Herz der Nation
Tag 243
Tristan
Die Traue-Niemandem-Liste
Tristan
Tag 255
Und doch sitzt er hier
Tristan
H wie Helikoptermutter
Freitag 19 Uhr/ Wohnzimmer der Familie Roth
Tag 310
Bauchmiezelei
Tristan
Tristan
Dem neugierigen Drachen ausgeliefert
Erwachsen, voll strafbar und bereit sich fortzupflanzen
Nach dir die Sinnflut
Tag 392
Erstklassige Superhelden
Zirkumpolar
Tristan
Ups, die sind gar nicht so dumm
Tristan
Nicken. Lachen. Weiter drehen.
Tristan
Tag 406
Unser Moment. Unsere Herzensangelegenheit.
Tristan
Nur der Thron ist genug
Tristan
Mit Leichen und Vermissten macht man keinen Profit
Eintracht Brechschale
Tristan
Tag 430
Tristan
Da muss ein Therapeut ran
Bastelstunde
Tristan
Spielchen
Tristan
Rockstarleben 1.0
Tristan
Die Sterne unter uns
Tristan
Gruselgeschichten
Tristan
Ruhe vor dem Sturm
Tristan
Sicher ist ein starkes Wort
Tristan
Spiel des Lebens
Epilog
Danke

Impressum neobooks

Impressum

»BeTwin«

Band 2 der »BePolarTrilogie«

Text © Martha Kindermann 2019

An der Vogelweide 88, 04178 Leipzig

Coverdesign © Kurt Stolle, Martha Kindermann

epubli, ein Service

der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

»Schreiben ist wie Träume fangen –

Lesen das Beste an der Geschichte.«

Mein Teil ist erledigt. Jetzt bist du an der Reihe.

Viel Spaß beim Träumen, Zittern, Schmachten, Weinen, Lachen und Überraschtwerden. Auf nach Polar!

Prolog

So schnell mich meine zittrigen Beine tragen können, laufe ich dem rettenden Fahrstuhl entgegen. Nicht zurückblicken. Das Ziel fest im Visier verschwimmt meine Umgebung und ich bemerke den Verfolger erst, als die Stahltür sich vor seiner Nase schließt. Erleichtert sacke ich gegen das Geländer und lasse die angestaute Luft aus der Lunge entweichen. Glück gehabt – vorerst. Nun muss ich darauf vertrauen, dass der Fahrstuhl die drei Etagen schneller überwindet, als Tam die Stufen hinuntersteigen kann. Sollte er mich einholen, garantiere ich für nichts.

Er ist ein Fremder. Ein Fremder ohne Narbe auf dem Schlüsselbein. Ein Fremder, der mir Angst macht. Ein Fremder, der mich geküsst hat, ohne seine wahre Identität zu offenbaren. Ein Fremder, der den eigenen Zwillingsbruder hinter Schloss und Riegel bringt, ohne mit der Wimper zu zucken. Ein Fremder und ein riesiges Arschloch.

Wo ist Tristan und was hat er mit ihm gemacht, um seinen Platz einnehmen zu können? Dieses BePolar-Treffen war eine saublöde Idee. Warum nur habe ich darauf bestanden, Tristans Vater kennenzulernen? Warum nur habe ich mich in die Höhle des Löwen gewagt und vorgegeben etwas zu sein, dass ich nicht bin? Ich will so unbedingt hinter die Geheimnisse dieser Organisation kommen, dass ich die wirklich wichtigen Dinge außer Acht gelassen habe.

Ich habe mich selbst verleugnet, um jetzt vor einem Menschen davonzurennen, der mein Herz im Sturm erobert und dann in tausend Stücke gerissen hat. Ich habe mich entschieden – zu schnell – zu unüberlegt und doch richtig. Mein Bauchgefühl hat mich an die Hand des guten Zwillings geführt. Tristan ist nicht der Psychopath, für den ihn alle halten, sondern ein großartiger Mensch, den ich für seine Selbstlosigkeit über alles bewundere. Diese Erkenntnis hat mich Fenjas Loyalität gekostet und das ist scheiße. Sie hat Tam damals aufgenommen, halbnackt und unterernährt. Ihr Beschützerinstinkt vernebelt ihre sonst so scharfen Sinne und das macht mich unendlich traurig.

Bling. Die Tür öffnet sich. Panisch sehe ich mich nach allen Seiten um, bevor ich einen Schritt aus dem Fahrstuhl wage. Der Schein der Straßenlaterne lässt keine Schatten in der Eingangshalle erkennen und so verschwinde ich lautlos durch den Hauptausgang. Mit rasendem Puls und Tränen in den Augen laufe ich ziellos in die Dunkelheit. Ich blicke nicht zurück – ich kann nicht zurückblicken. Bitte, Tam, lass mich in Ruhe! Folge mir nicht! Sprich mich am besten nie wieder an und sorge dafür, dass dein Bruder zu mir zurückkehrt!

Zwanzig Minuten später erreiche ich trotz der vorherrschenden sieben Grad völlig durchgeschwitzt das elterliche Heim. Ich drehe den Schlüssel in der rothschen Haustür und breche auf der Bastmatte im Flur zusammen. Wenn meine große Schwester noch am Leben wäre, müsste ich nicht vereinsamt meine Tränen zurückhalten und den Kloß im Hals herunterschlucken. Sie würde neben mir knien und mich zwingen die Wut freizulassen. Ich vermisse Rhea wahnsinnig und das wird mir an diesem furchtbaren Abend einmal mehr bewusst. Ich war ungerecht und egoistisch. Ich habe sie dafür gehasst, dass sie mich auf dieser Welt alleine zurückgelassen hat. Dafür, dass sie mich in die Akademie und damit in die Fänge von BePolar geführt hat. Ich liebe sie und diese Liebe sollte alles verzeihen können. Die letzten Wochen waren so ereignisüberflutet, dass es kein Zauberstück war, die Schuldgefühle und die nicht enden wollende Trauer zu verdrängen. In all dem Trubel blieb kaum Zeit, über ihren angeblichen Unfall und die Umstände ihres viel zu frühen Todes nachzusinnen. Ich werde die Verantwortlichen finden, auch wenn ich damit ganz allein dastehe. Tristan ist wer weiß wo abgeblieben, Fenja ein Tabuthema und ich muss die Stellung bei BePolar halten, ohne zu wissen, was mich dort erwartet. Ich will hier sitzen und heulen, meine Schwester vermissen, mich um Tristan sorgen, meine Freundin brauchen, Tam in den Wind schießen und mein Leben wiederhaben. Hier allein in der Dunkelheit, mit klappernden Zähnen und salzigen Wangen bleibt mir jedoch nur eins – eine scheiß Angst.

