Sie brachten uns Hoffnung: Die Geschichte von Edward Galinski und Mala Zimetbaum - Reiner Engelmann - E-Book

Sie brachten uns Hoffnung: Die Geschichte von Edward Galinski und Mala Zimetbaum E-Book

Reiner Engelmann

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Beschreibung

Eine tragische Liebesgeschichte in Auschwitz

Edward Galinski, genannt Edek, ist sechzehn Jahre alt, als er mit dem ersten Gefangenentransport nach Auschwitz kommt. Er lernt schnell, sich anzupassen, und kann nach zwei Jahren eine Schlosserwerkstatt eröffnen. Mala Zimetbaum wird 1942 von den Nazis verhaftet und nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Sie spricht fünf Sprachen und bekommt bald schon Verantwortung als Dolmetscherin und Bürokraft. Doch Edek und Mala führen beide ein gefährliches Doppelleben. Durch ihre besonderen Positionen genießen sie die Sympathie und das Vertrauen der Befehlshaber des KZs. Heimlich nutzen sie diese aus, um ihren Mithäftlingen zu helfen.

Als Edek und Mala sich zum ersten Mal begegnen, ist es Liebe auf den ersten Blick. Immer wieder können sie sich heimlich treffen. Doch wie soll ihre geheime Liebe in Auschwitz Bestand haben? Gemeinsam wagen sie die Flucht und geben sich ein Versprechen: Sie werden immer zusammenbleiben.

Nach einer wahren Geschichte, einfühlsam nacherzählt von preisgekröntem Autor Reiner Engelmann

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Seitenzahl: 211

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Reiner Engelmann

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Die Geschichte vonEdek Galinski und Mala Zimetbaum

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Unterrichtsmaterialien zu diesem Buch sind erhältlich unter:

www.schullektuere.de

Erstmals als cbt Taschenbuch September 2024

© 2024 cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag

In der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Uwe-Michael Gutzschhahn

Umschlaggestaltung: Geviert GbR, Grafik & Typografie

Umschlagmotive: akg-images (Justin Creedy Smith); Shutterstock.com (Paladin12); The State Museum Auschwitz-Birkenau in Oświęcim

skn · Herstellung: AJ

Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-30702-8V001

www.cbj-verlag.de

Für meine Enkelkinder

Paul, Lior und Leonid,

Henri und Ella,

Milla und Edda

Vorwort

»Die Liebe von Edek Galinski und Mala Zimetbaum wurde in Auschwitz zur Lagerlegende. Ein Symbol für den Sieg des Guten über das Böse – des Menschlichen über das Tierische. Sie brachten uns Hoffnung.«

René Ralndorf, ehemaliger Lagerhäftling in Auschwitz

Bei einem meiner ersten Besuche in Auschwitz erfuhr ich von Edek und Mala. Ihre Geschichte hat mich nicht mehr losgelassen. Wer waren diese beiden Menschen? Wie sah ihr Leben draußen aus und wie ihr Leben im Lager? Warum waren sie in Auschwitz gelandet? Wie haben sie dort gelebt? Wie und wo sind sie sich begegnet? War eine Liebe in Auschwitz überhaupt möglich? Kann es Liebe im Anblick des Todes eigentlich geben? Und waren Edek und Mala die Einzigen, die in Auschwitz eine Liebesbeziehung hatten?

Edek und Mala waren eine Ausnahme. Als sie sich fanden, veränderte sich vieles für sie. Natürlich war ihre Umgebung noch dieselbe wie vorher. Die täglichen Transporte, die ankamen, die Selektionen, die ständig qualmenden Kamine der Krematorien, die Gewalt und der Tod änderten sich nicht.

Aber sie hatten etwas in sich entdeckt, von dem sie glaubten, es sei verschüttet oder gar nicht mehr existent: Gefühle! Intensive Gefühle für einen anderen Menschen, die viel mehr bedeuteten als reine Freundschaft.

Edek und Mala verliebten sich und lebten ihre Gefühle aus – heimlich.

Diese Liebe gab ihnen Kraft für den Alltag im Lager. Und diese Kraft brauchten sie, um Mithäftlingen, denen es schlechter ging, die vom Tode bedroht waren, zur Seite zu stehen, ihnen zu helfen.

