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Ein Plädoyer für »Nie wieder«
Sein Leben lang wohnte der 16-jährige Matthias neben Friedrich Schmidt. Er kannte den alten Mann gut – dachte er zumindest. Doch nach Schmidts Tod findet er heraus, dass der früher bei der SS war und bis zuletzt in Verbindung mit rechten Gruppierungen stand. Niemand in der Kleinstadt hatte davon gewusst.
Für Matthias war der Nationalsozialismus bis dahin immer etwas, das mit anderen zu tun hatte, aber nicht mit ihm oder seinem Umfeld. Er geht der Sache nach und reist zusammen mit seinem besten Freund Philipp bis nach Ascq in Frankreich. Dort treffen sie Menschen, deren Familien unter den Kriegsverbrechen von Schmidts SS-Einheit gelitten haben. Ihnen wird klar: Diese schrecklichen Taten dürfen nicht vergessen werden!
Inspiriert von wahren Begebenheiten erzählt Reiner Engelmann mit viel Feingefühl eine Geschichte über Schuld, das Vergessen und die Gefahren der rechten Szene.
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Seitenzahl: 312
Veröffentlichungsjahr: 2025
Reiner Engelmann
Die Schuld wohnt nebenan
Ein Roman über Vergangenheitsbewältigung, erzählt nach einer wahren Begebenheit
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© 2025 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag
In der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Uwe-Michael Gutzschhahn
Umschlaggestaltung: Geviert, GbR, Grafik & Typografie
Umschlagmotive: Shutterstock.com (Ivanova Ksenia, Jacob_09) und Wikimedia Commons (anonym (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Jielbeaumadier_ascq_gare1900.jpg), »Jielbeaumadier ascq gare1900«, als gemeinfrei gekennzeichnet, Details auf Wikimedia Commons: https://commons.wikimedia.org/wiki/Template:PD-old)
skn · Herstellung: DiMo · ChS
Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-32373-8V002
www.cbj-verlag.de
Das Vergangene ist nicht tot,
es ist nicht einmal vergangen.
William Faulkner
Lille, 6. August 1949
Vor einem französischen Militärgericht in Lille fand am heutigen Tag ein Prozess seinen Abschluss, der eine grauenvolle Episode des vergangenen Krieges wieder in Erinnerung rief. Neun SS-Männer waren angeklagt, an der Erschießung von 86 Geiseln in der Nacht vom 1. auf den 2. April 1944 beteiligt gewesen zu sein.
Hintergrund für dieses Massaker war, dass die französische Widerstandsbewegung einen Anschlag auf eine Bahnstrecke zwischen Lille und Ascq verübte, bei dem zwei Waggons eines Zuges entgleisten, in dem sich Soldaten der SS-Division Hitlerjugend befanden. Verletzt wurde bei diesem Anschlag niemand.
Obersturmführer* Walter Hauck erteilte den Befehl, alle Männer zwischen siebzehn und fünfzig Jahren zu ergreifen und vorzuführen. Irgendwelche von ihnen würden schon für den Anschlag verantwortlich sein, so die Begründung. Eine große Zahl von Männern, die jüngsten waren fünfzehn Jahre, der älteste fünfundsiebzig Jahre, wurde zum Bahndamm abgeführt, wo man sie alle erschoss.
In dem Verfahren wurde auch gegen acht weitere SS-Männer in Abwesenheit verhandelt. Sie alle wurden für schuldig befunden, an dem Verbrechen in jener Aprilnacht beteiligt gewesen zu sein.
Zahlreiche Zeuginnen und Zeugen wurden im Prozess befragt, die einhellig das brutale Vorgehen der SS-Männer beschrieben. Man habe die späteren Opfer zum Teil aus ihren Betten geholt und abgeführt, andere, die sich weigerten mitzukommen, habe man an Ort und Stelle in ihren Häusern erschossen.
Als die deutschen Dienststellen davon erfuhren, bedauerten sie zunächst die Vorgehensweise. Später erklärten sie jedoch, es sei eine notwendige Maßnahme gewesen, da die SS von Terroristen angegriffen worden sei.
Acht der anwesenden Angeklagten wurden zum Tode verurteilt, einer zu fünfzehn Jahren Zwangsarbeit. Auch gegen die abwesenden Angeklagten ergingen Urteile. Gegen sie wurde ebenfalls die Todesstrafe verhängt.
Einer der Abwesenden in diesem Verfahren war Friedrich Schmidt aus Nordenhausen. Zu dem Zeitpunkt, als das Urteil über ihn gesprochen wurde, saß er als Postbeamter im Postamt seiner Heimatstadt, plauderte mit den Kunden, verkaufte Briefmarken und stempelte Briefe und Karten ab. Was im fernen Lille geschah, ließ ihn kalt. In seiner Heimat fühlte er sich sicher. Für die Gerichtsverhandlung in Lille hatte er kein Verständnis. Er hatte sich nichts zuschulden kommen lassen, er hatte Befehle ausgeführt, sonst nichts. Als Soldat musste er so handeln. So sah er das.
Nordenhausen, April 2022
Ein kräftiger Wind trieb dunkle Wolken über die Stadt, aus denen es unablässig schüttete. Regenwasser überspülte die Straßen und Bürgersteige, füllte Schlaglöcher, überflutete die Abflussrinnen auf beiden Seiten der Straße. Die Gullys konnten die Wassermassen nicht mehr aufnehmen. Die meisten Autofahrer fuhren bedächtig langsam, nur einige wenige nahmen keine Rücksicht auf die Fußgänger, die unterwegs waren, und rasten durch die Pfützen, dass das Wasser nach allen Seiten spritzte.
Matthias schaute aus dem Klassenfenster und ärgerte sich, dass er keine Regenjacke dabeihatte. Iris, seine Mutter, hatte es ihm am Morgen noch nahegelegt, doch er wollte nicht.
