"Alodia, du bist jetzt Alice!" - Reiner Engelmann - E-Book

"Alodia, du bist jetzt Alice!" E-Book

Reiner Engelmann

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Beschreibung

Vergessene Opfer: Geraubte Kinder im Nationalsozialismus

Alodia Witaszek ist fünf Jahre alt, als ihr Vater von Nationalsozialisten hingerichtet wird. Ihre Mutter wird nach Auschwitz deportiert. Die blonde und blauäugige Alodia gilt als »rassenützlich«. Sie kommt in ein »Lebensborn«-Heim und wird als »Geschenk des Führers« einer deutschen Familie zur Adoption übergeben. Nach Kriegsende sucht Alodias leibliche Mutter zwei Jahre lang nach ihrem verschleppten Kind. Kurz vor Weihnachten 1947 hat sie Erfolg: Alodia kehrt in ihre fast vergessene Familie zurück und muss ihre Muttersprache neu lernen. Reiner Engelmann hat die Zeitzeugin getroffen und ihr Leben aufgeschrieben. Mit Originaldokumenten und Fotos.

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Seitenzahl: 198

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© Random House / Isabelle Grubert

Reiner Engelmann wurde 1952 in Völkenroth geboren. Nach dem Studium der Sozialpädagogik war er im Schuldienst tätig, wo er sich besonders in den Bereichen der Leseförderung, der Gewaltprävention und der Kinder- und Menschenrechtsbildung starkmachte. Für Schulklassen und Erwachsene organisiert Reiner Engelmann regelmäßig Studienfahrten nach Auschwitz. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Anthologien und Bücher zu gesellschaftlichen Brennpunktthemen.

Von Reiner Engelmann ist bei cbj bereits erschienen:

Der Fotograf von Auschwitz

Anschlag von rechts

Der Buchhalter von Auschwitz

Mehr zu cbj auf Instagram unter @hey_reader

REINER ENGELMANN

»Alodia, du bist jetzt Alice!«

Kinderraub und Zwangsadoptionim Nationalsozialismus

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Unterrichtsmaterialien zu diesem Buch sind erhältlich unter www.schullektuere.de

© cbt Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Uwe-Michael Gutzschhahn

Bildnachweis: Alle Fotos stammen aus dem Privatarchiv Alodia Witaszek-Napierala, mit Ausnahme des Fotos im Teil III Kapitel Kinder: Privatarchiv Reiner Engelmann

Umschlaggestaltung: Geviert, Andrea HolleriethMotive: Foto © privat; Shutterstock (autsawin uttisin, ilolab)

aw · Herstellung: AJ

Satz und Reproduktion: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-23449-2V001

www.cbj-verlag.de

Niemand kann aus der Geschichte seines Volkes austreten. Man soll und darf die Vergangenheit nicht auf sich beruhen lassen, weil sie sonst auferstehen und zu neuer Gegenwärtigkeit werden könnte.

JEANAMÉRY

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Teil I – Gitter

Prolog

Verhaftungen

Widerstand

Onkel Antoni

Fort VII

Post aus Auschwitz

Postkarte nach Auschwitz

Teil II – Raub

Litzmannstadt

Arbeiten in Litzmannstadt

Bestrafungen in Litzmannstadt

Verpflegung in Litzmannstadt

Gau-Kinderheim Kalisz

Im Krankenhaus

Versuch einer Befreiung

Onkel Zygmunts Suche nach den Kindern

Lebensborn-Kinderheim Bad Polzin

»Ein Geschenk des Führers«

Ein neues Zuhause

Alice erkundet ihre neue Heimat und wird von ihrer neuen Mutter fotografiert

Teil III – Lager

Ankunft in Auschwitz

Erste Arbeitseinsätze

Eine neue Aufgabe

Briefe und Pakete

Kinder

Fotos

Zugänge

Los, los! Auf, auf!

Ravensbrück

Heimkehr

Teil IV – Horizonte

Verzweiflung und Aufbruch

Vom Suchen …

… und Finden der Kinder

Ein Brief an Familie Dahl

Vom Loslassen

Zuhause?

