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Wenn du in eine liebevolle Familie hineingeboren wirst, in der es zu viele Geheimnisse gibt... Wenn du im Land der Zufriedenen aufwächst und die Fassade zu bröckeln beginnt... Wenn du zum Werkzeug der Revolte wirst, ohne es zu wissen... Wenn deine Liebe der nächtlichen Fantasie entspringt und es unmöglich scheint, die Grenze zwischen Wahn und Wirklichkeit zu erkennen... ...dann hast du eine vage Vorstellung, wie es sich anfühlt, tagtäglich in Royas Haut zu stecken.
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Seitenzahl: 487
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Impressum neobooks
Impressum
»BePolar«
Band 1 der »BePolarTrilogie«
Auflage 3
Text © Martha Kindermann 2018
An der Vogelweide 88, 04178 Leipzig
Coverdesign © Kurt Stolle, Martha Kindermann
epubli, ein Service
der neopubli GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
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Danke an mich.
Nee, Quatsch.
Dieses Buch widme ich allen Träumern da draußen und denen, die es noch nicht wagen, ihre Träume wahr werden zu lassen. Fangt einfach an und hört niemals auf damit!
Ich schließe die Augen und sauge die kühle Luft der Ungewissheit tief in mich ein. Die Blicke der anderen brennen auf meiner Haut und ich weiß, dass es jetzt kein Zurück mehr gibt. Verdammte Zwickmühle.
Meine zittrigen Finger krallen sich in die kalte Tischplatte, während ich versuche, aufzustehen. Leichter gesagt als getan, mit einem Stein in der Magengegend, der gut fünf Kilo auf die Waage brächte.
Ich fokussiere die Lichter der Stadt und versuche, den inneren Ballast mit purer Willenskraft zu zerschmettern. All die Orte, an denen ich gewesen bin, schießen mir durch den Kopf. All die Menschen, die ich getroffen und jene, die ich verloren habe, ziehen vor meinem inneren Auge ihre Bahnen.
Die Straßen sind leergefegt, die Bewohner der Stadt in ihre scheinbar sicheren Häuser zurückgekehrt. Es ist ruhig da draußen und es wird allmählich ruhig in mir.
Sobald ich den Mund aufmache, werde ich über mein weiteres Leben entscheiden. Schwanzeinziehen ist also keine Option. Ich werde das Wagnis wählen, das Unbekannte, das Tollkühne, die Gerechtigkeit und meine Liebe, für die sich das Abenteuer lohnt. Also schlucke ich die Nervosität hinunter und beginne mit vermeintlich starker Stimme zu den Anwesenden zu sprechen.
»Ich bin Roya«, Mist – schon fehlen mir die Worte, »Roth – also mein Nachname – aber das wissen Sie natürlich.« Atmen, denken, Atmen, reden – ganz einfach!
»Im letzten Sommer bin ich siebzehn Jahre alt geworden. Ich lebe seit meiner Geburt in NW/74 und gehe hier zur Schule. Im nächsten Jahr werde ich den Abschluss machen und im Anschluss, na ja, wohl das Schicksal herausfordern.« Ein Schmunzeln zeigt sich auf den Gesichtern der Zuhörer. Ich senke den Blick und rücke mit einem gekonnten Handgriff die Brille zurecht. Sie lächeln, also ist alles in Ordnung, oder? Meine Worte hören sich laut ausgesprochen so falsch an, so auswendig gelernt, so kalkuliert, so endlich, so absolut nicht nach mir. Mir, der grausten Maus unter der Sonne, deren Motto ›immer schön unauffällig bleiben‹ in Großbuchstaben auf ihrer Stirn prangt.
Als ich den Kopf hebe, sehe ich meinem Spiegelbild in der Fensterfront entgegen. Die braunen Haare hängen mir wirr über die Schultern und ich streiche sie langsam, aber bewusst hinter die Ohren. Die Maskerade muss halten.
»Meine Schwester Rhea war es, die mich hier her gebracht hat. Ich glaube sogar, sie hat mich überall hingebracht.« Da - schon wieder – woher nehme ich diese vorgefertigten Floskeln? »Sie lehrte mich, eine Schleife zu binden, da war ich erst vier. Sie nahm mich in den Arm, wenn ich Albträume hatte und sie gab mir den nötigen Arschtritt, sobald die Schulleistungen nachließen. Bitte entschuldigen Sie die Wortwahl.« Ich kann ein Schmunzeln nicht unterdrücken, obwohl mir die Tragik der Geschichte fast den Atem nimmt. Nahezu unbemerkt wische ich eine Träne aus dem linken Auge, als mir klammheimlich ein Taschentuch zugesteckt wird. Ich danke meiner Tischnachbarin für diese aufmerksame Geste, lasse das Geschenk jedoch in der Lederjacke verschwinden. Keine Zeit für sentimentale Ausbrüche. Du willst tough wirken – erinnere dich.
Die Gefühle sind wieder unter Kontrolle. Die innere Stimme auf lautlos gestellt.
»Ich bin unendlich dankbar für die Zeit, die sie in meinem Leben wirken konnte und ich bin gewillt, alles zu tun, um ihr Vermächtnis weiter zu führen. Sie glaubte fest an diese Sache und opferte schlussendlich ihr eigenes Leben, um der nächsten Generation eine bessere, gerechtere, menschlichere Zukunft zu ermöglichen.« Ich sollte mich möglicherweise als Verfasserin epischer Romane versuchen.
»Wird ihr Plan aufgehen? Werde ich es schaffen, ihre Erwartungen zu erfüllen? Kann ich der fehlende Stern am Polarhimmel sein? Ich weiß es nicht.« Ausnahmsweise die volle Wahrheit. »Aber wenn Sie mir ihr Vertrauen schenken, dann reiße ich mir verdammt nochmal den Arsch auf, um die Möglichkeit zu erhalten, etwas Außergewöhnliches zu erreichen.«
Dring, dring, dring. Ich öffne langsam ein Auge und starre den Wecker auf meinem Nachtschränkchen an. Ich hasse ihn. Es gibt nicht viele Dinge, die ich noch mehr verabscheue, als bügeln oder Möhren reiben. Aber an einem hellen, warmen Sommermorgen von diesem Drecksding geweckt zu werden, und das an meinem Geburtstag, ist doch wirklich das Letzte. Scheiß Schule. Manchmal vermiest sie einem alles. Es wäre viel angenehmer, einen solch wichtigen Tag im Bett mit Lesen und Herumgammeln zu verbringen. Ich brauche weder Geschenke noch Glückwünsche von Leuten, die mich sonst das ganze Jahr nicht bemerken. Morgen ist ein neuer Tag, der Wecker wird wieder klingeln und keinen wird mein voranschreitendes Alter interessieren. Wozu dann also der Aufwand?
»Roya, Liebling, alle warten auf dich!« Roya, Liebling, bäh, bäh, bäh... Am frühen Morgen ist die Stimme meiner Mutter schwer ertragbar, auch wenn sie es ja nur gut meint.
»Komme, Moment«, antworte ich und schlüpfe schnell in meine Opahausschuhe und den lachsfarbenen Flauschebademantel. Ach du schöner Bademantel, du erhellst mir den Morgen! In den Spiegel schaue ich nie zu so früher Stunde – hat sich irgendwie bewährt.
Im Erdgeschoss stehen meine Lieben und singen von Kuchen, die groß sind wie Mühlsteine. Papa hat einen in den Händen, der dieser Beschreibung beängstigend nahe kommt. Mama fließen die Freudentränen und Rhea hat ein winziges Geschenk unter dem Arm, klatscht im Takt und strahlt von einem Ohr zum anderen. Das ist meine Familie. Papa Roland Roth, Mama Roberta Roth, meine Schwester Rhea, na, wenn wir es genau nehmen, wohl eher Rhea Regina Roth und ich, Roya. Die Frage, wofür wir mit solch seltsamen Namen bestraft worden sind, stelle ich mir oft, aber überwiegend bin ich glücklich, dass ich Teil dieser tollen Familie bin.
Heute ist mein siebzehnter Geburtstag und ich bin aufgeregt, ein seltenes Gefühl. Mir kribbelt es unter den Fingerspitzen und ich tänzle auf den Zehen herum, bis ich das Geschenk öffnen darf. Es ist winzig und hellgrün eingepackt – meine Lieblingsfarbe. Ich nehme es entgegen und schaue es eine Weile an, bis ich beginne, es genüsslich auszuwickeln. Das kann bei mir schon eine Weile dauern, schließlich ist ein solch exquisites Geschenkpapier immer wieder zu gebrauchen. Eine weiße Schachtel kommt zum Vorschein, und als ich sie öffne, raschelt es. Oh wie spannend, ich will eigentlich gar nicht weiter auspacken, denn dann ist der herrliche Moment vorbei. Es liegt ein Schlüssel darin. Wir haben an jeder Tür im Haus solch einen Schlüssel. Was soll das? Ich bin verwirrt, glaube aber, genau darauf haben es meine Eltern angelegt. Was um alles in der Welt öffnet er?
