Die Schule der Magier  - Die Rückkehr des Bösen - Henry Neff - E-Book

Die Schule der Magier - Die Rückkehr des Bösen E-Book

Henry Neff

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Beschreibung

Die Welt in den Fängen der Finsternis: düster, magisch, faszinierend

Astaroth hat die Weltherrschaft an sich gerissen! Jetzt muss sich die gesamte Menschheit seinem dämonischen Willen unterordnen und in einem Albtraum leben: Die Menschen werden versklavt und müssen unter brutalem Zwang wie in grauer Vorzeit schuften. Nur für die Rowan-Akademie gilt eine teuflische Ausnahme: In der Schule der Magier kann ein friedliches, ungestörtes Leben stattfinden - solange sich dort niemend Astaroths Befehlen widersetzt. Doch dieser Preis ist für Max, den unerschrockenen Zauberschüler, zu hoch. Für ihn gibt es nur eine Lösung: Er muss die Rowan-Akademie verlassen, um den Anführer der dunklen Mächte endgültig zu besiegen. Damit beginnt eine weitere lebensgefährliche Mission ...

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cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House

Für Danielle, meine Liebe, mein Leben

Inhaltsverzeichnis

WidmungKAPITEL 1 - Der Mond hat ein GesichtKAPITEL 2 - Ein Leeres BettCopyright

KAPITEL 1

Der Mond hat ein Gesicht

Es war nicht der warme Sonnenschein, der Max McDaniels aufweckte, und auch nicht das Blöken der Lämmer. Es war vielmehr das Patschen kleiner Füßchen – leiser, schrecklich eiliger kleiner Füßchen –, die durch das langsam reif werdende Kornfeld auf ihn zukamen. Als sein erster Besucher ihm auf die Brust hüpfte, rührte er sich nicht. Auch beim zweiten und dritten hielt er ganz still. Doch als der zwölfte mit einem aufgeregten »Piep!« auf ihn geklettert war, riskierte er einen Blick und lächelte.

Auf ihm saßen zwölf kleine Gänschen. Ihre schneeweißen Köpfchen nickten auf und ab und die unergründlichen Augen glitzerten wie nasse Kiesel. Mit einem plötzlichen triumphierenden »Ong!« trat das größte vor und tippte Max mit seinem harten kleinen Schnabel auf die Brust. Die anderen folgten seinem Beispiel und bald wand sich Max kichernd unter dem Angriff der Winzlinge.

»Autsch!«, rief er und scheuchte sie vorsichtig weg. »Ich bin ja schon wach!«

Doch das Picken ging weiter.

»Max!«, rief eine schrille Frauenstimme.

Mehrere Krähen ergriffen die Flucht, als eine rundliche weiße Gans sich auf ihrer Suche durch das Getreide in Max’ Saatreihe durchkämpfte.

»Da bist du!«, rief sie. »Liegst da rum auf deinem faulen Hintern!«

»Ein Hintern kann nicht faul sein, Hannah«, entgegnete Max. Er nahm das letzte Gänschen von seinem Bauch und setzte es vorsichtig auf die Erde, wo es prompt weiterpickte.

»Auf deinem faulen Hiiiiintern!«, sang die Gans mit einem opernhaften Tremolo.

»Bravo«, sagte Max und erhob sich.

»Vielen Dank«, erwiderte Hannah mit einer Verbeugung. Sie tapste zu ihm und gab ihm einen mütterlichen Klaps. »Max, es gibt hundert Millionen Dinge zu tun, und du solltest lieber helfen, anstatt dich davonzuschleichen und auf die faule Haut zu legen.«

»Ich habe schon einen ganzen Monat lang Überstunden gemacht«, protestierte Max und unterstrich seine Aussage mit einem demonstrativen Gähnen.

»Ausreden, nichts als Ausreden«, wischte Hannah seinen Einwand fort. »Bück dich mal, mein Lieber.«

Resignierend schwieg Max und bückte sich, während die Gans ihm Erdkrumen und Strohhalme vom Hemd bürstete und sein dunkles Haar in Ordnung brachte.

»Gerade du solltest wissen, was für ein wichtiger Tag morgen ist«, seufzte sie.

»Weiß ich ja«, antwortete Max. »Und ich werde meinen Teil schon erfüllen.«

»Genau, und zwar jetzt gleich«, erwiderte sie spitz. »Auf der Stelle!«

Die Gänsemutter schubste Max mit ihrem kräftigen Flügel und pfiff nach ihren Jungen, damit sie sich aufstellten. In einer ordentlichen Reihe marschierten sie dann durch das Kornfeld. Auf der großen Lichtung des Sanktuariums schlug Hannah aufgeregt mit den Flügeln.