Ein neuer Anfang

Verdientes Glück

Epilog

Nachwort

Glossar

Namen

Danke

Vorwort

Es gehört zu den schlimmsten Verbrechen, die Menschen anderen Menschen antun können, wenn sie ihnen die Kinder rauben. Während der NS-Zeit ist das vieltausendfach geschehen. Der Raub von Kindern war gewollt und hatte System.

»Man sollte es nicht für möglich halten, dass diese Blonden und Blauäugigen polnisch sprechen!« Dieser Satz stammt aus einer Tagebuchaufzeichnung von Hans Frank*, dem Generalgouverneur des von der deutschen Wehrmacht besetzten Polen. Mit diesem Satz hatte er die »Eindeutschung« der genannten jungen Menschen im Sinn. Nach seiner Vorstellung sprachen sie nur die falsche Sprache, gehörten aber zur nordischen Rasse.

Doch nicht nur der SS-Mann* Frank, sondern allen voran Reichsminister Heinrich Himmler* wollte aus dem besetzten Polen Nachwuchs für das Deutsche Reich rekrutieren. Und auch die anderen osteuropäischen Länder sollten von seiner Idee nicht verschont bleiben.

Bereits 1938 kündigte er an, überall, wo das möglich sei, »germanisches Blut« zu rauben. Hinter dieser Ankündigung steckte die Überzeugung, dass die Kinder nach den vom Rasse- und Sicherheitshauptamt festgelegten Kriterien Germanen mit bestem Blut seien, »die wir nach Deutschland holen und zu einem deutsch bewaffneten Germanen machen, ein Kämpfer für uns, auf der anderen Seite einer weniger«. (Heinrich Himmler)

Mit der Besetzung Polens begann der von ihm entwickelte und von seiner Behörde geplante Kinderraub. Kinder mit blonden Haaren und blauen Augen wurden ihren Eltern entrissen und zunächst in Auffanglager gesteckt. Viele kamen in das Kinder- und Jugendverwahrlager im Ghetto Litzmannstadt*. Dieses Lager war in Wirklichkeit ein Konzentrationslager für Minderjährige, weshalb es auch Klein-Auschwitz genannt wurde. Von dort wurden sie nach einigen Wochen auf verschiedene Heime verteilt.

Sämtliche Wurzeln zu ihren Familien wurden gekappt, niemand sollte ihre Spur verfolgen können. Das Ergebnis: Sowohl bei den Eltern als auch den Kindern blieben seelische Wunden zurück, die nie mehr verheilten.

In Heimen der Organisation Lebensborn* wurden die Kinder rigorosen Umerziehungsprogrammen unterworfen. Sie sollten für hitlerfreundliche Familien gefügig gemacht werden.

Eine genaue Zahl, wie viele Kinder auf diese Weise geraubt wurden, gibt es nicht. Schätzungen gehen aber davon aus, dass es bis zu 200000 Blonde und Blauäugige im Alter zwischen sechs Monaten und zwölf Jahren waren.

Die SS-Führung betrachtete diese Kinder als Bevölkerungszuwachs für das Deutsche Reich. Die Jungen sollten stramme Soldaten in der Wehrmacht werden, die Mädchen dem Führer Kinder schenken.

Die Geschichte von Alodia Witaszek und ihrer Schwester Daria zeigt beispielhaft, welche Leidenswege die Kinder durchmachten.

Kinder, die spielen, lachen, lernen und die Welt für sich entdecken wollten, wurden ihrer Familie und ihrer Identität gewaltsam beraubt.

Reiner Engelmann, Januar 2019

Teil IGitter

Kein Vormarsch ist so schwer

wie der zurück zur Vernunft.

Bertolt Brecht

Prolog

So war es geplant!

In vielen von Deutschland besetzten Städten Polens wurden Eltern oder Verwandte aufgefordert, ihre Kinder zur Gesundheitsprüfung bei einem Arzt einer SS-Dienststelle zu bringen. Mit dieser Maßnahme wolle man ansteckende Krankheiten oder gar Seuchen frühzeitig erkennen und vorbeugend handeln. Meist arglos kamen die Familien der Aufforderung nach. Ihre Kinder waren ja nicht krank. Doch es ging überhaupt nicht um Vorsorgemaßnahmen, dahinter verbarg sich vielmehr ein perfider, ausgeklügelter Plan.