»Na komm schon, planlose Roya«, meldet sich Papa und ich wackle ihm wie ein treuer Hund hinterher die Treppe hinauf bis zum Wäscheboden. Hier war ich gefühlt ein halbes Jahrzehnt nicht mehr. Der Geruch der Kammer steigt mir in die Nase, obwohl die Tür noch verschlossen ist. Sofort erscheinen die Bilder, wie ich mit Rhea zwischen den trocknenden Bettlaken Verstecken spiele und Mama wütend durch den Hausflur tobt. »Nun, du bist an der Reihe.« Papa zeigt auf die alte Holztür mit dem goldenen Schloss und wartet gespannt. Ich bin weiterhin verwirrt. Mama schluchzt und ich habe keinen blassen Schimmer, warum.
Na gut, ich drehe den Schlüssel im Schloss herum und bin sprachlos. Meine herzallerliebsten Eltern haben die Kammer in ein Traumland verwandelt. Die Decken sind mit dunkel- und hellblauen Chiffontüchern abgehangen, auf dem Boden liegt ein runder, flauschiger Teppich und unzählige Salzkristalllampen tauchen den Raum in ein warmes Licht. Ich schmeiße mich den beiden an den Hals. Mama schnieft und Papa meint:
»Wenn du aus der Schule zurück bist, werden auch deine Möbel den Weg nach oben gefunden haben.« Schule, musste er das erwähnen? Ade, ihr schönen Träume und willkommen, Realität.
Auf dem Schulhof angekommen, bemerke ich zwei mir bekannte Gestalten, welche mit dem Gesicht zu einem Baum stehen, und sehr geheimnisvoll tun. Die kleinere von beiden trägt einen blumigen Rock, grasgrüne Strumpfhosen mit Laufmaschen bis zum Knie und einen schwarzen Pullover. Die Kapuze hat sie zur Deckung tief ins Gesicht gezogen, sodass nur ein Insider die blonden Dreadlocks darunter zuordnen kann. Das andere zwielichtige Wesen mit den gebatikten Kordhosen, den unzähligen Piercings und einer Frisur, die einem explodierten Straßenköter gleichkommt, muss demzufolge das passende Gegenstück dazu sein. Fenja und Tarik, diese Pfeifen. Ich kann mir ein Grinsen nicht verkneifen. Es ist urkomisch, ihre Verschwörung zu beobachten. Als ich näher komme, suchen sie das Weite.
»Sportunterricht«, schreit Tarik und die Enttäuschung lässt mich erstarren. Haben meine beiden einzigen Freunde diesen wichtigen Tag nicht im Kalender vermerkt? Der siebzehnte Geburtstag ist quasi der letzte Schritt vor dem Erwachsensein. Ein Jahr voller fragwürdiger Entscheidungen bricht an. Aber nein, Sportunterricht ist alles, was ich zu hören bekomme. Toll! Warum hab ich mir heute keine Befreiung wegen Unterleibsbeschwerden geholt? Wäre eine gute Idee gewesen.
Ich renne den beiden hinterher und schaffe es gerade so vor dem Stundenklingeln in die Turnhalle. Es ist verdächtig still. Shit, in der letzten Schulwoche steht auch noch Leichtathletik auf dem Programm. Verdammter Mist! Es geht eben immer ätzender. Ich hasse an Leichtathletik einfach alles. Ich will nicht in eine Sandgrube springen oder irgendeine dämliche Kugel über eine Linie werfen. Wer braucht so etwas? Meine Laune ist im Keller und ich ziehe mir lediglich die Turnschuhe an und eile ins Außengelände. Den Gesichtsausdruck unseres Sportlehrers kann ich mir bildhaft vorstellen. Er ist ein Vorreiter seiner Berufsgruppe. Wenig trainiert, etwas zu alt für das Lehrerdasein und stets mittelmäßig gelaunt. Ich werde die volle Bandbreite seiner Emotionen zu spüren bekommen.
Es scheint, die Klasse habe schon begonnen und ich versuche, mich klammheimlich in die Reihe hinter der Sandgrube zu stellen. Mist, er ist doch nicht so blöd, wie er aussieht.
»Fräulein Roth, vortreten!«, ruft er in strengem Ton. Ich hasse mein Leben, ich hasse diesen Tag, die Gesichter der anderen und in diesem Moment am allermeisten meinen zurückgebliebenen Lehrer mit der grauenhaften Aussprache. »Roya, Sie sind doch schon wieder nicht pünktlich zum Unterricht erschienen. Letzte Chance für Sie, das Ruder in eine andere Richtung zu lenken. Bitte beginnen.« Ich würde ihn am liebsten Packen und ihm jedes seiner entsetzlichen Worte noch einmal in einer erträglichen Lautung diktieren. Aber dafür bleibt keine Zeit und ich laufe, innerlich kochend, auf ihn zu. Danke Freunde, dass ihr mich an meinem Geburtstag so hängen lasst.
Ich mache mich an der Startlinie bereit und warte auf das Signal. Der Vollpfosten nimmt seine quietschgrüne Trillerpfeife an den Mund und auf einmal stimmt die ganze Klasse ein Geburtstagslied an. Mein Lehrer macht sich vor Lachen wahrscheinlich gleich in seine Jogginghose. Sie singen das Lied mit dem großen Mühlsteinkuchen. Gibt es eigentlich keine Alternative für eine Siebzehnjährige? Egal, die Überraschung ist ihnen gelungen, auch wenn ich vor Scham beinahe in der Sandgrube versinke. Was mir nach dem Ständchen natürlich nicht erspart bleibt, ist die Ehre, die erste Springerin zu sein und wie erwartet, unterirdisch abzuschneiden. Manches ändert sich eben nie.
Nach neunzig Minuten Plackerei, zwei Stunden langweiligstem Biounterricht und einem Film über den Mondschatten bin ich die Erste, die die große Schultür hinter sich lässt. Mama hat eine kleine Party in unserem beschaulichen Garten mit einer beschaulichen Anzahl an Gästen geplant und ich möchte unbedingt Teil des Vorbereitungsteams sein.
Gegen siebzehn Uhr trudeln meine Großeltern, Cousins, Tanten und, dem Himmel sei Dank, auch Fenja und Tarik ein. Der Rest der Familie wohnt einfach zu weit entfernt, um für solch einen Anlass Zeit zu finden. Gut so.
Ich bin wunschlos glücklich, trinke Bowle, esse Papas herrliche Lammsteaks und diskutiere mit Fenja und Tarik die Sommerferienplanung.
Pünktlich Zweiundzwanzig Uhr kündigt Oma ihr Gehen an und läutet das Ende der Party ein. Kein Problem, ich bin vollgestopft bis oben hin und freu mich auf mein Bett in einem fantastischen Dachbodenzimmer.
Als alle aus dem Haus sind und die Küche wieder glänzt, sind genau dreiundfünfzig Minuten vergangen und ich bin hundemüde.
»Der erste Traum in einem neuen Zuhause geht in Erfüllung«, flüstert mir meine Schwester auf dem Weg nach oben ins Ohr. Na die ist gut, ich bin doch keine zehn mehr. Rhea hat mir verraten, dass es ihre Idee war, die Eltern zum Ausbau des Dachbodens zu überreden. Nicht ganz uneigennützig, wie ich finde. Sie darf das freie Zimmer zum Labor oder was auch immer umfunktionieren. Rhea studiert Medizin und möchte, wenn sie groß ist, Hirnforscherin werden. Ich denke, sie rettet irgendwann die Welt, das werde ich ihr nur oft genug sagen müssen. Sie ist ein tolles Vorbild, obwohl wir unterschiedlicher kaum sein könnten. Das geht schon beim äußeren Erscheinungsbild los: Ich komme optisch mehr nach meinem Vater. Die grauen Augen und das braune Haar habe ich von ihm, den großen Mund und die winzigen Ohren von meiner Mum. Dass ich so klein geraten bin, ist wohl auch ihr Verdienst. Rhea hingegen ist groß, blond, attraktiv und trägt die überdimensionale Nerdbrille nur, um ihre Klugheit zu unterstreichen. Sie war schon als Kind ein Überflieger und ist trotzdem stets ein nettes, sympathisches Mädchen geblieben. Das Einzige, was ich echt nicht ausstehen kann, ist ihr schrecklicher Geschmack, wenn es um Kleidung geht. Pastelltöne, Rüschen, Blusen und Strickjacken. Immer und überall Strickjacken. Wie eine alte Jungfer zieht sie sich an. Gut, dass sie als Ärztin zum Kittel tragen gezwungen ist, sonst würden die Patienten reihenweise aus den Zimmern flüchten und schlagartig genesen.
Mein Bett, es kommt immer näher. Papa hat es unter die Dachfenster gestellt und somit hängen die Tücher symmetrisch an beiden Seiten des Metallgestelles hinunter. Es sieht wunderschön aus. Es klopft und Rhea steht in der Tür.
»Ich habe dir noch gar nicht mein Geschenk gegeben«, platzt sie heraus, holt ein großes dünnes, rundes Etwas hinter ihrem Rücken hervor und hängt es zwischen die Fenster über das Bett. Es vereinigt viele Blautöne in sich und ist mit schimmernden Perlen, Muscheln, abgerundeten Glasscherben, Federn und gedrehten Silberdrähten verziert. »Ein indianischer Traumfänger. Er fängt die guten Träume ein und lässt die Bösen durch.« Hübsch. Wenn man es dreht, bricht sich das Licht in den winzigen Glasstücken und funkelt magisch. Ich gebe meiner Schwester einen Kuss auf die Wange und schiebe sie dann aus dem Zimmer.