»Fast alles wieder normal und wunderhübsch«, freute sie sich und wies zu der wiederaufgebauten Aufzuchtstation.

Das lange, niedrige Gebäude schien sich an die kleine Lagune zu schmiegen. Die Holzwände erhoben sich glatt und sauber. Keine Spur von gesplittertem Holz oder geschwärztem Stein zeigte mehr an, dass genau dieses Gebäude vor Kurzem in Schutt und Asche gelegen hatte.

»Hmm«, machte Max und dachte bei sich, dass die Rowan-Akademie, obwohl zum größten Teil wiederaufgebaut, nie wieder ganz normal sein würde. Erst vor sechs Monaten waren Astaroths Armeen über das weitläufige Schulgelände gezogen und hatten auf dem Weg zu den Klippen, zum letzten Zufluchtsort von Rowan, die Wälder niedergebrannt, die Gebäude zerstört und das Vieh abgeschlachtet. Viele waren damals gestorben. Es war Max gewesen, der sie letztendlich aufgehalten und ganz allein gekämpft hatte, bis die einzige vernünftige Möglichkeit die gewesen war, dem Dämon das Buch Thoth auszuliefern. Es war eine schwere Entscheidung gewesen, aber bislang hatte Astaroth offensichtlich sein Wort gehalten und sich an ihr Abkommen gehalten. Die grässlichen Armeen waren wie von Geisterhand verschwunden und sie hatten Rowan in Ruhe gelassen, zwar völlig zerschlagen, aber immerhin in der Lage, es in seinem eigenen Tempo wieder aufzubauen.

Nach üblichen Maßstäben war dieses Tempo enorm gewesen. Mit Magie und Muskelkraft wurden Feldfrüchte angebaut, Steine gehauen, Wälder hochgezogen und die Herden wieder aufgestockt. Auf der weiten Ebene des Sanktuariums wogten jetzt neuerlich reiche Kornfelder, blühten und gediehen Gärten und grasten Viehherden bis an den Rand des breiten Waldes, der sich bis in die Berge hinaufzog. Max sog die Septemberluft ein und sah eine Familie schimmernder Elfen auf eine Eiche zuschweben, deren Blätter langsam gelb wurden.

Doch nicht der friedliche Rückzug des Dämons oder dass er seit Kurzem immer wieder die schrecklich scheuen Elfen zu sehen bekam, machte Max neugierig. Es gab noch andere Veränderungen. Seit Astaroth das Buch verlangt hatte, hatte Max das Gefühl, als ob es in der Welt taue – als ob die Erde aus der Kälte hereingekommen, sich den Schnee von den Stiefeln geklopft und an einem gemütlichen Feuer niedergelassen hätte.

»Es beginnt ein neues Zeitalter«, murmelte er.

»Ganz bestimmt, mein Lieber«, stimmte ihm Hannah fröhlich zu und scheuchte ihre Gänschen zu den Toren des Sanktuariums. »Und wie ich vorhergesagt habe, ist Mutter Natur bereit dafür.«

»Du spürst es auch, nicht wahr?« Gelegentlich fragte er sich, ob er ein besonderes Gespür für solche Dinge hatte. Max McDaniels war ein Sohn der Sidh, einem Land, in dem Götter und Dämonen in den Hügeln schlummerten. Als Kind einer irdischen Mutter und einer irischen Gottheit bewegte er sich auf einem schmalen Grat zwischen Sterblichkeit und Unsterblichkeit. In seinem Blut glomm der seltene Funke von Alter Magie, einer Urkraft, die Max so wild und kraftvoll wie einen Sturm werden lassen konnte. Während der Belagerung von Rowan waren Hunderte von Feinden vor ihm geflohen.

»Natürlich spüre ich es«, erwiderte Hannah, deren Kopf mit jedem Schritt auf und ab wippte. »Alles wächst und die Luft ist zum Bersten voller Magie. Es ist wie ein Sonnenstrahl auf meinem Schnabel. Man muss schon sehr dumm sein, um es nicht zu spüren.«

»Glaubst du, dass Astaroth hinter all dem steckt?«, fragte Max sie.