1. Schritt

Die Ärzte waren keine Ärzte, sondern Mitarbeiter des Rasse- und Siedlungshauptamtes der SS*. Die weißen Kittel, die sie bei der Untersuchung trugen, waren Tarnung. Nach vorgegebenen Rassemerkmalen wurden die Kinder gewogen, vermessen und schließlich den Untersuchungsergebnissen entsprechend in »rassisch wertvoll«, »nicht arisch« oder »judenverdächtig« eingeteilt.

2. Schritt

Die als »rassisch wertvoll« ausgewählten Kinder kamen nach Litzmannstadt in das Kinder- und Jugendverwahrlager, das neben seiner Funktion als Kinderkonzentrations- und Arbeitslager auch als Sammelstelle für diese ausgewählten Kinder diente. Hier wurden ihnen bereits erste Kenntnisse der deutschen Sprache vermittelt.

3. Schritt

Von Litzmannstadt aus wurden sie zur Vorbereitung auf ihre Germanisierung in verschiedene Heime gebracht, die sich noch auf ehemaligem polnischem Hoheitsgebiet befanden. Zu den Vorbereitungen gehörte unter anderem die Änderung der Identität, um zu verhindern, dass Angehörige jemals die Spur eines Kindes nachverfolgen könnten.

Des Weiteren stand das Erlernen der deutschen Sprache im Mittelpunkt. Wer in dem Lager aus Versehen etwas in seiner Muttersprache sagte, wurde dafür hart bestraft. Nach einiger Zeit wurden Gutachten über die Kinder angefertigt, und wer den Vermerk »für den Einsatz geeignet« erhielt, wurde verlegt.

4. Schritt

Die Kinder wurden in Heimen in Deutschland untergebracht, bevorzugt in Kinderheimen der Organisation »Lebensborn«*. Hier standen Gehorsam, Ordnung, Fleiß und das Einschwören auf den Führerkult der Nazis im Zentrum der Erziehungsmaßnahmen. Ältere Kinder mussten den Lebenslauf Adolf Hitlers auswendig lernen.

5. Schritt

Sonntags war »Kinderbasar«. Potenzielle Pflege- oder Adoptiveltern kamen in die Heime und durften sich unter den vielen Waisenkindern eines für die eigene Familie aussuchen oder man wies ihnen eines zu. Dass es gar keine Waisen waren, sondern Kinder, die ihren Eltern geraubt wurden, wurde natürlich verschwiegen.

Der Plan von Heinrich Himmler schien aufzugehen. Die arische Rasse sollte durch den Raub von Kindern, die den Vorstellungen der NS-Führung von einem nordischen Menschentypus entsprachen, verstärkt werden. Selbst in einem Völkergemisch glaubte Himmler noch reines Blut zu finden.

Der Raub von Kindern begann nach der Eroberung Polens. Doch die SS führte auch Raubzüge in Slowenien, Tschechien, Norwegen und der Sowjetunion durch. »Rassisch wertvolle« Kinder wurden in all diesen Ländern gewaltsam von ihren Eltern getrennt und in Heimen »germanisiert«.

Verhaftungen

Es war ein kalter Winterabend an diesem 15. Januar 1943. Seit Wochen hatte der Frost die Stadt fest im Griff. Eisblumen überzogen die Fensterscheiben der meist schlecht beheizten Wohnungen.

Die Straßen wurden von SS-Männern beherrscht, die in kleinen Gruppen marschierten oder mit ihren Autos unterwegs waren. Meist waren sie auf der Suche nach Mitgliedern der polnischen Widerstandsbewegung und deren Angehörigen. Andere SS-Leute forderten polnische Familien, die noch in großen Wohnungen oder Häusern wohnten, auf, binnen weniger Stunden ihr Zuhause zu verlassen und in eine Wohnung umzuziehen, die man ihnen zuwies. Die Häuser wurden danach von den Deutschen in Beschlag genommen. Es fanden aber auch willkürliche Verhaftungen in der polnischen Bevölkerung statt, entweder auf offener Straße oder die SS-Männer drangen in Wohnungen ein und führten die Menschen ab.