»Danke, das ist sehr lieb von dir! Doch nun muss ich ihn ausprobieren und dafür brauche ich Schlaf. Gute Nacht.« Ohne Widerworte schließt Rhea die Tür und überlässt mich der Dunkelheit. Ich schlüpfe schnell in Top und Buxe und krieche unter die Bettdecke. Es ist viel zu warm für Daunenfedern, aber ohne könnte ich kein Auge zu tun.
Ich lasse eine Weile den Blick durch die Kammer schweifen und stelle mir vor, was dieses Zimmer in den nächsten Jahren so erleben wird oder wen es vielleicht dulden muss. Schließlich habe ich nicht vor, alt und allein zu sterben. Ich ziehe die Jalousien an den Fenstern zu und erfreue mich an dem kleinen Spalt, der offenbleibt und das Licht der Straßenlaterne hinein lässt. Wenn ich mich jetzt in die richtige Position bringe, zaubert mein Traumfänger zarte Wellen an die Wand neben der Tür. So muss es unter der Meeresoberfläche aussehen. Ich mache die Augen zu und…
Tut, tut, tut… dieses dämliche Ding, ich werde es – wo ist mein Wecker hin? Wo ist mein kleiner, weißer Nachttisch mit den Perlmuttknöpfen hin? Wo ist alles hin? Wo bin ich?
Ich liege in einem sterilen Raum ohne Fenster und das Licht der Neonröhren brennt in meinen Augen. Die Matratze unter mir ist steinhart und das Kissen in eine Gummihülle geschlagen. Alles hier wirkt kühl und ungemütlich.
Rumms. Das klang, als sei jemand aus dem Bett gefallen.
»Keine Angst«, höre ich es aus der anderen Ecke des Zimmers, »das passiert mir öfter.« Ein schlaksiges Mädchen mit blondem Lockenkopf und unzähligen Sommersprossen kommt auf mich zu und streckt mir ihre Hand entgegen. Sie ist ungefähr in meinem Alter und wirkt sehr nervös. »Ich bin Caris, hi. Komm, ich nehme dich gleich mit.« Bitte was? Caris? Klingt irgendwie nach Zahnarzt. Und sie will mich mitnehmen? Wohin? Ich stehe vom Bett auf und sehe an mir herunter. Schrecklich! Wo sind meine Lederjacke, die viel zu großen Jeans und die durchgelaufenen Schnürstiefel? Stattdessen trage ich, genau wie Caris, einen schlichten, grauen Overall und weiße Sneaker. Meine Brille ist verschwunden und das Haar ungewohnt zu einem Dutt gebunden. Was hat sie nur vor mit mir? Muss ich auf einer Baustelle arbeiten und bekomme gleich noch Handschuhe und eine Schweißerbrille verpasst? Ich verspüre, ehrlich gesagt, nicht den Drang nach körperlicher Arbeit. Weiterschlafen, das wäre eine fantastische Idee! Viele Fragen sausen durch meinen Kopf, doch Caris zerrt mich weiter.
Im Handumdrehen stehen wir auf dem Gang. Ein ganzer Schwung Mädchen in weißen Sneakers läuft an uns vorbei und wir schließen uns dem Zug an. Die Kargheit unseres Zimmers setzt sich hier draußen fort. Keine Fenster, keine Pflanzen, nur tristes Grau und das künstliche Licht der Lampen. Einige Meter weiter erscheint eine Öffnung in der Wand und spuckt, im wahrsten Sinne des Wortes, schwarze Pakete aus. Bei näherer Betrachtung handelt es sich um schlichte Lederrucksäcke, die einem jedem Mädchen in die Arme geschossen werden, sobald es die Markierung vor dem Schlund passiert. Ich tue es den anderen gleich und hänge mir den Rucksack über die Schulter. Eine breite Flügeltür wird wie von Geisterhand aufgestoßen und lässt die Mädchen erstarren. Auf der gegenüberliegenden Seite der angrenzenden Halle geht eine identische Tür auf und gibt den Blick auf eine Horde Jungs in grauen Overalls frei. Die beiden Gruppen begrüßen sich mit einem Kopfnicken und warten.
In der Mitte des unendlich hohen Raumes wird ein großer Kreis sichtbar, welcher sich langsam in Bewegung setzt und wie ein Ufo abhebt. Alle rennen los um einen Platz auf der fahrenden Scheibe zu ergattern und ich muss wohl oder übel mit. Fahrstühle sind normalerweise nicht so mein Ding – zu eng, zu ausweglos, zu undurchdringlich, aber das hier hat etwas Aufregendes. Ich nehme Anlauf und hechte hinter Caris auf den fliegendenTeppich.
Mittlerweile sind fünfzehn Jugendliche aufgesprungen und blicken dem Kommenden entgegen. Was geschieht hier? Ich spüre einen kalten Luftzug und über uns erscheint ein rundes Glasdach. Diese Muster kenne ich – ich kann sie nur nicht zuordnen.
Die Scheibe stoppt. Ich schwanke, doch halte mich gerade so am Boden, ohne peinlich aufzufallen. Hier oben duftet es nach Mandelbäumen und durch die unterschiedlich getönten spitzen Fensterscheiben, welche die Dachkuppel zieren, kann die Sonne ein wunderschönes Farbenspiel auf den weißen Untergrund zeichnen. Über eine geländerlose Brücke gelangen wir in ein gläsernes Zimmer und verteilen uns unaufgefordert auf die vorhandenen Tische, welche in zwei Halbrunden aufgestellt sind. Caris und ich wählen die goldene Mitte und nehmen Platz. Sind wir in einer Art Schule? Das wunderbare Licht und der herrliche Duft deuten nicht im Geringsten darauf hin und doch blicken die Jungs und Mädchen so erwartungsvoll drein, als stehe die Zeugnisausgabe bevor.
Ich nehme ein leises Surren wahr und schon erscheinen an der gegenüberliegenden Seite des Raumes zwei kreisrunde Löcher im Boden.
»Wie viele von diesen fahrenden Dingern gibt es hier noch?«, frage ich meine Banknachbarin und lehne mich vorsichtig zu ihr hinüber.
»Das war es dann, glaube ich, aber sieh hin, diese Gestalten werden darüber entscheiden, ob dein Aufenthalt hier der Himmel oder die Hölle für dich wird.« Ich schaue sie entsetzt an und wage es kaum, meinen Blick ins Unbekannte zu richten. Zur Linken erscheint eine Frau um die fünfundfünfzig mit weißem Kittel und Klemmbrett unter dem Arm. Ihre Frisur ist mehr als merkwürdig und sie trägt eine kleine goldene Brille an einem Band um den Hals. Müsste ich sie mit einem Tier vergleichen, wäre es wohl ein schwerfälliges Tapir mit Sehbehinderung. Auf der rechten Seite steht ein großer, sportlicher Mann mit stechend blauen Augen, einer braunen Haartolle und einem unwiderstehlichen Lächeln. »Valentin Moreno. Ist er nicht hinreißend?« Ich glaube, Caris läuft ein wenig Spucke aus dem Mund. Er ist vielleicht Anfang dreißig, trägt ein weißes Poloshirt mit aufgestelltem Kragen und sieht im Kittel einfach umwerfend aus. Möglicherweise tropft auch mir der Zahn. Ältere Männer haben mich noch nie interessiert, aber eine kleine Schwärmerei sollte erlaubt sein.
Als die ganze Gruppe zu tuscheln beginnt, erwachen wir aus unseren Träumen. Der Typ hebt die Hand und es wird mucksmäuschenstill.
»Guten Morgen die Damen«, begrüßt er uns. Alle kleben an seinen Lippen. »Einige von euch sitzen das erste Mal in unserem Atelier und erhoffen sich sicherlich aufschlussreiche Erklärungen.« Das kann man wohl sagen. Die fahrenden Scheiben, die fehlenden Fenster und vor allem diese Veranstaltung schreien es geradezu heraus. »Willkommen den Ministern von morgen.« Ja klar, genau so hab ich mich immer gesehen. Ich, das nette Mädchen von nebenan in einem klassischen Kostüm, mit spießigem Dienstwagen und Chauffeur – noch ein Witz? »Meine Kollegen und ich beschäftigen uns seit langem mit der Auswahl der richtigen Kandidaten für eine unkonventionelle Studie. Ein wissenschaftliches Pilotprojekt in dem ihr optimal auf den Kampf um die begehrten Sitze im Regierungspalast vorbereitet werden sollt. Ihr arbeitet massiv an euren Soft Skills und wir versprechen euch einen Platz an der Tafelrunde. Dies wird euch alle Kraft und Nerven kosten, aber glaubt mir, uns auch.« Sein Lächeln ist wahrlich ansteckend. Die meisten der anderen sehen verdattert in die Runde. Einige geben sich ein High five und der Rest träumt weiterhin von einer verlassenen Bank im Mondschein an der Seite von Herrn Mo-re-no.