»Wer weiß?« Die Gans hob unschlüssig die Flügel an. »Aber ich würde wetten, dass er das eine oder andere geändert hat, seit er das Buch in die Finger bekommen hat. Allerdings muss ich auch sagen, dass mir das keineswegs die Federn sträubt.«

»Du glaubst also, dass es jetzt besser ist?«, fragte Max ein wenig enttäuscht. Er hatte erwartet, dass Astaroths Sieg Feuer und Asche folgen würden, kein friedlicher, saftiger Sommer. Die Stille war irgendwie beunruhigend.

»Hier auf jeden Fall«, schloss Hannah. Sie breitete die Flügel aus und blies die Brust auf, um so viel von der Herbstsonne aufzunehmen wie möglich. Die Gänschen taten es ihrer Mutter nach. »Auf jeden Fall habe ich getan, was mir aufgetragen war: Ich habe dich gefunden und deinen faulen Hintern zurück zum Herrenhaus gebracht. Also los, geh Rasen mähen oder Unkraut jäten, während ich mir die Federn striegeln lasse.«

»Wie bitte?«, fragte Max.

»Deluxe Feder-Behandlung, schwedische Schnabelmassage und Pediküre«, erklärte Hannah. »Die Dryaden sind mir etwas schuldig. Eine ganze Menge sogar. Also sei so nett und pass bei der Arbeit ein bisschen auf die Gänschen auf. Du weißt, dass sie dich als Babysitter vergöttern. Und denk daran: Die kleine Baby Ray hustet in letzter Zeit, Honk soll nicht so grob zu ihr sein. Und Millie darf keine Süßigkeiten bekommen, weil sie ein ganz schlimmes kleines Gänschen gewesen ist und …«

Max schaltete ab, als Hannah eine lange Litanei von Instruktionen für jedes einzelne ihrer zappeligen, völlig identischen Kinder herunterbetete. Nachdem sie sich um Millies lästige Hautreizung gekümmert hatte, watschelte Hannah davon und begrüßte eine Arbeitsmannschaft im Vorbeigehen mit der Nonchalance eines Großstadt-Bürgermeisters. Sobald sie fort war, spürte Max ein scharfes Picken an seinem Schienbein. Die Gänschen scharten sich um seine Füße und unerbittliche Augen sahen zu ihm auf.

»Passt bloß auf eure Schnäbel auf«, warnte er und führte sie zu einer moosbewachsenen Mauer und dem Tor, das das Sanktuarium vom Rest der Rowan-Akademie trennte.

Als sie durch den tunnelartigen Laubengang aus ineinander verwobenen Bäumen gingen, schlug ihnen eine Symphonie von Geräuschen entgegen. Hämmern, Sägen, Rufe, Lachen und unzählige andere Geräusche bildeten eine Hintergrundkulisse für die fröhlichen Arbeiten. Sobald sie wieder das Tageslicht erreicht hatten, sah Max Hunderte von plaudernden Schülern und Erwachsenen, die die Ställe ausbesserten und die letzten Planken in den Zaun um das Reitgelände legten, wo die Palomino-Ponys sich aufbäumten und wieherten. Die frische Luft roch nach Farbe, Herbstlaub und dem Meer. Max spürte, wie es in seinem Magen rumorte, und spielte kurz mit dem Gedanken, sich in die Küche zu schleichen und sich einen Happen zu essen zu holen …

Aber die Pflicht rief. Er führte die Gänschen über einen Pfad an den Ställen und am Garten vorbei, bis sie am Herrenhaus, dem zentralen Gebäude von Rowan und Max’ Zuhause, angelangt waren. Als sie durch den Garten liefen, betrachtete Max voller Befriedigung den prunkvollen Eingang. Die verkohlten Steine waren geborgen worden und erstrahlten frisch geputzt in reinstem Grau, die zerschmetterten Fensterscheiben waren ersetzt worden und aus den vielen Schornsteinen auf dem steilen Schieferdach stieg einmal mehr einladender Rauch auf. Doch am schönsten waren die Eschenbäume, die wieder an der Einfahrt wuchsen. Während der Belagerung hatte der Feind sie ausgerissen und in Splitter gehackt. Doch jetzt standen sie wieder da, hoch gewachsen und voller weißer Blüten, als hätte sie nie ein Vye, Kobold oder Oger berührt.

Allerdings berührte sie jetzt eine Hexe. Bellagrog Shrope war ein riesiges Exemplar, etwa zweihundert Pfund Fleisch, gezwängt in ein Kleid, das eindeutig für eine kleinere Person gemacht war. Ihre Haut war grau, das Kleid braun, und die Kombination ließ sie aussehen wie ein riesiges, dunkles Gemüse, das man ausgerissen und dummerweise mit Zähnen versehen hatte. Diese Zähne – glänzend und dreieckig – nagten nachdenklich an ihrer Oberlippe, während sie ein paar Papiere durchsah. Eines der Gänschen stieß ein erschrockenes Piep aus.

