BeOne - Martha Kindermann - E-Book

BeOne E-Book

Martha Kindermann

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Beschreibung

Wenn du versuchst am Boden zu bleiben, während man dich in den Himmel hebt... Wenn ein Teufel dich beflügelt und der Engel dein Herz entzweit... Wenn ein Flügelschlag plötzlich über Leben und Tod entscheidet... ...Dann gleicht dein Leben einem Kaleidoskop und du, Roya, musst Wunder vollbringen, um den Scherbenhaufen in ein Kunstwerk zu verwandeln.

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Prolog
Tristan
Die Wagenstadt
Abwracken und Tee trinken
Made im Speck
Tristan
Lebendig begraben II.
Tristan
120 Sekunden
Caris
Lagerfeuerliebe
Caris
Pseudoroya vs. Roboter
Tristan
Applaus, Betrug und Extrapunkte
Tristan
Geisterstunde
Caris
Tristan
Stern am Boden
Enzephaloduennschiss
TAG 466
Tag 466 Klappe, die Zweite
Tristan
Gamenight
Tristan
Capture me, Boss
Freiwillige anschließend beispielsweise verbrennen
Tristan
Zu Besuch bei Satans Engel
Tristan
Wer ist hier die Irre?
Tristan
Graue Maus im Doppelpack
Caris
Tristan
Leben in der Suite
Caris
44127791
Tristan
Mein Tod als Tarnumhang
Tristan
Tag 481
Tristan
Caris
Tristan
Tag 482
Toll
Tristan
Nackt ist besser als schutzlos
Tristan
Ode an den Wahnsinn
Tristan
Scham vs. Knalltrauma
Tristan
Da, wo der Himmel rosa ist
Tag 478
Tristan
Epilog
Danke

Impressum neobooks

Impressum

»BeOne«

Band 3 der »BePolarTrilogie«

Text © Martha Kindermann 2020

An der Vogelweide 88, 04178 Leipzig

Coverdesign © Kurt Stolle, Martha Kindermann

epubli, ein Service

der neopubli GmbH, Berlin

Alle Rechte vorbehalten.

Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung, können zivil- und strafrechtlich verfolgt werden.

»Einen Engel erkennt man erst,

wenn er vorübergegangen ist.«

Volksweisheit

Lebe, liebe, genieße und feiere!

Sei dankbar für jeden Engel, dessen Flügel dich streift.

Für jede Sekunde, in der du atmen darfst, beschützt wirst und dich mutig fallenlassen kannst.

Prolog

Meine Füße tun weh. Die Kabelbinder, mit denen die Boliden unsere Hände zusammengebunden haben, schneiden mir tief ins Fleisch und scheuern seit endlosen Minuten an meinen Gelenken. Ich weiß nicht, wie lange wir schon unterwegs sind, aber die Abenddämmerung setzt ein und ein Ziel ist noch nicht in Sicht. Meine Kehle ist so trocken, dass die kühle Luft bei jedem Atemzug schmerzhaft meinen Hals hinunterkriecht. Jeden Moment werden mir die Augen zufallen.

»Roya, alles gut?« Tam marschiert direkt hinter mir durch die Tunnel und riskiert mit jedem Wort sein Leben für mich.

»Ruhe da vorn, verstanden?«, fährt uns eine bedrohlich klingende Männerstimme an, »Es interessiert niemanden, was die Damen und Herren Eleven zu sagen haben. Hier habt ihr gefälligst still zu sein!«

Ein großer Typ mit Glatze und langem Ledermantel zerrt Tam nach hinten und bereitet so jedweder Konversation ein Ende. Auch wenn es mich förmlich zerreißt, ich kann mich nicht nach ihm umsehen. Ich muss die Augen geradeaus richten und die gehorsame Geisel mimen. Andernfalls verspiele ich meine Zukunft. Eine Zukunft, für die ich kämpfen wollte. Für die ich kämpfen werde. Eine Zukunft in Polar, einem friedlichen und gerechten Land, welches für seine Bevölkerung stark und transparent ist, auf deren Bedürfnisse schaut und keinen Bürgerkrieg favorisiert, um der Regierung mehr Macht zu verschaffen.

»Steh auf, Mädchen! Aber plötzlich!«

Die Karawane stoppt und der Grund dafür liegt nur wenige Meter vor mir: Tamika. Meine Teamkameradin ist auf Grund ihrer dunklen Hautfarbe in diesen düsteren Gängen kaum auszumachen, aber es ist deutlich erkennbar, dass sie heute keinen Meter mehr laufen wird. Weitere bewaffnete Boliden eilen nach vorn und treten gegen ihren erschlafften Körper. Warum? Warum treten sie auf sie ein? Warum haben sie zwei Speere in unseren Freund Melwin gejagt und warum habe ich mein Nahkampftraining seit der Landung in Middens Regierungspalast so vernachlässigt?

Ich schreie, so laut ich kann. Ich werfe mich wütend gegen meinen persönlichen Begleiter, um mich an Tamikas Seite zu kämpfen, aber es ist zwecklos. Tam schüttelt den Kopf und signalisiert mir mich zu beruhigen. ›Sie werden ihr nichts tun‹, formen seine Lippen, doch ich kann mich nicht beruhigen. Mein Magen krampft, mein Hals brennt, meine müden Augen füllen sich mit Wasser und ich kann nichts, aber auch gar nichts gegen dieses schreckliche Gefühl tun. Was, wenn ich mich ebenfalls fallen lasse und auch die Jungs eine Erschöpfung vortäuschen, die man ihnen zweifellos abkaufen würde? Ließen sie uns hier unten in der Einsamkeit der östlichen Tunnelsysteme liegen und elendig verrecken?

»Du und du – herkommen!« Der Glatzkopf zeigt auf Sly und Tam und schubst sie unsanft nach vorn, bis sie vor Tamikas geschundener Gestalt stehenbleiben. »Tragt sie!«

Das können sie nicht verlangen! Wir Eleven haben zwei Tage nichts mehr gegessen, sind völlig dehydriert und seit dem Start dieses dämlichen Camps ununterbrochen auf den Beinen.

»Wird’s bald?« Die nackte Angst spricht aus ihren dunkel unterlegten Augen und bringt mich erneut zum Heulen. Tam beugt sich hinunter und nimmt Tamika mit seinen verbliebenen Kräften wie eine Prinzessin auf die Arme.

»Wir wechseln uns ab«, gibt er Sly und den Boliden zu verstehen und macht die ersten vorsichtigen Gehversuche.

In diesem Moment bin ich so wahnsinnig, wahnsinnig vernarrt in ihn, dass sich mein Mund zu einem Schmunzeln verzieht und meine Lippen den salzigen Geschmack der Tränenbäche annehmen. Er ist tough, das wusste ich, aber die Selbstlosigkeit, die er gerade an den Tag legt, kannte ich bisher nur von seinem Bruder.

Und schon schweifen meine Gedanken inmitten der puren Verzweiflung zu Tristan. Wo auch immer er ist, für wen auch immer er kämpft, was ihn auch immer gerade antreibt – ich hoffe, es geht ihm besser als uns und er hat mich noch nicht vergessen. Seit er mit meinem vermeintlichen Bruder Rafael auf der gegnerischen Seite mitmischt und BePolar den Rücken zugewendet hat, habe ich kein Sterbenswörtchen mehr von ihm gehört. Zugegeben, wir Eleven wurden seit Beginn der Initiation von der Außenwelt abgeschottet, um uns ganz auf die Show und unsere politische Weiterentwicklung zu konzentrieren. Wer in wenigen Jahren bereit sein will ein ganzes Land zu führen, darf sich nicht durch Liebeleien ablenken lassen, oder? Wie also hätte Tristan mich kontaktieren sollen, wo er jetzt, aufgrund seiner roten Turnschuhe, auch noch landesweit gesucht wird? Er hat dafür gesorgt, dass unsere einstige Mitstreiterin Taranee untertauchen konnte, nachdem der Rest ihres Teams auf mysteriöse Weise in unzählige Fetzen gerissen wurde und sie verschont blieb. Es bringt mich beinahe um den Verstand, nichts von Tristans Aufenthaltsort zu wissen, obwohl er mich offensichtlich verraten und hintergangen hat, indem er gemeinsame Sache mit diesen fanatischen Undergroundern macht.

»Weiter!« Eine Eisenstange wird gegen meinen Rücken gedrückt und lässt mich stolpern. Diese Boliden, deren Existenz ich bis vor wenigen Tagen noch für ein Ammenmärchen hielt, halten uns brutal in Schach. Wir sind auf der Suche nach unserem Mentoren Miles hier in Ost auf dem verseuchten Gelände einer alten Schuhfabrik gelandet und diesen wilden Outsidern direkt in die Arme gelaufen. Jetzt wollen sie uns an den Höchstbietenden verkaufen, wer auch immer das sein wird.