Durch ihre Liebe zueinander gelang es Edek und Mala, sich innerlich mehr und mehr von den Deutschen zu lösen. Sie mussten zwar weiterhin für die SS arbeiten, doch brachen sie deren strenge Regeln, indem sie sich heimlich trafen. Daraus schöpften sie Stärke und Mut – und versuchten, gemeinsam zu fliehen.

Liebe in Auschwitz – sie war möglich. Edek und Mala haben es gezeigt. Und sie haben vorgelebt, was es heißt, auch unter diesen Bedingungen Mensch zu bleiben.

Die Liebe zwischen Edek und Mala in Auschwitz ist eine wahre Geschichte. Ich habe viele Aussagen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gelesen, die die beiden kannten und sie mit ihren Worten beschrieben haben.

Anhand dieser Aussagen habe ich mir ein Bild von den beiden jungen Menschen gemacht, wie sie waren und wie sie gewesen sein könnten. Es ist der Versuch einer Annäherung an ihr Leben und ihre Liebe in Auschwitz.

Ich war entsetzt, als ich die Kurzbiografien der SS-Männer und -Frauen für dieses Buch schrieb, die in Auschwitz ihren Dienst taten. Was waren das für Menschen? Sie befahlen Gewalt und übten Gewalt gegen Häftlinge aus. Gewalt in Auschwitz bedeutete mehr als psychische Unterdrückung – es bedeutete Isolation, körperliche Züchtigung, brutalste Erniedrigung, Massenmord. Hatten sie kein Mitgefühl den Hunderttausenden Männern, Frauen und Kindern gegenüber, die sie zur Vernichtung ins Gas schickten? Oder denen gegenüber, die noch arbeiten mussten, bis auch sie dem Tod geweiht waren? Waren sie so von der Vorstellung überzeugt, Juden seien keine Menschen oder allenfalls Menschen zweiter Klasse, die ausgerottet werden sollten? Hatten sie kein Gewissen, oder hatten sie es abgelegt, als sie ihre Uniformen anzogen und bloß Befehlen gehorchten, sie blindlings ausführten und dabei immer weiter verrohten?

Die Vorgänge in Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern sind in der Geschichte singulär. Daran gibt es keinen Zweifel. Die systematische Ausrottung einer ganzen Bevölkerungsgruppe ist ohne Beispiel. Dem vorausgegangen war die Ausgrenzung der Menschen, die man in Auschwitz oder in anderen Vernichtungslagern ins Gas schickte.

Mit dem Blick auf die Gegenwart muss ich leider feststellen, dass es wieder große Gruppen von Menschen gibt, die ausgegrenzt werden. Ich denke an Migrantinnen und Migranten, aber auch an Arbeitslose, an Kranke, an Obdachlose, an Menschen, die sich abgehängt fühlen.

Menschen aus anderen Ländern, die fliehen mussten, weil in ihren Heimatländern Krieg, Hunger oder Unterdrückung herrschen, wird es zunehmend schwerer gemacht, nicht nur in Deutschland Fuß zu fassen, sondern überhaupt hier anzukommen. Populistische Bewegungen und Parteien schüren die Stimmung, indem sie fordern, diese Menschen abzuschieben und keine weiteren mehr aufzunehmen.

»Lasst sie ersaufen!«, skandierte eine rechte Gruppierung, die auf einem Marktplatz mitten in Deutschland einen Infostand betrieb. Niemand gebot ihnen Einhalt!

Wo bleibt unsere Zivilcourage? Was hätten wir zu befürchten, würden wir in solchen Situationen eingreifen? Wir leben in einem Rechtsstaat – noch!

Als ich mich intensiv mit den beiden Protagonisten des Buches beschäftigte und dabei auch stets unsere Gegenwart im Blick hatte, wuchs in mir ein Wunsch!

Gäbe es doch mehr Edeks auf dieser Welt, die überall Menschen aufmunternd zunicken und anlächeln würden, Menschen, denen es nicht gut geht, die sich, aus welchen Gründen auch immer, ausgegrenzt fühlen.