Die Hexe hörte mit der Raschelei auf, richtete sich auf und schnüffelte hörbar. Langsam wandte sie den Kopf und musterte die Gänschen mit ihren blutunterlaufenen Krokodilsaugen.

»Hallo, meine Lieblinge«, murmelte sie und bückte sich mit ausgestreckten Armen. »Kommt und gebt der alten Bel einen Kuss!«

Die Gänschen drängten sich dicht aneinander wie eine weiche zitternde Masse. Es nutzte auch nichts, dass die Aufforderung wiederholt wurde.

Schließlich erhob sie sich und kicherte leise. »Wahrscheinlich bin ich nicht so kuschelig wie ihre alte Gänsemama. «

»Sie sind nur ein wenig schüchtern, Bellagrog«, log Max und beglückwünschte die Gänschen insgeheim zu ihrer Klarsicht.

»Ja sicher, sicher doch«, entgegnete Bellagrog und kratzte sich abwesend am Bauch. »Aber gut, auf sie habe ich nicht gewartet, sondern auf dich. Ich muss meinen Zeitplan einhalten, Max, und du bringst alles durcheinander. Das geht so nicht, mein Lieber, ganz und gar nicht …«

Max wagte sich vor und stellte sich neben die Hexe, um ihr über die Schulter zu sehen, während sie ihre Papiere durchsah und mit dem ernsten Blick eines Buchhalters prüfte.

»Nun, weil ich dich mag, lasse ich dich zwischen ein paar Optionen wählen«, erklärte sie. »Keine sterilen Pflichten für Rowans Helden.« Sie zwinkerte und lachte dann schnaubend. »Sterile Pfliiichten … das ist gut, Bel! Ganz schön clever! Also, Max, wir brauchen jemanden für das Mauerwerk am Tor, zum Büchereinräumen in den Archiven oder um die Schnecken für das Fest zu ölen. Was möchtest du am liebsten?«

»Was ist mit dem Alten Tom?«, erkundigte sich Max mit einem Blick auf die schier endlose Liste der noch zu erledigenden Aufgaben. »Könnte ich nicht lieber da arbeiten?« Max verband eine besondere Beziehung mit dem Alten Tom und er hatte seine klaren Glockenschläge in den letzten Monaten vermisst. Während der Belagerung war das alte Schulgebäude stark beschädigt worden. Eigentlich war es sogar Max gewesen, der die große, alte Glocke im Uhrenturm kaputt gemacht hatte. Deshalb hatte er Schuldgefühle, und wann immer es möglich war, arbeitete er gerne an dem stattlichen, verwitterten Gebäude.

»Der Zugang zum Alten Tom ist bis zur Eröffnungsfeier beschränkt«, erklärte Bellagrog nüchtern.

Max betrachtete den ein paar hundert Meter entfernt liegenden Bau. Ein hohes, weiß verkleidetes Baugerüst umgab den Turm, sodass er aussah wie ein riesiges Geschenk.

»Was ist denn los?«, wollte Max wissen.

»Die Informationen zum Alten Tom werden nur weitergegeben, wenn es nötig ist«, antwortete die Hexe und betrachtete ihre Klauen. »Du musst nichts wissen, und ich fange gerade an, mein großzügiges Angebot zu bereuen …« Sie blätterte um und als Überschrift auf der nächsten Seite las Max Abwasser.

»Schnecken«, stieß er hervor. »Ich beschäftige mich mit den Schnecken.«

»Na gut«, stimmte Bellagrog zu und setzte seinen Namen zu ein paar anderen. »Dann mal los. Mach dir etwas Appetit für das Fest morgen. Ich werde das jedenfalls tun …«

Bellagrog grinste die Gänschen an. Max ignorierte sie und führte seine kleinen Schützlinge auf die weiten Rasen- und Gartenflächen von Rowans Haupthof. Auf einem großen Rasenstück saßen mehrere Kinder, die mit in gelbliches Fett getauchten Lappen riesige Seeschnecken bearbeiteten. Manche davon waren kaum größer als ein Strandball, andere hingegen hatten die Größe eines Lieferwagens. Die gelbliche Flüssigkeit war eine verdickte Art von Phosphoröl, und wenn man die Schnecken mit der wächsernen, beißenden Lösung einrieb, begannen sie, sanft zu leuchten wie riesige Glühwürmchen. Im Tageslicht war es nicht so gut zu erkennen, aber auch so lag ein goldener Schimmer über dem Rasen, als ob darunter das Eldorado verborgen war. Max ging an einer Gruppe kichernder Kinder vorbei und fasste eine imposante Nautilus-Schnecke ins Auge.