1. April, Tag der Auswahltests

Wie verabredet stehe ich um 7:15 Uhr an der Rathausecke und warte. Fenja zieht es vor, mit ihrem Freund Elvis in die Schule zu fahren und heimlich den Rücksitz unsicher zu machen. ›Hallo!‹›könntest du mir bitte einen Stift leihen?‹ und ›Bis morgen‹, fassen alles zusammen, was wir uns derzeit zu sagen haben. In all meiner Wut und Trauer war es praktisch, einen Prellbock zu haben und ihr die Schuld an meinem gebrochenen Herzen zu geben. Doch wenn ich ehrlich bin, weiß ich, dass sie rein gar nichts für mein ganz persönliches Liebeschaos kann. Ich fühle mich seit Wochen wie ein lebloses, graues Fleischpatty – zwischen zwei Burgerhälften gequetscht – die unterschiedlicher kaum sein könnten. Sesam, oder nicht Sesam – beide Zwillinge machen mir Angst auf ihre eigene Weise, beide Brüder lösen Gefühle in mir aus, denen ich noch nicht gewachsen bin und beide lassen mich zu diesem emotional verwirrten Fleischbatzen werden, der ich gerade zu sein scheine. Tristan ist fort und die Sorge zerreißt mich – leiert mein Herz durch den Fleischwolf, um es wieder und wieder zu Pattys zu verarbeiten. Fenja weiß von alledem nichts. Sie hat sich in einem unbedachten Moment auf dem Friedhof gegen mich und für Tam entschieden und seither lasse ich es sie büßen. Das ist dumm, ich weiß, und ich bin ihren traurigen Blick und das kindische Schweigen so leid. Ich war unfair und fühle mich schrecklich. Jeden Tag schickt sie Nachrichten, jeden zweiten Tag telefonieren unsere Mütter und einmal in der Woche liegt ein Brief mit neuen Erkenntnissen in unserem Briefkasten. Sie gibt mich nicht auf, sie gibt die Nachforschungen um den Tod meiner Schwester Rhea nicht auf und ich kann ihr einfach nicht verzeihen. Meine beste Freundin fehlt mir so schrecklich. Gleich morgen werde ich diese heikle Angelegenheit in Angriff nehmen und auf Vergebung hoffen. Doch heute muss ich die geballte Konzentration auf die bevorstehenden Tests lenken. Das Polarjahr wird eingeläutet und in jedem Winkel des Landes stehen die Lichter heute auf ›Zukunft‹. Unsere Geschichte, das politische System, herausragende Persönlichkeiten Polars, unsere ganz eigenen Vorstellungen von Frieden und Gesellschaftsstrukturen und ein psychologischer Abschnitt werden Teil der Prüfung sein. Alle Schüler, die bis zum 1. August das achtzehnte Lebensjahr erreichen werden, unterziehen sich heute dieser vierstündigen Tortur. Vier Stunden, die eine Zukunft bestimmen; vier Stunden, um mich dem Ziel eines Ministerpostens in der Hauptstadt näher zu bringen; vier Stunden, um von den nächtlichen Studien in einer fiktiven Akademie zu profitieren und das Unterfangen ›BePolar‹ voranzutreiben; vier Stunden, um sich gegen Tausende Jugendliche des Polarjahrganges durchzusetzen; vier Stunden, um das Vermächtnis meiner Schwester fortzuführen und sie auch nach ihrem Tod stolz zu machen; vier Stunden ohne einen Gedanken an meinen verschollenen Freund; vier Stunden im selben Raum mit seinem geistesgestörten Zwillingsbruder; vier Stunden, die einfach alles bedeuten und vier Stunden, für die ich noch lange nicht bereit bin. Prof. Pfefferhauser, Moreno – der Penner, Eliska, Dr. Gregorio und all die anderen Dozenten der Akademie haben mich seit Monaten auf diesen Tag vorbereitet und trotzdem fressen die Versagensängste mich auf. Ich habe nur eine Option – bestehen und als Eleve ein Teil der Initiation werden, welche in wenigen Monaten in unserer Hauptstadt Midden beginnt. Ein Ausscheiden aus dem Wahlverfahren ist indiskutabel und würde zudem meinen Rauswurf aus der Akademie bedeuten. Es nützt also nichts, den Schwanz einzuziehen und einen Rückzieher zu machen. Nicht, wenn ich hinter das Geheimnis einer Organisation kommen will, die so widersprüchliche Signale sendet, die Ausbildung der Schläfer eingeschlossen. Gut und schön sich eigene Marionetten für eine friedliche Revolte heranzuziehen und die Jugendlichen in allen Bereichen des politischen Lebens zu unterrichten, doch die Art und Weise geht garantiert nicht mit den Rechten der Kinder konform (Morenos Rhetorikseminare scheinen offensichtlich zu fruchten). Doch heute eins nach dem anderen.

»Roya, psst!« Müssen wir uns verstecken, echt? Mein totgeglaubter und seit achtzehn Jahren verschollener Bruder glaubt doch wohl nicht im Ernst, dass ihn in NW/74 irgendjemand wiedererkennen könnte. Nicht einmal unsere Eltern wissen von seiner Auferstehung, was mich an die Schmerzgrenze meiner schauspielerischen Fähigkeiten treibt. Irgendetwas ahnen die beiden und früher oder später muss sich mein Bruder der Wahrheit stellen, Mama und Papa nach einem ganzen Leben wieder unter die Augen treten und ihnen eines ihrer verstorbenen Kinder zurückbringen.

»Komm raus, Rafael! Ich werde jetzt sicherlich nicht zu dir in die stinkende Hundetoilette namens ›Busch‹ kriechen.« Ächzend und schnaufend befreit er sich aus der Hecke hinter der Rathausmauer und setzt sich plump neben mich. Der Anblick des fast zwei Meter großen Bären, dessen kurze Haarpracht von Blättern und kleinen Ästchen geschmückt ist, ringt mir ein Lächeln ab. Die trampelige Art haben wir definitiv gemeinsam, auch wenn uns optisch absolut nichts eint.

»Na, aufgeregt? Wichtiger Tag heute!« Er schließt mich in seine starken Arme, bis ich nach Luft schnappen muss und die Augen so weit heraustreten, dass ich Angst habe, sie könnten meinen Körper verlassen.

»Mmh, doch wenn ich erstickt bin, braucht dich das nicht mehr zu kümmern.« Sofort lässt er los und blickt mich entschuldigend an. »Schon gut, Rafael, ich hab dich auch lieb!« Diese Worte sind mir in seiner Gegenwart noch nie über die Lippen gekommen, doch sie sprechen die Wahrheit. Das letzte halbe Jahr wäre ohne ihn in einem absoluten Desaster oder auf Station 7, alias der Irrenanstalt, geendet. Nach dem Treffen der BePolaristen im Bürgerhaus war ich wochenlang wie gelähmt. Die verdrängten Gefühle kochten über und meine brüchige Welt stürzte gänzlich zusammen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens – dem Sinn meines Lebens – nagte an mir und versuchte mich in die Untiefen einer Depression zu ziehen. Er bot mir seine Schulter zum Ausweinen an, er half mir bei der vergeblichen Suche nach Tristan und war gleichzeitig der beste Pate, den ich mir bei BePolar hätte wünschen können. Die Anzahl der Schläfer wurde so drastisch reduziert und die Lerninhalte verdichtet, dass es notwendig war, eine Einszueinsbetreuung anzubieten: Lernkumpan, Lehrer, Babysitter, Freund und Bruder in einem – ein Rettungspaket quasi. Obwohl ich ihn liebe und unendlich glücklich über seine Rückkehr bin, so bleibt doch ein Fragezeichen zwischen uns. ›Unsere Eltern haben mit der ganzen Sache nichts zu tun!‹ bestimmt hundert Mal hat er versucht, mir diese Worte einzubläuen und ich zweifle immer noch. Es ist schwer vorstellbar, dass ein sechzehnjähriger Junge seinen eigenen Tod vortäuscht, nur um das Land vor dem Untergang zu bewahren. Rafael ist ein selbstloser und mutiger junger Mann. Na ja, so jung nun auch nicht mehr, und er hat vor vielen Jahren eine Entscheidung getroffen, die meine Existenz zur Folge hatte. Er verschrieb sich der Sache BePolar und brach mit seinem alten Leben, ohne einen Rückfahrschein zu besorgen. Ich war noch nicht einmal der Grund für sein Handeln, sondern lediglich eine günstige Fügung. Genau im siebten Jahr, einem ›Polarjahr‹, das Licht der Welt zu erblicken konnte Fluch und auch Segen bedeuten. Mit meiner Geburt war ein weiterer potentieller Schläfer geboren, der den Machtwechsel in immer greifbarere Nähe rückte und BePolars Tun einen tieferen Sinn gab – Segen. Doch meine Familie droht an dieser großen Bürde zu zerbrechen. Rhea ist tot, gestorben für eine Sache, die ihr älterer Bruder für wichtig genug hielt, um sie zu involvieren und einer ernstzunehmenden Gefahr auszusetzen – Fluch. Wer hat Rafael zu diesem Leben in der Versenkung geraten? Wer hat im Krankenhaus für ihn gelogen und den Totenschein gefälscht? Welcher gesunde Mensch tut einer Familie so etwas an? Rafael schweigt und ich habe das Spekulieren satt.

Seit ich das erste Mal die Augen aufschlug, war der Blick auf den heutigen Tag gerichtet. Es hat mich nie interessiert, aber als Polarbaby trage ich eine Verantwortung. Ich wurde geboren, um möglicherweise in wenigen Jahren ein Land zu regieren oder besser gesagt das, was dann noch von ihm übrig sein wird. Wie auch immer es laufen mag, die Familiengeheimnisse werden warten müssen.

»Es wird schon schiefgehen.« Rafael reißt mich aus meinen düsteren Gedanken. »Um die schriftlichen Tests mache ich mir bei dir überhaupt keine Sorgen. Interessant wird es, wenn du dir eine Fangemeinschaft aufstellen und Liebling der Nation werden musst. Ohne Tristan an deiner Seite brauchen wir eine neue, totsichere Strategie. Also, ich habe mir da Folgendes über…«

»Hast du tatsächlich geglaubt, dass ich meine Beziehung zu Tristan ausnutze, um das unzertrennliche Pärchen vor der Kamera zu spielen?« Es macht mich traurig, diese List auch nur in Betracht zu ziehen. Seit Tristans Verschwinden im letzten Jahr bin ich nur ein halber Mensch und in ständiger Sorge um ihn. Warum ist er seit dem BePolartreffen wie vom Erdboden verschluckt, ohne ein Lebenszeichen zu geben? Habe ich ihn verstört? Warum ist Tam für ihn eingesprungen an jenem Abend? Wieso konnte er mich nicht in seine Pläne einweihen, bevor er verschwand? Vertraut er mir so wenig? Unsere Möglichkeiten, Tristan zu finden, schwinden von Tag zu Tag und meine Selbstzweifel, Sorge, Wut, Machtlosigkeit und die grausame Ungewissheit machen die Fleischpastete meines traurigen Herzens komplett. Das perfekte Rezept für einen hoffnungslosen Fall? Nein! Hoffnung, ist das Einzige, was mir geblieben ist. Ich werde Tristan finden, mir meine Freundin zurückholen und für BePolar diesen bescheuerten Auswahltest bestehen!