Gäbe es doch mehr Malas, die tatkräftig anderen zur Seite stünden, sie unterstützten und ihnen die Hilfe zukommen ließen, die sie brauchten. Mala war kein Mensch, der geredet hat, mit offenen Augen ist sie durchs Lager gegangen und hat die Not erkannt und gehandelt.

Unter welch schweren, ja lebensgefährlichen Bedingungen haben diese beiden Menschen sich engagiert, und wie einfach könnte es für uns sein, ihnen nachzueifern.

Deswegen habe ich dieses Buch geschrieben.

Schneppenbach, Juli 2023

Reiner Engelmann

Prolog

Es war ein kalter Winternachmittag. Seit Wochen schon hatte der Frost das Lager fest im Griff. Die sonst mit Schlamm bedeckten Wege waren steinhart gefroren, die Dächer der Baracken dick mit Schnee bedeckt. Auch die Kronen der Bäume, die um den See herum und jenseits der Krematorien standen, trugen weiße Schneemützen.

Mala mochte den Winter. Sie mochte die endlos weiten Schneelandschaften und die weißen Berggipfel der Karpaten. Der Schnee erinnerte sie an ihre Kindheit in Polen. Sie hatte sich immer gefreut, wenn alles weiß war. Dann machte sich in ihr das Gefühl breit, die Welt sei ruhiger, friedlicher und die Menschen wären hilfsbereiter und freundlicher zueinander.

Auch hier könnte es so sein, wünschte sie sich einen Moment lang, wenn nicht …

Nein, hier würde es nie so sein. Niemals! Mala ging auf der Lagerstraße des KZs Auschwitz-Birkenau in Richtung Tor. Hinter ihr waren die Gaskammern und Krematorien. Dicke Rauchschwaden stiegen aus den Kaminen, die die Schneeflächen mit schwarzen Rußflocken überzogen.

Überall waren Arbeitskommandos* damit beschäftigt, den Schnee von den Wegen zu räumen. Kapos trieben mit ihren Stöcken die Häftlinge an, schneller zu arbeiten. Mala sah die geschwächten Männer und Frauen in ihrer dünnen Häftlingskleidung, die genau wussten, dass auch sie im Rauch der Kamine das Lager verlassen würden, sobald sie vor Hunger und Kälte ihrer Arbeit nicht weiter nachkommen konnten.

Für Mala waren die Häftlinge nichts Neues, doch sie wollte und konnte sich nicht an den Anblick der ausgemergelten, kahl rasierten Menschen gewöhnen.

Sie selber hatte mit ihrem Arbeitseinsatz Glück. Sie war Läuferin und gehörte so zu den wenigen, die eine bessere Stellung im Lager besaßen. Ihre Verpflegung war besser. Jetzt, in dieser kalten Jahreszeit, durfte sie warme Kleidung tragen, die sie aus dem Kanada-Lager bekam. Und ihre Position ermöglichte es ihr, Mitgefangenen heimlich zu helfen.

In Gedanken versunken, bemerkte sie den Mann erst, als er nur noch wenige Schritte von ihr entfernt stand. Ganz verlegen schaute sie ihn an.

Mala hatte ihn schon öfter gesehen, kürzlich erst in der Frauenbaracke. Was ihr sofort auffiel, war sein jugendliches Aussehen gewesen. Das imponierte ihr. Und einmal, vor wenigen Tagen, ebenfalls in der Baracke, als sie nur wenige Schritte voneinander trennten, genau wie jetzt, waren es seine dunklen Augen gewesen. Es war nur ein kurzer Blick, doch der hatte ausgereicht, dass sie später immer wieder an ihn denken musste und sein Bild vor sich sah. Die Gedanken an ihn wärmten sie. In diesen Momenten stellte sie sich vor, sie könnten sich näherkommen, miteinander reden, kurz nur, kurz, doch wenigstens ein paar Worte wechseln. Sie malte sich aus, wie wohl seine Stimme klang.

An mehr Nähe wollte sie gar nicht denken, das schien ihr unmöglich. Nicht hier, nicht an diesem Ort. Hier gab es nur Hass und Gewalt, keine Zuneigung, keine Liebe. Liebe war verboten. Das wusste sie. Trotzdem erkundigte sie sich bei ihren Mithäftlingen nach seinem Namen.