Fast zwei Stunden polierte Max an der Schnecke herum. Es war eine monotone, aber befriedigende Arbeit, jeden glatten, gewölbten Teil zu wienern, bis das Öl die Oberfläche durchdrang und ein phosphoreszierendes Leuchten hervorrief. Die Gänschen benahmen sich in der Zwischenzeit relativ gut. Sie schienen sich damit zu amüsieren, ihre geisterhaft verzerrten Spiegelbilder in den Schneckenhäusern zu betrachten, bis es Honk schaffte, in einen Eimer Phosphoröl zu fallen – oder zu springen. Als Max den empörten Vogel säuberte, traf ihn ein Schatten.

»Sieh an, was haben wir denn da?«, erklang eine amüsierte Stimme.

Max drehte sich um und sah Dr. Rasmussen, den ehemaligen Leiter der Frankfurter Werkstatt. Der haarlose, skelettdürre Wissenschaftler grinste Max hinter seiner dünnen Brille hervor an. Ein paar Dutzend Erwachsene begleiteten ihn.

»Meine Damen und Herren, darf ich Ihnen Max McDaniels vorstellen«, erklärte der Ingenieur. »Der junge Mann hat die Werkstatt letztes Jahr besucht, aber unter den damaligen Umständen hatten viele von Ihnen nicht die Gelegenheit, ihn kennenzulernen. Das können wir jetzt nachholen.«

Max nickte den Fremden zu, die ihm vorgestellt wurden. Doch sie erwiderten seinen Gruß nicht, sondern sahen ihn lediglich mit kühler Neugier an. Abgesehen von der Unhöflichkeit erstaunte es Max, Mitglieder der Werkstatt in Rowan zu sehen und vor allem in Gesellschaft von Dr. Rasmussen. Die Werkstatt war eine technisch orientierte Gesellschaft – eine wissenschaftliche Abteilung, die sich vor langer Zeit von Rowan getrennt hatte und nun in einem Netzwerk unabhängiger unterirdischer Städte lebte. Jesper Rasmussen war bis zum vergangenen Jahr der Direktor der Werkstatt gewesen, aber auf Astaroths Befehl hatten ihn seine Kollegen vertrieben.

Danach hatte Rasmussen in Rowan um Asyl gebeten und seine Hilfe in technischen Dingen angeboten. Unglücklicherweise bekam man die nur zusammen mit seiner Arroganz, daher waren die Anfragen zurückgegangen. Jetzt war er der mürrischste Würdenträger von Rowan.

»Wann sind die denn gekommen?«, fragte Max Rasmussen mit einem Blick auf die Besucher.

»Heute Morgen«, erwiderte Dr. Rasmussen. »Sie sind hier, um … sich zu entschuldigen.«

»Bei Ihnen oder bei uns?«, fragte Max, dem es nur zu bewusst war, dass die Werkstatt nichts getan hatte, um Astaroths Angriff auf Rowan oder die gesamte Welt zu verhindern. Soweit Max wusste, hatten sie dem Dämon die Treue geschworen. Rasmussen ignorierte die Frage.

»Weiß Cooper, dass sie hier sind?«, erkundigte sich Max.

»Ja, ja«, stieß Rasmussen hervor. »Alle haben die erforderlichen Genehmigungen. Aber danke der Nachfrage.« Er wandte sich mit einem höflichen Lächeln an seine Kollegen. »Was wären wir nur ohne die charmante Unverschämtheit von Teenagern?« Er stieß ein dünnes Lachen aus, warf Max einen beleidigten Blick zu und führte seine Kollegen weiter. Sie folgten ihm, doch plötzlich blieb einer von ihnen – ein kantiger, humorlos wirkender Mann – abrupt stehen.

»Was ist das für ein Zeichen, Jesper?«, wies er auf Max’ Handgelenk.

Dr. Rasmussen runzelte die Stirn und betrachtete eingehend die Tätowierung: eine rote, zum Gruß erhobene Hand.

»Hmm«, meinte er schließlich. »Agent Cooper hat die gleiche, glaube ich.«

»Sie haben nichts von einem Zeichen gesagt«, meinte der Mann vorwurfsvoll.