Auch Halina Witaszek war, nachdem ihr Mann vor fast zehn Monaten verhaftet wurde, an diesem Abend mit ihren fünf Kindern allein in der Wohnung, sofern man den winzigen Raum, den man ihr zugewiesen hatte, überhaupt als Wohnung bezeichnen konnte. Er war Wohnzimmer, Schlafzimmer und Kinderzimmer in einem. Selbst die Küche war zu klein, um dort gemeinsam essen zu können.

Familie Witaszek, Herbst 1941, vorne links Alodia, rechts daneben Iwona und Mariola, dahinter Halina Witaszek, schwanger mit ihrem Sohn Krysztoph, und ihr Mann Franciszek mit Daria auf dem Arm

Das Haus, das sie einmal besaßen, hatten sie verlassen müssen. Es war ein geräumiges Haus mit vielen Zimmern, schönen Möbeln und einer großen Bibliothek gewesen. Franciszek Witaszek, Halinas Mann, war stolz auf seine Büchersammlung gewesen. Regelmäßig zog er sich dorthin zurück, um seine Vorlesungen vorzubereiten. Franciszek war nicht nur Arzt, sondern hatte sich auch als Wissenschaftler im Bereich Gesundheit einen Namen gemacht und einen Lehrauftrag an der Universität in Posen angenommen.

Seit die Wehrmacht im Polenfeldzug am 10. September 1939 Posen besetzt hatte, war die polnische Bevölkerung systematischem Terror ausgesetzt. Tag für Tag gab es unzählige Hinrichtungen unter der Zivilbevölkerung, massenhaft wurden Menschen festgenommen und in das Lager Fort VII* gebracht, wo die meisten von ihnen den Tod fanden. Fort VII war ein Konzentrationslager auf dem Gelände der Stadt.

Dagegen waren die Vertreibungen aus den eigenen vier Wänden noch vergleichsweise harmlos. Familie Witaszek hatte kurz vor Weihnachten 1939 die Aufforderung erhalten, ihr Haus zu verlassen. Zugewiesen wurde ihnen die Einzimmerwohnung, in der sie seither zu sechst hausten. Die meisten Möbel und vor allem die Bücher hatten sie zurücklassen müssen. Allein der Kleiderschrank, die Betten und die Matratzen beanspruchten fast die gesamte Fläche ihrer neuen Behausung.

Gegen 22 Uhr hörte Halina Witaszek laute Schritte auf der Holztreppe. Sie näherten sich im Gleichschritt der Wohnung. Mariola, die älteste Tochter, war noch wach, und auch der kleine Krysztoph spielte noch leise in einer Ecke, um die drei schlafenden Schwestern nicht zu stören.

Dann ertönten ein lautes Klopfen und der Ruf »Aufmachen«. Ängstlich öffnete Halina Witaszek die Tür. Draußen standen drei Gestapo*-Männer und befahlen ihr, sich etwas anzuziehen und mitzukommen.

Einen der Männer erkannte sie wieder. Sie wusste zwar nicht den Namen, doch sein Gesicht war ihr noch in schrecklicher Erinnerung. Er war der Lagerführer von Fort VII, dem Konzentrationslager Posen, in das man sie bei ihrer Verhaftung im April des Vorjahrs gesteckt hatte. Er war es gewesen, der beim Verhör die Fragen stellte, der aufbrauste, wenn er nicht die gewünschten Antworten erhielt, und über den sie später von anderen ehemaligen Gefangenen erfahren hatte, dass er schlug oder Folterungen und Hinrichtungen anordnete. Mit einem Mal kehrten die Bilder vom vergangenen Jahr wieder zurück.

Die Zelle, in die sie eingesperrt worden war, hatte sich zusehends gefüllt. Immer neue Frauen wurden eingeliefert, von denen sie einige kannte, andere nicht. Doch es schien irgendwelche Verbindungen zu geben. Alle schienen ihren Mann zu kennen.