»Warum willst du den wissen? Bist du verliebt?«, fragten sie.

»Verliebt? Hier? An diesem Ort?« Mala schüttelte den Kopf und wurde rot. Gut, dass es in dem schwachen Licht der Baracke nicht zu sehen war. Doch sie erfuhr seinen Namen: Edek.

Und jetzt stand er von Neuem vor ihr. Nicht in gestreiftem Häftlingsanzug wie alle anderen Häftlinge, sondern in seiner Arbeitskleidung als Installateur. Im Waschraum in der Baracke musste er eine Leitung reparieren.

Edek hatte sie schon aus einiger Entfernung gesehen und war auf sie zugegangen. Seit ihrer ersten Begegnung ging auch sie ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Da standen sie nun, mitten im Winter, mitten auf der Lagerstraße, mitten zwischen Leben und Tod.

Mala hatte sich wieder gefasst.

Sie schauten sich an und die Welt um sie herum versank, wurde für die Ewigkeit weniger Augenblicke bedeutungslos. Es gab nur noch sie. Frau und Mann. Mala und Edek, Edek und Mala. Weder Kapos noch SS-Männer noch Wachposten noch Arbeitskommandos noch die Schornsteine, aus denen der Tod aufstieg.

Wärme umfing die beiden, als sie sich in die Augen sahen. Sie wechselten kein Wort miteinander, wussten aber, dass sie sich wiedersehen wollten und mussten.

Nur langsam nahmen sie die Realität wieder wahr. Mit einem angedeuteten Kopfnicken verabschiedeten sie sich.

Beide kehrten in ihre Welt aus Gewalt, Hunger und Tod zurück.

Doch etwas war anders geworden. Sie fühlten sich nicht mehr allein.

Edek

Die Verhaftung

Edek hatte mal einen großen Lebenstraum gehabt.

Am 5. Oktober 1923 war er in dem kleinen südpolnischen Dorf Wieckowice als Edward Galinski zur Welt gekommen. So wie üblich in Polen wurde er bald von allen Edek genannt.

Noch bevor er eingeschult wurde, zogen seine Eltern mit ihm in die nächst größere Stadt, nach Jaroslaw. Hier besuchte er zunächst die Volksschule, später die Oberschule. Hier fühlte er sich zu Hause, hier hatte er seine Freunde und hier machte er sich Gedanken über seine Zukunft. Lange Zeit hatte er keine Idee, welche Ausbildung er nach der Schulzeit machen sollte. Ein Handwerk lernen? Oder doch lieber weiter zur Schule gehen, Abitur machen?

Sein Vater brachte ihn auf eine Idee, über die er lange nachsann.

»Du solltest eine Militärlaufbahn einschlagen und erst mal Matrose werden, danach kannst du weitersehen«, sagte er eines Abends, als sie in der Küche zusammensaßen. »Da hast du ausgesorgt, bist beim Staat beschäftigt, hast ein sicheres Einkommen und auch ganz gute Aufstiegschancen.«

Edeks Mutter war nicht begeistert. Sorgenvoll schaute sie zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn hin und her. Viel lieber hätte sie ihn noch eine Weile auf der Schule gesehen oder vielleicht als Beamten in einer Behörde. Doch sie schwieg.

Edek war es bisher nicht in den Sinn gekommen, seine Zukunft beim Militär zu sehen. Natürlich würde er eine Zeit lang dort dienen müssen, sobald er im wehrpflichtigen Alter war, aber ein Leben lang, als Beruf?

Für Edek begann eine lange Zeit des Nachdenkens. Was käme in der Armee für ihn infrage? Zum Heer gehen? Undenkbar. Zur Luftwaffe? Auch das konnte er sich nicht vorstellen und ebenso wenig den Dienst bei der Kavallerie. Nur wenn er an die Marine dachte, schlug sein Herz etwas schneller.

Die Vorstellung nistete sich ein, wurde für ihn immer konkreter, und er begann sich seine Zukunft auf einem Schiff auszumalen.

Nicht nur auf den polnischen Flüssen wollte er schippern, er wollte weiter, zur Ostsee, zur Nordsee, nach England zu den polnischen Verbündeten und weiter auf die Ozeane hinaus. Dort wollte er zu Hause sein.