»Schau doch mal raus, der Himmel ist total blau, heute gibt’s keinen Regen!«
Bei seinem Blick aus dem Küchenfenster hatte er den alten Fritz gesehen, seinen Nachbarn. Warum er von den meisten Bewohnern des Ortes so genannt wurde, wusste Matthias nicht, er hatte einfach schon immer so geheißen. Nun stand er an seinem Fenster, stützte sich mit beiden Händen auf der Fensterbank ab und schaute in den Himmel. Ganz blass sah er aus, das fiel Matthias auf. Sonst hatte er immer rote Wangen und auch eine rote Nase gehabt.
Matthias winkte ihm zu, doch der alte Mann schien ihn nicht zu sehen.
»Ist der alte Fritz krank, Iris?«, fragte er seine Mutter, die am Küchentisch saß.
Matthias nannte seine Mutter schon immer bei ihrem Vornamen. Er konnte sich nicht vorstellen, Mama oder gar Mutti zu sagen, das hätte nicht zu ihr gepasst. Bald würden sie gemeinsam das Haus verlassen, Matthias in die Schule, Iris ins Büro eines Autohändlers, wo sie eine Halbtagsstelle hatte. Seinen Vater bekam er morgens nie zu sehen. Schon um sechs Uhr musste er täglich zur Arbeit los und kam erst gegen Abend wieder nach Hause.
»Wie kommst du darauf, gestern war er auf jeden Fall noch vor der Tür und hat sich mit Nachbarn unterhalten.«
Iris kam zu Matthias, stellte sich neben ihn, legte ihre Arme um seine Schultern und so schauten sie nun beide zu ihm rüber.
»Er sieht wirklich ein bisschen blass aus«, fand auch sie. »Ist bestimmt das Wetter, das ihm zu schaffen macht.«
»Wie alt ist er eigentlich?«, wollte Matthias wissen. »Der sieht für mich immer noch so aus, wie ich ihn als Kind in Erinnerung habe. Graue Haare, faltiges Gesicht, große Nase und den Rücken leicht nach vorn gebeugt.«
»Er hat sich schon stark verändert«, fand Iris. »Der hat nicht nur weniger Haare und ein paar Falten mehr im Gesicht, er ist in allem langsamer geworden. Im Gehen, im Reden, im Reagieren, wenn man ihm etwas sagt. Aber mit fast siebenundneunzig ist das ja auch kein Wunder.«
»Was? So alt ist der schon? Das hätte ich nicht gedacht. Für mich ist er immer derselbe. Der Mann, der hier zur Straße gehört wie die Häuser und die Bäume.« Matthias machte eine Pause, dachte nach. »Hat er eigentlich immer allein in dem Haus gewohnt?«
Er merkte, dass er gar nicht viel über den alten Mann wusste, obwohl sie Nachbarn waren. Als kleiner Junge war er ein paarmal in seinem Haus gewesen. Die Küche und das Wohnzimmer hatten völlig anders ausgesehen als bei Matthias zu Hause. In der Küche stand ein Herd, auf dem er kochte, der Küchenschrank sah sehr alt aus. In Matthias’ Erinnerung war er aus dunklem Holz. Der Unterschrank hatte drei Türen mit Schlüsseln, das Oberteil Glastüren, hinter denen sich Kaffeetassen und Teller stapelten. In einer Ecke der Küche, unterhalb des Wasserhahns, gab es ein Spülbecken mit Abtropffläche. In der Mitte des Raums standen ein Tisch und zwei Stühle. Einen Kühlschrank hatte er nicht gesehen.
Wer wohl auf dem zweiten Stuhl saß?, hatte er sich schon damals gefragt, aber nicht den Mut gehabt, den alten Fritz drauf anzusprechen.
Im Wohnzimmer stand ein Kanapee, das mit grünem Samtstoff bezogen war. Wenn Matthias mit den Händen darüberfuhr, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. Er mochte den Stoff nicht. An einer Wand stand eine Vitrine aus dunklem Holz, die zwei Schiebetüren aus Glas hatte. Dahinter waren Wein- und Schnapsgläser aufgereiht. Das Foto einer Frau lehnte an einem der Gläser.
»Das ist meine Schwester«, hatte der alte Fritz ihm damals erklärt. »Ist lange tot. Sie war eine Gute! Hat immer treu gedient!«
Mit dem letzten Satz hatte Matthias nichts anzufangen gewusst.
An der gegenüberliegenden Wand stand ein Sideboard, darüber hing ein großes, mit einem Eichenrahmen eingefasstes Foto von einem jungen Mann in Uniform.
»Das bin ich als Soldat!«, strahlte der alte Fritz voller Stolz, »das war eine schöne Zeit. Wir waren jung, aber das Wichtigste war: Damals herrschte Ordnung, und wir haben dafür gesorgt, dass es so bleibt!«
»Wie habt ihr das gemacht?« Matthias hatte für die Frage all seinen Mut zusammengenommen. Er hatte schon davon gehört, dass Soldaten im Krieg kämpfen mussten. Ob diese Kämpfe so ähnlich waren wie die der Ritter auf seiner Legoburg? Fechten, hinfallen, aufstehen, weiterkämpfen. Er wusste nicht, wie Krieg unter richtigen Soldaten aussah. Standen sie auch wieder auf wie seine Legofiguren, wenn sie umgefallen waren?
»Ach Junge«, erwiderte der alte Fritz, und seine Stimme klang etwas traurig, fand Matthias. »Von der Ordnung, wie wir sie damals anstrebten, will heute keiner mehr etwas wissen! Leider! Nur noch wenige Menschen interessieren sich dafür.«
Wie alt war ich, als der alte Fritz mir das erklärte, überlegte Matthias, sieben Jahre oder schon acht? Verstanden habe ich nichts davon. Warum sollte heute niemanden interessieren, was die Menschen damals dachten und taten? Ich wusste einfach noch nichts über die Zeit.