»Verzeih mir bitte, ich wollte dich auf gar keinen Fall verletzen oder Pfeffer in die Wunde streuen.«

»Salz. Salz in die Wunde streuen.«

»Dann eben Salz, Fräulein Überflieger. Die junge, heiße Liebe war zu Anfang einfach ein starkes Argument für dich.«

»Ach, und jetzt gehen mir die Argumente aus, oder was?« Heute Morgen kann ich diese Depriansprache echt nicht gebrauchen. In weniger als einer Stunde werden Hochleistungen von mir erwartet und Coach Rafael wählt die ›Du-bist-ein-absolutes-Nichts-Methode‹, um mich zu pushen – Bravo!

»Ich hab’s kapiert. Wir reden später darüber. Aber sieh dich vor, das Später wird kommen, ob du willst oder nicht. Hast du genügend Wasser?«

»Wie? Ach so – ja.«

»Stifte gespitzt?«

»Rafael, du bist wirklich von gestern. Tests werden digital bearbeitet und somit auch deutlich schneller ausgewertet.« Er bleibt standhaft trotz meiner hochgezogenen Augenbrauen.

»Okay, dann sind die Spickzettel sicher auf dem Mädchenklo verwahrt?« Jetzt nervt er echt. Ich springe von der Mauer und mache mich zum Abgang bereit.

»Lieber Rafael, jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, an dem ich dir höflich mitteile, dass du dir ein Hobby suchen solltest. Ich werde das hinbekommen, gut?« Er landet unelegant auf seinen Füßen und klopft mir auf die Schulter.

»Da du diese Worte nun aus eigenem Antrieb in den Mund genommen hast, betrachte ich meine Aufgabe hier als erfüllt und sehe dich heute Nachmittag zu einer Auswertungsrunde wieder. Auf bald, kleine Schwester. Mach sie fertig!« und schon verschwindet er hinter der nächsten Ecke. Er hat recht – ich werde ihnen zeigen, dass ich so was von bereit für die nächste Etappe bin. Bereit und kampfeslustig! Liebe Mitschüler aus Nah und Fern, zieht euch warm an! Roya Roth ist zurück am Spieltisch. Ich bin wahnsinnig gut vorbereitet, motivierter als ihr alle zusammen und werde diesen verdammten Wettbewerb so was von gewinnen.

Habe ich das gerade laut ausgesprochen?

In der Aula der Gesamtschule NW/74 rauchen fünf Minuten vor dem Stundenklingeln schon die Köpfe. Jeder Auserwählte hat seinen Platz eingenommen und fiebert mit gutem oder schlechtem Gefühl dem Startsignal entgegen. Die Tribüne wurde abgebaut und gegen ein kleineres Podest für die Prüfer und Aufsichtspersonen ersetzt. Mein Klassenlehrer Herr Jakob ist ebenfalls Teil dieser Jury und betraut all seine Sprösslinge mit einem Grinsen und gedrückten Daumen.

Fenja wurde der Tisch zu meiner Rechten zugewiesen und das macht die angespannte Situation für uns beide nicht gerade einfacher. Trotz der Funkstille greift sie nach meiner Hand und flüstert mir zu.

»Darf ich dich um etwas bitten?« Ich nicke zaghaft. »Wenn du in die Warte einziehst, hältst du mir den Platz als deine Wahlkampfmanagerin frei, auch wenn ich eine ganz miserable Freundin war und ich alles bereue und…« Ich schließe sie fest in meine Arme und spreche ihr mit zittriger Stimme ins Ohr:

»Ich danke dir, Fenja! Du musst nichts bereuen. Ich war so egoistisch und selbstgerecht. Ich habe dich zu Unrecht so lange zappeln lassen und wenn du mir verzeihen kannst, wäre ich sehr stolz und dankbar, dich als Managerin an meiner Seite zu wissen!« Freudentränen befeuchten meine müden Augen und ein riesiger Stein fällt von meinem Herzen. »Danke! Immer und immer wieder Danke, dass du den Mut hattest mir das jetzt noch zu sagen!« Ich möchte sie einfach festhalten und nie wieder loslassen. Das warme Gefühl, das mich durchflutet, ist so unbeschreiblich schön, dass der angestaute Sack Schuldgefühle von mir abfällt und mit einem lauten Krachen in der Belanglosigkeit verschwindet.

»Ich danke dir auch. Die Funkstille hat mich wahnsinnig gemacht. Ich bin ohne dich doch nur ein halber Mensch.« Sie trocknet meine Tränen mit ihrem blassrosa T-Shirt und sieht mir freundlich in die Augen. »Pass auf: Du schreibst jetzt einen überragenden Test und ich nutze die vier Stunden, um uns ein herrliches Mittagsprogramm auf die Beine zu stellen. Schwamm drüber und Tränen trocknen. Jetzt kommt es auf dich an!«

»Ich habe dich nicht verdient!«

»Kann schon sein, aber ich bin ein harmoniebedürftiges Menschenkind mit einem Radar für reumütige Seelen und auch nicht unschuldig an dieser Misere, okay?«

»Nicht okay, aber jetzt der Test und dann die demütige Entschuldigungszeremonie.« Fenja schenkt mir ihr warmherziges Lächeln und gibt meine Hand zum Arbeiten frei. Energiegeladen und zutiefst dankbar bin ich mir meiner Sache nun absolut sicher…

240 viel zu kurze Minuten später setzte ich einen Punkt hinter den letzten Satz, schließe für wenige Atemzüge die Augen und klicke auf ›senden‹. Das war's. Jetzt habe ich es nicht mehr in der Hand und muss neun endlose Wochen auf ein Ergebnis warten, das über meine Zukunft entscheidet.

»Ich hoffe für dich, dass dieser Test unsere Eintrittskarte in die Riege der Schönen und Mächtigen ist, Frau Ministerin.« Fenjas breitem Grinsen kann man nicht widerstehen. Es scheint so einfach an alte Gewohnheiten anzuknüpfen, dass ich hoffe, dieses zarte Band nicht durch die nötigen Enthüllungen die Zwillinge betreffend zu gefährden.

»Ich auch.« Eine kurze und knackige Antwort, die absolut keine Rückschlüsse auf meine Geheimnisse zulassen sollte.

»Hast du Tam heute eigentlich schon gesehen?« Selbst ihre Direktheit habe ich vermisst. Und ja, leider kann ich ihn an solch einem Tag wohl kaum übersehen.

»Flüchtig«, antworte ich, »keine Ahnung, ob er von mir Notiz genommen hat, aber ich bin auch nicht sonderlich scharf darauf. Wollen wir gehen?« Ich packe meinen Rucksack und schiebe die Brille zurecht.

»Ich glaube, meine Liebe, du schätzt den guten Tam völlig falsch ein. Du bist ihm unheimlich wichtig. Es vergeht kein Tag, an dem er nicht nach dir fragt oder sich um dich sorgt.«

»Können wir das Thema später diskutieren und erstmal verschwinden? Ich habe keine Lust auf…«

»Roya?« Ich habe es geahnt und nun ist meine Ahnung real geworden. Tam muss direkt hinter mir stehen und plötzlich sind meine Füße wie angewachsen. Ich kann mich nicht bewegen, nicht klar denken, geschweige denn in einem menschlichen Rhythmus atmen.

»Oh Tam, wie praktisch, wir sprachen gerade von dir.« Fenja versucht einmal mehr den Flügelmann zu spielen und macht damit jeglichen Fluchtversuch unmöglich.

»Ach ja?« Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen diese Stimme einmal für zuckersüßen Honig gehalten zu haben. Er ekelt mich einfach nur an. In der Akademie sind wir uns in letzter Zeit so gut wie nie über den Weg gelaufen, da unsere Schwerpunkte sich nicht wirklich überschneiden. Hin und wieder bekam er meine kalte Schulter zu spüren oder musste gegen eine dicke Wand der Ignoranz reden. Ich habe ihn links liegen lassen, da seine falsche und durchtriebene Visage einem Tritt in die Magengrube gleichkommt.