Damals hatte sie nicht gewusst, warum sie verhaftet wurde. War es reine Schikane der Deutschen oder gab es einen bestimmten Grund für ihre Festnahme? Aber was hatte sie getan? Sie war Mutter von fünf Kindern, die von ihr und einem Kindermädchen erzogen wurden. Das war Arbeit genug! Für andere Dinge hatte es gar keine Zeit gegeben. Gut, dass das Kindermädchen da gewesen war, um die Kinder zu versorgen. Auf sie hatte sich Halina immer verlassen können.

Halina Witaszek hatte auch nicht gewusst, warum ihr Mann verhaftet wurde. Was warf man ihm vor? Seine Lehrtätigkeit hatte er aufgeben müssen, weil die Universität von den deutschen Besatzern geschlossen wurde. Um seine Familie ernähren zu können, hatte er eine Arztpraxis eröffnet. Zu Patienten, die weiter entfernt wohnten, war er mit dem Fahrrad gefahren. Die Straßenbahn durfte er nicht benutzen. NURFÜRDEUTSCHE, lautete die strenge Regel, die auf Schildern an den Haltestellen und an den Zügen zu lesen stand.

An manchen Abenden hatte Halina Angst gehabt, wenn er noch so spät mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs war. Sie wusste, dass ihr Mann, ein Gelehrter, ein Wissenschaftler, in den Augen der Deutschen eine Gefahr war. Angehörige der polnischen Intelligenz wurden von den Besatzern gezielt verfolgt und häufig ermordet. Sie sollten komplett vernichtet werden. Das war das Ziel.

Aber Franciszek Witaszek war ein pflichtbewusster Arzt. Wenn er von seinen Patienten gerufen wurde, war er zur Stelle gewesen. Auch nachts.

Wenige Wochen nach ihrer Festnahme hatte man Halina Witaszek wieder entlassen – ohne Begründung. Einfach so.

Doch nun waren die Deutschen erneut da und holten sie ab. Zeit zum Nachdenken über die Gründe hatte Halina nicht, zu groß war die Sorge um ihre Kinder.

Von der Unruhe waren auch die drei Mädchen wach geworden. Sie weinten und flehten: »Lasst uns unsere Mama!«

»Soll ich die Nachbarin verständigen, damit sie sich um die Kinder kümmert?« Die Vorstellung, die Kinder allein zurücklassen zu müssen, war für Halina unerträglich.

Der Lagerleiter nickte kurz, und es gelang ihr mit der Nachbarin, die Kinder ein wenig zu beruhigen. Großmutter Pawlowska, wie sie die Nachbarin liebevoll nannten, war eine gütige Frau.

»Vielleicht komme ich ja schon bald wieder,« redete Halina auf die Kinder ein, obwohl sie Angst hatte, womöglich nie mehr zurückzukommen.

»Mach es deinen Kindern nicht so schwer!«, riet ihr der Lagerführer und forderte sie auf, endlich mitzukommen.

Kurz vor dem Verlassen des Zimmers fiel ihr Blick auf das Bild der Mutter Gottes. Sie wollen, dass ich nicht zurückkomme, aber du bringst mich zu den Kindern zurück, sagte sie in Gedanken.

Es war ein schmerzhafter Abschied. Reihum schaute sie die Kinder noch einmal an, dann musste sie den drei Männern folgen.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand das SS-Auto, und kurz nachdem sie eingestiegen war, brachten die Männer noch eine weitere Frau: Halina, ihre Freundin und Namensvetterin. Auch ihr Mann war zusammen mit Franciszek Witaszek verhaftet worden.

Die beiden nahmen sich an den Händen. Was würde mit ihnen geschehen?

Widerstand

Es war keine leichte Entscheidung, die Franciszek Witaszek treffen musste. Tagelang, ja wochenlang kreiste der Gedanke in seinem Kopf und ließ ihn nicht mehr los. Er musste sich festlegen, sich entscheiden. Noch nie hatte er sich so einsam gefühlt.