»Frau Prof. Dr. Pfefferhauser wird euch nun einen kurzen Einblick in den künftigen Stundenplan geben.« Die Dame im weißen Kittel scheint abwesend und starrt auf die Brücke hinaus. »Adaliz, alles in Ordnung?« Moreno geht einige Schritte auf sie zu. Sie zuckt, schüttelt ruckartig ihren Kopf und schaut ihn treudoof an.
»Entschuldigung, wie bitte?«, bringt sie ihm mit ihrer unerwartet tiefen, kratzigen Stimme entgegen. Er flüstert ihr etwas ins Ohr. »Ja gut«, die Professorin hustet, als hätte sie gerade zwei Schachteln Zigaretten geraucht und beginnt ihren Text monoton abzuspulen, ohne dabei Punkt oder Komma zu verwenden.
»Mein Name ist Frau Prof. Adaliz Pfefferhauser und ich werde bis zum Ende Ihrer Zeit hier die Ausbildungsleiterin sein, nicht Ihre liebe Freundin, bei der Sie sich ausheulen können, dazu haben wir kompetentes Personal, sondern Ihre Ausbildungsleiterin. Ich unterrichte Psychologie und Mentalismus und erhoffe mir herausragende Leistungen.« Bei diesen Worten setzt sie ihre kleine, goldene Brille auf die Nase und nimmt das Klemmbrett zur Hand. »Analytisches Denken, Konfliktlösung, Politikwissenschaft, Geschichte, Rhetorik, Nahkampf und Stilsicherheit – diese Kurse werden den Großteil Ihrer kostbaren Zeit fressen.« Klingt doch super spannend – Kampftechnik, Hammer! Das Wort ›Rhetorik‹ verursacht hingegen erste Ekelpickel um meine Mundpartie, natürlich nicht im wörtlichen Sinne. Die Kunst des freien Sprechens habe ich noch nie gut beherrscht. Ich lasse die Worte lieber so herausfließen.
»In Ihren Rucksäcken befindet sich ein Tablet mit Ihrem Zeitplan, welches stets zu den Unterrichtseinheiten mitgebracht werden sollte. Die Geräte sind personalisiert und somit nur von ihrem Besitzer in Gang setzbar, verstanden?« Die Klasse nickt. »Ein vierstufiger Gong wird Sie an das erste Treffen mit unserer ›Guten Seele‹ Fräulein Hammerschmidt in der großen Halle erinnern und ich bitte um Pünktlichkeit. Sie wird alles Weitere erklären und Ihnen die Räumlichkeiten des Hauses zeigen. Danke.« Sie klemmt ihre Aufzeichnungen unter den Arm, setzt die Brille von der Nase und grinst Herrn Moreno künstlich an, als erwarte sie ein Dankeschön für ihre Ansprache – vergeblich.
»Willkommen in der Akademie und eine gute Zeit!« Das sind Morenos letzte Worte, bevor die Fahrstuhlscheibe die Beiden im Boden verschwinden lässt. Akademie? Vierstufiger Gong? Wann? Wo? Meine Mitschüler springen beinahe panisch auf und verlassen das Atelier. Da ich keinen blassen Schimmer habe, was als Nächstes zu tun ist, folge ich der Meute unauffällig. Das Ufo setzt sich in Bewegung und das Signal erklingt.
Dring, dring, dring. Stopp, das waren nur drei Stufen und sie hörten sich auch nicht nach einem Gong an – eher wie ein – Wecker! Ich richte mich ruckartig auf und streife mit dem Kopf die Federn des Traumfängers über meinem Bett. Was für ein skurriler Traum. Ich reibe den Sand aus den Augen und fahre mir mit der Hand über den Nacken. Erholsamer Schlaf ist etwas anderes. Ganz benebelt steige ich in meine Hausschuhe und rutsche auf den Fußboden. An Aufstehen ist noch nicht zu denken, also genehmige ich mir ein paar Sekunden Ruhe. Ich schließe die Augen, konzentriere mich auf die Atmung und lasse die weichen Haare des Teppichs durch meine Finger gleiten. So lebhaft hab ich noch nie geträumt. Gut, dass ich nicht abergläubisch bin, sonst würde ich Rheas Worten womöglich Glauben schenken, was die Erfüllung des ersten Traumes im neuen Bett angeht.
Ich drehe den Kopf zu beiden Seiten, um die Nackenmuskulatur wieder in Gang zu bringen, klopfe meine Wangen wach, ziehe frische Sachen an, drehe einen Knoten in die Haare und schnappe die Schultasche – startklar.
Papa sitzt bereits am Frühstückstisch und liest die Zeitung. Mama bringt die Kanne und gießt ihm seinen zweiten Kaffee ein. Rhea ist natürlich schon ins Krankenhaus gefahren. Hier ist alles beim Alten. Für mich ist es immer eine Überraschung, sie mal beim Frühstück anzutreffen. Entweder schiebt sie Frühdienst oder ist noch in der Nachtschicht und lässt sich nicht blicken.
Ich mampfe mein Müsli und starre aus dem Fenster. Es hat in der Nacht etwas geregnet und nun zieren Nebelschwaden die Felder hinter unserem Haus. Wenn ich diese Szene noch eine Weile beobachten könnte, würde sicher ein Reh vorbeilaufen. Doch es ist Mittwoch und diese Tatsache räumt mir leider nicht mehr Zeit ein als an den restlichen Tagen der Woche.
Nach dem Zähneputzen belege ich mir flink ein Brot und gebe meinen Eltern einen flüchtigen Kuss. Fenja wartet bestimmt schon an der Ecke, denn sie ist im Gegensatz zu mir immer sehr pünktlich.
Wir schlendern die Straße vor bis zum Rathaus und setzen uns an der Bushaltestelle vor der Schule auf eine alte Bank. Sie hat nicht mehr alle Latten und man muss höllisch aufpassen, um sich keinen Schiefer einzuziehen. Gleich wird der Bus vorfahren und den alltäglichen Trubel ins Rollen bringen. Wir genießen die Ruhe vor dem Sturm. Das machen wir schon seit der siebten Klasse so. Jeden Morgen sind wir die Ersten hier und atmen gemeinsam die noch so jungfräuliche Luft des Tages. Keiner kann sie uns nehmen. Wir sitzen einfach nur schweigend nebeneinander. Heute muss ich diese Tradition allerdings brechen, um nicht vor Aufregung zu platzen.
»Letzte Nacht hatte ich einen irren Traum.« Bitte, Bitte, Bitte – lach mich nicht aus. »Ich war in einem riesigen Gebäude, welches sie ›Akademie‹ nannten, trug einen potthässlichen Overall und wurde zusammen mit vierzehn weiteren Freaks in einem gläsernen Zimmer belehrt. Ein extrem gutaussehender Lehrer erzählte uns etwas von ›Ihr seid die Auserwählten‹ und alle anderen schienen diesen Quatsch zu glauben.« Ich berichte ihr von Caris, Frau Prof. Dr. Adaliz Pfefferhauser und dem unfairen Fakt, dass ich heute Morgen viel zu früh aus dieser absurden Traumwelt gerissen wurde.
»Klingt ja irre, Roya. Ich wusste schon immer, dass du zu Höherem berufen bist!« Fenja boxt freundschaftlich auf meinen Arm und grinst wie ein Breitmaulfrosch. Sie verarscht mich – natürlich. Aber dieser Traum war so intensiv und nah. Ich habe immer noch den Duft der Mandelbäume in der Nase und spüre das weiche Leder des Rucksacks zwischen den Fingern.
»Wie sah der ›sexy Lehrer‹ denn aus?«, stichelt Fenja weiter. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, den perfekten Freund für mich zu finden und ist stets auf der Suche nach sachdienlichen Hinweisen meinerseits. Jetzt bekommt sie die Faust in den Arm und wir müssen beide anfangen zu kichern. Glücklicherweise unterbricht der herannahende Bus unser Gespräch, bevor ich rot werden und ihr peinliche Details verraten kann.
Heute ist ›Tag der Orientierung‹ und es haben sich unzählige Offizielle aus Midden in der Schule eingefunden, um uns unsere Perspektiven vorzustellen. Einmal im Jahr haben alle Schüler der elften Klassen die Möglichkeit, sich Vorträge anzuhören, an Workshops teilzunehmen oder sich zum Einzelgespräch mit einem der Zuständigen zu verabreden. Vor zwei Wochen waren uns bereits die Listen für die Anmeldung ausgeteilt worden und somit ist das heutige Programm keine Überraschung mehr. Ich höre zuerst eine Einführung in Soziologie und Sozialpädagogik. Sollte ich diese Veranstaltung unbeschadet überstehen, widme ich mich danach der Medizin und letztendlich der Kunst. Im Anschluss an das ganze Spektakel wird uns das Prozedere der bevorstehenden Elevenauswahl erläutert. Alle sieben Jahre haben wir ›Polarjahr‹, das politische Ereignis schlechthin. Ich gehöre zu den Glücklichen, die im kommenden Wahljahr genau das richtige Alter haben, um an den Auswahltests teilzunehmen. Das erzählt man uns zwar schon seit der Geburt, aber ehrlich gesagt habe ich mich nie für Politik interessiert. Zeit, das zu ändern, schließlich liegt, laut Moreno, genau da meine Bestimmung.