»Was gab es denn da so Spannendes auszutauschen, die Damen?« Deinen Charme kannst du steckenlassen, du…

»Ach Mädchenkram, du weißt doch, wie das ist, Geheimnisse über Geheimnisse. Du wirst absolut nichts aus uns herausquetschen können. Stimmt's, Roya?«

Fenjas Kupplerkünste in allen Ehren, aber ich werde mit diesem Typ nicht einmal Smalltalk betreiben. »Auch egal. Wie lief dein Test, Tam? Roya wird sicherlich eine Runde weiterkommen und na ja, solltest du das ebenfalls schaffen, dann…«

»Dann werde ich ihn auch in der Warte auf Abstand halten!«, unterbreche ich Fenjas überschwängliche Vorfreude und mache einen Abflug, ohne Tam auch nur ein einziges Mal ins Gesicht geblickt zu haben. Hoffentlich hat er es kapiert.

Für zwei Sekunden glaube ich tatsächlich, mein Plan würde aufgehen, als ich Fenja herannahen höre. Ihre übergroße Schultasche ist mit vielen unterschiedlichen Glöckchen geschmückt, welche ihren Auftritt stets geräuschvoll ankündigen.

»Warte, warte, warte!« Um uns nicht noch weiter zu entzweien, halte ich an und lasse sie zu mir kommen.

»Was?«, pflaume ich meine Freundin an. »Du hast keine Ahnung, wer Tam wirklich ist, also versuche bitte nie wieder, verstehst du, nie wieder uns beide zu verkuppeln!«

»Ich wollte doch nur…«

»Fenja, steht unser Mittagsprogramm?« Sie nickt. »Dann bring mich von hier weg und ich kläre dich auf.«

»Aber Tam…«

»Nix ›aber Tam‹! Wenn dir unsere Freundschaft noch etwas bedeutet, dann vergiss diesen Verräter und warte, bis du alle Details kennst.« Keine Widerworte.

»Ich dachte, wir machen einen kurzen Schlenker bei mir vorbei und bummeln dann in den Park. Mum wollte mich kurz sehen nach diesem Prozedere, wird aber sicher keine Besitzansprüche stellen, wenn du an meiner Seite bist.«

»Park klingt absolut perfekt«, entgegne ich und bin stolz, dass sie diesen Ort ausgewählt hat. Wir beide haben Fenjas erste Liebe und meinen besten Freund Tarik dort zum letzten Mal lebend gesehen und seitdem einen riesigen Bogen um die verschlafene Grünanlage gemacht. Was, wenn sie herausfindet, dass Tariks Mum im BePolar-Dschungel eine wichtige Rolle gespielt und ihren Sohn ebenfalls als Versuchskaninchen auf die Liste der ›friedlichen Revolutionäre‹ gesetzt hat? Ich werde diese Information noch ein wenig für mich behalten. Lügen, um einen geliebten Menschen zu schützen – kenne ich, kann ich, mache ich und belade mein Herz erneut mit schwerem Ballast.

»Bist du bereit für die hungrige Meute?« Fenjas Grinsen gefällt mir ganz und gar nicht.

»Welche Meute?« Doch die Frage erübrigt sich, als wir das Erdgeschoss erreichen und einen Blick auf den Schulhof erhaschen können. Ein Dutzend Vans mit ebensovielen Kamerateams lauert vor der Schule auf die herausströmenden Absolventen. Wie konnte ich das nur vergessen? Eliska hat exakt diese Situation mit uns wieder und wieder geübt, um uns einen Vorteil gegenüber den Mitschülern zu ermöglichen. Doch für mich wird es eher ein Spießrutenlauf. Kurzer Hand checke ich meine Frisur und säubere die Mundwinkel. Anschließend stecke ich das schlabbrige T-Shirt in die Jeans und binde meine Schleifen neu, um von den münzgroßen Löchern in den Schuhen abzulenken, die meine Ma so verabscheut.

Fenja beobachtet mein Tun mit einiger Skepsis und legt zu guter Letzt selbst Hand an. Im Nu trage ich einen lockeren Dutt und eine von Fenjas Ketten um den Hals.

»Jacke an!«, kommandiert sie und ich tue wie mir befohlen.

»Nicht zu nerdig mit Brille?«, frage ich die Expertin mit dem unterirdischen Modegeschmack.

»Nein, im Gegenteil. Das intelligentere Aussehen kann dir heute nicht schaden. Steh gerade und zeig dein nettestes Lächeln! Ich möchte die Katze sehen da draußen, nicht das Mäuschen!« Keine Sekunde zu früh ist meine Wahlkampfmanagerin in spe an meiner Seite aufgetaucht, um mir die Haut zu retten. Das wird ein riesen Spaß!

Tag 242

»Liebe Schüler, heute habt ihr hoffentlich eine weitere wichtige Stufe auf der Leiter des Lebens erklommen und wusstet die mannigfachen Fähigkeiten, welche die Akademie euch angeeignet hat, einzusetzen. Ich bin sicher…« Ja, ja, sicher ist nur der Tod, aber quatsch ruhig weiter, du eingebildeter Gockel. Die Art, wie Moreno selbstgefällig auf der Bühne der Akademieaula auf und ab stolziert, geht mir mächtig auf den Zeiger. Er tut gerade so, als seien unsere Fortschritte ganz allein sein Verdienst und wir sollten ihm die Designerschuhe küssen, um unsere tiefe Dankbarkeit ausdrücken zu können. Lackaffe! Ich hasse ihn mehr als irgend jemanden sonst auf dieser Welt. Er ist nicht nur mein Dozent, der Unfehlbarkeit von seinem hohen Roß herunterpredigt, sondern hat meine Schwester verführt, in düstere Machenschaften hineingezogen, sie geschwängert und nicht verhindert, dass sie in dieser Nacht am Bahnhof einsam und allein stirbt. Es ist so verdammt ungerecht. Ich habe keine Beweise für seine Mitschuld und vermutlich gibt es auch keine, aber die Tatsache, dass er Frau und Kind allein in ein Auto steigen ließ, werde ich ihm nie verzeihen. Der ach-so-beschäftigte Doktor der Neurowissenschaften – ha, Pustekuchen. Nacht für Nacht ertrage ich seine Visage, weil ich es besser weiß. Zieh dich warm an ›Entin‹, denn ich werde dich früher oder später mit deinen eigenen Waffen zu Fall bringen.

»Fräulein Navrotilova und ihr Team haben den Nachmittag damit verbracht, eure Interviews auszuwerten und sind nun bereit für eine kurze Präsentation. Ich übergebe das Wort.« Oh verdammt! Mir war es gerade gelungen, meinen ersten Kameraauftritt nicht mehr pausenlos im Kopf abzuspulen, um die Patzer wieder und wieder zu durchleben. Mein Groll gegen Valentin Moreno fühlt sich um einiges angenehmer an als dieses beklemmende Gefühle einer sich nahenden Panikattacke. Gut, ›angenehm‹ ist vielleicht das falsche Wort, schließlich kommt mir beim bloßen Gedanken an dieses Schwein die Galle hoch, aber ich bewege mich auf bekanntem Terrain und muss nicht im Trüben fischen. Wie wird es sein, das eigene Gesicht vor der ganzen Schläferklasse zu entblößen? Werden sie lachen? Mich vorschnell in eine Schublade schieben? Keine Ahnung. Warum müssen wir diese Interviews überhaupt im großen Auditorium durchgehen? Ein Einzelgespräch hinter verschlossenen Türen wäre doch sicher produktiver, oder nicht?

»Meine Damen, meine Herren, zuerst möchte ich ein zaghaftes Lob anbringen.« Okay? Das kam jetzt unerwartet. Unsere vielgeschätzte Dozentin für Stilsicherheit, die Königin der Etikette und die wohl bestgekleidete Frau Polars, schenkt uns ein stolzes Lächeln. Monatelang hatte sie uns über den Lauftsteg gejagt, die Haltung korrigiert, uns klar gemacht, wie tiefbegabt wir sind und uns gedemütigt. Wir alle wussten, dass sie aus einem Haufen hässlicher Entlein Schwäne machen wollte und wir haben ihr diese Aufgabe nie leicht gemacht.

Sie klatscht ein paar Mal verhalten und sehr grazil in die Hände, bevor sie den weißen Lederminirock glatt streicht und ihre Rede fortsetzt.

»Als sie im letzten Sommer zum allerersten Mal in meinem Unterricht saßen, sah ich dieses Projekt mit jedem ihrer peinlichen Auftritte mehr und mehr scheitern. Zu aufgesetzt, zu trampelig, zu arrogant, zu gelangweilt – eine endlose Liste an Fauxpas, auf denen ich allwöchentlich herumreiten musste, um sie in die richtige Bahn zu lenken. Heute sehe ich acht junge Leute vor mir, die auf unterschiedliche Weise genau richtig sitzen auf ihrem Stuhl.« Ihre ernstgemeint rührige Rede geht auch an mir nicht spurlos vorbei und als ich meinen Blick über die Köpfe der Mitschüler kreisen lasse, sehe ich in viele glasige Augen und grinsende Gesichter.