So sehr er seine Familie, seine Freunde und auch die Stadt mochte, in der er die meiste Zeit seines Lebens verbracht hatte, fühlte er sich doch beengt. Er wollte raus, etwas erleben, etwas von der Welt sehen, andere Länder kennenlernen, andere Menschen. Er malte sich aus, wie es sein würde, auf Reisen zu gehen, unterwegs zu sein, andere Landschaften zu sehen als die Karpaten, die ihm vertraut waren und die er, trotz allem, liebte. Er wollte fremde Sprachen lernen, sich verständigen können.

Als er seinen Freunden von den Träumen erzählte, hielten ihn manche für einen Spinner, andere nahmen ihn ernst und waren überzeugt, dass er es schaffen würde, die Welt zu umfahren.

Einige Mädchen in seinem Alter bedauerten, dass es ausgerechnet diesen gut aussehenden Edek in die Ferne zog. Er genoss es, wenn sie ihm schöne Augen machten, aber dafür würde er seine Pläne nicht aufgeben.

Doch Edeks Traum von einer Karriere als Seefahrer zerplatzte bald wie eine Seifenblase.

Nicht nur er, sondern auch seine Eltern und Freunde beobachteten die politische Entwicklung mit großer Sorge. Wie lange würde noch Frieden sein? Das fragten sich die Polen immer öfter, und je mehr Zeit verstrich, desto klarer zeichneten sich ihre Befürchtungen ab. Spätestens in den Sommermonaten 1939 rechneten sie fest damit, dass die Nazis ihr Land überfallen könnten.

Edek wurde ganz mulmig bei dem Gedanken, Hunderte Kilometer von zu Hause weg zu sein, wenn er seinem Traum treu blieb. Die Seefahrerschule, die er sich ausgesucht hatte, lag nicht um die Ecke gleich im Nachbarort.

In dieser Krisenzeit wollte er doch lieber näher bei den Eltern sein und auch seine Heimatstadt war ihm wichtig. Hier kannte er viele Menschen, hatte seinen Freundeskreis, und sicher würden sie sich gegenseitig unterstützen, sollte es tatsächlich zum Krieg kommen.

Aber nur zu Hause sitzen und abwarten, war nicht Edeks Sache. Er musste etwas tun. Weil er handwerklich geschickt war, entschied er sich für eine Mechanikerlehre und meldete sich an der Staatlichen Handwerkerschule in Kamionka-Strumilowa an. Vielleicht konnte er ja mit dieser Ausbildung später immer noch Seefahrer werden.

Am 1. September 1939 begann die Schule, aber schon bald musste er sie abbrechen. Der Krieg hatte tatsächlich begonnen und die deutsche Armee rückte unaufhaltsam immer weiter ins Land vor. Er entschied sich, zurück in seine Heimatstadt Jaroslaw zu gehen. Dort war er zumindest bei seinen Eltern und in der Nähe seiner Freunde.

Edek war kein Mensch, der tatenlos zuschauen konnte, wie seine Heimatstadt von den Deutschen immer mehr unterjocht wurde. Er wollte, er musste etwas dagegen tun. Also nahm er zu den ehemaligen Klassenkameraden Kontakt auf, und gemeinsam planten sie, sich der polnischen Heimatarmee* anzuschließen, wo sie auch trotz ihres jungen Alters sofort genommen wurden.

Schwerpunkte ihrer Aktionen waren Anschläge auf Eisenbahnbrücken und Zugstrecken, um so den Nachschub für die Nazis zumindest ins Stocken zu bringen.

Natürlich kannten sie die Gefahren, die jeder Einsatz mit sich brachte. Doch so hatten sie wenigstens das Gefühl, etwas für ihr Land zu tun, auch wenn sie damit riskierten, irgendwann erwischt zu werden, was den sicheren Tod bedeuten würde. Darüber waren sie sich im Klaren.