Eine vollschlanke Beamtin mit Schamhaarfrisur hat am Lehrerpult im Klassenzimmer der 11/1 Platz genommen und legt unzählige Broschüren von Hochschulen und anderen Ausbildungsstätten in Fächerform aus. Wir sind circa vierzig Schüler im Raum. Die Bänke wurden am Rand gestapelt und somit ist genug Platz für die doppelte Anzahl an Schülern. Vorwiegend Ökos und Leute mit chronischem Helfersyndrom sitzen mit Bleistift und Papier bewaffnet da und starren Löcher in die Decke. Die Ersten fangen an, künstlich zu husten, um der Dame in vorderster Front ein Startsignal zu geben – zwecklos – dass Gelassenheit zu den typischsten Eigenschaften einer Beamtin gehört, dürfte doch allen bekannt sein.
Ich öffne meinen Haarknoten und beginne kleine Zöpfe zu flechten. Sie werden nicht halten, doch sie vertreiben die Zeit. Eins ist sicher, in Morenos Unterricht könnte ich auf solche Spielereien getrost verzichten.
»Willkommen, liebe Schüler, zum Tag der Orientierung. Ich freue mich über Ihr zahlreiches Erscheinen und hoffe, Sie gehen nach diesen fünfundvierzig Minuten gut informiert in die nächste Veranstaltung.« Fünfundvierzig Minuten? Ihre einschläfernde Stimme klingt jetzt schon wie eine Einladung zum Wegnicken. Leider haben wir keine Tische vor uns, um ein kurzes Nickerchen zu halten. Das haben die so geplant, diese hinterhältigen Halunken. »Ich werde Ihnen die Notwendigkeit der sozialen Berufe verdeutlichen und Sie mit dem Begriff ›Berufung‹ vertraut machen. Nächstenliebe und selbstloses Engagement sind die ersten Stufen auf der Leiter zum Sozialarbeiter, Erzieher, Heilpädagogen oder Streetworker.« Der Text stammt aus einer Broschüre, welche sie im Anschluss austeilt. Entweder sie glaubt, wir seien des Lesens nicht mächtig oder ihr würde Nachhilfe in ›Rhetorik‹, wie Prof. Pfefferhauser so schön sagte, gut bekommen.
In der letzten halben Stunde stellt sie uns in mehreren Diagrammen die unterschiedlichen Berufsgruppen vor und fragt ab, für welchen Zweig wir uns interessieren. Ich für meinen Teil habe herausgefunden, dass ich so auf gar keinen Fall die nächsten fünfzig Jahre bis zur Rente verbringen möchte und spare mir jeglichen Kommentar.
Zwei Mitschülerinnen verabreden sich im Anschluss mit Frau – ich hab mir nicht einmal ihren Namen gemerkt – zu einem Einzelgespräch. Streber, schießt es mir in den Kopf. Die beiden Scheinheiligen aus der 11/5 werden sicher ihr gesamtes Geld den Armen spenden und abgeschieden in einer Waldhütte leben. Mir wird schlecht bei der Vorstellung von so viel Nächstenliebe und sozialem Engagement. Ha – es ist doch etwas hängengeblieben.
Ich schleiche mich auf den Gang und halte Ausschau nach Fenja und Tarik, welche sich der Philosophie hingegeben hatten. Ich entdecke sie, an eine Säule gelehnt und mit Broschüren bewaffnet.
»Und, wie war es? Habt ihr eure Wahl bereits getroffen?«, frage ich die beiden und blicke in vier verdrehte Augen.
»Ich hatte angenommen, das sei die Veranstaltung mit dem geringsten Geräuschpegel und der sicherste Ort für ein Schläfchen. Aber nein, Pustekuchen. Wir waren nur drei Schüler aus der 11/5, einer aus der 11/3, Fenja und ich.« Tarik greift sich an die Stirn und rauft seine Haare. »Dieser Typ hat uns die ganze Stunde Fragen über die philosophischen Tiefen der Welt gestellt und rundherum abgefragt. Ich bin fix und fertig und es ist noch nicht einmal neun Uhr.« Er täuscht einen Ohnmachtsanfall vor und fällt Fenja in die Arme, die ihn gerade noch halten kann. Herr Jakob, unser Klassenlehrer, gesellt sich zu uns und zieht ein ernsthaft besorgtes Gesicht.
»Ist mit Tarik alles in Ordnung?«, fragt er und sieht ehrlich betroffen aus.
»Ihm hat die Philosophie wohl ein wenig zugesetzt«, entgegnet Fenja, »aber er wird in zehn Minuten wieder völlig hergestellt sein, keine Sorge, Herr Jakob.« Beruhigt verschwindet er zur nächsten Schülergruppe und wir können uns vor Lachen kaum noch halten. Tarik sollte sich ernsthaft mit Schauspielerei beschäftigen oder zum Zirkus gehen – nur bitte keine Clownschule. Clowns finde ich gruselig. Die Mehrzahl von ihnen hat auch fernab der Manege eine rote Nase und man kann sie meilenweit gegen den Wind riechen – nichts für Tarik!
Die Pause ist um und alle Schüler verteilen sich neu auf die vorbereiteten Räume. Nächster Punkt: Medizin. Ein wenig in Rheas Hemisphäre hineinschnuppern. Dieser Beamte ist deutlich kompetenter und auch der Kunstworkshop kann sich sehen lassen. Ich bin trotzdem froh, dass ich nicht gleich morgen eine Entscheidung treffen muss, sondern noch ein paar Monate frei und ungebunden sein darf.
Ein Signal ertönt und alle Schüler werden in die Aula gebeten.
Wo sind nur die anderen? Ich warte eine Weile, bis der Gang fast vollständig leer ist. Als ich ein Kichern hinter der Säule vernehme, ist meine Suche beendet.
»Los, ihr Rumtreiber, eure Zukunft ruft. Macht euch bereit für eine neue ›Orientierung‹!« Doch Fenja und Tarik kommen mit gesenkten Gesichtern zum Vorschein.
»Roya«, Tarik hat sein lieblichstes Stimmchen aufgesetzt, »du Roya, wir haben heute aber gar keine Lust auf die Zukunft und wollen uns lieber an der Natur orientieren.« Wer kann diesen Hundeaugen widerstehen. Ich lasse mich also in den Bann der Faulheit und Trägheit ziehen und gehe mit den beiden in den Park. Auf zwei, drei Schüler mehr oder weniger wird es sicherlich nicht ankommen. Den ganzen Elevenkram erfahren wir schon noch früh genug.
Tarik hat, wie immer, eine Decke im Rucksack, also legen wir uns gemeinsam auf den Boden und starren in den Himmel. Kein Wölkchen ist zu sehen. Die Luft riecht nach Nichtstun mit einer frischen Brise Langeweile. Doch gleich wird Tarik uns mit einem seiner Einfälle vertraut machen und den Nachmittag verplanen. Bis dahin schließe ich für einen winzigen Moment die Augen und hole auf, was in der vergangenen Nacht zu kurz gekommen ist.
»Roya, fang!«
Ein Hacky Sack landet direkt neben meinem Gesicht. Ich bin eingenickt und habe einen nassen Fleck auf Tariks Decke hinterlassen. Geschieht ihm nur recht, immerhin muss ich gerade seinen Hacky Sack verkosten.
Ich öffne die Augen und will wütend aufstehen, als ich etwas entfernt zwei Gestalten erspähe. Ein Mann mit kurzem weißblondem Haar um die vierzig und ein Junge in unserem Alter, der mit hängendem Kopf hinterher dackelt. Sein Gesicht ist durch die dunklen Locken beinahe gänzlich verdeckt und macht den Anblick nur noch geheimnisvoller.
»Roya, schieß den Hacky wieder zurück!« Tariks Stimme schallt durch den ganzen Park. Die Leute gaffen zu uns rüber und für eine Sekunde sehe ich dem fremden Jungen genau in die Augen. Mein Herz macht einen kleinen Satz. Nicht schwach werden, Roya. Diese mädchenhaften Gefühle hast du sonst nie! Möglicherweise ist es auch nur die Neugier. Ich muss wissen, warum in aller Welt er überhaupt etwas in mir auslöst! Wer ist er? Wo kommt er her? Ist er lediglich ein Tourist auf der Durchreise? Wir haben eine Gesamtschule, welche er definitiv nicht besucht und wenn doch, dann müsste er just in der Aula sitzen, um sich zu ›orientieren‹.
Ich liege weiterhin in meinem Sabberfleck und muss ein skurriles Bild abgeben, wie ich zu ihnen hinüber glotze. Sie gehen weiter. Ich richte mich auf und schaue ihnen nach. Wer bist du? Meine innere Stimme sagt mir, dass ich es noch herausfinden werde. Schließlich sieht man sich immer zweimal im Leben.
»Träumst du? Gib jetzt endlich den Hacky her, du Schlafmütze!« Tarik kommt etwas genervt auf mich zu und ich gebe ihm den Gegenstand seiner Begierde. Wir kicken noch eine Runde und bummeln dann gemütlich nach Hause.
Meine Gedanken hängen an einem unbekannten Jungen aus dem Park. Hach, ein wenig Träumen ist ja wohl erlaubt. Immer nur das fünfte Rad an Fenjas Wagen zu markieren, kann nicht die Dauerlösung sein.