Nur diese bruchstückhaften Erinnerungen an den alten Fritz hatte Matthias von seinen wenigen Besuchen bei dem Mann. Auch jetzt, als er darüber nachdachte, konnte er nicht alles einordnen, was der alte Fritz ihm damals erzählt hatte. Was hatte das alles zu bedeuten? Was war das für eine Ordnung, von der er redete?
In der Stadt war der alte Fritz vielen Leuten bekannt. Er war Mitglied im Philatelistenverein. Kein Wunder, als ehemaliger Postbeamter hatte er eine besondere Beziehung zu Briefmarken. Er kannte sich damit aus. Besonderen Wert legte er auf Marken aus den Fünfzigerjahren und auf solche ab 1930. Nach diesen Marken fragte er immer mal wieder die Mitglieder im Geschichtsverein oder auch ein paar Bekannte, wenn er sie beim Einkaufen in der Stadt oder bei anderen Gelegenheiten traf. Penibel geordnet steckten die Marken in seinen Briefmarkenalben.
Im Geschichtsverein der Stadt war er auch aktiv. Allerdings beschäftigten sie sich da weniger mit der Geschichte der Stadt, vielmehr damit, den besonderen Dialekt in der Region zu bewahren. Einmal im Jahr wurden Heimatautoren eingeladen, die Gedichte oder kleine Geschichten in ihrer Mundart verfasst hatten und in Nordenhausen vortragen durften.
»Hat der alte Fritz immer allein in seinem Haus gewohnt?« Iris war ihm die Antwort noch schuldig.
»Ich musste auch erst mal nachdenken«, begann sie. »Nein, er hat nicht immer allein dort gewohnt. Er war verheiratet, aber seine Frau ist schon sehr früh gestorben. Lange bevor du zur Welt gekommen bist. Auch schon ein paar Jahre bevor ich deinen Vater kennengelernt habe, gab es sie bereits nicht mehr. Ja, so lange ich ihn kenne, wohnt er allein dort. Er hatte nach dem Tod seiner Frau wohl ein paar Frauenbekanntschaften, aber keine von ihnen wollte mit ihm unter einem Dach leben.«
»Warum nicht?«, bohrte Matthias nach.
»Genaues kann ich dir nicht sagen. Es gibt nur ein paar Gerüchte, er habe von den Frauen verlangt, sie müssten ihm den Haushalt machen, aber an der Einrichtung durften sie nichts ändern. Keine neuen, modernen Möbel anschaffen, alles sollte so bleiben, wie es war und heute immer noch ist. Aber – das sind nur Gerüchte, keine von seinen Frauenbekanntschaften habe ich je kennengelernt. In der Nachbarschaft wurde nur drüber getuschelt.«
Iris schaute auf die Uhr.
»So, für dich ist es jetzt aber Zeit, in die Schule zu gehen. Nimm deine Regenjacke mit, für heute Mittag sind heftige Regenschauer angesagt.«
Iris hatte recht behalten. Schon im Laufe des Vormittags verdunkelte sich der Himmel mit schweren grauen Wolken und der erste Regen fiel.
Nach Unterrichtsschluss stand Matthias am Eingang des Schulgebäudes unter dem schützenden Vordach und sah, wie die Nässe immer schlimmer wurde, Windböen trieben Regenschleier über den Hof. Sollte er warten, bis es aufhörte? Die Entscheidung wurde ihm abgenommen, als plötzlich immer mehr Schüler nach draußen drängten und ihn mitrissen. Matthias schulterte seinen Rucksack, zog die Kapuze des Hoodies tief in die Stirn und rannte los. Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht, drangen in den Stoff und nach kurzer Zeit war alles durchtränkt. Er hatte es nicht weit bis nach Hause, ein paar Minuten nur. Einige Male musste er auf dem Bürgersteig zur Seite springen, weil Autos mit hoher Geschwindigkeit durch die Pfützen preschten. Nur einmal war er nicht schnell genug und seine Jeans wurde von unten bis oben nass.
Er wollte schon hinterherschimpfen, als er abrupt stehen blieb.
Was war da los? Ganz in der Nähe von seinem Elternhaus stand ein Rettungswagen, dahinter ein Leichenauto! Beide vor dem Haus vom alten Fritz! War der Nachbar etwa …? Eine Weile stand er da, mitten im Regen, und starrte auf die beiden Fahrzeuge. Es war wie ein Standbild in einer Filmszene. Plötzlich kam Bewegung auf. Ein Mann in schwarzem Anzug trat mit eingezogenem Kopf hinter das Leichenauto und öffnete die Heckklappe. Danach eilte er zurück ins Haus. Kurze Zeit später kam er wieder heraus, zusammen mit einem zweiten Mann, auch in Schwarz, und gemeinsam wuchteten sie einen Sarg in den Wagen.
Ob der alte Fritz da drinliegt?, ging es Matthias durch den Kopf. Dann lief er die letzten Schritte nach Hause.
Schon im Flur empfing ihn seine Mutter, halb entsetzt, wie durchnässt Matthias vor ihr stand, mit ihren Gedanken aber gleichzeitig beim alten Fritz, der am Vormittag gestorben war.
»Was ist passiert?«, wollte Matthias wissen. »Heute Morgen stand er doch noch am Fenster!«
»Er hatte schon seit Längerem so einen Hausnotruf«, erklärte Ines. »Ich vermute, der alte Fritz hat einen Kreislaufkollaps bekommen und gerade noch die Notruftaste drücken können. Offenbar war es aber zu spät. Kurz nachdem der Krankenwagen hier war, kam auch schon das Bestattungsunternehmen. Ich werde nachher mal rübergehen und mit dem Arzt sprechen. Irgendjemand muss sich ja jetzt um alles kümmern. Und der alte Fritz hat uns gebeten, wenn es bei ihm mal so weit ist, sollen wir das in die Hand nehmen.«
»Müsst ihr jetzt die Beerdigung ausrichten?« Matthias schaute Iris mit großen Augen an.