Von den Plänen der Deutschen wussten sie nichts, ahnten aber, dass es welche geben musste. Sie waren schließlich der Hauptfeind der Besatzer, und sie beobachteten, wie die polnische Intelligenz und Mitglieder des Widerstands systematisch ermordet wurden. Was hatten die Deutschen vor? Wollten sie Polen unmündig machen? Ihre kritischen Denker ausschalten?

Tatsächlich verfolgten die Feinde genau diesen Plan.

Der Standartenführer* Josef Meisinger* im Generalgouvernement* Krakau äußerte sich gegenüber der Sicherheitspolizei so: »Diese Organisationen [gemeint war der Widerstand] werden uns überschwemmen, wenn wir in den nächsten Tagen nicht zu einem Großangriff übergehen, der es uns ermöglichen würde, wenigstens Führer einzelner Organisationen zu eliminieren.«

Dieser »Außerordentlichen Befriedungsaktion«, kurz »Operation AB«*, fielen binnen kurzer Zeit 3000 Polen, vorwiegend Wissenschaftler, Mediziner, Juristen, aber auch Schüler der Oberschulen und Studenten zum Opfer. Damit war aus Sicht der Deutschen ein wichtiger erster Schritt getan: die Ausschaltung eines ernst zu nehmenden Widerstandes.

Im Osten solle Ruhe herrschen, hatte Adolf Hitler* dem Generalgouverneur Hans Frank* in Krakau deutlich vermittelt. Im Westen stand der Angriff auf Frankreich, Belgien und die Niederlande unmittelbar bevor. Die Aufmerksamkeit der Westeuropäer sollte sich nach dem Willen der Nazi-Regierung mehr auf diese Kämpfe richten als auf die Maßnahmen in Polen.

Edek und seine Freunde in der Widerstandsgruppe mussten vorsichtig sein, durften sich nicht, wenn sie sich tagsüber in der Stadt trafen, als Mitglieder des Widerstands zu erkennen geben. Überhaupt waren Treffen nur selten möglich, und wenn, dann an geheimen Orten. Die Gefahr, verhaftet zu werden, war zu groß.

Trotzdem passierte es. Im Frühjahr 1940 flog ihre Gruppe auf.

Einige von Edeks Freunden wurden in der Schule verhaftet, andere in der Stadt, Edek zu Hause.

Was passiert jetzt mit uns?, fragte er sich. Wo bringen sie uns hin? Wird man uns irgendwo außerhalb der Stadt erschießen? Wird man uns erst verhören? Sie hatten in der Gruppe ausführlich darüber gesprochen, wie die Verhöre der Deutschen aussahen. Oft hatten sie an Straßenrändern oder in Gräben Tote gesehen, die vorher von deutschen SS-Männern »verhört« worden waren.

Als Erstes landeten sie auf der örtlichen Polizeistation. Hier wurden sie tatsächlich verhört. Einzeln und nacheinander. Sie sollten Namen von weiteren Mitgliedern aus dem Widerstand preisgeben. Doch fast alle von ihnen schwiegen. Es folgten Schläge, Schläge ins Gesicht, auf den Rücken, aufs Gesäß, auf die Beine, Schläge mit Fäusten und Stöcken.

Die meisten blieben weiter bei ihrem Schweigen, auch Edek.

Zwei Tage mussten die jungen Männer auf der Polizeistation zubringen. Es waren qualvolle Stunden, nicht nur wegen der vielen Befragungen und Schläge, sondern auch wegen der Ungewissheit, was weiter passieren würde.

Edek hatte bis zuletzt tapfer geschwiegen. Würde das am Ende sein Todesurteil bedeuten? Würden die Deutschen ihn erschießen, sie alle? Sie hatten oft darüber geredet, den Tod ins Kalkül gezogen. Doch das war etwas anderes gewesen. Der Gedanke hatte nichts Konkretes gehabt. Und nun? Würde es jetzt wirklich so kommen?

Edek blieb keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. Sie wurden aus der Polizeistation geführt und mussten auf die Ladefläche eines Lkw steigen. Stundenlang mussten sie dort während der Fahrt knien.

Nach einer schier endlosen Strecke waren sie schließlich am Ziel angekommen, dem Gefängnis in Tarnow. Mit lautem Geschrei und Stockschlägen wurden sie von dem Fahrzeug heruntergeprügelt. Edek und allen anderen fiel es schwer, sich aufrecht zu halten. Vom Knien hatten sie Schmerzen in den Beinen und nur unter Mühen schafften sie den Weg durch das Gefängnistor.