»Wovon redet er?«, erkundigte sich Max und entzog Rasmussen den Arm.

Rasmussen antwortete ihm nicht, sondern betrachtete die Tätowierung lediglich noch ein paar Sekunden und winkte seine Kollegen dann weiter. Die Gruppe entfernte sich, mit Ausnahme des Mannes, der das Zeichen als Erster bemerkt hatte. Er stand wie angewurzelt da und ließ seine Augen ohne jede Spur von Eile oder Verlegenheit über Max’ Gesicht und Körper gleiten. Max kam sich vor wie eine Laborratte.

»Warum machen Sie nicht einfach ein Foto?«, blaffte er ihn an.

Der Mann blinzelte, als hätte ihn Max’ Frage aus tiefsten Überlegungen gerissen. Dann schlenderte er zu ihm, stützte die Hände auf die Knie und beugte sich vor, bis sein dünnes, leidenschaftsloses Gesicht sich nur noch ein paar Zentimeter vor Max befand.

»Warum sollte ich?«, flüsterte er. »Ich kann dich sehen, wann immer ich will.«

Damit richtete er sich auf und lächelte merkwürdig, bevor er rasch seinen Kollegen hinterherlief. Max spürte eine Woge von Wut in sich aufsteigen, als er ihm nachsah. Er verachtete die Werkstatt und ihre aalglatten Vertreter. Doch es war eine seltsame Bemerkung. Max hatte den Mann noch nie zuvor gesehen und würde ihm wahrscheinlich auch nie wieder begegnen. Noch während er darüber nachdachte, dämmerte ihm plötzlich, dass diese Besucher von außerhalb kamen. Die Werkstatt lag in Europa. Bestimmt wussten sie etwas über die verschiedenen Regierungen und Städte, sie mussten wissen, was in der Welt um sie herum vor sich ging.

»He!«, rief er und lief ihnen nach. »Warten Sie!«

Auf den breiten Stufen zum Herrenhaus holte er sie ein. Rasmussen wollte die Gruppe hineinscheuchen, aber sie hatten sich auf Max’ atemlosen Ruf hin bereits zu ihm umgedreht. »Wie sieht es im Rest der Welt aus?«, stieß Max hervor. »Was ist in Boston los? In Berlin? In Paris?«

Er stieß auf eisiges Schweigen. Rasmussen räusperte sich und sah seine Kollegen an. Eine dunkelhäutige Frau in einem grauen Kostüm schüttelte den Kopf und Rasmussen presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen.

»Max, tu dir selbst einen Gefallen und vergiss Paris«, riet er ihm leise. »Es vergisst dich ebenfalls …«

Bevor er eine weitere Frage stellen konnte, hatte sich Rasmussen umgedreht, und die Erwachsenen gingen ins Haus. Max folgte ihnen und sah, wie sie durch das Foyer in den Gang zu Mrs Richters Büro gingen.

Seufzend ließ Max seinen Lappen von einer Hand in die andere gleiten und nickte auf dem Weg zurück zum Schneckenfeld einem älteren Paar zu. Am Fuß der Nautilus sah er einen Mann und eine Frau mittleren Alters sitzen.

»Wir haben uns schon gefragt, ob du zurückkommst«, kicherte der Mann.

Nigel Bristow und seine Frau saßen bei den Gänschen. Während Mrs Bristow die verängstigten Vögelchen beruhigte, drohte der blonde Anwerber Max mit dem Finger.

»Gnade dir Gott, Max, wenn Hannah herausfindet, dass du ihre Lieblinge allein gelassen hast!«

»Oh«, machte Max und wurde rot. Er eilte zu dem Weidenkorb, in dem das Paar die Gänschen auf einen Haufen gefalteter Wäsche gesetzt hatte. Max zählte schnell durch und atmete erleichtert auf. »Tut mir leid, Nigel, aber ich war nur ein paar Minuten weg.«

»Und das hat anscheinend gereicht, dass dieser kleine Racker hier ein Phosphorbad genommen hat«, seufzte der Mann und nahm Honk hoch.

»Nein, das hat er schon geschafft, während ich hier war«, erklärte er. Trotz seiner hastigen Säuberungsversuche leuchtete das Gänschen nach wie vor. Da das Tageslicht langsam schwächer wurde, zeigte sich die Wirkung des Öls jetzt noch stärker.

Nigel und seine Frau tauschten amüsierte Blicke aus.