»Da werden sicher auch noch andere Nachbarn mithelfen. Aber er hat uns gebeten, nach der Beerdigung sein Haus zu entrümpeln, Dinge, die wir brauchen könnten, sollten wir uns nehmen, ansonsten alles wegschmeißen oder verkaufen. Und dann sollen wir noch das Haus verkaufen. Für unsere Arbeit sollen wir auch bezahlt werden, so hat er es wohl beim Notar hinterlegt.«
»Ist das nicht komisch, die Sachen von einem Menschen, den ihr kanntet, zu verkaufen oder auf den Sperrmüll zu werfen?« Matthias konnte sich das nicht vorstellen, war aber gleichzeitig neugierig, was es in einem solchen Haushalt wohl zu entdecken gab.
»Ja, das wird sicher nicht einfach. Aber wir hatten keine enge Beziehung zum alten Fritz, waren einfach nur Nachbarn. Ich weiß ja auch nicht, was der so alles gehortet hat. Doch das sind bestimmt keine wertvollen Sachen. Mal sehen.« Nachdenklich schaute sie vor sich hin.
»Ich werd mir jetzt erst mal was Trockenes anziehen, bevor ich noch eine Erkältung kriege«, beendete Matthias das Gespräch. Auf dem Weg in sein Zimmer rief er seiner Mutter zu: »Ich wär aber gern bei der Entrümpelungsaktion dabei!«
Am Tag der Beerdigung vom alten Fritz zeigte sich der April von seiner angenehmen Seite. Der Himmel war wolkenlos, und die Sonne schien angenehm warm, als sich die wenigen Trauergäste aus dem Ort an der Friedhofskapelle versammelten, um von dem alten Mann Abschied zu nehmen. Nur ein paar Nachbarn und einige Mitglieder aus seinen beiden Vereinen waren erschienen. Außerdem waren da noch ein paar Männer, die niemand kannte. Einige waren mit Autos gekommen, andere auf ihren Motorrädern. Besonders die Biker passten nicht so recht in die Trauergemeinschaft. Sie trugen Lederjacken mit Nieten und der Aufschrift »Freie Kameradschaft«*. Die Einheimischen blickten skeptisch zu den Fremden hinüber und hielten Abstand.
Matthias hatte es abgelehnt, an der Beisetzung teilzunehmen. »Da werden doch nur die alten Leute aus dem Ort mitgehen. Außerdem schreiben wir morgen Mathe!« Trotzdem trieb ihn die Neugier hinaus. Er holte sein Fahrrad aus dem Schuppen und fuhr los – mit kleinen Umwegen, als wenn er nur zufällig am Friedhof vorbeikäme. Als er die fremden Biker in ihren Lederjacken sah, bremste er. Wo kommen die denn her?, überlegte er. Und woher wissen die, dass der alte Fritz tot ist? Hatte er doch noch Verwandte, von denen niemand etwas wusste? Die Männer sahen allerdings eher nach Mitgliedern einer Rockerbande aus als nach trauernden Angehörigen.
Beim Abendessen fragte er seine Eltern nach den Bikern, doch auch sie hatten keine Ahnung. »Die waren einfach da und sind nach der Beisetzung sofort wieder los.«
»War schon ein seltsames Bild«, sagte sein Vater, den Matthias seit jeher Conrad nannte, »die fremden Männer in ihren Lederjacken und mit den Motorrädern. Ist das eine Motorradgang, diese Freie Kameradschaft?«
»Ich vermute, das ist ein Motorradklub«, begann Matthias. »Allerdings kenn ich mich in der Szene nicht aus. Könnte auch sein, dass sie aus dem rechtsextremen Bereich kommen.« Matthias wirkte nachdenklich. »Was haben die Typen aber auf der Beerdigung vom alten Fritz zu suchen? Der war doch bestimmt kein Biker! Ob es da einen anderen Zusammenhang gibt?«
»Der alte Fritz und diese Männer? Da kann ich beim besten Willen keine Verbindung erkennen«, warf Conrad ein. »Der Mann kam doch so gut wie gar nicht mehr vor die Tür, außer vielleicht mal zum Arzt, zum Einkaufen oder zu seinen Vereinstreffen.«
»Bis vor ein paar Jahren ist er aber öfter mal für ein paar Tage verreist, erinnerst du dich? Und einmal wurde er sogar abgeholt! In ein großes schwarzes Auto ist er gestiegen.« Iris versuchte, sich zu erinnern. »Ich kann mir einfach keine Automarken merken. Ein Fahrer ist ausgestiegen, hat ihm die Tasche abgenommen, die Beifahrertür geöffnet und ihm beim Einsteigen geholfen. Spät am Abend muss er ihn wieder zurückgebracht haben. Ich hab nur gehört, wie die Autotüren zugeschlagen wurden.«
»Ja, mein Gott, da wird er sich mal einen schönen Abend gegönnt haben«, meinte Conrad. »Der hat doch sonst nicht viel vom Leben gehabt.«
»Nein, nein, dafür war er zu knauserig«, widersprach Iris.
»Egal, wer diese Typen auf dem Friedhof heute waren, ist alles bloß Spekulation«, sagte Matthias. »Aber vielleicht gibt es in seinem Haus ja Hinweise, was für Kontakte er hatte.«
»Was sollen das denn für Hinweise sein?«, wollte Iris wissen.
»Weiß ich doch nicht, vielleicht hat er uneheliche Kinder oder er hat einen von diesen Bikern adoptiert. Keine Ahnung. So wichtig ist es mir auch wieder nicht!« Matthias stand schon vom Tisch auf, als sein Vater sagte: »In den nächsten Tagen werde ich zum Notar gehen, um zu erfahren, welche Regelung der alte Fritz für seinen Nachlass hinterlegt hat.« Conrad zupfte sich an seinem rechten Ohrläppchen. Das tat er immer, wenn wichtige Dinge zu erledigen waren. »Bislang wissen wir ja nur, dass wir das Haus entrümpeln und anschließend zum Verkauf anbieten sollen. Wohin die Einnahmen dann gehen, hat uns Fritz nicht gesagt, nur, dass sein Testament beim Notar liegt.«
Drei Tage später kam Conrad mit strahlendem Gesicht von dem Notartermin zurück.