Nach außen hin wirkte er wie immer. Wenn er von seinen Patienten gerufen wurde, war er stets zuverlässig zur Stelle. Oft war er bis spät in der Nacht unterwegs, half Frauen, ihre Kinder zu entbinden, kümmerte sich um alte und gebrechliche Menschen, indem er sie nicht nur medizinisch versorgte, sondern ihnen auch Mut machte, Zuversicht vermittelte. Probleme bereitete ihm, dass er für viele seiner Patienten keine Medikamente zur Verfügung hatte, denn die waren knapp. So musste er auf alte Hausmittel zurückgreifen, wohl wissend, dass sie für viele nicht ausreichen würden.

Franciszek Witaszek hatte sich bewusst für seinen Beruf entschieden, er wollte sich für die Erhaltung von Leben einsetzen. Das klang, wenn er im Freundeskreis über seine Arbeit sprach, etwas pathetisch, doch genau in dieser Aufgabe sah er den Sinn seines Lebens. Er hatte den hippokratischen Eid* geschworen, der die Basis für seinen Beruf war. Nach der Ausbildung zum Arzt hatte er in den Labors der Universität geforscht und einen Lehrauftrag bekommen. Doch die polnischen Universitäten wurden schon bald von der deutschen Besatzung geschlossen.

Halina und Franciszek Witaszek

Franciszek Witaszek war auch Katholik. Die Religion, die Zehn Gebote, standen für ihn über allem. Der Gedanke daran, er könnte gegen sie verstoßen, schmerzte ihn sehr. Er wollte sich einfach nicht vorstellen, dass durch seine Mitwirkung im Widerstand gegen die Deutschen Menschen starben. Zum ersten Mal in seinem Leben war er froh darüber gewesen, dass er aufgrund eines Herzfehlers nicht in die Armee eingezogen werden konnte. Die Arbeit in einem Lazarett entsprach deutlich mehr seinen Vorstellungen, auch wenn er lieber in einem Hospital gearbeitet oder an der Erforschung von Behandlungsmethoden für Krankheiten gearbeitet hätte, die immer noch schwer heilbar waren. Der Krieg warf viele solcher Vorhaben über den Haufen.

Wenn er zu Hause war, spielte er mit seinen Kindern, sang mit ihnen Lieder, die er noch aus seiner Kindheit kannte. Und vor allem war da auch seine Frau, die er schon seit so vielen Jahren liebte. Sie waren fünfzehn gewesen, als sie einander trafen, und seitdem ein unzertrennliches Paar. Sie waren vertraut miteinander und alle wichtigen Dinge besprachen und entschieden sie immer gemeinsam.

Doch über den Gedanken, der ihn seit geraumer Zeit beschäftigte, konnte und durfte er nicht mit ihr reden.

Franciszek Witaszek entschied sich, den Weg allein zu gehen, ohne seine Frau. Er tat sich mit Kollegen von der Universität und einigen guten Freunden zusammen. Anfang 1940 gründeten sie eine Widerstandsgruppe, die nach seinem Namen benannt wurde – die Gruppe Witaszek.

Die Gründe für diesen Schritt lassen sich rückblickend nur erahnen. War es die Schließung der Universität, mit der ihm die Grundlage für seine Forschungs- und Lehrtätigkeit entzogen wurde? Doch er dachte weiter, sah nicht nur seine persönliche Karriere in Gefahr. Das ganze Land würde in allen Wissenschaftsbereichen zurückgeworfen werden.

Franciszek Witaszek

Mit Entsetzen reagierte er auch auf die Schließung der polnischen Schulen. Sie sollten durch deutsche Volksschulen ersetzt werden. Hatte er von Himmlers Posener Rede gehört, in der dieser forderte, eine vierjährige Volksschulzeit für polnische Kinder sei ausreichend? Im Zahlenbereich bis fünfhundert sollten sie rechnen lernen und auch ihren Namen schreiben können, doch ansonsten sei es ihre Pflicht, den Anweisungen der Deutschen Folge zu leisten. Eltern, die eine höhere Schulbildung für ihre Kinder vorsahen, mussten bei oberen SS-Dienststellen einen Antrag stellen. Nicht die Leistungen sollten bei der Entscheidung im Mittelpunkt stehen, sondern einzig und allein die Tatsache, ob die Kinder der arischen Rasse entsprachen. Solche Kinder sollten dann für immer von ihren Eltern getrennt und in Deutschland unterrichtet werden.