»Die Werkstatt ist auf dem Campus!«, erklärte Max und wechselte geschickt das Thema. »Sie besuchen Rasmussen. Deshalb bin ich gegangen – ich wollte wissen, ob sie Neuigkeiten von der Außenwelt haben.«

»In den nächsten paar Tagen werden viele Besucher kommen, Max«, meinte Nigel stirnrunzelnd. »Ich dachte, du wüsstest das.«

»Jetzt sag nur nicht, dass die Wiccas auch kommen«, stöhnte Max, doch Nigel schüttelte den Kopf.

»Nein. Die Wiccas nicht. Nach allem, was letztes Jahr passiert ist, ist den Wiccas der Zutritt hier verboten. Bist du sicher, dass Mrs Richter nicht mit dir darüber gesprochen hat? Ich weiß, dass sie zumindest die Absicht hatte.«

»Mir sagt keiner etwas«, beschwerte sich Max. »Bellagrog behauptet, es würde nur das Nötigste an Informationen herausgegeben, und ich muss offensichtlich gar nichts wissen.«

Nigel betrachtete Max nachdenklich. Er setzte Honk wieder in den Korb und wandte sich an seine Frau. »Emily, würdest du die Kleinen bitte zu Hannah zurückbringen? Ich muss mit Max reden.«

Max musste versprechen, sich einen Pullover anzuziehen und die Bristows in ihrem Haus zu besuchen, dann küsste Emily ihren Mann, nahm den Korb und entfernte sich mit raschelnden Röcken.

Um Max und Nigel herum begannen die anderen, ihre Sachen einzupacken – Sägen, Hämmer und Spaten –, als der köstliche Geruch nach Essen sich über das Gelände verbreitete. Max und Nigel gingen dem Strom der hungrigen Arbeiter entgegen zu der windigen Klippe, die über den Atlantik hinaussah. Dort entdeckte Max eine einsame Gestalt am Fuß einer Marmorstatue knien.

Wie viele andere Gestaltungselemente und sogar Gebäude war diese Statue neu in Rowan. Durch die viele Arbeit in der letzten Zeit hatte Max noch keine Gelegenheit gehabt, sie sich anzusehen. Es war die Statue eines großen, bärtigen Mannes auf einem groben Sockel aus schwarzem Granit. Trotz des kühlen, majestätischen Marmors und des Gelehrtentalars wirkte die Gestalt fast wild und ungezähmt. Die Haare waren zerzaust, sein Bart ungekämmt und seine kräftigen Hände schienen das Buch, das er eigentlich halten sollte, eher zu zerreißen. Max fand, dass er aussah wie Poseidon, so groß und wild wie das Meer.

»Das ist wunderbar, Greta«, sagte Nigel und blieb stehen, um das Werk zu bewundern. Die kniende Frau wandte sich nicht um, sondern konzentrierte sich auf die Bronzetafel auf dem Sockel. Ihre marineblaue Kleidung sagte Max, dass sie eine Magierin von mittlerem Rang war. Ihre Hände verrieten ihr Alter, aber die Bronzetafel schwieg. Sie war leer.

»Bist du das, Nigel?«, krächzte die Magierin.

»Ja«, bestätigte er, »aber ich will dich nicht stören.«

»Unsinn«, behauptete die alte Frau und sah in ihre Notizen. »Er ist gleich fertig …«

Sie spreizte die Finger und flüsterte Beschwörungsformeln zur Transformation. Die Bronze begann, sich zu wölben und Blasen zu werfen, und in den letzten Sonnenstrahlen aus dem Westen erhoben sich elegante Buchstaben auf dem dicken Metall. Max neigte sich vor und sah einen vertrauten Namen auftauchen.

ELIAS BRAM 1599-1649

Mit einem Ächzen erhob sich die Magierin auf die Zehenspitzen und tätschelte der Statue den Fuß. Dann suchte sie ihre Sachen zusammen, nickte Nigel und Max zu und stellte sich zu ihnen, um ihr glanzvolles Werk in seiner Gänze betrachten zu können. Schließlich kicherte sie befriedigt von ihrer künstlerischen Leistung.

»Hübsches Kerlchen, was?«, sagte sie und zwinkerte ihnen zu. Sie wünschte ihnen gute Nacht und humpelte auf einem der Gartenwege zum Herrenhaus zurück, wobei sie ihre Laterne schwenkte wie ein junges Mädchen.

Sobald sie außer Sichtweite war, warf Nigel Max einen jungenhaften, schelmischen Blick zu.

»Wer als Letzter oben ist, hat verloren!«, verkündete er und sprang auf die Statue zu, um sich auf den massiven Sockel zu ziehen.