»Wie lange lässt Daloris uns eigentlich noch im Kreis laufen?« Im Kreis laufen? Hab ich den kleinwüchsigen Boliden mit dem Irokesenschnitt richtig verstanden?

»Klappe, AJ! Die Chefin hat uns einen Auftrag erteilt und wir befolgen ihn, klar soweit?« Der Glatzkopf brüllt dermaßen laut in mein Ohr, dass ich vor Schreck zusammenzucke.

»Zündest du auch deinen Wagen an, wenn Daloris dafür den ›Auftrag erteilt‹, GAM?« Interessant, Hierarchien gibt es also auch unter den Aussteigern unserer Gesellschaft. Ich nahm an, hier ist Anarchie das vorherrschende Prinzip und jeder lebt nach seinen eigenen Regeln.

»Sehr witzig, Zwerg!« Oh, gleich brennt die Luft. »Ich bin Soldat. Ich tue, wie mir befohlen. Sie sagte: ›nehmt nicht den direkten Weg‹, also zeigen wir diesen Sternchen jede beschissene Biegung der Tunnel, bis der Rückruf kommt.«

Ist nicht euer Ernst? Wir laufen seit Stunden Umwege, damit wir die Orientierung verlieren? Wie blöd seid ihr eigentlich? Ich hatte die Peilung bereits verloren, als ihr meinen Freund, direkt vor meinen Augen, in einen Schaschlikspieß verwandelt habt und uns wie Mastkälber auf dem Weg ins Schlachthaus vor euch her triebt.

»Wenn man vom Teufel spricht!« GAM - Glatzentyp holt eine Art Funkgerät aus seiner Manteltasche und nimmt den eingehenden Anruf entgegen. »Auf in die Wagenstadt, Männer, die Luft ist rein!«

Die Wagenstadt – auf in ein weiteres Abenteuer. Mögen die Sterne gut für uns stehen.

Tristan

Tag 455

»Das ist so wahnsinnig, wahnsinnig cool, Tristan. Ich wusste, dass der Tag irgendwann kommen würde, an dem ich meine Füße in die Akademie setze. Vielleicht sah der Plan ein wenig anders aus und ich war nicht dabei, mich zu einer erstklassigen Spionin ausbilden zu lassen, aber krass – ich kann es einfach nicht fassen!«

Fenja starrt in die unendlichen Weiten des weißen, virtuellen Raumes und ich weiß genau, wie sie sich in diesem Moment fühlt. Hier ist man ein winziges Licht in einem großen Ganzen, das sich kaum begreifen lässt. Es duftet nach Mandelbäumen, fahrende Scheiben lassen einen in Sekundenschnelle mehrere Höhenmeter überwinden und man kommt sich unglaublich wichtig vor in diesen schrägen grauen Overalls, die ich früher so verabscheut habe. Heute ist meine Sicht auf die Dinge eine andere. Ich bin kein Notnagel, kein Ersatzzwilling und genau am richtigen Ort, um meine Freundin Roya zu retten. Ich bin ein Sternenwächter und das ist verdammt gut so. Rafael, Mirco Lehmann und der Rest der Einheit haben mich zur Vernunft gebracht. Mein Vater ist hier, genau wie Professor Pfefferhauser, Tima, unser Nahkampftrainer, Dr. Gregorio und sämtliche Ex-Schläfer, die noch auffindbar waren und bereit sind, für ihre Zukunft zu kämpfen.

Es ist eng im Loft, der verfallenen Fabrik am Rande unserer Hauptstadt Midden, und alles geht noch ein wenig drunter und drüber. Jeden Tag kommen neue Rekruten und unser Tagesablauf wird von Nahrungsbeschaffung, Technikinstandhaltung, Lagebesprechungen und Wachdiensteinteilungen dominiert. Heute beginnt die Ausbildung für die ersten zehn Wächter, da wir mehr Zephos nicht zur Verfügung haben.

Rafael, Josi, Sus Schwester Trish und Muriels Bruder Lio haben von ihren Missionen alles mitgebracht, was nicht niet- und nagelfest war, und sitzen nun seit Tagen an der Erschaffung einer Akademie2.0. Wie wir nun wissen sind Moreno und Eliska Navrotilova enge Vertraute der Präsidentin und haben von Beginn an das Schläferprogramm manipuliert. Keiner kennt die Ausmaße dieser Infiltration, aber eine Neukonfiguration der Elektroenzephalographen, kurz Zephos, sowie die Bereinigung einiger Module, die die beiden in den Akademiecode eingebracht haben, sollte nun Abhilfe geschafft haben.

»Okay, Leute!« Rafael und Josi bitten per Handzeichen um Aufmerksamkeit und bringen den aufgeregten Haufen junger Sternenwächter zum Schweigen. Auch sie sind in graue Overalls gehüllt, tragen weiße Sneaker an den Füßen und scheinen mächtig stolz auf die Möglichkeiten, die sie uns heute Nacht erschaffen haben. »Wir beginnen mit einfachen Persönlichkeitstest, um eure Eignung einstufen zu können, und euch den passenden Teams innerhalb der Sternenwacht zuzuteilen.«

Nee, oder? Tests sind scheiße. Ich dachte, wir machen da weiter, wo Moreno uns hat stehen lassen? Zugegeben, er ist ein Arsch, aber ich glaube, gelernt habe ich so einiges. Was wollen die überhaupt prüfen? Ich bin weder sonderlich sportlich noch politisch auf dem aktuellsten Stand, ich habe keine technischen Kenntnisse und meine Kampfausbildung wurde… na ja, lassen wir das. Fenja greift meine Hand und scheint genau zu wissen, was in meinem verwirrten Kopf abgeht.

»Die finden eine Aufgabe für dich. Vertrau darauf, Tristan Baliette. Wir sind in den besten Händen.«

Es hat lange gedauert, bis ich diese Tatsache akzeptiert und Royas Bruder Rafael nicht mehr als Feind, sondern meinen Retter angesehen habe. Fenja hat recht. Wir sind die Guten und vielleicht reicht diese Einstellung schon, um eine Nische zu finden, in der ich mich nützlich machen kann.

»Hinter euch, an den Terminals«, Terminals? Wo? Hier sind doch gar keine Termi… Ja, okay, wir sind in der Akademie. Hier ist alles möglich. »Wird es in Runde eins um die Fähigkeit gehen, möglichst schnell zu kombinieren – natürlich unter erschwerten Bedingungen. Folgt mir doch bitte.«

Kombinieren, mmh, sollte machbar sein, aber das Wort ›erschwert‹ – mmh, nicht sonderlich sympatico.

»Die Simulation, auf die ihr gleich stoßen werdet, ist eine rein neuronale Angelegenheit. Soll heißen: kein Einsatz körperlicher Kräfte vonnöten. Diese Brillen«, er greift sich eines der weißen Exemplare, welches via neongelbem Kabel mit dem Terminal verbunden ist und eher an einen Tauchurlaub erinnert, »führen euch in ein mehrdimensionales Computerspiel, welches sich Tetris nennt, eine Art interaktives Puzzle. Die Regeln sind denkbar einfach: Sortiert die unterschiedlichen Formen mit der Kraft eurer Gedanken so in das bereitgestellte Fenster ein, dass wenige Lücken entstehen. Sobald eine Reihe vollständig ist, wird sie gelöscht und verschafft euch Zeit. Zeit, die ihr braucht, da neue Formen das Glas zu überfüllen versuchen und ihr schnell agieren, kombinieren und sortieren müsst. Ziel ist es, das Überlaufen des Glases zu verhindern.« Klingt doch ganz geil!

»Wo ist der Haken, Rafael?« Taranee, kannst du nicht einmal deinen Mund halten und einfach tun, was dir gesagt wird? Diese rothaarige Dramaqueen braucht immer ihren Auftritt.

»Nun, es gibt die Möglichkeit, unpassende Gebilde den Mitstreitern zur Rechten oder Linken in die Gläser zu schieben und so zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen.« Ja, toll. Ein Arsch sein und – ein Arsch sein?

»Gibt es dafür Extrapunkte?« Dämliche Pute.

»Nein, Taranee, du wirst sogar schneller und konzentrierter arbeiten müssen, um deinen Gegnern eins auszuwischen.«

Ihr spitzer Mund verzieht sich zu einem arroganten Lächeln und lässt meine Hand zucken. Wochenlang war ich mit diesem Biest in der Einöde des Lofts eingesperrt und konnte jede Facette ihrer fiesen Gesichtsmimiken studieren. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hat, dann hält sie keiner davon ab. Sie ist definitiv Trägerin des berüchtigten Killergens, auch wenn sie es vehement abstreitet die drei Eleven Morrie, Serge und Ronan ihrer eigenen Zirkumpolargruppe Schedir umgebracht zu haben – ich traue dieser Frau einfach alles zu!