»Taranee – so selbstsicher und ehrgeizig. Ebba – so gerecht und hartnäckig. Lana – liebevoll und kreativ. Roya – stark und selbstlos. Sehen Sie sich nur an – zu mir brachte man schüchterne Mädchen und verzogene Gören, heute sind Sie alle mehr Frau als so manch eine in wichtigen Ämtern.« Erneut applaudiert sie und treibt uns die Röte ins Gesicht. Sogar die Jungs klatschen Beifall. In wenigen Wochen werden sich unsere Wege auf unbestimmte Zeit trennen. Wer weiß schon, wie viele Schläfer es in die Reihen der Eleven schaffen? Wer weiß schon, ob überhaupt einer unserer Klasse bis in den Regierungspalast gelangt? Wer weiß schon, was uns nach der Akademie erwartet? Einmal mehr wird uns allen bewusst, dass auch diese anstrengende und doch so kostbare Zeit bald zu Ende gehen wird. Anfang Juni erhalten wir die Testergebnisse und dann trennen sie die Spreu vom Weizen. Jeder wird zum Einzelkämpfer, jeder muss seinen eigenen Stiefel finden und jeder die liebgewonnenen Freunde vergessen, Freunde, aber auch Gegenspieler.

Tam beobachtet mich, seit wir in der Aula Platz genommen haben, und erhält nun endlich die geforderte Aufmerksamkeit. Eliska nannte mich stark und genau diese Stärke lässt mich seinem Blick standhalten. Seine Augen scheinen mich zu verschlingen, meine schicken ihm Kälte. Er möchte an die schönen Momente anknüpfen und ich verspüre nichts als Verachtung. Im Grunde genommen hat er mir nichts getan und möglicherweise ist eine Verkettung dummer Zufälle der Grund für Tristans Verschwinden, aber daran kann ich derzeit nicht glauben. Ich weiß nicht, warum alle Welt in ihm den Sunnyboy sieht und sein wahres, soziopathisches Ich verborgen bleibt. Ich weiß nicht, ob ich ihn je wieder mit anderen Augen betrachten kann.

»Kuno – so strahlend und fesselnd. Berd – so klug und kompetent. Sly – der warmherzige Illusionist. Tam – der strategische Schwiegermutterliebling.« Da, schon wieder. Immer ist er der Gute, Schöne, Nette, Kluge… Und weil er auch noch Gedanken lesen kann, grinst er mich jetzt dämlich an. Eineiige Zwillinge sind eine Naturkatastrophe, die die Menschheit nicht gebraucht hätte. Die Ähnlichkeit der Brüder macht es mir unnötig schwer. Sein Äußeres lässt Gedanken in mir wach werden, für die ich mich schäme, und das charmante, wenn auch falsche Lachen, bringt mich um den Verstand. Es ist so anstrengend. Ich möchte mich in diesen blauen Augen verlieren, aber es sind die falschen. Ich wünsche mir die Wärme dieser Hände, doch sie werden sich kalt anfühlen. Ich sehne mich nach diesen Lippen, gehörten sie doch nur einem anderen.

»Jetzt möchte ich Sie nicht weiter auf die Folter spannen und zum eigentlichen Grund der heutigen Sitzung kommen.« Danke! »Aus unterschiedlichen Teilen des Landes konnten wir Aufnahmen der Fernsehteams ergattern, um jeden einzelnen Kandidaten etwas genauer unter die Lupe zu nehmen und Tipps für Ihre zukünftige mediale Arbeit zusammentragen. Ich werde nun den ersten Beitrag einblenden und erwarte auch Ihr Feedback.« Bitte nicht ich! Bitte nicht ich!

»Entschuldigung, dürfte ich Sie um ein kleines Statement bitten?« Die Kamera fängt eine herannahende Kleingruppe ein und ich verkrieche mich in meinem Sessel. Im Hintergrund ist klar und deutlich die Aufschrift: ›Gesamtschule NW/74‹ zu erkennen, bevor die Gesichter der beiden Mädchen im Vordergrund auf scharf gestellt werden.

»Selbstverständlich ist meine Freundin Roya offen für all Ihre Fragen.« Fenja schubst mich geradezu in die Arme des Journalisten und mir bleibt nichts anderes übrig, als in die Rolle der perfekten Elevin zu schlüpfen.

»Roya also«, entgegnet der schlaksige junge Mann mit schwarzem Poloshirt und Mikrofon. »Freut mich!« Ich nicke ihm höflich zu und rücke die Brille noch einmal gekonnt zurecht. »Wie fühlen Sie sich nach den Strapazen der letzten Stunden und können Sie bereits Aussagen über ihre Ergebnisse machen?« ›Im Gedächtnis bleiben, Interesse beim Zuschauer wecken, echt sein.‹ Eliskas Worte dröhnen so prägnant in meinen Ohren, dass es ein Leichtes ist, die geübten Floskeln überzeugend anzubringen.

»Verraten Sie mir Ihren Namen?«, konterte ich selbstbewusst.

»Julius«, entgegnete der überraschte Pressemann, der keine fünf Jahre älter zu sein scheint.

»Also Julius.« Ich setze ein keckes Lächeln auf und spiele sämtliche weibliche Trumpfkarten gleichzeitig aus. »Ich habe Hunger, keine Ahnung, warum ich die Toilette im Schulgebäude übergangen habe und werde Sie eigenhändig erwürgen, sollten Sie die Löcher in meinen Schuhen zum Thema Ihres Beitrages machen.« Wenn du deinem Gegenüber sagst: ›denk nicht an rosa Flamingos‹, wird ihm natürlich genau dieses Bild durch den Kopf jagen. Wie erwartet rückte der Kameramann also meine Füße in den Fokus der Aufnahme und zwingt mich zum Handeln.

»Julius, ich hatte Sie gewarnt.« Die Kamera schwenkt auf mein Gesicht und ich deute belustigt einen Würgegriff mit den Händen an. »Da ich heute morgen nichts anderes als diesen zukunftsbestimmenden Test im Kopf hatte, fehlte mir die Zeit, meinem Spiegelbild auch ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Möglicherweise habe ich diese Vorgehensweise bereut, als Sie und Ihr Team auf einmal vor mir standen. Nun bin ich jedoch zu dem Entschluss gekommen, dass die Zeiteinteilung korrekt war und es in diesem Land wichtigere Dinge als oberflächliche Äußerlichkeiten gibt.« Julius findet seine Worte wieder, streicht sich die blonden, dünnen Haare aus dem Gesicht und bohrt nach.

»Was genau meinen Sie damit? Können Sie unseren Zuschauern etwas mehr Futter anbieten?« Boom – genau dahin sollte ich den Mediengeier lenken – check!

»Ungerechtigkeit, beispielsweise. Fehlende Aufklärung, politische Machenschaften, verschollene Gelder und zu viele Geheimnisse.« Ich setze zum Gehen an in dem Wissen, dass Julius die Verfolgung aufnehmen wird.

»Geht es auch etwas genauer, Roya? Inwieweit könnten Sie als Ministerin denn etwas gegen diese Problemchen unternehmen?« Ich drehe mich um, laufe rückwärts weiter und halte Blickkontakt zur Kamera.

»Ich kann doch noch nicht all mein Dynamit verpulvern. Ein wenig Vorfreude auf die Liveshows möchte ich den Leuten vor den Bildschirmen schon noch lassen. Man sieht sich. Ach, und Julius«, einen dummen Spruch zum Abschied und ich habe ihn an der Angel, »duzen Sie mich beim nächsten Mal, ich komme mir sonst vor wie eine alte Jungfer. Also dann, immer schön artig bleiben.« Ich klemme die Unterlippe zwischen die Zähne und winke verspielt, bevor ich Fenja unterhake und das Schulgelände auf kürzestem Weg verlasse.

»Whoohoo!« Kuno klatscht lauthals in die Hände und auch die anderen lösen sich aus ihren ernsten Posen.

»Roya, mit diesem Auftritt haben Sie ein bombensicheres Ticket in die nächste Runde ergattert und jeder Ihrer Mitschüler wird mir beipflichten, wenn ich Ihnen sage: Das war erst der Anfang! Von mir gibt es heute keine Kritik. Morgen schon wird Ihr Gesicht Teil der ersten Berichterstattung sein. Auf Ihren Spitznamen bin ich schon sehr gespannt. Fakt ist jedoch, die Regierung wird nicht sonderlich erfreut über diesen provokanten Auftritt sein. Zu unserem Glück ist jedoch genau das der Stoff, aus dem gute Fernsehshows gemacht werden. Glückwunsch zur Reifeprüfung. Sie sind unsere erste Dame im Regierungspalast, darauf verwette ich sogar meinen Allerwertesten.« Sie klapst sich mit einem Augenzwinkern auf den perfekt geformten Ar… und benennt das nächste Opfer.