»Der alte Fritz hat uns gut bedacht!«, erzählte er. »Das Geld, das wir über den Verkauf des Inventars einnehmen, dürfen wir komplett behalten, und dann, jetzt kommt der Hammer!« Conrad machte eine Pause, um die Spannung zu erhöhen. »Vom Erlös des Hausverkaufs bekommen wir zehn Prozent. So steht es im Testament. Na? Was sagt ihr dazu?«
»Und wo gehen die anderen neunzig Prozent hin?«, wollte Matthias wissen.
»Das hat der Notar nicht gesagt. Nur, dass das Geld für einen guten Zweck bestimmt sei. Irgendeine Partei soll es bekommen, aber welche, darüber hat er geschwiegen. Das sei einzig Sache des Erblassers.«
»Dann hoffen wir mal, dass er sich die richtige Partei ausgesucht hat und nicht so einen rechten Haufen«, meinte Matthias. »Nach dem, was ich in der Zwischenzeit über die Motorradgang rausgekriegt hab, gehören die eindeutig zur rechten Szene. Als gewalttätig sind sie auch schon öfter aufgefallen!« Matthias hatte Zweifel, dass der größte Teil des Geldes tatsächlich einem guten Zweck zugutekäme. Rechte Szene und guter Zweck passten für ihn nicht zusammen.
»Wollen wir dann am Samstag mit der Entrümpelung anfangen?«, fragte Conrad. »Ich will, dass wir das möglichst schnell hinter uns bringen.«
»Samstag ist gut«, nickte Matthias.
Es roch muffig, als Matthias und Conrad am Samstagvormittag in das Haus traten. Und das lag sicher nicht nur daran, dass einige Tage lang nicht gelüftet worden war. Die Wände hatten ganz offensichtlich schon lange keine neue Farbe mehr gesehen. Selbst die Möbel fühlten sich feucht und irgendwie klebrig an.
»Davon werden wir sicher nichts übernehmen«, meinte Conrad, als sie einmal durchs Haus gegangen waren. »Da müssen wir den Sperrmüll bestellen. Ich wage nicht mal, diesen Dreck hier jemandem zum Kauf anzubieten.«
Den ganzen Tag schleppten Vater und Sohn Möbel aus dem Haus und stellten sie in dem angrenzenden leeren Holzschuppen ab. Selbst das Geschirr sah alt und abgenutzt aus. Nur ein Silberbesteck, das sie im Sideboard im Wohnzimmer fanden, schien noch in Ordnung. Vielleicht gab es ja Sammler, die sich für so etwas interessierten.
»Okay, das war’s dann wohl«, sagte Conrad, als sie am Nachmittag das letzte Schränkchen hinausgetragen hatten. »Mehr ist da nicht mehr drin!«
»Wir waren noch nicht auf dem Speicher«, hielt Matthias dagegen.
»Gestern habe ich schon mal einen Blick reingeworfen. Ich glaube, da oben ist nichts mehr!« Conrad hatte offensichtlich keine Lust, sich weiter mit den alten Sachen herumzuärgern. Er wollte nur noch nach Hause, eine heiße Dusche nehmen und Feierabend machen.
»Ich geh noch mal hoch und schau nach«, sagte Matthias und war schon wieder im Haus verschwunden.
Auf dem Dachboden war es dunkel, nur eine kleine Fensterluke ließ etwas Licht rein. Eine Taschenlampe wäre jetzt gut, dachte Matthias, doch dann entdeckte er einen Lichtschalter. Die Glühbirne erhellte den Raum zwar nur dürftig, aber sie gab doch so viel Licht ab, dass er den ganzen Dachboden überblicken konnte.
Dann entdeckte er was. Ganz hinten an der Wand stand eine Truhe. Eine Holztruhe. Er ging drauf zu und wollte sie öffnen, doch sie schien abgeschlossen. So sehr er sich auch mühte, er schaffte es nicht, sie zu öffnen.
Matthias suchte zuerst die Wand nach einem Schlüssel ab, ohne Erfolg. Weil er keinen anderen Rat wusste, zog er die Truhe ein Stück von der Wand und da war er. Auf der Rückseite hing er an einem Nagel. Warum so versteckt?
Was wohl in der Truhe drin ist?, überlegte Matthias. Er steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn um. Es gab ein knarzendes Geräusch. Vorsichtig hob er den Deckel hoch und traute seinen Augen nicht. Ganz oben lag eine Reichskriegsflagge*, das Hakenkreuz* genau in der Mitte. Matthias wollte es nicht glauben. Hatte der alte Fritz tatsächlich diese Sachen von früher aufbewahrt? Er zog die Flagge heraus, wollte wissen, was sich noch in der Truhe befand. Ein Teil nach dem anderen holte er heraus und legte es vor sich auf den Boden: Aktenordner, Mappen, Zeitschriften, Fotos. Sogar einen Stahlhelm mit SS-Runen* fand er und eine Uniformjacke. Nicht irgendeine, sondern eine von der Waffen-SS*.
Matthias schüttelte ungläubig den Kopf. Warum hat der alte Fritz all die Sachen aufbewahrt? Hat er sich das alles immer wieder mal angeschaut und sich erinnert? Waren das die guten Zeiten, von denen er erzählt hat?
Sein Blick blieb an dem ersten Aktenordner hängen. Matthias zog ihn zu sich heran und schlug ihn auf. Gleich auf der ersten Seite fand er einen Zeitungsartikel der Österreichischen Volksstimme vom 4. August 1949. »Geiselmörder vor Gericht« lautete die Schlagzeile. Matthias begann zu lesen.
Vor dem Militärgerichtshof in Lille begann gestern der Prozess gegen neun deutsche SS-Leute, denen verschiedene schwere Verbrechen in Frankreich zur Last gelegt werden, vor allem die Massenerschießung von Geiseln.