Wie oft dachte er gerade in diesen Tagen und Wochen an seine eigenen Kinder? Welche Zukunft hatten sie noch in Polen?

Wenn er mit dem Fahrrad in der Stadt unterwegs war, bekam er oft mit, wie Menschen auf offener Straße verhaftet oder erschossen wurden. Er wusste von dem Lager Fort VII, in das täglich Menschen eingesperrt wurden, wo man sie folterte und umbrachte.

Sollte er tatenlos zusehen, wie sich um ihn herum die Lebenssituation der Menschen täglich verschlechterte? Nicht nur Freiheitsberaubung und willkürliche Hinrichtungen stellten eine Gefahr für die Menschen dar, es gab auch zu wenig Lebensmittel. Viele verhungerten. Besonders betroffen waren alte Menschen, Kranke und kleine Kinder. Andere starben an leichten Infekten wie Erkältung oder Grippe, weil ihre Körper nicht mehr die notwendigen Abwehrkräfte besaßen. Die spärlichen Medikamente, die es gab, dienten in erster Linie zur Behandlung der deutschen Bevölkerung, die nach und nach in der Stadt angesiedelt wurde. Es waren insbesondere Deutschbalten*, die sich hier niederließen.

Franciszek wollte nicht tatenlos zusehen, obwohl ihn das Gewissen plagte, wenn er dran dachte, dass auch durch die Aktionen seiner Widerstandsgruppe Menschen umkamen.

Und es starben etliche. »Für den Führer und das Vaterland gefallen«, wie die einzige deutsche, von Julius Streicher* herausgegebene Wochenzeitung »Der Stürmer*« in ihren Nachrufen über deutsche Soldaten, die von Polen an die Ostfront geschickt werden sollten, berichtete. Franciszek Witaszek wusste, dass sie nicht im Kugelhagel gestorben waren, sondern an Fleckfieber. Das war ein Beitrag der Widerstandsgruppe. Sie hatten den Soldaten entsprechende Injektionen verabreicht.

In einem Labor entwickelten sie verschiedene chemische Stoffe, die sie gegen die Besatzer einsetzten. Hühner, die für den Export nach Deutschland oder an die Front bestimmt waren, bekamen vergiftetes Futter. Die Gruppe entwickelte einen flüssigen Wirkstoff, der, wenn er Benzin beigemischt wurde, nach kurzer Zeit die Tanks der Militärfahrzeuge zerstörte. Nagelbretter auf den Straßen ruinierten die Reifen der Fahrzeuge des Feindes.

In einem Restaurant, in dem die Soldaten ihren Abschied feierten, bevor sie zur Front geschickt wurden, mischte ein Kellner, der zur Gruppe gehörte, Krankheitserreger in die Getränke, und nach wenigen Tagen starben die Soldaten an Typhus.

Auch Pferde wurden, bevor sie an die Ostfront transportiert werden sollten, mit einem Stoff geimpft, der sie für den Einsatz an der Front untauglich machte. In Militärkrankenhäusern rieben Mitglieder der Widerstandsgruppe die Handläufe der Treppen mit bakterienverseuchten Mitteln ein, sodass auch dort potenzielle Soldaten, die für die Ostfront vorgesehen waren, erkrankten, weshalb ihr Einsatz zumindest verschoben werden musste.

An Gleisen, auf denen Züge deutsche Soldaten an die Ostfront bringen sollten, platzierten sie Sprengladungen. Sie sprengten auch Brücken und Straßenabschnitte, die für den Nachschub von Rüstungsmaterial bedeutend waren.

Besonders nach solchen Sprengstoffanschlägen musste die Gruppe äußerst vorsichtig sein und sofort in den normalen Alltag zurückkehren, denn die Gestapo verstärkte an solchen Tagen ihre Kontrollen auf der Suche nach den Attentätern. Oftmals wurden auch wahllos Menschen verantwortlich gemacht und ohne Prozess hingerichtet.