Die Eltern sind unterwegs und Rhea sicherlich bei ihrem mystischen Lover. Keiner hat ihn je zu Gesicht bekommen. Ich weiß nur, er muss ein netter Typ sein, denn er raubt meiner Schwester jede freie Minute. Vielleicht schalte ich irgendwann einen Detektiv ein, um ihn aufzuspüren, bevor wir ihn am Hochzeitstag auf den südlichen Inseln kennenlernen.
Ich hole einen Joghurt aus dem Kühlschrank und setze mich auf die Hollywoodschaukel in den Garten.
Keine zwei Minuten später schaut Rhea zur Terrassentür hinaus und beendet die Einsamkeit.
»Gute Idee«, sagt sie und setzt sich, ebenfalls mit einem Joghurt bewaffnet, zu mir. »Na, kleine Schwester, wie war deine erste Nacht? Bist du einem Prinzen begegnet und nun froher Erwartung, dass der Traum Wirklichkeit wird?« Sie blickt mich schelmisch von der Seite an. Ha, ha, Prinz, da muss schon noch ein bisschen mehr passieren als ein viel zu alter Lehrer in einer skurrilen Fantasieschule oder ein Unbekannter im Park.
»Nein«, antworte ich, »es ist alles ruhig geblieben, leider.« Nach Fenja's Reaktion heute Morgen habe ich ehrlich gesagt keine Lust, meine Erinnerungen mit einem weiteren Lebewesen zu teilen, um danach aufgezogen zu werden. Also lenke ich vom Thema ab und drehe den Spieß um. »Warum bist du heute nicht bei Entin? Hat er dich versetzt?«
»Na, hör mal!«, sagt meine Schwester mit künstlichem Entsetzen, »Darf ich nicht ein Mal eher nach Hause kommen, um Zeit mit dem Nesthäkchen zu verbringen?« Sie stellt ihren Joghurt ab und drückt mich fest an sich. Wir sind eigentlich beide zu alt dafür, aber ich habe diese Momente schon immer genossen. Es ist ein wahres Privileg, Rhea für mich zu haben. Sie ist elf Stunden täglich auf Arbeit und wenn sie nicht aus purer Bequemlichkeit noch zu Hause wohnen würde, käme sie vielleicht nur zu den Feierlichkeiten vorbei.
Wir schaukeln eine Weile vor uns hin und dann hole ich tief Luft und frage mutig drauf los:
»Entin, wie ist der so? Du hast ihn ja noch nie mitgebracht. Ich bin ehrlich gesagt ziemlich neugierig. Bist du so richtig in ihn verliebt? Wirst du ihn heiraten? Denn dann möchte ich ein grünes Brautjungfernkleid tragen, gut?« Rhea rutscht ein wenig zur Seite, dreht den Kopf zu mir und atmet tief durch.
»Das waren jetzt verdammt viele Fragen auf einmal, Süße.« Wahrscheinlich hat sie recht. Die meisten meiner Freunde haben niemanden, mit dem sie offen über Jungs oder Liebe sprechen können, bei uns beiden hat das schon immer funktioniert. Vielleicht ist auch das ein Grund, warum Rhea nicht auszieht. Ich würde es mir wünschen.
Sie nimmt mir den Joghurt aus der Hand und stellt ihn neben ihrem ab. Dann schnappt sie sich meine Hand und schaut mir tief in die Augen.
»Roya, ich werde nirgendwo hingehen und in den nächsten zwölf Monaten auch sicher nicht meine Umzugskartons packen, okay?«, sie wartet auf eine Reaktion. Was soll ich dazu sagen? »Ach Maus, Entin ist wirklich ein ganz, ganz lieber und ja, ich glaube, ich habe ihn sehr gern. Bis zum Ende der Assistenzzeit bin ich allerdings mit meiner Arbeit verheiratet und wahrscheinlich auch noch darüber hinaus. Du kannst also eine ruhige Kugel schieben. Das grüne Kleid werde ich schon nicht vergessen.«
»Und wann schleppst du ihn endlich mal hier an? Vor Papa brauchst du doch keine Angst zu haben, der ist froh, dass du auf Männer stehst.« Wir kichern und sie nimmt mich erneut in den Arm.
»Da kennst du Papa aber schlecht. Weißt du, was er mit Soto vor dem Abschlussball gemacht hat?« Ich schüttle nichtsahnend den Kopf. »Dann frag ihn bei Gelegenheit. Sollte er die Courage besitzen, dir die Wahrheit zu erzählen, wirst du meinen Entschluss verstehen, Entin, solange es geht, von ihm fernzuhalten.«
»Manno, jetzt hast du mich noch neugieriger gemacht. Stell ihn mir wenigstens vor. Ich könnte nach der Schule rein zufällig im Krankenhaus auftauchen und dann…«
»Dann wird er wie immer beschäftigt sein«, schneidet sie mir das Wort ab. »Er leitet ein Forschungsprojekt von unvorstellbarer Wichtigkeit und kann sich keine Auszeit erlauben.«
»Nicht einmal für die liebreizende Schwester seiner gutaussehenden Assistenzärztin?« Wir erliegen einem Lachanfall und entwerfen Horrorszenarien, in denen Pa Entin in ein Bettlaken einnäht, Rheas Tür zumauert oder ihn anderweitig drangsaliert.
Bis zum Abendbrot haben wir solch einen Muskelkater, dass aufrechtes Gehen oder Sitzen zu einer Zerreißprobe wird.
»Da ist sie, Ceyda Hammerschmidt – die ›Gute Fee‹.« Caris spricht sehr leise und ich habe zu tun, sie in dem Wirrwarr der anderen zu verstehen. Eine große, massige Frau steht in der Mitte des Ufos und gönnt sich eine kleine Auszeit. Sie ist um die vierzig, trägt ebenfalls einen Overall, Turnschuhe auf Rädern, einen riesigen Afro, passend zu ihrem dunklen Teint, und eine runde Sonnenbrille mit Klappvisieren. Ich weiß nicht, aus welchem Film sie gekrochen ist, aber ihre Aura ist überwältigend.
»Schläft die?«, höre ich jemanden halblaut fragen. Er könnte recht haben. Möglicherweise ist sie gar nicht echt, immerhin rührt sie sich keinen Millimeter.
»Das ist deine Chance, Kuno!« Ein hagerer Typ mit blonden Strubbelhaaren wird von zwei anderen nach vorn geschoben. Er schnipst dreimal lautlos mit erhobenen Händen, dreht sich lässig um die eigene Achse und schenkt uns sein schönstes Angebergrinsen mit Frontzähnen, die wenigstens einen Zentimeter breit auseinanderstehen. Seine Segelohren sind so überdimensional groß, dass ich Angst habe, er könnte jeden Moment abheben und doch ist er der mutigste Ritter aus unseren Reihen und wagt sich auf unbekanntes Terrain.
Mit kleinen, vorsichtigen, fast tänzelnden Schritten nähert er sich dem Ufo und setzt einen Fuß auf die Scheibe. Als er den anderen hinterherziehen will, beginnt sich der Untergrund wie wild zu drehen und Kuno landet auf dem Hinterteil. Im gleichen Augenblick beginnt Ceyda zum Leben zu erwachen. Wie ein Roboter nimmt sie all ihre Körperteile wieder in Gang und scannt die Gruppe auf fehlende Personen. Kuno geht wie ein begossener Pudel zurück in die Reihe und hält sich den Po. Die anderen Jungs klopfen ihm anerkennend auf die Schultern, obwohl es ihnen vor Lachen kaum möglich ist.
»Guten Abend, ihr Lieben«, meldet sich die Fee auf Rollschuhen zu Wort und klappt mit einem kurzen Drücker die Visiere ihrer Sonnenbrille nach oben, ohne Kunos peinlichen Auftritt mit nur einer Silbe zu erwähnen. Hut ab. »Mein Name ist Fräulein Hammerschmidt, aber nennt mich ruhig Ceyda.« Ihre Stimme strahlt eine solche Wärme aus, dass man sie sofort ins Herz schließen muss. »Ich bin eure Ansprechpartnerin in allen Gefühlsfragen, koordiniere die Stundenpläne, teile Arbeitsgruppen ein, bin als Studienberaterin tätig oder werte diverse Arbeiten aus. Wie ihr seht, mag ich technische Spielereien, was es euch ermöglicht, mich rund um die Uhr zu erreichen. Ein Klick, ein Drücker, ein Piep – egal, ich bin schneller zur Stelle, als ihr ›Hilfe‹ rufen könnt.« Sie lockert ihre Knie und fährt ein paar Mal hin und her, um allen ihre Ausrüstung präsentieren zu können. Walky Talkys, Tablets in Mini, Midi und Maxi, ein Babyphon mit Videoanzeige, ein Pieper, Stethoskop, Nachtsichtgerät, Taschenlampe, Lupe, Messer, Schuhanzieher. All das holt sie aus ihren Taschen, klappt es aus ihren Schuhen oder lässt es einfach erscheinen. Der Wahnsinn. In meinem Kopf dreht sich alles.