Matthias überlegte. Hatte der alte Fritz mit diesem Verbrechen etwas zu tun? Und wenn ja, was? War er an dem Massaker beteiligt gewesen? Dass er Mitglied in der SS war, daran bestand nach der Entdeckung der Truhe ja wohl kein Zweifel mehr. Matthias überflog noch mal den Artikel. Er konnte es kaum glauben, wozu diese SS-Männer fähig gewesen waren. Wie konnten sie einfach unschuldige Einwohner erschießen, darunter auch Jugendliche?
Matthias spürte ein flaues Gefühl im Magen. Was hatte das zu bedeuten? Warum waren die Menschen dieser Stadt mitten in der Nacht aus ihren Betten geholt und erschossen worden? Sogar drei fünfzehnjährige Jungen! Und mehrere Siebzehnjährige! Er versuchte, sich vorzustellen, wie das für sie gewesen sein musste. Nachts aus dem Bett geholt, abgeführt und mit allen andern in einer Reihe aufgestellt zu werden. Vor ihnen die SS-Soldaten mit ihren Gewehren. Was fühlten sie, als sie in die Gewehrläufe blickten? Es gelang ihm nicht.
In dem Artikel stand weiter, dass die Erschießungsaktion ein Racheakt für einen Anschlag auf einen Eisenbahnzug war, in dem sich eine SS-Einheit befand. Niemand sei aber dabei verletzt worden.
Obersturmführer Walter Hauck*, der Hauptangeklagte in dem Prozess, las Matthias, begrüßte den Richter mit dem Hitlergruß und erklärte sich für nicht schuldig. Schließlich habe auch sein Vorgesetzter, ein SS-Major, das Vorgehen gutgeheißen. Wörtlich habe er gesagt: »Lieber zehn Unschuldige zu viel als ein Schuldiger zu wenig.«
Matthias blätterte um. Gleich auf der nächsten Seite fand er einen weiteren Artikel. Die Wiener Zeitung berichtete am 7. August 1949 über das verhängte Urteil gegen die Angeklagten.
Danach wurden der Hauptangeklagte Hauck und sieben andere Angeklagte zum Tode verurteilt, einer erhielt eine Strafe von fünfzehn Jahren Zwangsarbeit. Über acht SS-Männer wurde in Abwesenheit die Todesstrafe verhängt.
Matthias überlegte. Acht Todesurteile gegen Angeklagte, die nicht vor Gericht erschienen waren? Wenn der alte Fritz in irgendeiner Form an der Aktion in Ascq beteiligt gewesen war, dann war er wahrscheinlich einer von den acht in Abwesenheit Verurteilten!
Er musste sich unbedingt informieren. Zu blöd, dass er sein Handy nicht dabeihatte, dann hätte er schon mal googeln können.
In dem Ordner fand er noch weitere Zeitungsartikel, die inhaltlich mit den beiden ersten übereinstimmten. Nur einer fiel heraus. Er berichtete über die Beisetzung der Opfer des Massakers. Zwanzigtausend Menschen sollten in einem Protestzug gegen die deutsche Besatzung durch Ascq gezogen sein.
Matthias nahm den zweiten Ordner und schlug ihn auf. Was er jetzt sah, verschlug ihm die Sprache. Einladungen zu Zeitzeugengesprächen waren dort abgeheftet, über viele Jahre hinweg, wie er aus den Daten der Briefe ersehen konnte. Und wer waren die Absender? In den früheren Jahren war es die NPD*, später waren es Parteien wie Die Heimat*, Die Rechte* und Der III. Weg*.
Matthias konnte es nicht fassen. Da hatte ein Mann mitten unter ihnen gelebt und ganz offensichtlich wusste niemand etwas über seine Vergangenheit und auch nicht über seine sogenannten Zeitzeugengespräche in diesen rechten Parteien! Oder wollte es niemand wissen? Hatte er nie darüber gesprochen? Weder in seinem Geschichtsverein noch bei den Philatelisten? Hatte er keine Freunde in der Stadt oder wenigstens ein paar gute Bekannte gehabt, mit denen er sich getroffen und über seine Aktivitäten gesprochen hatte? Bei einem Bier in der Kneipe? Gab es womöglich Gesinnungsgenossen in der Stadt, die ihm auf die Schulter geklopft hatten und froh gewesen waren, dass wenigstens einer die guten alten Zeiten noch hochhielt?
Dann war da noch eine Ledermappe, um die der alte Fritz ein Einmachgummi gezogen hatte. Matthias streifte das Gummi ab und öffnete sie. Der Anblick von dem, was er zu sehen bekam, erschreckte ihn. War das eine Urkunde, ein Geschenk oder was? Das Eiserne Kreuz*, mit einem Hakenkreuz in der Mitte, lag auf der linken Seite eines festen schwarzen Kartons drapiert, auf der rechten Seite breitete der Reichsadler mit Hakenkreuz seine Flügel aus, und über allem prangte ein ovaler Lorbeerkranz, wieder mit einem Hakenkreuz verziert. In der Mitte stand in silberner Schrift der Satz: LieberFritz! Wir danken Dir für Deinen Einsatz für Volk und Vaterland! Die deutsche Jugend
Wer auch immer das geschrieben hatte, für Matthias war klar, dass er sich diesem Dank niemals anschließen würde. Er war entsetzt.
In der Mappe befand sich auch ein Stapel Fotos in DIN-A4-Größe, die alle Friedrich Schmidt als Soldat der Waffen-SS zeigten. Das Foto kannte er, es hatte früher im Wohnzimmer über dem Sideboard gehangen. Daran konnte er sich gut erinnern. Wer hatte die Abzüge gemacht? Wozu sie dienten, wurde Matthias schnell klar. Sie waren Autogrammkarten, denn einige Fotos hatte der alte Fritz schon signiert. Fritz! In großer Schrift hatte er sich auf seinen Porträtfotos verewigt.