Ohne weiteren Kommentar wurden sie in Zellen gesperrt, in denen schon andere Männer auf Pritschen oder dem Fußboden lagen.

Mala

Der Umzug

Mala war traurig. Heute war der 26. Januar, ihr zehnter Geburtstag. Sie hatte so sehr gehofft, die Familie wäre an diesem Tag wieder vereint. Wie lange war der Vater mit den beiden älteren Geschwistern jetzt schon weg? Auch ihren neunten Geburtstag hatte Mala ohne sie feiern müssen.

»Ich werde euch bald nachholen!«, hatte ihr Vater versprochen, als er sich mit den beiden Großen vor über einem Jahr auf den Weg machte. Lange hatte er ihr in die Augen geschaut, sie schließlich fest an sich gedrückt und ihr einen Kuss auf die Stirn gedrückt.

Dann waren sie gegangen, alle drei.

»Ich hoffe, wir können hierbleiben«, schrieb Malas Vater nach einigen Wochen aus Deutschland. »In Ludwigshafen habe ich eine Arbeit gefunden. Es sind allerdings schwere Zeiten. Der Antisemitismus* breitet sich hier, genauso wie in unserem geliebten Polen, immer mehr aus.«

Danach hörten sie lange nichts mehr von ihm.

Chaja, Malas Mutter, merkte, dass ihre Tochter traurig war, und nahm sie in den Arm.

»Wir werden bald wieder zusammen sein«, versuchte sie Mala zu trösten.

»Warum gehen wir überhaupt weg? Es ist doch schön hier!« Mala hatte sich die Frage schon oft gestellt.

»Ja, es ist schön hier. Und glaub mir, wir würden auch lieber bleiben, als schon wieder wegzugehen. Du hast es vielleicht noch nicht so gemerkt wie wir Erwachsenen. Wir werden hier nicht nur abgelehnt, sondern regelrecht angefeindet. Und warum? Weil wir Juden sind! Wenn irgendetwas passiert, heißt es sofort, die Juden sind schuld. Wenn zu wenig Geld in der Gemeindekasse ist, heißt es, die Juden müssen mehr Steuern bezahlen. Wenn wir unseren Shabbat* feiern, betrachten uns die Menschen als Faulenzer, weil wir am Samstag nicht arbeiten. Sie wissen nichts über unsere Religion und wollen auch gar nichts wissen.«

Chaja unterbrach sich und sah ihre Tochter lange an.

»Aber du hast ja heute Geburtstag, da lass uns über anderes reden. Was möchtest du tun?«

»Nein«, widersprach Mala, »ich hör dir gern zu, wenn du erzählst. So erfahre ich wenigstens etwas über uns, unsere Stadt und das Land.« Mala lächelte ihre Mutter an. »Erzähl mir, warum ihr in diese Stadt gezogen seid. Habt ihr vorher nicht gewusst, dass die meisten Leute hier gegen Juden sind, oder hat sich das erst in den letzten Jahren so entwickelt?«

Chaja nickte.

»Das ist eine gute Frage. Ich glaube, wir haben uns vorher keine Gedanken darüber gemacht. Wir sind hergezogen, weil wir gehofft hatten, hier, im Schtetl*, zur Ruhe zu kommen. Die Zeit, die hinter uns lag, war sehr schwer, besonders für mich.«

Chaja starrte vor sich hin. Die Erinnerungen waren wieder da.

»Wieso war die Zeit denn so schwer? Ich weiß nur, dass ihr in Deutschland gelebt habt. Was war in Deutschland, warum seid ihr dort weggegangen?«

»Ich hole uns noch was zu trinken, dann erzähl ich es dir.«

Als Chaja zurückkam, begann sie zu reden.