»Jeder von euch verfügt über ein personalisiertes Tablet, mit welchem ihr problemlos mit mir in Kontakt treten könnt. Die Wunder der Technik zeigen mir auch zu jeder Zeit, wo ihr euch aufhaltet und ob eure Vitalfunktionen im Normbereich angesiedelt sind. Letzteres war natürlich ein Spaß!!!« Sie lacht herzlich. So eine Frau wird in dieser leistungsorientierten Bildungsstätte sicher viel zu tun haben.
»Die große Halle – Dreh- und Angelpunkt der Akademie.« Sie hebt die Hände beim Fahren anmutig in die Höhe und animiert uns dazu, die Schönheit des Raumes zu bestaunen. Hohe weiße Wände, das wunderschöne Farbenspiel des Glasdaches, die Endlosigkeit der Flure – es ist ruhig und friedlich hier, wenn auch etwas zu trist für meinen Geschmack. »Womöglich kommt euch alles trist und farblos vor.« Meine Worte – seltsam. Sofort stellen sich bei mir die Armhaare auf. »Dies zu ändern wird eure erste Aufgabe sein. Die Einrichtung ist recht karg«, wohl eher gar nicht vorhanden, »aber ihr strotzt vor Innovationen, um mit ein wenig Farbe und neuem Mobiliar den Ort zu eurer ganz persönlichen Oase zu machen.« Das kann ja heiter werden. Ich nehme gern den Pinsel in die Hand und habe auch kein Problem, mir die Finger schmutzig zu machen, das ist nicht der Punkt. Pinke Farbe im Eimer, um den anderen Mädels ein gemütliches Heim zu schaffen, stört mich allerdings sehr. Caris wirft mir einen unsicheren Blick zu. Vermutlich teilen wir uns diesen Gedanken.
»Neben der Tür befindet sich eines unserer Terminals. Diese verfügen über verschiedenste Funktionen, welche ihr zu gegebener Zeit kennenlernen werdet. Erster Punkt im Menü: ›Design‹. Jeder Schüler darf die eigenen Entwürfe speichern und nach Belieben abrufen.« Ein Raunen geht durch die Reihen und ich sehe in weit aufgerissene Augen, soweit ich blicken kann. Caris greift meine Hand.
»Puh, Glück gehabt, Roya. Ich dachte schon, wir müssen uns alle einigen – eine Horrorvorstellung! Aber so – wie cool. Ich brauche auf jeden Fall Lavalampen, Palmen und einen großen Liegestuhl.« Das sind tolle Ideen und ich hätte auch nichts dagegen, sofort mit den Skizzen zu beginnen, wäre da nicht Ceyda und ihre Bemühungen, den gackernden Hühnerhaufen zum Schweigen zu bringen. Das kann nur eines bedeuten – der fröhliche Teil kommt später.
»Ihr dürft euch wieder beruhigen, denn bis morgen Nachmittag bleibt genügend Zeit, um sich der Aufgabe zu widmen.« Sie klappt die Visiere der Brille herunter und wieder hoch und schielt auf ihr Klemmbrett. Dann zerreißt sie die obere Notiz, zerknüllt das Papier und wirft sie gekonnt in den Papierkorb hinter uns. Seltsam, ich könnte schwören, dass hier vorher kein Papierkorb stand.
»Liebe Schüler, wir setzen unsere Reise fort. Bitte findet euch auf dem Ascenseur ein!« Ah, so heißen also diese Ufo-Scheiben-Fahrstühle. Kann man ja kaum aussprechen. Ich trete selbstsicher zu Ceyda und ernte dankbare Blicke meiner Mitschüler. Nicht alle hatten ihre Anweisung verstanden. Hoffentlich bemerkt keiner, dass ich gerade um einige Zentimeter gewachsen bin.
Der ›Ascenseur‹ nimmt Fahrt auf und befördert uns ins Untergeschoss der Einrichtung. Ich verspüre einen kalten Luftzug und ein Schauer läuft mir über den gesamten Rücken. Wenige Sekunden später sind wir am Ziel. Die Decken hier unten sind niedrig und die Beleuchtung dürftig. Die gefliesten weißen, sterilen Wände erinnern mich mehr an eine pathologische Einrichtung als an Forschungsräume einer elitären Schule. Vor uns liegt ein langer Gang, der sich im Grundriss kaum von den Zimmerfluren unterscheidet. Zwei Türen zur linken, zwei Türen sowie eine große Stahltür zur rechten und am Ende des rechten Ganges die Pforte zu einem Theatersaal, Aula oder ähnlichem – nehme ich an.
»Die Klassenzimmer. Ihr dürft gern hineinschauen. Wir treffen uns in zehn Minuten wieder hier.« Ihre Worte sind kaum verklungen, als sich die Klasse bereits in alle Winde zerstreut hat. Caris zieht mich in das erstbeste Zimmer. Ich habe keine Ahnung, welcher Unterricht in diesem Raum stattfinden soll. Die größte Wand besteht vollständig aus Spiegeln und in der Mitte führt ein langer Steg auf diesen zu. An den Seiten sind vier Bänke mit je zwei Stühlen positioniert und in der hinteren Ecke versperrt eine milchige Glaswand die Sicht auf eine Hintertür.
»Oh, ein Laufsteg.« Caris schlägt die Hände vor's Gesicht und geht leicht in die Knie. Sie berührt vorsichtig die Wände, die Bänke, die Spiegel, die Milchglaswand und kommt völlig verzaubert wieder bei mir an. Ihre Augen leuchten und es macht den Anschein, als sei ihr größter Kindheitstraum soeben erfüllt worden – ein Laufsteg, was wenn sie recht hat? Ich nahm an, unser Ziel sei es, Teil der Regierung zu werden und nicht, den Titel Miss Polar zu ergattern. Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hoffe, dass sie sich irrt. Ich hoffe stark, dass sie sich irrt. So – drei Wiederholungen sollten genügen! Auf Highheels und Hochsteckfrisuren lege ich nicht sonderlich viel Wert. Die Vorstellung daran, wie sich meine männlichen Mitschüler in diesem Unterrichtsfach schlagen würden, bringt mich allerdings zum Schmunzeln.
Ich reiße Caris aus ihrem Dornröschenschlaf und schiebe sie auf den Gang und ab ins nächste Zimmer. Hier drinnen bekomme ich sonst nur Beklemmungen.
Aus dem Nachbarraum sind laute Stimmen zu vernehmen und wecken meine Neugierde. Die Tür ist von innen verstellt, also klopfe ich an und wir werden hineingelassen. Zwei Jungs stehen auf einem mattierten Boden und machen sich kampfbereit. Sie sind barfuß und haben die Hosenbeine nach oben geschlagen. Der Größere von beiden, ein muskulöser Sunnyboy mit blonder Surferfrisur, lockt seinen Gegner mit der Hand und kassiert den ersten Fausthieb. Er wehrt sich und schmückt den Angreifer mit einem stattlichen Veilchen. Endlose Minuten vergehen, in denen Schläge ausgeteilt und Tritte eingesteckt werden. Als der kleine Dunkelhaarige mit den Tunneln in den Ohren zu Boden geht und das Handgemenge beendet, stürzen drei Mädchen ängstlich auf die Matte und alle anderen verlassen das sinkende Schiff auf schnellstem Wege.
Kuno lehnt an der Tür und hält die Hände zu einer Schale geformt.
»Ein kleiner Obolus für die Helden des Rings?« Er grinst breit und schließt sich dem Zug der Flüchtenden an. Dann wendet er und steckt seine unverkennbare Visage erneut durch die Tür.
»Spar deine Kräfte Henner, der nächste Gegner wird dir nicht einen ganzen Kopf unterlegen sein.«
»Nimm den Mund nicht so voll, Kuno! Ich werde nämlich darauf zurückkommen. Ein Zahn weniger ständ dir gut zu Gesicht!« Kuno verschwindet.
Die drei Mädchen haben sich mittlerweile um den Sieger versammelt und helfen ihm auf die Beine. Henner, wie ich ja nun weiß, nutzt sein schauspielerisches Talent, um den Ladies ernsthafte Verletzungen vorzuspielen. Ein Mädchen mit roten Haaren und riesigen Lippen kommt ihm ungebührlich nah und zieht neidvolle Blicke auf sich.
»Falls du mich beeindrucken wolltest, kann ich dir gratulieren. Ich mag Männer, die ordentlich austeilen können. Vielleicht schützt du in Zukunft deinen hübschen Kopf. Mit Brei darin nützt er dir nichts mehr.« Sie lässt ihren Zeigefinger langsam an seinem Arm hinabgleiten und wartet auf eine Reaktion seinerseits. Henner ignoriert sie jedoch und wendet sich seinem Opfer zu.
»Alles gut, Marlon?« Er streckt ihm die Hand entgegen, zieht ihn in die Senkrechte und schlägt ihm freundschaftlich auf die Schulter. Dieser zuckt kurz zusammen und tut es ihm dann gleich.
»Logo, Alter, freu mich schon auf die Revenge!« Männer – es ist nicht zu fassen. Schlagen sich halb tot und gehen anschließend als dicke Kumpel von Bord.
Die Rothaarige und ihre beiden Schatten folgen den Jungs mit einigem Abstand und werfen uns zum Abschied missbilligende Blicke zu.
»Wer ist die denn?«, frage ich Caris, deren Augen pures Gift versprühen.