Matthias schaute sich das erste Foto noch einmal genauer an. Stand da ein Datum? Er hielt es dicht vor seine Augen. Ja, unten rechts in der Ecke war tatsächlich ein Datum vermerkt, klein, aber doch leserlich. 9. November 2016. War dieser Mann an dem geschichtsträchtigen Tag unterwegs gewesen? In der Pogromnacht*? Hatte er an dem Tag irgendwo einen Vortrag gehalten? Als Zeitzeuge? Unvorstellbar! Was mochte er erzählt haben? Was ging im Kopf dieses Mannes zu seinen Lebzeiten vor? Was dachte er? Was hatte er mit seinen Vorträgen bezweckt? Wieder so eine Ordnung herzustellen, von der er einmal geschwärmt hatte?
Matthias war so in seine Gedanken vertieft, dass er seinen Vater erst bemerkte, als der direkt vor ihm stand.
»Was machst du da?«, fragte Conrad. »Wir haben auf dich gewartet, wir wollen zu Abend essen!«
»Schau mal, was ich gefunden hab. Der alte Fritz war ein echter Nazi.« Matthias hielt seinem Vater eines der Fotos hin.
»Ja, der war früher sicher mal einer, waren ja viele in der Partei, weil sie mussten. Aber das bedeutet nicht, dass er danach immer noch einer war.« Conrad konnte sich das nicht vorstellen.
»Doch, er war bis zum Schluss, bis zu seinem Tod ein Nazi. Hier, er hat Vorträge in verschiedenen rechten Parteien gehalten. Und vermutlich war er auch ein Kriegsverbrecher. Aber das werd ich noch rausfinden!«
»Lass doch den alten Kram, das interessiert doch niemanden mehr. Das liegt ja alles schon viele Jahrzehnte zurück. Lass uns das alles verbrennen. Es ist vorbei!« Conrad hatte offenbar keine Lust, sich mit solchen Fragen zu beschäftigen. »Außerdem ist er tot und kann sich nicht mehr dazu äußern! Und … über Tote soll man nicht schlecht reden!«
»Mir ist egal, ob er tot ist. Ich will das hier alles genau lesen und vor allem rausfinden, ob er an einem bestimmten Kriegsverbrechen beteiligt war!« Matthias konnte nach dem, was er bisher gesehen und gelesen hatte, die Truhe nicht einfach wieder schließen und so tun, als hätte es sie nie gegeben. Dafür war es zu spät.
»Komm jetzt, wir gehen«, sagte sein Vater. »Wir können uns ja später noch mal darüber unterhalten. Iris wartet schon mit dem Essen auf uns.«
»Hilf mir, ich will die Truhe mitnehmen«, forderte Matthias ihn auf. Nachdenklich schüttelte er den Kopf. »Da haben wir all die Jahre neben einem Mann gewohnt, der nicht nur ein Nazi, sondern vermutlich auch ein Kriegsverbrecher war. Und niemand hat was gemerkt. Ich fass es nicht!«
»Jetzt lass aber mal gut sein! Nur weil du ein paar alte Fotos gefunden hast, kannst du nicht solche Behauptungen aufstellen!«
»Ich werde es rausfinden, und wenn meine Vermutungen stimmen, werd ich auch alles nachweisen, verlass dich drauf!« Matthias war sauer. »Hilfst du mir jetzt?«
»Dieses verstaubte Ding? Niemals!«, widersprach Conrad.
»Dann wisch ich den Staub eben ab, hilfst du mir dann?«
Widerwillig sagte Conrad Ja. »Das Ding kommt aber nicht in die Wohnung!«
»Das Ding kommt in mein Zimmer!«, entschied Matthias.
In der Schule hatte sich Matthias nie besonders für Geschichte interessiert. Das alles war für ihn Vergangenheit, und oft hatte er das Gefühl, dass der Stoff nichts mit seinem Leben zu tun hatte. Warum sollten ihn die Schlachten im Mittelalter heute berühren? Gut, manchmal gab es ein paar spannende Sachen, aber meist ging es doch nur darum, wer die Macht im Land behalten oder erobern konnte. Viel zu wenig erfuhr er über die Menschen, die für ihre Herren in den Krieg ziehen mussten und starben. Das hätte ihn wesentlich mehr interessiert.
Etwas anders erging es ihm, als es im Unterricht um den Nationalsozialismus* ging. Diese Zeit war irgendwie nicht so weit weg, obwohl sie auch schon viele Jahre zurücklag. Es lebten aber immer noch Menschen, die Erinnerungen an die Diktatur damals haben mussten. Manchmal türmten sich Fragen in seinem Kopf auf, auf die er Antworten suchte. Wie sollte er die politischen Beschlüsse, zum Beispiel der Wannsee-Konferenz*, einordnen? Er verstand, dass sie für viele Menschen nicht nur schreckliche, sondern todbringende Konsequenzen hatten. Aber warum kochte der Antisemitismus* in der NS-Zeit so hoch? Wurden für bestimmte politische Fehlentwicklungen damals bloß Schuldige gesucht – und in den Juden gefunden? Und wer waren diese Juden? Wo wohnten sie? In Deutschland? Wo dort? Mitten in den Dörfern und Städten? Waren es Nachbarn, Arbeitskollegen, Vereinsmitglieder, Frauen, Männer und Kinder, ganze Familien gewesen, die einfach nur leben wollten, so wie alle anderen Menschen auch? Hatte es auch in seiner Heimatstadt Juden gegeben? Dann musste es doch den Nachbarn, Arbeitskollegen, Vereinsmitgliedern oder wem auch immer aufgefallen sein, dass sie plötzlich nicht mehr da waren. Oder war der Hass auf diese Juden schon so groß gewesen, dass man froh war, sie nicht mehr zu sehen? Er wusste es nicht, hatte nie etwas darüber erfahren. In der Familie war es nie Thema gewesen.