»Setzt bitte die Brillen auf und legt die Hände an die seitlichen Griffe der Terminals.« Jawohl, Rafael. Der Bildschirm beginnt zu leuchten und ein großzahliger schwarzer Countdown zählt von zehn rückwärts. »Drei, Zwei, Eins – Los! Ihr habt zehn Minuten!«

Okay, Bunt. Sehr bunt. Viele bunte Steine. Sonst nichts. Das Szenario wirkt auf den ersten Blick etwas langweilig. Ein überdimensionaler Glaskasten erhebt sich vor mir und füllt sich in Zeitlupe mit allerhand skurrilen Formen. Zusammengesetzte Quadrate, die an verschiedene Buchstaben erinnern. Da gibt es ein L oder ein T, ein S oder das klassische O. Ich analysiere, konzentriere mich und schaffe es tatsächlich die beweglichen Körper an die lückenhaften Stellen im Glasraum zu schieben. Wow! Ich bin ein Telepath! Und es ist noch dazu super easy.

Was ist das? Von Rechts werden lilafarbene Steine in das Glas geworfen, die einen Krieg mit meinen eigenen roten Steinen zu beginnen scheinen. Taranee! Lass es sein, Hexe! Cool down, Tristan! Nicht ablenken lassen! Einfach schneller sein. Die falschen Steine lassen sich problemlos mit einbinden, erfordern jedoch ein erhöhtes Maß an Umsichtigkeit.

Scheiße, ein S – wohin damit? Verdammt, die Pixel werden schneller. Scheitere ich hier an einem Kinderspiel? Ich könnte… Nein, ich bin nicht Taranee! Ich werde nicht falschspielen und ihr meine Ausschussware rüberwerfen.

»Tristan, hast du ein S übrig?« Fenjas Glas zu meiner Linken weist eine passende Lücke in ihrer türkisen Quadratlandschaft auf. Das ist die Idee! Warum gemein sein, wenn man sich doch gegenseitig helfen kann. Reflexartig lasse ich das rote S in Fenjas Glas wandern und bewahre das Fass vorm Überlaufen. Gutes Gefühl!

»Das war mega, Fenja!«

»Danke, sollen wir so weitermachen?«

»Unbedingt, Schwester. Bei mir kommt grad ein unnützes T.«

»Her damit.« Check!

Ich wusste, dass Fenja genial ist und eine wahre Hackerqueen sowieso, aber wir beide zusammen rocken diese Challenge sowas von. Irre!

»Time out!« Rafaels Stimme holt uns aus der Spielhölle und sorgt für ein allgemeines ›ach nööö‹ in der Schläferrunde. »Danke, das war doch ganz nett für den Anfang.«

Die Untertreibung des Jahrhunderts. In den letzten zwei Spielminuten hat Team Tris-ja (coole Namenskombi) so viele Quadrate verschlungen, dass Taranee nur neidvoll Feuerspeien konnte.

»Die Terminals spucken jede Sekunde euren persönlichen Punktestand aus, welchen ihr bis zur nächsten Runde in zwei Tagen als Erinnerung bei euch tragen dürft.« Punktestand? Ich dachte, wir sollten nur überleben?

Au! Was war das? Mein rechter Unterarm brennt ganz fürchterlich. Ich ziehe die Ärmel des Overalls nach oben und bin sprachlos. 30457 steht da auf meine makellose Haut tätowiert. Mach das weg! Sieht doch voll scheiße aus!

»Ich verbitte mir diese Art von Körperverletzung. Seid ihr irre geworden?« Taranee dreht völlig frei und auch die übrigen Acht schauen verdutzt auf ihre gezeichneten Extremitäten.

»Entspannt euch, Leute! Was in der Akademie geschieht, bleibt in der Akademie. Keiner da draußen wird die mickrige Zahlenfolge zu Gesicht bekommen, wenn ihr das nicht wollt.« Er lacht und reibt sich vorfreudig die Hände. »Aber lasst uns keine Zeit verschwenden, es gibt noch viele freie Stellen auf euren unerfahrenen Körpern zu füllen. Bereit für Runde zwei?«

Aber Hallo! Ich habe mit meiner ehrbaren Teilen-macht-Freude-Methode 7620 Punkte mehr als die Betrügerin Taranee erzielt, auch wenn ich noch nicht sagen kann, wo der Grund dafür liegt. Vielleicht gab es einen Test im Test und Kombination war lediglich eine Teilaufgabe? Egal, ich habe Blut geleckt und will weiterspielen. Schön, die miese Realität für 90 min hinter mir zu lassen und Spaß an der neuen Arbeit zu finden. In Midden werden wir nicht gegen Pixel und Buchstaben kämpfen, so viel ist klar. Wir ziehen gegen Polars Präsidentin, die eine intrigante Bitch ist, ihren skrupellosen Stab von hartherzigen Ministern ohne Courage und die derzeitige Verfassung. Die Armee vernachlässigter Dritter, die als Babys den Armen der Eltern entrissen und zu willenlosen Killermaschinen ausgebildet wurden, habe ich noch gar nicht angeführt. Uff, Spaß sollten wir also in jeder freien Minute genießen!

Die Wagenstadt

»Aufstehen! Die Chefin hat jetzt Zeit für euch.«

Den dreizehn Strichen, die Sly an die Blechwand des Wohnwagens gekratzt hat nach zu urteilen, sind wir seit fast zwei Wochen in den Fängen der Boliden und warten auf diesen Moment. Wir warten, dass Daloris Sanderbrink, die Anführerin der Aussteigerbande, sich zu einem Treffen herablässt.

Seit wir die Wagenstadt mit verbundenen Augen betreten haben, sitzen wir in diesem Gefängnis mit geschwärzten Fenstern und bemitleiden uns. Wir haben eine Toilette, deren Tür man nicht abschließen kann, eine Küche mit Mikrowelle und Wasserkocher, um Instantpulver in Nahrungsmittel verwandeln zu können, und ein paar Bögen Papier und Stifte. Die Schlafsäcke sind so alt wie Daloris selbst und unsere Rücken grün und blau vom unebenen Boden, auf dem wir jede Nacht schlafen sollen. Tamika und Sly haben versucht, sich auf der eingebauten Eckbank niederzulassen, nachdem ich dankend abgelehnt und mich an Tams Seite zurückgezogen habe. Es ist eng, die Nächte hier unten sind frisch, aber ich habe stets eine warme Hand, die mich hält, wenn ich schweißgebadet aufwache. Eine Hand, die mir jetzt zärtlich über die Wangen streicht, damit ich aufwache und mich auf unseren ersten Freigang vorbereite.

»In fünf Minuten klopfe ich an die Tür. Wer dann nicht bereit ist, bleibt für weitere zwei Wochen in diesem Wagen, verstanden?«

»Verstanden, GAM. Danke, sehr nett von dir.« Sly versteht es, sich bei dem bulligen Glatzkopf beliebt zu machen. Er schleimt ihn mit Nettigkeiten zu und prompt erhalten wir mehr Essen oder neues Papier. »Bis gleich, Bruder.«

Ich muss schmunzeln. Das wird der Bruder gar nicht gerne hören. Er ist Soldat und kein Kumpel, dem man mal eben cool gegen die Schulter boxt.

Die Tür fällt ins Schloss und Tam zu meiner Rechten prustet los. Hier ist nichts zum Lachen, aber auch gar nichts, doch wir vier haben einen Weg gefunden, uns die endlosen Stunden ertragbar zu machen. Nachdem in den ersten drei Tagen kaum jemand ein Wort sprach und Tamika nur zum Toilettengang ihren zerrissenen Schlafsack mit verheulten Augen verließ, haben wir nun einen gemeinsamen Tagesrhythmus gefunden, der uns am Durchdrehen hindert: Aufstehen. Hafergrütze essen, die uns Sly alltäglich mit frischen Phantasiezutaten verfeinert. Morgensport, für den sich Tam stetig neue Übungen aus den Fingern saugt. Schlachtplanrunde, um einen möglichen Ausbruch vorzubereiten. Mittagessen, wenn man Tütensuppe mit Entenfutter so nennen kann. Dehnungsübungen, die sich Tamika auf die Fahne geschrieben hat. Spielenachmittag, damit wir nicht verblöden. Abendbrot mit – Überraschung – Haferschleim und schlussendlich die Gutenachtgeschichte, mein Part. Danach versucht jeder für sich in den Schlaf zu finden, ohne die anderen wahnsinnig zu machen.