Eine Stunde später haben wir alle Interviews durchgearbeitet und verlassen gestärkt die Aula der Akademie. Ein jeder konnte auf seine Weise glänzen und mit Charme, Klugheit oder Witz die Reporter neugierig machen. Die Dozenten haben gute Arbeit geleistet und selbst Moreno ist nach dieser Performance sein Eigenlob zu gönnen.

»Roya, bleibst du kurz stehen? Bitte!« Warum kann er mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wie deutlich muss ich noch werden? Ich möchte ihn nicht sehen, hören, riechen, was auch immer – ja, erst recht nicht schmecken!

»Was?« gehe ich Tam forsch an. »Ist es wichtig, ansonsten würde ich mich gern auf den Weg machen.«

»Ich möchte nicht, dass es zwischen uns so ist.«

»Ach, wie ist es denn zwischen uns?« Die Antwort warte ich gar nicht ab. »Ich kann es dir sagen: AUS! Ich war mit deinem Bruder zusammen, bevor er wie vom Erdboden verschwunden ist und daran bist du ja wohl nicht unschuldig.« Tam greift sich an den Hinterkopf und kneift die Augenbrauen überrascht zusammen.

»›Verschwunden‹ würde ich es nicht nennen.« Ich könnte ihm glatt eine scheuern.

»Ach nein? Wie ›nennst‹ du es denn, wenn ein Mensch unauffindbar ist und kein Lebenszeichen von sich gibt?« Keine Antwort, war ja zu erwarten. »Am Abend der Versammlung trugst du seinen Schal, seine Mütze, seine selbstgestrickten Handschuhe, um dich für ihn auszugeben und an mich heranzukommen.«

»Ja, schon, aber…«

»Aber? Ich höre?« Er will näherkommen, doch bleibt abrupt stehen, als ich meinen Wage-es-ja-nicht-Blick aufsetze, der wie eine Art Hypnose zu funktionieren scheint.

»Ich habe die Sachen meines Bruders genommen und mich verstellt, damit du mir endlich zuhörst. So gefährlich Tristan auch ist, ich würde ihm doch nie etwas anhaben. Dass er nicht wieder auftaucht, konnte ich nicht wissen, als ich ihn versetzt habe.«

»Hä, wie meinst du das?«

»Ich gebe zu, dass es eine linke Nummer war, ihm in deinem Namen eine Abfuhr zu erteilen.«

»In meinem Namen? Hast du deine Stimme verstellt oder was?«

»Nein, ihr habt bisher über Zettel unter dem Fußabstreicher kommuniziert und das ist nicht sonderlich schwer zu faken.« Mir brummt der Schädel. Warum sollte Tristan auf eine falsche Nachricht so heftig reagieren und gleich das Weite suchen?

»Was hast du ihm denn geschrieben, dass er jeglichen Kontakt zu mir über Nacht abbricht?«

»Liebster Tristan, dein Vater ist uns auf die Schliche gekommen und verlangt Tam zurück auf seinen Platz. Er hat gedroht dich wieder einzuweisen, bla, bla, bla…« Mein Hals schnürt sich zu, obwohl ich so vieles zu sagen habe. Ich möchte schreien, ihn schlagen, meine Haare ausreißen, auf den Boden stampfen und – die Zeit zurückspulen. Doch ich kann nicht.

»Das ist kein ›Bla-Bla‹, wie du es so schön bezeichnest. Du hast ihn in einer Nacht- und Nebelaktion aus der Stadt gejagt. Du bist unbeschreiblich. Wer weiß, wo er ist, oder…« Schlagartig verlassen mich meine verbliebenen Kräfte und ich halte inne, um nicht auf der Stelle ohnmächtig zu werden. Seit Wochen nagt die Ungewissheit an mir und nun ist ein pubertärer Eifersuchtsunsinn schuld an Tristans Verschwinden? Ich bin so rasend und verzweifelt doch weiß nicht wohin mit mir?

Tam nimmt meine Hand und zuckt nach hinten, als ich sie ihm schroff zurückschlage. Ist er jetzt völlig übergeschnappt? Nach dieser Aktion glaubt er doch nicht wirklich, dass ich Lust auf Zärtlichkeiten hätte?

»Sorry, ich konnte nicht wissen, dass er dich ohne Widerstand zu leisten einfach aufgeben würde. Ich könnte das niemals!« Das ist doch die Höhe. Ich atme tief ein und aus, damit ich mich nicht vergesse, und versuche in Zimmerlautstärke weiterzureden.

»Toll, ich fühle mich geschmeichelt. Wenn ich dir wirklich etwas bedeute, dann kannst du dich jetzt gleich mal damit beschäftigen, den Aufenthaltsort deines Lieblingsbruders zu finden. Das versuche ich schon seit über fünf Monaten ohne ein einziges Lebenszeichen. Ihm ist etwas zugestoßen. Das weiß ich einfach und deine Unschuld ist noch lange nicht bewiesen. Wir reden später.«

»Ich freu mich drauf.« KLATSCH. Meine Hand landet in seinem Gesicht und fängt sofort an höllisch zu brennen. Das war einfach zu viel. Er genießt es, der greifbare Baliette-Bruder zu sein, egal wie abfällig ich mich ihm gegenüber verhalte. Wäre er wirklich unwissend, könnte er sich vor Sorge wohl kaum freuen. Fenja hat mir von seinen Bemühungen, sich zu erklären, berichtet und auch davon gesprochen, wie unendlich traurig er ist mich verloren zu haben. Ich muss früher oder später mit ihm reden. Das habe ich meiner Freundin geschworen. Aber den Zeitpunkt bestimme ich und auch nur zu meinen Bedingungen. Für dumm verkaufen und auf meinen Gefühlen herumtrampeln lasse ich mir nicht. Nicht, solange ich noch einen letzten Funken gesunden Menschenverstand besitze und Tams trügerischer Masche zu widerstehen vermag.

Das Herz der Nation

»Komm rein und lass die Schuhe an. Elvis hat die Leinwand aufgebaut, um die Berichterstattung in voller Größe erleben zu können.« Fenja winkt mit dem umgebundenen Geschirrtuch wie das vorbildliche Hausmütterchen und verschwindet in der Küche, wenn man das zwei Quadratmeter große Loch neben der Eingangstür überhaupt so nennen kann. Vorerst bietet es mir einen perfekten Rückzugsort, um die Anspannung in der Luft erst mal wirken zu lassen. Alles erscheint mir immer noch wie im Nebel. Ich muss völlig von Sinnen gewesen sein, als ich meiner Freundin den heutigen Nachmittag zusagte in dem Wissen, dass ich mit Tam für mehrere Stunden im selben Raum sein werde. ›Arschbacken zusammenkneifen und durch‹ hat Fenja gesagt, ›Denn wenn du dich von seiner Anwesenheit einschüchtern lässt, wirst du ihn niemals zum Reden bringen‹. Recht hat sie.

»Fenja!« Dem Geruch nach zu urteilen, muss da dringend etwas aus dem Ofen, was ihr schnelles Verschwinden erklärt. Ich folge ihr auf leisen Sohlen, bleibe jedoch im Türrahmen stehen, um Tam und Elvis nicht auf mich aufmerksam zu machen. »Kommst du nochmal kurz?« Genervt schmeißt sie das Backblech mit den leicht angekokelten Kartoffelchips auf die Spüle und reißt sich das Handtuch vom Leib.

»Mist! Hättest du nicht etwas eher klingeln können? Dann wären die Dinger nicht so knusprig geraten.«

»Entschuldige bitte. Sie werden trotzdem hervorragend schmecken und sollte jemand etwas anderes behaupten, nehme ich alle Schuld auf mich.« Fenja kneift forsch in meine linke Wange und spricht zu mir wie eine Großmutter zur braven Enkelin:

»Feines Kind. Was wolltest du denn jetzt noch? Die fangen gleich an.« Da die Zeit drängt, muss ich ohne Herumdrucksen gleich zum Punkt kommen, was mir nicht sonderlich leicht von der Hand geht.

»Hast du mit Elvis geredet?«

»Wegen Tristan?«

»Psst, geht es noch lauter? Entschuldige, Fenja, aber die Angelegenheit ist wirklich heikel und Tam macht mir weiterhin Angst.« Meine Freundin zerrt mich vor die Haustür, um das Folgende nicht im Flüsterton erklären zu müssen.

»Tam ist an besagtem Abend gegen 23 Uhr wieder aufgetaucht und hat einen unauffälligen Eindruck gemacht. Auf die Frage, wo er so lange gesteckt habe, antwortete er, er sei noch bei seinem Vater gewesen, um den Zepho zu holen und da haben sie sich wohl verquatscht.«

»Den Zepho?«

»Ja dieses Dings, mit dem sie euch in die Akademie holen, deinen Traumfänger quasi.«

»Und Tam hat dieses Ding hier?«

»Ja, es sieht aus: Wie eine digitale Uhr, um die ein wirres Aluminiumgeflecht gesponnen ist – irre spacy!« Nun ja, immerhin ist das der Beweis dafür, dass Tam ganz offiziell seinen Platz wieder eingenommen hat. Was muss Telemachos nur für ein furchtbarer Vater sein, der den Verlust eines Sohnes einfach als gegeben hinnimmt und sie hin- und hertauscht, wie es ihm beliebt. Es sei denn – was, wenn er in die ganze Sache überhaupt nicht involviert ist? Immerhin nannte er Tam bei seinem richtigen Namen und das ohne Augenzwinkern. »Roya? Alles klar?« Fenja holt mich aus meinen Hirngespinsten.