Es waren aber nicht nur Juden, die ausgegrenzt wurden, auch Zigeuner, wie sie damals genannt wurden, Homosexuelle, politische Gegner, Christen, Gewerkschafter, Journalisten, kurz: alle, die zur Regierung in Opposition standen. Gerne hätte er mehr über diese Menschen erfahren, um sich ein Bild von ihnen machen zu können.
Im Unterricht hatten sie sich einige Filme angeschaut, Filme über Auschwitz*, Bergen-Belsen* und Dachau*. Nur noch aus Haut und Knochen bestehende Menschen waren da zu sehen gewesen, und wenn er an die Filme zurückdachte, lief ihm immer noch ein kalter Schauer über den Rücken. Muselmänner* wurden die Verhungernden genannt. Und überall diese Leichenberge! Wie konnte das geschehen? Das führte ihn zu den nächsten Fragen: Wer hatte die politischen Beschlüsse und Befehle ausgeführt? Gab es dafür speziell ausgebildete Soldaten? Etwa die SS, von der er gehört hatte? Was waren das für Menschen gewesen? Wo hatten sie gelebt? Hatten sie Familien, Kinder, die sie abends ins Bett brachten? Konnten sie so abgestumpft und emotionslos sein, dass sie tagsüber Kinder, Frauen und Männer, Alte und Kranke in Gaskammern trieben oder massenweise erschossen und abends treu sorgende Familienväter waren? Gab es keinerlei menschliche Regungen bei ihnen, wenn sie mordeten? Hatten sie keine Gewissensbisse? Konnten sie nachts schlafen oder hatten sie Albträume?
Wenn Matthias darüber nachdachte, kam er zu dem Ergebnis, dass er zu solchen Taten nie fähig wäre. Wirklich nicht?, fragte er sich gelegentlich. Wenn er versuchte, sich in die NS-Zeit hineinzuversetzen, kamen ihm manchmal Zweifel. Wie wurden diese Menschen damals erzogen? Konnten sie sich den Ideen der Hitlerjugend entziehen oder waren sie ihnen ausgeliefert? Wie stark war der Druck auf die Männer und Frauen gewesen, dass sie solche Taten ausführten? Hätten sie sich weigern können? Was wäre dann mit ihnen passiert? Hätte man sie an die Wand gestellt und erschossen oder wären sie nur versetzt worden? Waren die Menschen etwa so stark von der Ideologie des Nationalsozialismus geprägt gewesen, dass sie richtig fanden, was sie taten? Juden, das hatte man ihnen damals schon zu Hause in der Familie und dann in der Schule eingeredet, waren nur eine minderwertige Rasse, Menschen zweiter Klasse, die es auszurotten galt, damit sie sich nicht vermehren oder mit der arischen* Rasse mischen konnten. »Rassenschande« wurde das genannt. Das hatte Matthias noch aus dem Unterricht in Erinnerung.
Er wünschte sich, dass er in einer solchen Situation stark genug wäre, sich solchen oder ähnlichen Befehlen zu widersetzen.
Eine andere Frage drängte sich ihm auch noch auf. Wo lebten die Täter, als der Krieg vorbei war? Waren sie einfach wieder nach Hause zurückgekehrt und hatten dort weitergemacht, wo sie aufgehört hatten? Waren sie ausgewandert, lebten sie irgendwo in fernen Ländern oder Kontinenten oder waren sie untergetaucht? Lebten sie irgendwo unter einem anderen Namen? Oder waren sie nach wie vor Lehrer, Beamte, Sparkassenangestellte, Polizisten oder Handwerker?
Beruhigend fand er, dass zumindest einige von denen, die sich schuldig gemacht hatten, erst in Nürnberg und ein paar Jahre später in Frankfurt vor Gericht gestellt und verurteilt wurden. Aber genügte das? Sollten das wirklich alle gewesen sein, die zur Rechenschaft gezogen werden mussten? Es waren doch mehr gewesen, viel mehr! Oder waren die anderen einfach nur Befehlsempfänger, die die Verantwortung für ihre Taten auf ihre Vorgesetzten schoben?
Es kam nicht oft vor, dass sich Matthias in solch intensiven Gedankengängen verlor. Am Ende war er froh, dass er in einer anderen Zeit lebte und mit solch wichtigen Entscheidungen nicht konfrontiert war. Die NS-Zeit war vorbei, die Gegenwart völlig anders. Grund- und Menschenrechte waren fest verankert. Sollten es zumindest sein!
Doch von einem Tag auf den andern hatte sich das für ihn geändert. Seit dem Fund auf dem Speicher vom alten Fritz kreisten viele Fragen in seinem Kopf.
Wer war dieser alte Fritz wirklich gewesen? War er ein Täter? Wenn ja, wie konnte er nach außen hin so unauffällig mitten unter ihnen leben? Als Nachbar, als Einwohner der Stadt, als Vereinsmitglied? Musste er dafür seine Taten verdrängen? Geht so etwas überhaupt? Hatte er sie in seinem Alltag ausgeblendet wie einen schlechten Traum? Wollte oder konnte er nicht daran denken, was er getan hatte? Oder fand er das alles gut und richtig, was er damals getan hatte? Und gab es im Ort Menschen, mit denen er doch darüber geredet hatte, die etwas von seinen Taten wussten, ihm vielleicht noch auf die Schulter geklopft hatten?
Für Matthias war das alles unvorstellbar. Es ließ ihm keine Ruhe. Er wollte mehr darüber erfahren, musste wissen, was tatsächlich geschehen war und was die Menschen in seinem Heimatort darüber dachten, wenn öffentlich würde, wer der alte Fritz tatsächlich gewesen war. Wäre es jetzt, nach seinem Tod, noch möglich, die Öffentlichkeit über das wirkliche Leben dieses Mannes zu informieren?
Es schien ein fast unüberwindbarer Berg von Fragen und Aufgaben, den er da vor sich sah, und er wusste nicht, ob er es schaffen würde, das alles allein zu klären.