Klopf, klopf, klopf. Es ist so weit. Wir verlassen die halbwegs sichere Zuflucht unseres vertrauten Blechhotels und wagen uns ins Unbekannte. Die Höhle der Boliden. Wir wissen mittlerweile von GAM, dass Daloris uns am Leben lassen wird und ein Verkauf bereits bevorsteht. Die Typen hier sind grob, brutal, stinken und behandeln uns wie Dreck, aber Angst habe ich keine. Wir belauschen ihre Gespräche, wir bekommen Essen, wir bekommen Kleidung, wir müssen nicht arbeiten und sind nicht gefesselt. Alles wird heute ein Ende nehmen, denn Präsidentin Jünger holt uns hier raus!

»Wer mag zuerst?« Sly hat eine Hand auf den Türgriff gelegt und schaut uns spannungsvoll entgegen. Die Freiheit rückt in greifbare Nähe und das ist wahnsinnig erfüllend.

»Ich möchte, wenn es okay ist!« Keine Ahnung, wann ich mich jemals aufgedrängt habe, aber heute blicke ich dem langersehnten Tag so positiv entgegen, dass ich es einfach nicht erwarten kann.

»Gut, Roya, dann raus mit dir!« Sly legt mir unterstützend die Hand auf die Schulter und ein wohliges Kribbeln durchfährt mich, als ich einen kühlen Luftzug verspüre.

»Wow!« Ich bin überwältigt. Sofort drängen sich Tamika, Sly und Tam an meine Seite und steigen dicht an dicht mit mir die Treppen des Campers hinab. Wir sind umringt. Umringt von unzähligen Wohnwagen in allen Farben des Regenbogens. Manche haben Tücher als Zelte aufgespannt, andere eine Feuertonne vor ihrem Zuhause aufgebaut. Inmitten der Blechwagensiedlung wurde eine Art Klettergerüst zusammengezimmert, auf welchem ein Dutzend Kinder zu Gange ist, und direkt neben unserem orangefarbenen Wohnmobil stehen drei gescheckte Ziegen und fressen unbeeindruckt aus einem Eimer widerliche Essensreste.

»Kommt jetzt!« GAM schwingt seine geliebte Eisenstange und führt unseren Zug von ungläubigen Touristen ins Unbekannte.

»Sind wir unter der Erde?« Tamika greift unsicher meinen Unterarm und haucht mir die Frage ins Ohr.

»Siehst du den Himmel, Tamika?«

»Nein, wieso?«

»Tja, dann.« Mehr kann ich darauf nicht antworten. Weit und breit ist kein Wölkchen zu entdecken und auch die geliebten Sonnenstrahlen, nach denen ich mich so verzehre, sind außer Sichtweite. Über unseren Köpfen erstreckt sich eine Metallkuppel, welche wie eine Patchworkdecke aus Wellblech, Aluminiumträgern und allerhand Schrott zusammengepuzzelt wurde und keinen Ausgang bereithält. Entweder wir sind in einem Bunker, irgendwo im Nirgendwo oder diese Wahnsinnigen haben die Tunnelsysteme in eine unterirdische Stadt verwandelt, um den Drohnen der Regierung zu entkommen. Wie lange sie wohl an diesem Konstrukt gebaut haben?

»Wie viele Boli…«, Sly räuspert sich künstlich, »Also, wie viele von euch leben denn hier unten?« Mutig, mutig, Junge!

»Bei unserer letzten Zählung vor einigen Wochen haben sich 421 Männer, 487 Frauen und 76 Kinder gemeldet. Das ist ein Rekord, auf den wir sehr stolz sind.« GAM grinst. In diesem bulligen Kerl steckt irgendwo ein kleiner Junge, der einfach nur geliebt werden will und Sly ist auf dem besten Weg den Schlüssel zu seinem großen Teddybärenherz zu finden.

»Das könnt ihr auch, GAM. Das könnt ihr!« Dieser Schleimer. Wir vier können ein Schmunzeln einfach nicht verdrücken.

»Wie bist du hier gelandet?« Tamika nutzt die Gunst der Stunde, um den Draht zu unserem Aufseher zu verfestigen.

»Hältst du deinen Mund, wenn ich dir die Frage beantwortet habe, junge Dame?« Aha, junge Dame, so kann es gehen. Noch vor wenigen Tagen hab ich mit angesehen, wie seine Kollegen mit ihren dreckigen Stiefeln auf Tamika eingetreten haben, während sie erschöpft und hilflos am Boden lag, und nun sind wir bei junge Dame. Der Typ frisst uns in kürzester Zeit aus der Hand, wenn wir nur schön weiter Interesse heucheln.

»In Ordnung. Aber nun erzähl, ich bin schon ganz aufgeregt.« Wir laufen im Entenmarsch durch die Wohnwagensiedlung und lauschen GAMs Geschichte:

»Ich hatte eine Frau – Inka – wir lebten in Ost/34 in einem netten Reihenhaus und hatten einen Sohn. Als er erst ein Jahr alt war, wurde Irma erneut schwanger. Wir hatten es nicht geplant, aber die Geburt verzögerte sich und so erblickten unsere Kinder am 03. Januar eines Polarjahres das Licht der Welt.«

»Kinder?« Tamika reagiert schnell.

»Ja. Es waren zwei Mädchen. Centa und Cecille.« Centa, ungewöhnlich seltener Name.

»Aber dann hattet ihr ja drei? Wie…« GAM schneidet ihr das Wort ab und fährt mit starker Stimme fort.

»Gar nicht. Centa wurde uns noch in dieser Nacht weggenommen, da sie die Jüngere der beiden war, und von den Behörden verschleppt.« Mir dämmert es und ich bleibe stehen, damit ich nicht über meine eigenen Füße stolpern muss.

»Du ahnst, was jetzt kommt, oder Roya?« Tam greift mit dem Arm um meine Hüften und zieht mich sanft weiter.

»Ich war außer mir, verlor die Kontrolle und schlug einen der Beamten krankenhausreif. Daraufhin landete ich im Gefängnis und erhielt ein Besuchsverbot für meine Familie. Inka zerbrach schon bald an diesem Unglück und starb ein Jahr später im Haus ihrer Eltern. Valentin und Cecille wuchsen bei Oma und Opa in NW auf und hatten mich vergessen, als ich vierzehn Jahre später aus dem Knast entlassen wurde.«

»Das ist ja grausam!«, entfährt es mir.

»Was hast du erwartet, Prinzessin? Dass wir Boliden, wie ihr so schön sagt, aus Jusx und Tollerei in den Tunneln hausen, weil wir das Sonnenlicht scheiße finden und unter uns sein wollen?« Nein, natürlich nicht, aber seine Geschichte geht mir an die Nieren, auch wenn ich den Namen seiner jüngsten Tochter zu ignorieren versuche.

»Hast du wieder Kontakt zu deinen Kindern erhalten?« Ich muss es einfach wissen.

»Ich versuchte es. Immer und immer wieder, doch Inkas Eltern gaben mir die Schuld am Tod ihrer Tochter und erwirkten eine einstweilige Verfügung gegen mich, die mir verbot, mich mehr als 200 Metern meinen Kindern zu nähern. An Valentins Geburtstag legte ich ein Paket vor die großelterliche Tür und wurde verhaftet. Vier weiter Jahre saß ich ab, bis sich mein Leben schlagartig änderte, als…«

»Gabriel Alexander Moreno, wie lange soll ich noch auf dich und deine Königskinder warten?« Daloris steckt den Kopf aus ihrem hellblauen Wohnwagen und verschränkt genervt die Arme vor der fülligen Brust. »Erzählst du ihnen wieder irgendwelche Märchen aus deiner traurigen Vergangenheit? Schweigen ist Gold – wie oft muss das noch in deinen glattrasierten Schädel hinein?«

»Wie hat sie dich eben genannt?« Sly spricht aus, was wir Schläfer einfach nicht überhören konnten.«

»Gabriel Alexander Moreno – kurz GAM. Seid ihr schwer von Begriff, Leute?« Tamika hat gut zugehört, doch die Abkürzung ist es nicht, die uns stutzig macht. Dieser Typ, dieser Ledermanteltyp mit den tätowierten Armen und der bedrohlichen Statur trägt den Namen Moreno und ist der Vater von einem Gewissen Valentin, welcher in NW aufgewachsen ist und eine jüngere Schwester an die Dritten verlor. So viele Zufälle kann es nicht geben. Mir brummt der Kopf. Die Schweißperlen rinnen mir an den Schläfen hinunter und ich bin des Schluckens nicht mehr mächtig. Dieser Typ, GAM, der brutale, doch im Herzen gütige GAM ist Morenos Dad und wahrscheinlich der Vater unserer amtierenden Präsidentin. Jetzt habe ich Angst. Jetzt habe ich eine scheiß Angst, denn wenn er hier auf einem Autofriedhof lebt, während sein eigen Fleisch und Blut das Land zu retten versucht, dann muss irgendetwas gewaltig schief laufen und das werden wir herausfinden müssen.