»Von denen hältst du dich besser fern. Lana und Ebba stehen nur unter dem falschen Einfluss, aber diese Taranee, mit ihren vollen Lippen und dem tollen Duft, wird ihrer Haarfarbe mehr als gerecht.« Normalerweise bilde ich mir meine Meinung lieber selbst und lasse mich nicht von anderen auf eine Seite ziehen. In diesem Falle aber schätze ich Caris' Warnung sehr hoch ein und vertraue ihren Ratschlägen. Mit Zicken kam ich noch nie sonderlich gut klar. Abstand halten hingegen gehört definitiv zu meinen Stärken.
Nachdem wir den seltsamen Sportraum verlassen haben, in dem mit großer Wahrscheinlichkeit ›Nahkampf‹ unterrichtet wird, folgen wir Ceydas Anweisung und finden uns am Ausgangspunkt ein.
»Alle wieder vollzählig? Dann kann es ja weiter gehen.« Ich werde nicht schlau aus dieser Frau, aber das macht es umso interessanter. »Wir begeben uns nun in den gesicherten Bereich unserer Einrichtung und ich bitte um Disziplin und ungeteilte Aufmerksamkeit. Hier wird intensiv geforscht und jede Störung von außen kann zur Ergebnisverfälschung führen.« Fräulein Hammerschmidt hat für diese Worte ihr ernstes Gesicht aufgesetzt und sieht uns über die Gläser ihrer Brille mit hochgezogener Augenbraue durchdringend an. Das Zimmer zu unserer Rechten ist mit einer schweren Brandschutztür versehen. Daneben ist ein Scanner angebracht, um die Tür vor unbefugtem Eindringen zu schützen. Alle verhalten sich so leise, dass nur Ceydas Rollen auf den Fliesen zu hören sind.
»Ihr werdet später an einem der Terminals euren Fingerabdruck hinterlassen, um Zugang zum Laboratorium zu erhalten.« Ich hoffe, irgendwer gibt uns eine Einführung in die Bedienung dieser Dinger. Was Technik anbelangt, bin ich ein hoffnungsloser Fall, denn normalerweise habe ich Fenja für solche Angelegenheiten. Die gute Fee drückt ihren Daumen an den Scanner und die Tür öffnet sich mit einem leisen Zischen – ein Geräusch, als ließe man langsam die Luft aus einem Reifen. Als die Tür vollständig zur Seite gefahren ist, signalisiert uns Ceyda, ihr geräuschlos zu folgen und rollt vornweg. Der Ort ist angsteinflößend. Der Raum ist weiß gefliest vom Boden bis zur Decke und die gegenüberliegende Wand ist mit großen blinden Glasfenstern bestückt. Vor diesem venezianischen Spiegel stehen in einer langen Reihe, weiße, schmale Tische mit flachen Drehhockern. Die Tischleuchten sind zurzeit die einzige Lichtquelle. Neben der Spiegelwand führt eine kleine Tür zu einem Zimmer hinter dem Glas. Hier gibt es eine zahnarztähnliche Liege mit großer, verstellbarer Deckenleuchte und daneben steht ein rollbarer Apparat, der einem Computer sehr nahe kommt. Mir scheint, es sei eine Art Folterkammer, in der fragwürdige Versuche an Menschen durchgeführt werden. Oder ich habe zu viele schlechte Filme gesehen – wahrscheinlicher, denn von medizinischem Besteck oder anderen Folterinstrumenten fehlt jede Spur.
Als wir uns wieder zum Ausgang begeben, fällt mir ein großer Lautsprecher über der zischenden Tür auf. Sicher kann Professorin Pfefferhauser so Kontakt zu den Dozenten und Studierenden aufnehmen. Wir verlassen den Raum genauso still, wie wir gekommen sind, und schleichen Ceyda, wie die Küken ihrer Entenmama, hinterher. Im Flüsterton teilt sie uns mit, dass dies das Labor für Transinduktion sei und Frau Professor Pfefferhauser die Leitung dieser Abteilung innehabe. ›Transinduktion‹, was auch immer das ist, es klingt nicht nach grausamen Experimenten und das beruhigt mich.
Den nächsten Stopp legen wir auf der gegenüberliegenden Seite an einer Tür mit schwarzem Viereck ein.
»Das Computerkabinett«, erklärt Mamaente und scannt ihren Daumen. Diesmal ist kein Zischen zu hören, denn die Tür muss von Hand geöffnet werden. Ceyda drückt die Klinke kraftvoll nach unten und die Tür öffnet nach innen. Ein wahres Paradies für Hacker und Computernerds liegt vor uns.
»Ihr dürft euch gern umsehen, aber ohne etwas anzufassen, verstanden?« Ceyda spricht mit überzeugender Erwachsenenstimme und alle Anwesenden nicken ihr geistesabwesend zu. Caris setzt sich an einen der Tische und starrt auf den Flatscreen vor sich.
»Wie bedient man dieses Ding? Es gibt doch nirgendwo eine Maus, geschweige denn eine Tastatur.« Sie fährt suchend mit ihren Händen die Tischplatte ab.
»Mentalismus, Caris, hast du der Pfefferhauser nicht zugehört?« Ich glaube, meine Zimmergenossin ist mit allem etwas überfordert. Mein Sarkasmus macht es nicht gerade besser. Das bemerke ich aber immer erst, wenn es zu spät ist. Plötzlich beginnt sich an der Decke eine rote Lampe wie verrückt zu drehen und eine schreckliche Sirene ertönt.
»Alle sofort hinlegen!« Ceydas Anweisung lässt uns gesammelt zu Boden gehen. Nur Kuno, der Angeber, steht wie angewurzelt da und hält beide Hände in die Luft.
»Kuno, leg dich gefälligst auf den Boden, oder willst du von einem Laserstrahl gegrillt werden?« Ceydas Stimme klingt messerscharf und augenblicklich liegt der lange, hagere Kerl kerzengerade unter dem Stuhl. Ich glaube, es vergehen fünf Minuten, bis das rote Licht ausgeht und das Lied der Sirene verstummt. Niemand regt sich.
»Sind die Laser ausgeschaltet?«, fragt Taranee, auf ihre penetrante Art und ich wundere mich, wie sie es schafft, trotz ihrer Angst, den arroganten Touch beizubehalten. Dennoch, ihre Frage ist berechtigt. Ich habe durch meine ungünstige Liegeposition seit zwei Minuten einen Krampf in der Hüfte und hätte nichts gegen Bewegung einzuwenden. Ceyda schwingt sich elegant auf ihre Rollschuhe und klatscht in die Hände.
»Die Gefahr ist gebannt, ihr dürft euch erheben.« Die Klasse atmet erleichtert auf. »Dies war eine Demonstration. Bei unbefugtem Betreten, illegalem Surfen, Diebstahl, Vandalismus oder Essen am Arbeitsplatz kann schon einmal der Alarm ausgelöst werden. Solch eine Aktion endet normalerweise immer im Büro des Chefs, welches sich direkt um die Ecke befindet. Soll heißen: Lasst es lieber bleiben und haltet euch an die Hausordnung! Wir sind eine Eliteschule und hier werden ausschließlich disziplinierte, intelligente und ernsthafte Schüler studieren. Wem diese Regeln widerstreben – da ist die Tür.« Sie zeigt zum Ausgang und das Lächeln ist gänzlich aus ihrem Gesicht verschwunden. »Bei mir erhaltet ihr die Chance, die Schule und ihre Werte auf eine lockere Art kennen und verstehen zu lernen. Sollte euch das nicht gelingen, hat Frau Prof. Pfefferhauser noch ganz andere Methoden auf Lager, glaubt mir. Wir wollen niemandem etwas Böses. Unsere Aufgabe besteht darin, euch die Wichtigkeit dieses Projektes und die Wichtigkeit eurer eigenen Funktion in diesem Gefüge verständlich zu machen. Wer sich einfügen kann, hat die Möglichkeit, Großes zu leisten und sein Wissen weiterzugeben. Allen anderen wünsche ich gute Heimreise!« Sie macht eine kleine Drehung und rollt aus dem Zimmer.
Ich bin verwirrt und mein Kopf ist hohl, hohl, hohl. Ich bin nicht sicher, ob ich Teil eines ›Gefüges‹ sein will. Es ist ungewohnt, eine wichtige Rolle zu spielen. Dieser Umstand übt einen starken Druck auf mich aus. Keine Ahnung, ob ich das auf Dauer aushalten kann. Ich habe gern eine Aufgabe, bin gern unter Menschen und tue gern sinnvolle Sachen, aber ich habe noch nicht besonders oft Verantwortung übernommen. Können sich meine Mitmenschen auf mich verlassen? Ich werde darauf vertrauen müssen, dass die Dozenten schon wissen, was sie tun.
Ceyda fährt zum Ende des Ganges und öffnet eine schwere Flügeltür. Noch ist alles dunkel und ich hoffe, diesmal ist keine Sirene eingeschaltet. Sie bedient einen Stromkasten neben der Tür und schaltet die Lichter ein. Wir stehen in einem Kinosaal. Circa fünfzig weinrote Samtstühle sind auf eine große Leinwand gerichtet. Schön, dass ich mit meinen Vermutungen einmal richtig lag.