»Somit wohnt Tam weiterhin hier. Wer ist dann bei Telemachos?«

»Keiner, er muss gerade einen Singlehaushalt führen.« Tam steht in der Haustür und das wohl schon eine kleine Weile. »Die Show fängt an.« Seine Hände sind in den Taschen der dunkelblauen Jeans verborgen und lassen den widerspenstigen Locken auf seinem schönen Kopf Raum zur Entfaltung. Er weiß, dass mich seine Haarpracht schnell um den Verstand bringt und kostet diesen Moment aus.

»Wieso hat dir dein Vater den Zepho gegeben? Eigentlich hatte den doch Tristan bis dato in Gebrauch?«

»Keine Ahnung. Ich habe ihm nach der Sitzung von Elvis erzählt und dass seine Bude derzeit der beste Ort ist, um mich in Ruhe auf die Tests vorzubereiten.«

»Ich gebe euch mal ein paar Minuten.« Fenja entflieht der negativen Spannung und lässt mich mit dem schlechtesten Lügner aller Zeiten im wahrsten Sinne des Wortes allein in der Kälte stehen.

»Du Mistkerl, du wolltest Tristan den Zugang zur Akademie verwehren, unfassbar! Wieso stellt dein Vater eigentlich keine Fragen? Ich kapier es einfach nicht.«

»Seit Rhea mich aus der Klinik geholt…«

»Ja, was auch immer sie da geritten hat.«

»Anderes Thema. Als deine Schwester mich befreite, hinterließ ich ein leeres Bett. Rafael hackte den Server des Krankenhauses, beantragte die Verlegung in eine offene psychiatrische Einrichtung in NW/68 und fälschte die Einverständniserklärung meines Vaters. Die Angehörigen dürfen da nur einmal im Monat aufkreuzen und na ja, selbst dafür fehlt Mister BePolar die Zeit.«

»Und weiter?«

»Nichts weiter. Tristan lebte als Tam bei Dad und nun ist Tam eben zu Elvis gezogen.

»Einfach so. ›Tam ist eben zu Elvis gezogen‹. Telemachos hat zwei Söhne, beide in Freiheit. Warum lässt du ihn glauben, es gäbe nur dich und Tristan sei in einer beschissenen Anstalt? Wie gestört bist du denn?«

»Vater war so fixiert auf Tristans Krankheit, dass wir ständig umziehen mussten, um die besten Ärzte des Landes aufzusuchen und keine Therapie unversucht zu lassen. Seit er bei BePolar die Führung übernommen hat, ist er ruhiger geworden. Er vertraut auf die Diagnosen der hiesigen Mediziner und versucht nicht mehr, den verlorenen Sohn zu ändern. Es ist besser so.«

»Warum sollte das besser sein? Für wen sollte das bitte besser sein? Er hat Tristan aufgegeben. Kein Besuch, kein Telefonat, kein Brief. Das ist nicht besser, das ist traurig.« Ich schüttle enttäuscht den Kopf und verschränke die Arme vor meiner bebenden Brust.

»Das hier ist mein Zuhause, Roya. Weißt du, wann ich zuletzt einen Ort so nennen konnte?« Nein. »Ich bin dankbar, dass Dad nicht umziehen will, ich bin dankbar, dass ich hier meine Schule beenden und leben darf, ich bin dankbar in deiner Nähe zu sein und ich bin dankbar, dass Tristan nun ein freier Mensch ist.«

»Ist er das? Frei?«

»Ich denke schon, ja. Er ist clever, weißt du. Er wird zurechtkommen und irgendwo neu anfangen. Das leidige Versteckspiel war keine Dauerlösung, weder für Tristan, noch für mich. Einer musste gehen und irgendwie hielt meinen Bruder hier nichts mehr.«

»Du lügst!« Tränen schießen mir in die Augen.

»Er hätte sich bei dir melden können, Roya. Er hätte sich bei Fenja, Elvis, Rafael, selbst bei Dad melden können, aber er ist gegangen. Lass es gut sein.« Er legt die Hand auf den Türknauf und sieht mich sehnsüchtig an. »Und jetzt möchte ich wirklich gern dein hübsches Gesicht im Fernsehen sehen. Komm!«

Ekel. Ich komme, aber nicht, weil du mich höflich darum bittest. Kein einziges Wort aus deinem Mund kann der Wahrheit entsprechen. Ja, Rafael und Rhea haben gemeinsame Sache gemacht und Tristan auf deinen Platz gesetzt. Deine EEG’s waren auffällig und jagten meiner Schwester Angst ein. Warum sollte sie dich also befreien? Es ergibt keinen Sinn. Es ergibt keinen Sinn, aber Fenja war dabei. Sie hat mit angesehen, wie Rhea dich vor ihrem Haus absetzte und nie wieder zurückkam. Wo ist der Fehler? Warum erkenne ich den Wald vor lauter Bäumen nicht. Vielleicht bin ich zu sehr damit beschäftigt, dich ignoranten Arsch nicht aus den Augen zu lassen? Vielleicht versuchst du schon wieder mich um den Finger zu wickeln, aber dieses Mal werde ich schlauer sein. Dieses Mal werde ich nicht allein sein und dieses Mal wird Tristan an meine Seite zurückkehren.

»Roya, komm endlich!« Fenjas Stimme dröhnt in meinen Ohren und holt mich aus den düsteren Gedanken. Die Zeit für Gerechtigkeit wird kommen, aber nicht jetzt und nicht hier. Also – Pokerface aufsetzen und ganz cool bleiben.

»Liebe Mitbürger und Mitbürgerinnen, es ist mir eine große Freude zum ersten und letzten Mal in meiner Amtszeit die zehnte Elevenauswahl in Polar für eröffnet zu erklären. Die nächsten Monate werden für die Kandidaten aufregend, kräftezehrend, atemraubend und unvergesslich – glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung.« Uns Vieren huscht ein Lächeln übers Gesicht, als die Präsidentin Centa Jünger aus dem Nähkästchen zu plaudern beginnt.

»Sie ist so irre sympathisch, findet ihr nicht?«

»Psst, jetzt kommen gleich Dumm und Dümmer, also freu dich später, Äffchen.« Elvis wirft Fenja einen Luftkuss entgegen und bringt sie auf liebevolle Weise zum Schweigen.

Das Bild zeigt den Ort des Geschehens nun in voller Größe und mir bleibt bei all der Pracht sichtlich der Mund offen stehen. Ein Saal, welcher nur aus Gold, Silber und Marmor zu bestehen scheint, strahlt so hell, dass die Protagonisten der Szene eine leuchtende Aura erhalten. Die großen Fenster tragen schimmernde Vorhänge und auf dem Boden ist die sternenförmige Karte unseres Landes in Stein gelassen. Präsidentin Jünger trägt zur Feier des Tages ein bodenlanges, dunkelblaues Kleid in schmalem Schnitt und hat ihr kurzes, dunkles Haar in Wasserwellen elegant zurechtgemacht. Die passenden Diamantohrringe lassen sämtliche Frauenherzen höher schlagen und der fehlende Ehering an ihrem Finger ruft Wunschträume bei den ledigen Männern hervor. Was für ein Anblick! Da ich erst seit einigen Monaten politisches Interesse zeige, habe ich öffentliche Auftritte unserer Landeschefin bisher nicht weiter verfolgt. Ihre maßgeschneiderten Blazer und die selbstbewusste Kurzhaarfrisur wirkten kompetent, die Ansprachen freundlich, aber bestimmt und ihr Beraterstab in der Lage, ihr unterstützend unter die Arme zu greifen. Das Bild, welches Präsidentin Jünger jetzt zeichnet, ist ein ganz anderes. Diese Frau ist zu Recht das Herz der Nation und es ist ein Jammer, einen solchen Glücksgriff nach sieben Jahren abzusägen, nur weil es die Gesetzgebung so vorschreibt. Bei uns zu Hause entbrennt in diesem Augenblick sicher wieder eine heftige Diskussion. Mama vergöttert unsere Anführerin und Papa steht auf Traditionen. ›Machthaber kommen nur auf dumme Ideen, wenn sie zu lange im Amt sind. Das hat uns die Geschichte gelehrt. Sieben ist eine bedeutende Zahl und genau die richtige Periode, um einer Führungsspitze Raum zum Entfalten zu geben, sie jedoch an unsere Gesetze zu binden.‹ Ich habe seinen Enthusiasmus nie verstanden.