Abwracken und Tee trinken

»Setzt euch, bitte.« Daloris schnappt sich eine Kanne frisch gebrühten Tee und weist uns die Plätze auf ihrer Wohnwageneckbank zu, bevor sie selbst auf dem einzigen Stuhl Platz nimmt und GAM vor die Tür schickt. »Tee?« Wir nicken, ohne auch nur ein Wort in den Mund zu nehmen, und werden bedient.

»Wie gefällt euch meine Stadt?« Ist das eine ernstgemeinte Frage? Fragt sie uns gerade, wie schön die letzten Tage, eingesperrt in einer Blechbüchse, waren und wie wir nach zehn Minuten Sightseeing die Wohnwagenkolonie beurteilen? Fünf Sterne, oder was?

»Mich würde brennend interessieren, wo wir uns hier genau befinden? In den Tunneln wäre doch kein Platz für knapp 1000 Menschen und 300 Wohnwagen, oder liege ich da falsch?« Daloris klemmt lachend die Unterlippe zwischen die Zähne und stützt die Ellenbogen auf den Tisch.

»Wie ist dein Name, Mädchen?«

»Tamika.«

»So, Tamika. Glaubst du, ich verrate einem vorlauten Mädchen, welches direkt aus dem Regierungspalast in meine Arme gelaufen ist, das wohl wichtigste Geheimnis meiner Familie?« Tamika schüttelt zaghaft den Kopf und wir anderen halten die Luft an.

»Ich wollte bloß…«

»Du wolltest bloß was? Nur weil du genau so dunkel bist wie ich und mit deinen großen Kulleraugen rollst, hältst du dich für sehr clever? Nein. Die Regeln hier mache ich und bis zur Übergabe bleibt ihr in der Wagenstadt, ohne auch nur eine winzige Information von mir zu erhalten.«

»Übergabe?«, prescht Sly mutig dazwischen.

»Natürlich. Ich kann euch Großmäuler schließlich nicht ewig durchfüttern.« Klingt gut. Wir kommen hier raus.

Hoffnungsvoll suche ich Tams Hand unter dem Tisch und drücke sie fest. Bald sind wir hier weg. Adé Haferschleim, adé Morgensport und adé ihr kühlen Nächte an Tams warmer Seite. Was soll das? Werde ich hier sentimental, weil es im Gefängnis besser ist als im goldenen Käfig der Polarjahrinitiation?

»Und wie genau wird das jetzt ablaufen?« Tam versucht, mit Bedacht die nächsten Schritte aus Oma Sanderbrink herauszukitzeln.

»Es wird zwei Trupps geben, da die Präsidentin nicht für all unsere Gäste zu bezahlen gedenkt.« Da haben wir es wieder. ›Wenn ich richtig liege, dann bringt uns die Auslöse dieser drei Eleven über den ganzen Winter‹ – Daloris Worte aus den Tunneln klingen noch in meinen Ohren, als wäre es gestern gewesen. Wen wird sie aussortieren?

»Und was passiert mit dem Rest von uns?« Meine Stimme zittert bei jeder Silbe mehr, denn wenn ich ehrlich bin, will ich die Antwort nicht hören.

»Das werdet ihr schon noch früh genug erfahren. Gestern haben wir den letzten umherirrenden Prinzen aufgelesen und können in die Verhandlungen starten.«

»Es sind noch mehr Eleven hier?« Sly lehnt sich so weit über den Tisch, dass sein langer Zopf beinahe in Daloris' Teetasse badet.

»Oh ja, aber nur die Cleversten von euch werden diesen kleinen Zwischenstopp überstehen und weiterhin an der Initiation teilnehmen können.«

»Wir sollten hier landen? Das ist auch wieder nur ein Test? Und was ist mit Melwin und den getöteten Draconis aus Tams Team? Sind diese jungen Menschen gestorben, weil sie nicht clever genug waren?« Tamika fängt unter ihren Worten bitterlich an zu weinen. »Das kann doch nicht ihr erst sein? Wie krank sind die Leute, die dieses verdammte Camp inszenieren? Wollen sie alle Eleven, bis auf die acht Ministeranwärter, tot sehen?« Sly nimmt seine Banknachbarin in die Arme und versucht sie mit sch und pst zu beruhigen. Zwecklos. »Ach nein, Verzeihung, vor den Ministeranwärtern machen sie ja auch keinen Halt.« Wahre und erschreckende Worte.

Seit wir in Gefangenschaft sind, haben wir keine Nachrichten von Miles oder den anderen Zirkumpolargruppen mehr erhalten können. Wir wissen nicht, wie diese Challenge durch die Medien geistert und inwieweit unsere Angehörigen überhaupt in Kenntnis gesetzt wurden. Ich hoffe, dass die Spielmacher genauso gute Lügner wie skrupellose Drahtzieher sind, denn dann wähnen mich meine Eltern in Sicherheit und bekommen nachts auch mal ein Auge zu.

»Wo sind die anderen?« Sly lenkt ein neues Thema ein, bevor Tamika erneut ihre weitere Teilnahme durch ihr loses Mundwerk gefährdet.

»Lasst mich mal überlegen!« In Zeitlupe lehnt sie sich nach hinten, fährt mit dem Zeigefinger genüsslich über den Rand ihrer Teetasse und starrt uns minutenlang ausdruckslos an. »Der kleine Dicke und seine Bande sind mit meiner Enkelin zur Sternenwacht aufgebrochen.«

»Zur was?«, kommt es synchron aus unseren offenen Mündern.

»Ups, da habe ich mich wohl ein wenig verplappert.« Sie lacht. Wie konnte diese gefühlskalte und berechnende Frau nur jemals bei BePolar landen und für eine gute Sache kämpfen wollen? Sie ist genau richtig hier unten am Ende der Welt, zwischen Schrottbergen und Ausgestoßenen. Die Tante hat sie doch nicht mehr alle.

»Bitte, Miss Daloris, wo hat Akira Berd und die anderen hingebracht?«

»Akira?« Tamika schaut Sly entgeistert an. Mit keiner Silbe hatte unser Gegenüber ihren Namen erwähnt. »Woher kennst du denn ein Bolidenmädchen, Sequoyah?« Scheiße. Nun ist er ihr eine Erklärung schuldig. Vielleicht wird es Zeit.

»Tja, Schätzchen, dein stattlicher Rittersmann steckt nicht in einer glänzenden Rüstung, sondern ist einer der gefragten Schläfer, die Centa Jünger so unbedingt zurück in den Palast befördern möchte.« Jetzt haben wir das Auswahlkriterium wohl gerade gefunden. »Immerhin müssen wir dir nun keinen unangenehmen Test zumuten, sondern können dich direkt in Halle 2 verfrachten. GAM?« Sie schreit so laut, dass wir vier vor Schreck zusammenfahren.

»Ja, Chefin?« GAM steckt seinen Glatzkopf zur Wagentür hinein.

»Bring unsere schwarze Prinzessin in die Abwrackhalle, und zwar ohne Umschweife, verstanden?«

»Verstanden!« Gehorsam erklimmt er die drei kleinen Stufen des Wohnwagens und zerrt Tamika grob von der Eckbank. Sly hält sie an beiden Händen so fest, dass ich das Knacken ihrer Handgelenke höre, bevor sie ihm entrissen wird.

»Nein, stopp!« Sly versucht, die beiden aufzuhalten. »Tamika hat doch nur einen Scherz gemacht. Natürlich kennt sie Akira noch aus der Akademie. Sie ist eine von uns, stimmt doch, Tamika, oder?«

»Eine von euch?« Tamika wehrt sich nicht gegen ihren Bändiger. »Ich bin keine von euch! Ich mache nicht gemeinsame Sache mit diesen Boliden, die meinen Freund aufspießen und mich an den höchstbietenden verscherbeln wollen. Ein schönes Leben noch, ihr drei, und auf Nimmerwiedersehen.« Mit diesen Worten knallt die Tür ins Schloss und Tamika hat ihr Ticket für die nächste Runde das Klo hinuntergespült.