Das waren die schmerzlichsten Erfahrungen, die der Widerstandskämpfer Franciszek Witaszek machte. Doch bei der Planung ihrer Aktionen hatten sie eingerechnet, dass die Besatzer auch unschuldige Menschen zur Rechenschaft ziehen könnten. Aber noch eine weitere Frage beschäftigte die Gruppe. Sie war in der Zwischenzeit auf dreißig Mitglieder angewachsen.

Waren wirklich alle zuverlässig? Konnte man jedem vertrauen? Hielt sich jeder an die Abmachung, mit Außenstehenden nicht über ihre Aktionen zu reden? Auch nicht mit dem Ehepartner oder mit anderen Familienmitgliedern! Nicht einmal über die Existenz der Widerstandsgruppe sollten sie mit den Menschen, die ihnen nahestanden, reden! Es durfte keine undichte Stelle geben, sonst war die ganze Gruppe in Gefahr.

Und doch muss es so eine undichte Stelle gegeben haben. Jemand muss sie unmittelbar nach einem Anschlag verraten haben. Und es muss ein Insider gewesen sein, einer, der alle aus der Gruppe kannte.

Im April 1942 wurden nicht nur sämtliche Gruppenmitglieder verhaftet, sondern auch deren Familienangehörige. Ehefrauen, Ehemänner, Eltern, Geschwister, ja sogar Kinder.

Dass auch Halina verhaftet wurde, wusste Franciszek nicht. Er hatte darauf gehofft, dass sie und die Kinder verschont bleiben würden.

Während man die Kinder zunächst in Heimen unterbrachte, wurden die Mitglieder der Widerstandsgruppe selbst und ihre sonstigen Angehörigen im Lager Fort VII eingesperrt.

Die Angehörigen wussten bei ihren Verhören nichts über die Widerstandsgruppe und ihre Anschläge zu sagen. Sie hatten nicht einmal einen Verdacht, warum sie festgenommen wurden und was man ihnen vorwarf. Einige von ihnen, darunter auch Halina, wurden nach einigen Wochen wieder entlassen.

Nach monatelangen Verhören und Folterungen unterbreitete die Gestapo den Mitgliedern der Widerstandsgruppe einen Vorschlag. Sie sollten sich schriftlich dazu verpflichten, ab sofort für die Deutschen zu arbeiten. Welche Konsequenzen eine Unterschriftsverweigerung hätte, wurde ihnen nicht eröffnet.

Am 8. Januar 1943 wurden zunächst vier Mitglieder der Widerstandsgruppe aus ihren Zellen geholt, erst zwei Männer, später zwei Frauen. Franciszek Witaszek war einer der vier. Er sang ein Lied, als er zusammen mit den anderen über den Hof geführt wurde: »An deiner Tür stehe ich, Herr«. Ob er ahnte, was ihm bevorstand? Die Wachen führten sie in einen unterirdischen Bunker, der mit grellem Neonlicht beleuchtet war. Ein Gestapo-Beamter, der die Rolle eines Richters einnahm, verlangte von den Beschuldigten, sie sollten in den Vorschlag einwilligen.

Doch niemand unterschrieb die vorbereitete Erklärung. Daraufhin wurde das Urteil verlesen: Tod durch den Strang.

»Nach euch kommen eure Ehefrauen und -männer dran, eure Geschwister, eure Eltern und zum Schluss eure Kinder«, verkündete ihnen der Richter am Schluss.

Die vier Urteile wurden sofort vollstreckt.

Franciszek Witaszek und drei seiner Kollegen wurde nach ihrem Tod der Kopf abgetrennt. Die Köpfe sollten zu Untersuchungszwecken an die forensische Abteilung der Universitätsklinik nach Berlin gebracht werden. Die vier Personen waren in Polen hoch angesehene Wissenschaftler gewesen, in den Augen der Deutschen aber nur Polen. Bei der Untersuchung ihrer Gehirne sollte ihre tatsächliche Intelligenz festgestellt werden.

Durch einen Zufall verblieben sie jedoch in Posen, wo sie später entdeckt wurden.

Auch die anderen Mitglieder der Widerstandsgruppe, darunter sechs Frauen, wurden am gleichen Tag hingerichtet.

Onkel Antoni