»Guckt hin, jetzt kommt Leben in die Bude.« Elvis rutscht wie ein kleiner Junger, der auf ein Erdbeereis wartet, auf seinem Sessel nach vorn und stützt die Unterarme erwartungsvoll auf seine Oberschenkel.

»Frau Präsidentin, höre ich da einen leicht sarkastischen Unterton?« Ein winziger Mann in einem roten Anzug tritt nach vorn und lenkt die ›Rede ans Volk‹ in eine unterhaltsame Richtung.

»Ich schieß mich weg!« Elvis krümmt sich vor lachen und muss schließlich seinen Mund eigenhändig zuhalten, um uns die Show nicht zu vermiesen.

»Ach Ingmar, sei nicht zu Anfang schon so spitzzüngig. Ein wenig Ernsthaftigkeit zu demonstrieren kann nie schaden.« Der zweite Moderator mit nicht minder skurrilem Erscheinungsbild ergreift das Wort und sorgt bei Elvis erneut für abnormale Zuckungen.

»Johns prächtige Haartolle macht mich stolz. Ich liebe diese beiden Komiker wirklich aus tiefstem Herzen.«

»Woher soll man die kennen?« Tam hakt nach.

»Im Ernst?« Elvis setzt einen erschütterten Blick auf. »Ingmar und John? John und Ingmar? Die Brüder Selten aus der Freitag Abend Latenightshow ›Selten dämlich‹?«

»Psst!« Diesmal sorgt Fenja für die nötige Ruhe und sämtliche Augen heften sich erneut an die Präsentation auf der riesigen Leinwand.

»Ist schon gut, Sie haben ja recht, Ingmar. Ich möchte den jungen Leuten ungern kunterbunte Seifenblasen ins Gesicht pusten, wenn doch auf der Hand liegt, dass diese im Schein der Kamera kein gutes Licht werfen.«

»Frau Präsidentin, Sie sind ja ein richtiger Spaßvogel. Da Sie ab dem nächsten Jahr wieder etwas mehr Zeit haben, dürfen Sie sich gern die Freitagnacht frei halten und hin und wieder in unserer Show erscheinen.«

»Danke für das Angebot, John, ich behalte es im Hinterkopf.« Der schlaksige Mann, um die vierzig, streicht sich mit einstudierter Hand durch das gegelte Haar und grinst die Dame über seine gigantischen Brillengläser hinweg charmant an.

»Liebes Publikum vor den Fernsehern, Sie haben es alle gehört: Das Polarjahr wird für alle Beteiligten der Horror und für uns Zaungäste ein unterhaltsames Unterfangen. Am Ende kommen nur die Harten in den Garten, wie man so schön sagt, und ich kann es kaum erwarten, die ersten Eindrücke vom Auswahltest jetzt für uns zu öffnen. Ingmar, du bist an der Reihe.« Mit keckem Grinsen gibt er den Staffelstab an seinen Bruder weiter und flirtet dabei heftig mit der Kamera.

»Und da ist er schon, der heiß begehrte und schon tausendfach intim berührte…« Ingmar fummelt übertrieben in seiner rechten Hosentasche herum und für einen kurzen Moment überlege ich, ob diese Sendung auch wirklich jugendfrei ist.

»…gol-de-ne Drücker!« Ein circa zehn Zentimeter großer Fernsteuerungsstab kommt zum Vorschein und Centa Jünger klatscht den Gebrüdern Selten belustigt auf die Schultern.

»Oh wow, ein großer Moment für mich, glauben Sie mir. In meiner Zeit als Eleve hatte ich wahnsinnige Panik vor diesem unschuldigen Ding. Jedes Mal war er für den Rausschmiss eines Kandidaten verantwortlich, um schlussendlich die Finalisten zu krönen. Darf ich?« Ingmar gibt den Drücker wie eine Reliquie an die Präsidentin ab und beäugt sie mit hochgezogenen Augenbrauen. »Er fühlt sich gar nicht so angsteinflößend an. Wollen wir doch einmal sehen, wer heute Abend als Erster oder Erste am Drücker ist. Film ab.«

»Ingmar, ich glaube, wir können Feierabend machen, für den Unterhaltungsfaktor sorgt Madame schon ganz alleine.« John klemmt seinen kleinen Bruder unter den Arm und will gehen, als das Bild auf einem überdimensional großen Bildschirm zu flackern beginnt und Julius, der Pressemann, darauf erscheint.

»Hallo, Ingmar? John? Könnt ihr mich hören?« Auf Stichwort bleibt John stehen und dreht Ingmars Hinterteil ins Bild. Dieser zappelt wie ein gerupftes Huhn, befreit sich aber nach einigen Mühen aus der Umklammerung.

»Julius, du – hier – wirklich?« Ingmar zieht einen Geldschein aus der Sakkotasche und reicht ihn beleidigt seinem Bruder.

»Tja, Julius, er hat unsere Wette verloren.«

»Wette?«, fragt der junge Journalist.

»Ingmar hat das Taschengeld des ganzen Monats darauf verwettet, dass du nach einem Tag schlappmachst und den erfahrenen Kollegen das Feld überlässt. Du weißt schon, die zickigen Mädchen, die überheblichen Jungs und der ständige Druck als junger Mensch den Fernsehbossen zu gefallen… Umso schöner, dass du noch da bist und deine kleine Sammlung mit uns teilst.« Oh ja, langsam kann es mal losgehen.

»Danke für dein Vertrauen John. Ingmar, dir werde ich jetzt wohl beweisen müssen, wie wenig mich zickige Siebzehnjährige oder arrogante Machoteenager beeinflussen können. Frau Präsidentin, Sie sehen, nebenbei gesagt, heute Abend ganz zauberhaft aus.« Würg.

»Ach Sie Charmeur, fangen Sie schon an.« Sie lächelt peinlich berührt in die Kamera und drückt anschließend überdeutlich den ›Gol-de-nen Drücker‹.

Auf der Mattscheibe werden im Zeitraffer sämtliche Schulen des ganzen Landes eingeblendet und die Anzahl der Teilnehmer dazu notiert. Die Konkurrenz ist enorm, auch wenn mir das längst bewusst war und meine Nervosität steigt. Was, wenn Elsika mit ihrer Einschätzung völlig daneben lag und mein Interview dem Cutter zum Opfer gefallen ist. Nur die wahrlich spannenden Entdeckungen finden heute Abend Platz in der Show und erhalten die Chance, auch ohne passendes Testergebnis den Einzug in die Warte zu schaffen. Daumen drücken! Fenja greift meine Hand, um nicht an ihren Nägeln zu kauen, und im gleichen Moment stoppt das Bild, wird wie eine überflüssige Wand von Julius beiseitegeschoben und schafft Platz für seine Performance.

»Wenn das mal kein cooler Effekt war. Leute, ich prophezeie euch, dass heute die beste Realityshow aller Zeiten startet und ihr beide ein Teil davon werden könnt.« Elvis halluziniert, obwohl wir nicht mal Alkohol auf dem Tisch stehen haben.

Julius greift in ein überdimensionales Fischglas, welches aus dem Nichts aufgetaucht ist, zieht ein Foto heraus und schnipst es wie durch Zauberhand ins Sichtfeld. Nun wird ein todschicker Schulhof in Midden sichtbar und Julius steigt ins Foto, erhält ein Mikrofon vom Kameramann und lockt seinen ersten Interviewpartner zu sich heran. Ein unglaublich gutaussehender Kerl mit dunkler Surferfrisur, pechschwarzen Augen und einem Wahnsinnslächeln steht ihm nun gegenüber und genießt seinen ganz persönlichen Moment. Er trägt den Rucksack lässig über der Schulter und hat das rote T-Shirt mit V-Ausschnitt tief in die Jeans gesteckt, sodass wir das Spiel seiner stattlichen Bauchmuskeln darunter erahnen können.

»Whoohoo!« Es purzelt Fenja einfach so aus dem Mund. Als Elvis ihr daraufhin einen verachtenden Blick zuwirft, macht sie sich kurzerhand ganz klein und sucht Schutz an meinem starken Arm. »Stimmt's, er ist eine Wucht, Roya.« Sichtlich nervös wischt sie die Hände an ihrem gepunkteten Rock ab. »Kile, diesen Namen werden wir wahrscheinlich nicht so schnell vergessen.«

»Natürlich Fenja, aber es ist nicht nett, deinen Freund damit zu konfrontieren«, flüstere ich ihr ins Ohr und unterdrücke ein Lachen in der Hoffnung, die beiden Jungs nicht noch mehr vor den Kopf zu stoßen.

»Ach, der soll sich mal nicht so haben. Ich bin kein Hündchen an der kurzen Leine und darf doch wohl ein bisschen träumen.«