Scheiße. Verdammte Scheiße. Verfluchter Mist. Ich könnte noch ewig fluchen, aber es würde rein gar nichts an unserer verfahrenen Situation ändern. Daloris genießt den Duft der Angst, der uns Zurückgebliebene umgibt. Werden wir Tamika je wieder zu Gesicht bekommen? Gut, sie ist eine schreckliche Nervensäge mit ihrem übertriebenen Mädchengehabe und wäre vielleicht an der Spitze eines mächtigen Landes etwas fehl am Platze gewesen, aber sie war – nein, sie ist – meine Freundin und es ist mir nicht egal, was GAM jetzt gerade mit ihr veranstaltet. Die Abwrackhalle. Bevor wir hier abhauen, werden wir wohl einen kleinen Umweg einkalkulieren müssen.

»Denkt nicht mal daran!« Daloris Worte fahren mir durch Mark und Bein. Kann sie meine Gedanken lesen oder ist das Pokerface so schlecht, dass man mir mein Vorhaben von den Augen ablesen kann? »Ihr drei werdet schön hierbleiben und meiner Familie zu einem hübschen Vermögen verhelfen.«

»Warum tun Sie das?« Sly schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch und lässt alle Anwesenden zusammenzucken.

»Du musst schon Klartext reden, Elevenjunge. Oder bringt man euch so etwas im Palast nicht bei?« Sie ist ein wahres Ekel und würde uns dieser sperrige Tisch nicht im Zaum halten, wäre ich ihr schon längst an die Gurgel gegangen.

»GAM ist der leibliche Vater unserer Präsidentin und Sie behandeln ihn wie einen Ochsen, der nichts weiter tut, als Ihren Wagen zu ziehen. Warum leben Sie hier in der Versenkung, wenn die mächtigste Frau im Land praktisch ein Teil Ihrer sogenannten Familie ist? Warum sperren Sie uns ein? Warum schlagen Sie Profit aus dem Elend junger Menschen und wie um alles in der Welt sind Sie so vom Weg abgekommen? Sie waren eine von uns. Eine BePolaristin und dann…«

»Genug!« Daloris fährt Sly mit einer solchen Kraft dazwischen, dass ich Angst habe, dass sie mit purer Willenskraft den blauen Wohnwagen zum Zerbersten bringen könnte. »Du kleiner, mieser Wicht. Wie kannst du nur so mit mir reden?«

Ich halte den Atem an, denn aus ihren Augen spricht eine Verachtung, die ich in diesem Ausmaß noch nie erleben musste. Die Luft ist verflucht dünn hier drin geworden und hochexplosiv. Bitte Sly, sei einfach ruhig und gib der Frau die Chance, sich abzureagieren.

»Du hast keine Ahnung, von was du da sprichst. Du kennst mich nicht, du kennst GAM nicht und erst recht nicht sein verzogenes und undankbares Gör von Präsidentin. Sie und ihre dressierten Affen haben die BePolarmission zerstört. Alles zunichte gemacht, für das wir unser halbes Leben gearbeitet haben. Sie hat ihre Freunde und ihre Familie verraten und es bricht mir das Herz, dass wir auf ihre Almosen angewiesen sind, aber ich habe für einen Moment etwas in der Hand, das sie unbedingt haben will und das verleiht mir Macht.«

»Macht, die Sie sehr begehren!« Sly, halt deinen Mund! Du Idiot. Ich schlage mir eine Hand vor mein glühendes Gesicht, denn gleich wird hier alles in die Luft fliegen.

»Korrekt.« Mehr kommt nicht? Keine Laserstrahlen, keine Fangzähne oder Krallen? Nein?

»Ich nehme an«, versuche ich, das Spannungsfeld zwischen den beiden aufzubrechen, »die wertvolle Fracht sind wir, die Schläfer, richtig?« Sie nickt, lehnt sich nach hinten und verschränkt die Arme vor der Brust. »Was macht uns zu etwas Besonderem?« Ein grässliches Lachen kommt aus ihrer Kehle.

»Fangen wir mal beim Urschleim an.« Solange sie abgelenkt ist und uns ihre Märchen erzählen kann, wird keiner von uns zerfetzt, abtransportiert oder verkauft. Die Zeit sollte reichen, um einen provisorischen Fluchtplan zu erstellen. Schade, das Multitasking noch nie mein größtes Talent war. »Centa wurde Präsidentin, fand heraus, dass sie eher Repräsentantin als Landesführerin ist und lediglich das Gesicht der Nation, ohne die Macht, Veränderungen zu bewirken.« Ja, wissen wir schon. »Sie wird BePolaristin und bewilligt das Schläferprogramm, um sich ihre ganz persönlichen Kindersoldaten heranzuziehen.«

»So einen Quatsch habe ich ja noch nie gehört!« Tam war die ganze Zeit über überraschend ruhig und diese Aussage bringt ihn auf die Palme? Wir lassen die Oma hier einfach ihre Geschichte erzählen. Ich glaube ihr doch sowieso kein Wort.

»Quatsch, ach ja?« So, jetzt beruhigen wir uns alle wieder! Ich muss nachdenken und das funktioniert nur, wenn das Ablenkungsmanöver halbwegs planmäßig verläuft. »Ihr mögt diese Frau vergöttern, denn darauf hat ihr Bruder euch programmiert, aber lasst euch eines gesagt sein: Sie geht über Leichen, um auf ihrem goldenen Thron sitzen zu bleiben. Sie wird euch ködern, euch dressieren, euch zwingen, die Kunststückchen vorzuzeigen, euch vor dem ganzen Land blamieren und dem Volk klar machen, dass es keine qualifiziertere und bessere Herrscherin gibt und ihre Macht auf diese Weise festigen.«

»Aber die Gesetze…«

»Waren schon immer dazu da, gebrochen zu werden, Tam Baliette.« Tam wird plötzlich ganz klein neben mir und drückt meine Hand ein wenig zu fest. »Dachtest du, ich weiß nicht, wen ich hier vor mir habe?« Vielleicht schon, aber nicht, dass es einen Unterschied machen würde.

»Dein Vater hatte einst so viel Potential, bis er sich wie ein Duckmäuser diesen Morenos zu Füßen warf und nach ihrer Pfeife tanzte. Als ich den Braten roch, zog ich Akira sofort aus der Gefahrenzone und verschwand mit ihr ans andere Ende des Landes. Doch er ließ zu, dass seine beiden Söhne in die Fänge dieser Hexe geraten und nun sitzt er in seinem Krankenhauskeller und hofft auf das Happy End. Wie blöd kann man sein? Wir waren Freunde, aber nun habe ich nichts als Verachtung für deinen Vater übrig. Er ist ein armes Würstchen, der so viel Angst vor der Welt hat, dass er seine Ideale verrät und in seinem Schneckenhaus einsam sterben wird.«

»Au, das tut mir weh«, flüstere ich, als ich glaube, meine Fingerknochen jeden Moment unter Tams Wut brechen zu hören. Er steht so unter Strom, dass er zu vergessen scheint, dass er seine Aggressionen nicht an meinen zarten Händen auslassen sollte.

»Ich würde jetzt gern gehen.« Er spricht ruhig und besonnen, lockert den Griff um meine geschundenen Finger jedoch keinen Millimeter. Tränen schießen mir in die Augen. Ich bin sicherlich keine Mimose, aber Tam macht mir wahnsinnige Angst und das ist nicht das erste Mal. Wo will er denn hingehen? In die Abwrackhalle, um Tamika Gesellschaft zu leisten? Als Märtyrer sterben, weil eine verwirrte und wahnhafte alte Frau seinen Papi beleidigt hat? Ich wünsche mir nichts mehr, als dass er sich beruhigt, meine Hand am Leben lässt und an meiner Seite diese Bolidenhölle übersteht.

»Gleich«, sagt Daloris genüsslich.

Ich schluchze. Ich möchte es nicht. Ich möchte stark und mutig sein, eine Flucht planen, zurück zu meiner Familie und weg von diesen ganzen Gestörten, die mich von allen Seiten bedrängen. Weg von den Lügen, den Manipulationen und diesem furchtbar deprimierenden Ort.

»Was haben Sie vor?« Sly, willst du es wirklich wissen? Ich wimmere wie ein kleines Mädchen und muss ein trauriges Bild abgeben, wie ich hier, hinter einen Campingtisch geklemmt, sitze und meine Finger vor Schmerzen nicht mehr spüre.

»Morgen früh geht ein Waffentransport nach Midden und ihr werdet in den Munitionskisten liegen.«

Made im Speck

»Roya?« Ich ziehe mir den Schlafsack über mein verheultes Gesicht und ignoriere die Anspielungen von der Seite. »Roya, können wir bitte darüber reden? Dein Schweigen bricht mir das Herz!« Jetzt reicht es! Ich drehe mich um und schreie ihn im halblauten Flüsterton an. Sly schläft bereits in seiner Eckbanksuite und ich möchte ihm dieses kleine Stückchen Frieden unter keinen Umständen nehmen, nur weil Mister selbstsüchtig meine Distanz nicht aushält.