»Bevor du geboren wurdest, lebten wir etwas mehr als drei Jahre in Mainz. In der ersten Zeit haben wir uns dort sehr wohl gefühlt. Wir hatten eine schöne Wohnung in einem Hinterhaus. Die Synagoge*, die wir regelmäßig besuchten, war ganz in der Nähe.«

Pinkas, Malas Vater, war ein angesehener Kaufmann gewesen, von dessen Einkommen die Familie gut hatte leben können. Die beiden älteren Kinder, Gitla und Salomon, gingen in eine Mainzer Schule, Jidel war gerade ein Jahr alt. Die Familie sprach gut Deutsch, einzig zu Hause unterhielten sie sich gelegentlich noch in Polnisch, besonders die Eltern, wenn sie allein waren.

Chaja war in dieser Zeit wieder schwanger geworden.

»Wir freuten uns riesig auf das Kind. Wir waren eine glückliche Familie. Obwohl wir nicht wussten, ob es ein Junge oder ein Mädchen werden würde, hatten wir schon einen Namen. Wir waren fest überzeugt, dass es ein Mädchen sein würde. Es sollte Merjan heißen. Doch dann …«

Chaja stockte. Tränen liefen ihr plötzlich über die Wangen.

»Du musst nicht weitererzählen«, sagte Mala. »Ich weiß, dass Jidel bei einem Unfall gestorben ist.«

Chaja nickte.

»Nach Jidels Tod war es so unendlich schwer, mich auf das neue Kind zu freuen. Mein Jidele war nicht mehr da, er war ein so lustiges Kind. Jeden Tag, jede Stunde, jede Minute habe ich ihn vermisst.«

Chaja wischte sich die Tränen ab, bevor sie weitersprach.

»Ich war froh, dass ich ein Mädchen bekommen habe, ein Junge hätte mich bestimmt immer an Jidel erinnert. Natürlich bekam die Kleine den Namen ›Merjan‹, wurde aber bald nur noch ›Jochka‹ gerufen.«

Chaja lehnte sich zurück und atmete tief durch.

»Mainz ist eine schöne Stadt, in der wir uns lange wohlgefühlt haben. Doch nach Jidels Tod war das vorbei. Wir waren dort nicht mehr zu Hause. Viele Kontakte, die wir hatten, sind abgebrochen, weil wir einfach nicht mehr unbeschwert mit den sehr lebenslustigen Menschen dort reden und uns mit ihnen treffen wollten. Danach war für Pinkas und mich klar, dass Polen unser Heimatland ist und es dort vielleicht leichter wäre, ein neues Leben anzufangen. In Mainz wurde ich ständig, egal was ich tat oder wo ich hinging, an Jidel erinnert. Hinzu kam, dass sich Deutschland damals im Krieg befand, und je länger der andauerte, umso weniger Geld hatten die Menschen, sich Dinge zu kaufen. Unsere Einnahmen wurden immer geringer. Lange würden wir so nicht mehr über die Runden kommen, da waren Pinkas und ich uns einig. Also haben wir Kontakt aufgenommen zu unseren Verwandten in Polen, und letztlich war es dein Urgroßvater, der uns die Wohnung hier in Brzesko, diesem beschaulichen Schtetl, besorgt hat.«

Es war nicht einfach für die Zimetbaums gewesen, in ihrem Heimatland wieder heimisch zu werden. Sie kamen aus Deutschland, sprachen Deutsch, und sie waren Juden. Oft wurden sie als »die Deutschen« beschimpft. Doch sie waren optimistisch, glaubten, das seien bloß Startschwierigkeiten, die bald überwunden wären.

»Die ersten Jahre waren auch ganz schön. Dein Urgroßvater besuchte uns oft, und ihr Kinder habt euch gefreut, wenn er kam. Und ich wurde erneut schwanger, diesmal mit dir.«

Jetzt strahlte Chaja wieder, als sie sich erinnerte.

»Malka, wir haben dich Malka genannt. Weißt du, was der Name bedeutet?«

»Klar!«, sagte Mala und nickte. »Er bedeutet ›Königin‹, das habt ihr mir oft erzählt. Und dass es ein hebräischer Name ist.«

»Aus ›Malka‹ wurde schnell ›Mala‹, weil in Polen die Vornamen oft geändert werden«, fuhr Chaja fort. »Und noch etwas haben wir gemacht, das wenige Jahre zuvor noch undenkbar schien.«

Mala schaute ihre Mutter neugierig an.