»Tam, du hast dich nicht unter Kontrolle und das jagt mir Angst ein. Lass mich einfach! Ich brauche ein wenig Zeit, okay?« Bevor ich seinen stahlblauen Augen wieder hoffnungslos verfalle und klein beigebe, wende ich mich ab und unterdrücke die Tränenflut, die erneut meine Augen zu überschwemmen droht.

»Es tut mir leid!« Mensch, Junge, das weiß ich, aber deine süßliche Stimme wird mich jetzt gerade auch nicht in deine Arme treiben. »Diese Daloris hat mich einfach wahnsinnig gemacht mit ihren Lügengeschichten und deine Hand…«, er stockt und ich weiß genau, wie er in diesem Moment beschämt und traurig auf meinen abgewandten Rücken starrt. »Bitte verzeih mir! Ich wollte dir niemals weh tun!«

Nicht schwach werden, Roya. Diese Floskeln kommen in jedem zweiten Liebesschinken aus Fenjas Filmarchiv vor und haben nichts zu bedeuten. Ich brauche Abstand und den soll er mir verdammt nochmal zugestehen! Also bleibe ich reglos liegen und bin meiner geschundenen Hand dankbar für die ablenkenden Signale, die sie mir in pulsierenden Schmerzintervallen sendet. Au, morgen werden meine Finger sicher in den herrlichsten Grün- und Blautönen strahlen.

»Roya!« Ich werde herumgedreht und verheddere mich ungeschickt in meinem Schlafsack. Tam wollte ein ernstes Gespräch mit mir führen, aber nun beugt er sich lachend über mich, denn ich muss ein skurriles Bild abgeben, wie ich wie eine Made im Speckmantel vor ihm – oder besser gesagt unter ihm liege.

»Sorry, das ist jetzt einfach zu komisch!« Angeblich beleidigt, aber mit einem versteckten Lächeln auf den Lippen, will ich mich abwenden, als er mich erneut zaghaft an der Schulter packt und in sein Blickfeld dreht. Diese Augen. Nein! Stop! Keine Chance! Lass mich in Ruhe!

»Das könnte unser letzter Abend sein, ist dir das klar?« Natürlich. Ein Waffentransport als Taxi ins Zentrum Polars – das klingt nicht nur unglaublich bescheuert, sondern wird zudem gefährlich und vielleicht sogar tödlich. »Wir sollten nicht streiten, Roya!«

Er kommt näher und streicht mir die verlotterten Haare aus der salzig klebrigen Stirn. Bitte nicht. Ich habe jetzt langsam keine Kraft mehr, mich gegen deine Verführungskünste zu wehren. Sei bitte kein Arsch und nutz diese Schwäche nicht aus.

»Wir sollten jetzt schlafen!« Die Stimme der Vernunft hört sich aus meinem Mund total aufgesetzt an. Ich selbst würde mir den Mist nicht einmal glauben.

»Wir sollten vor allem nicht im Selbstmitleid zerfließen, sondern unser bisheriges Leben feiern. Es war nicht alles schlecht. Wir hatten wunderschöne Momente – gemeinsam.« Ein Schauer jagt mir bei seinem letzten Wort den ganzen Rücken hinunter. Gemeinsam.

»Wenn wir morgen tot sind, dann will ich meine verbleibenden Stunden auf dieser wunderschönen Erde nicht mit einer verletzten und tieftraurigen Roya an meiner Seite verbringen, sondern dankbar sein. Für dich! Für uns! Für das hier!« Sein Blick bleibt standhaft und lässt mich nicht aus seinen gutaussehenden und verführerischen Fängen.

Es gibt kein uns, schon lange nicht mehr. Ich liebe seinen Bruder und das weiß er. Er weiß es und er versteht und akzeptiert es. Das hat er mir in den letzten Wochen und Monaten immer wieder versprochen. Und doch will ich in dieser Sekunde sein Gesicht in meinen Händen halten, ihn küssen, ihn berühren und…

»Ich kann nicht!« Dreh dich weg, Roya! Bleibe standhaft! Schon deine Gedanken sind sündhaft! Also. Dreh. Dich. Um.

»Roya.« Es ist nur ein Hauchen, mit dem er die Buchstaben in mein Ohr bläst und ich erliege dem Zauber des Moments. Es ist falsch, es wird mich bis in meine Träume verfolgen und mein Herz in einen schwarzen Klumpen aus Lügen und Betrug verwandeln, aber ich blende die Schuldgefühle komplett aus und gebe Tam recht. Es könnten unsere letzten Minuten sein.

Tams warme Hände wandern ins Unbekannte, seine Lippen erkunden jeden Zentimeter meines kribbelnden Halses und ein wohliges Stöhnen entschlüpft meiner trockenen Kehle.

»Nein«, flüstere ich, »ich könnte mir das niemals, niemals, niemals verzeihen und außerdem bin ich gerade sauer auf dich!« Der Typ ignoriert meine Beschwerde gekonnt und widmet sich erneut meinem viel zu sensiblen Ohr. Ich weiß nicht, was ich denken und fühlen soll. Einerseits bin ich viel zu erregt, um jetzt noch einen Rückzieher zu machen, schließlich liege ich mit einem absoluten Traumtypen in einem gemeinsamen Schlafsack und habe verdammt wenig an. Andererseits schreit die eifersüchtige Stimme des Gewissens mich so penetrant an, dass ich sie einfach nicht zu überhören vermag.

»Soll ich aufhören?«, fragt er, während sein Kopf immer weiter nach unten wandert und die weichen Locken meine Nasenspitze kitzeln.

»Nein!«, sage ich. Ja, denke ich. Herz über Kopf. Lust über Verstand. Sünde über Traurigkeit.

»Roya?« Tams Mund findet meinen und beendet mit seinem Kuss mein leises Wehklagen, welches sich gerade in leidenschaftliches Beben zu verwandeln versucht.

»Halt den Mund und küss mich, sonst überleg ich es mir noch anders!« Dieser Aufforderung kommt er in solch einem Tempo nach, dass ich Angst habe, gleich einer Ohnmacht zu erliegen.

»Leute, ich wollte euch nur kurz mitteilen, dass ich auch noch hier bin. Aber lasst euch nicht stören.«

Scheiße. Tam kichert mit dem Kopf auf meiner Brust liegend und auch ich kann kaum an mir halten. Normalerweise würde ich in Scham versinken und mich vor lauter Aufregung im Klo einschließen, nur um Slys Blicke nicht ertragen zu müssen. Doch hier ist nichts normal. Hier betrüge ich um ein Haar einen geliebten Menschen, um mich für ein paar Minuten nicht mehr hilflos und allein zu fühlen. Obendrauf hat die Toilette in diesem Gefängnis nicht mal ein Schloss. Von der Normalität sind wir also ein so großes Stück entfernt, dass ich mich ohne rot zu werden aufsetze, Tam aus meinem schwitzigen Dekolleté hervorziehe, meine zerzausten Haare hinter die Ohren streiche, mein kurzes T-Shirt zurechtrücke und Tam mit einem Kuss auf die Nasenspitze sehnsüchtig in die Nacht entlasse. Unsere vielleicht letzte Nacht, in der mich Sly vor dem wahrscheinlich größten Fehler meines bisherigen Lebens bewahrt hat. Ich bin unendlich dankbar, doch es ist Tams breites Grinsen und mein peinlich berührtes Kichern, was zuletzt vor meinem inneren Auge tanzt und mich in gefährliche Träume entführt.

Tristan

Tag 462

Ich hasse tanzen!

»Links. Rechts. Rechts. Vorn. Hinten. Vorn. Hinten. Pause.«

Aber was ich noch mehr hasse, ist blind zu tanzen und mich auf Fenjas Anweisungen verlassen zu müssen. Was für ein dämlicher Test.

»Und weiter geht’s! Rechts. Rechts. Rechts. Vorn. Hinten. Vorn. Hinten. Links. Links. Links…«

Immer wieder die gleiche Leier. Ich trage eine Brille, die mir einen Waldspaziergang simuliert und tanze unterdessen auf einem digitalen Feld, welches abwechselnd bunte Quadrate aufleuchten lässt, die ich mit dem richtigen Fuß antippen muss. Problem dabei – ich sehe nichts außer Bäume. Fenja animiert mich zwar ganz passabel, aber es stresst gewaltig. So gewaltig, dass mir der kalte Schweiß von der Nase tropft und mich sicherlich gleich zum Ausrutschen bringen wird. Wann ist endlich Schluss?

»Okay, Tristan, higher Level. Gut gemacht!« Wie bitte? Noch schwerer? Die wollen mich fertig machen. Rafael sitzt irgendwo in der Ecke und lacht sich einen ab, während ich in meinem grauen Overall zerfließe. »Gut. Also, es wird jetzt eine Drehung und ein Sprung dazu kommen. Ich sage hüpf oder dreh rechts beziehungsweise dreh links, verstanden?

»Verstanden!« Obwohl ich keinen Bock mehr habe. »Wie schlägt sich die Hexe?«

Schweigen.

»Fenja? Wie viel Abstand haben wir noch zu Taranee?« Seit ihrer fiesen Aktion während der Tetrischallenge ist zwischen uns ein wilder Kampf entbrannt. Endlich haben wir es schwarz auf weiß, wer der bessere Sternenwächter ist. Ich liege mit 8400 Punkten vorn und dieses dumme Gehüpfe wird mich endgültig zum Sieger küren.

»Das ist jetzt völlig irrelevant, Tristan. Konzentrier dich auf deine Schritte. Du solltest nicht langsamer werden.« Tolle Ansage, Frau Lebe. Ich lese zwischen den Zeilen, dass das nervige rote Biest in diesem Girliegame ziemlich gut abschneidet. Shit. Das kann ich nicht auf mir sitzen lassen.

»Wir machen sie fertig. Los geht’s!« Ich atme ein und aus und balle meine Hände zu kampfesbereiten Fäusten. Jetzt zeig ich denen, wer der Discoking auf der Tanzfläche ist.

»Hüpf. Hüpf. Hüpf. Hüpf.« Hört das auch mal auf? Ich bin doch kein scheiß Känguru. »Rechts. Links. Rechts. Links. Links dreh. Rechts dreh.« Puh, ich kann nicht mehr. »Sie holt auf, Tristan. Nicht schlapp machen!«

»Schlapp machen? Ich? Wo denkst du hin, Baby?« Ich kann nicht mehr.

»Links dreh. Rechts dreh. Vor. Vor. Vor. Vor. Links. Rechts. Links. Rechts. Hüpf. Hüpf.« Diese dämliche Dudelmusik geht mir sowas von auf den Zünder.

»Wann ist endlich Schluss, Fenja?« Ich habe falsch geatmet und leider ein fieses Seitenstechen.

»Hüpf. Zehn. Hüpf. Se. Hüpf. Kun. Hüpf. Den. Aus!!!«

Puh! Ich reiße mir die affige Brille runter und stemme erschöpft die Hände auf die Oberschenkel. Duschen ist alles, was ich will. Was für ein Alptraum. Roya hätte dieses Theater ganz sicher gefallen, aber es ist ja auch irgendwie ein Mädchending.

»Gut, Leute, kommt zusammen!« Ich wollte duschen, Rafael, und keine endlose Ansage von dir hören. »Ich mache es kurz!«

Mmh, so kennen wir dich. Seit ich mit Royas Bruder wieder im Reinen bin und seine Stand-up-Comedy jeden Tag mit gutem Willen erlebe, weiß ich eines ganz sicher: unter zehn Minuten kommt er niemals, aber auch wirklich niemals zum Ende.

»Das war die letzte Challenge für heute!« Ein Raunen geht durch die Reihen der Schläfer. Heißt das, wir haben immer noch nicht alle Etappen dieser Testreihe hinter uns gebracht?

»Und…« Komm schon, mach es nicht so spannend. »Und wir werden euch morgen mitteilen, in welchen Teams ihr bis auf Weiteres tätig werdet.« Check. Ich klatsche mich mit Fenja ab. Egal ob Kampftraining bei Tima, Mentalismus bei Pfeffi, wie wir sie mittlerweile liebevoll nennen, oder Mirco Lehmanns Panikräume – es war aufregend, es war gut, aber es ist auch schön, wenn es nun ein Ende hat.

»Welche Teams stehen zur Wahl, Rafael?« Ja, diese Frage geistert uns allen im Kopf herum, Iso. Das Heimkind mit dem großen Herzen, welches unbedingt unsere zukünftige Kulturministerin retten mag, sehnt sich sicherlich nach einer ganz bestimmten Einsatztruppe: Die Sucher. Eine Einheit, welche vermisste Ministeranwärter und Eleven aufsprüren und rekrutieren soll. Ob er die Qualifikation für dieses Team erlangt hat, wird sich zeigen.

»Wir werden die Sternenwacht in fünf Gruppen einteilen. Erstens: die Basis. Diese Wächter sind die Augen und Ohren unserer Operation und arbeiten vom Loft aus.« Ach ja, die IT-ler. Höchst unwahrscheinlich, dass es mich dahin zieht.

»Zweitens: die Sucher, deren Aufgabe ich bereits nach der letzten Challenge erörtert habe. Drittens: die Späher. Sie werden sich auf einer gefährlichen Mission auf die Suche nach den Dritten begeben und deren Aufstellung und Ziele in Erfahrung bringen.« Scheiße. Das klingt wirklich gefährlich. Die Dritten, also all die aussortierten und vermutlich schwer gestörten Seelen, leben in versteckten Einrichtungen, welche über ganz Polar verteilt sind, und werden seit ihrer Geburt zu Kampfmaschinen ohne Herz und Verstand ausgebildet. Gäbe es dieses dämliche Gesetz in Polar nicht, dass nach zwei Kindern Schluss ist mit dem Projekt Fortpflanzung, wären diese Talentschmieden überflüssig. So bekommen wir es nun mit menschlichen Waffen zu tun. Unberechenbar. Roboter, durch deren Adern Blut fließt. Prost, sage ich nur zu den Glücklichen, die zu Spähern erkoren werden.

»Viertens: die Spielmacher.« Hä? Die gibt es doch schon. Diese Irren, welche das Camp der Eleven inszenieren und ständig Leute verlieren. »Diese kleine Gruppe wird sich in die Systeme und Köpfe der Polarjahrinitiation versetzen und versuchen zu manipulieren und zu verdrehen, wo es nur geht. Sie lenken das Camp und die darauffolgende Landung zu unseren Gunsten und lassen die Schläfer gut aussehen.«

»Ich mach’s!« Shit, hab ich das gerade laut geschrien? Verdammte Axt. So peinlich.

»Tristan, toll, dass du dich dazu bereiterklären würdest, aber wir haben nicht umsonst Eignungstests durchgeführt. Gedulde dich also bitte.«

Ich hab’s versaut. Verdammt. Aber genau das ist meine Bestimmung. So nah komme ich Roya in keiner anderen Einsatzgruppe. Ich säße am Regler, könnte Tag und Nacht ein Auge auf sie haben und…

»Fünftens und letztens: dieLogisten. Das Herz der Sternenwacht. Ohne sie kommt alles zum Stillstand. Sie sorgen für Nahrung, Kleidung, Technik, Fahrzeuge und so weiter. Hier sind fitte Organisationstalente gefragt, die sich auch gern die Finger schmutzig machen.« Ach nö. Kochen, backen und Klos putzen, während die anderen Abenteuer erleben? Nicht so meins.

»Dann ruht euch jetzt aus. Ab morgen wird ein anderer Wind im Loft wehen und ich brauche ausgeruhte Wächter, damit wir uns Polar und die zukünftigen Minister zurückholen können. Be Polar!«

»Be Polar!«, stimmen die zehn heutigen Schläfer mit ein, bevor einer nach dem anderen sein Zimmer aufsucht und in einen traumlosen Schlaf verfällt.

Lebendig begraben II.

Verfluchte Scheiße! Ich sollte definitiv weniger fluchen, aber das hier ist Mist. Als Daloris sagte, unser Transport nach Midden fände inmitten eines Waffentransportes als Inhalt einer Munitionskiste statt, war ich mir zu einhundert Prozent sicher, dass es sich um einen ihrer bescheuerten Scherze handle, die sich nicht nach solchen anhören. Es geistern tausende von Fragen durch meinen Kopf, an dessen Stirn sich nun, zum wiederholten Male, eine Beule bilden wird. Was findet alle Welt nur immer an Kisten? Die ganze Situation erinnert mich an Morenos bescheuerten Sargtest, nachdem ich noch nächtelang von Alpträumen heimgesucht wurde. Selbst das Loch im Deckel und die Maße dieses Kastens lassen die angsterfüllten Bilder von damals wieder hochleben. Diesmal bin ich vorbereitet und habe keine Angst, da ich als Schläferin zu solch wertvoller Fracht gestempelt wurde, dass sie mich wohl kaum hier drinnen verrecken lassen werden – hoffe ich.