Max machte nicht mit, sondern beobachtete Nigel. Er bewunderte seine Entschlossenheit, aber es war ein peinliches Schauspiel: jämmerliche Sprünge, heisere Flüche und einige Male verloren seine mageren Arme im entscheidenden Augenblick den Halt. Schließlich klammerte sich Nigel an den Granit und trat mit den Beinen um sich wie ein sterbender Frosch.

»Soll ich Ihnen helfen?«, bot Max ihm an.

»Wenn du darauf bestehst«, keuchte Nigel.

Max verschränkte die Hände und schob ihn hoch. Ein paar Sekunden später saßen sie nebeneinander auf der Rückseite an die steinernen Falten von Brams Gewand gelehnt. Nigel suchte schwer atmend nach einem Taschentuch und tupfte sich die Stirn ab.

»Ah«, seufzte er und ließ den Blick über die ruhige See gleiten. »Das war ein wenig schwieriger, als ich gedacht hatte, aber wir sind oben, und ich war Erster. Du bist vielleicht jung und kräftig, Max, aber damit kommst du nie gegen die List des Alters an!«

»Na schön«, gab Max zu und verdrehte die Augen. »Aber Nigel, dürfen wir hier oben überhaupt sitzen? Ich meine, Greta hat es gerade erst fertiggestellt.«

»Unsinn«, tat Nigel den Einwand ab und faltete sein Taschentuch wieder zusammen. »Du enttäuschst mich, Max. Jeder Schüler weiß doch, dass Statuen dazu da sind, um darauf zu sitzen. Wenn wir schon ihre schrecklichen, höhnischen alten Gesichter ertragen sollen, können sie uns wenigstens etwas Schatten spenden oder einen Sitzplatz anbieten. «

Max grinste. »Sollen wir unsere Namen darauf schreiben? «, fragte er und verdrehte sich, um den blitzsauberen Marmor zu betrachten.

»Eine löbliche Idee«, fand Nigel, »aber vorerst beschränken wir uns auf das Sitzen.«

Max lehnte sich an den kalten Stein und verschränkte die Arme vor der Brust, um sich zu wärmen. Der Mond ging auf. Er war fast voll und sein blasses Licht schien auf eine einsame Möwe, die über die Meereswellen glitt. Als ob er seine Gedanken lesen könnte, zitierte Nigel mit seinem weichen englischen Tenor:

Wie die Standuhr im Flur sieht das Mondgesicht aus Es wirft seinen Schimmer auf Garten und Haus auf Straßen und Felder und Schiffe im Hafen, und auf Vögel, die in den Baumkronen schlafen.

»Das kenne ich«, sagte Max. »Aber ich weiß nicht mehr, woher.«

»Das ist ein Kinderreim von Robert Louis Stevenson«, sagte Nigel. »Eines meiner Lieblingsgedichte.«

»Das hat mir meine Mutter vorgelesen«, erinnerte sich Max. »Glaube ich zumindest.« Er dachte scharf nach über sein altes Zuhause in Chicago und die ruhigen Abende, wenn er im Bett gelegen hatte. Es schien eine Ewigkeit her zu sein.

»Nun ja, ich werde es wohl vielen jungen Menschen vorlesen«, stellte Nigel fest.

»Wie meinen Sie das?«, wollte Max wissen. Nigel und Emily Bristow hatten keine Kinder.

»Ein Karrierewechsel, Max«, erklärte Nigel. »Leider sind meine Tage als Anwerber gezählt. Ich werde Lehrer werden. So wie es aussieht, werden die Flüchtlinge wohl für immer hierbleiben, daher haben Emily und ich angeboten, eine der Kindergartengruppen zu leiten.«

»Aber wenn Sie das tun, wer wird dann die Potenziellen testen?«, fragte sich Max laut.

Nigel lächelte, doch in seinen Augen lag unverkennbare Traurigkeit. »Niemand, Max«, antwortete er. »Niemand wird jemanden anwerben oder Potenzielle testen. Diese Tage sind vorbei. Wir haben den Krieg verloren und müssen uns nach Astaroths Regeln richten.«

Max schwieg verwirrt. Natürlich wusste er, dass sie verloren hatten, niemand wusste es besser als er. Aber er hatte nicht mit den ganzen Folgen gerechnet. Rowan war während der letzten sechs Monate mit dem Wiederaufbau beschäftigt gewesen, und Max hatte angenommen – erwartet -, dass sie den Kampf gegen Astaroth wieder aufnehmen würden, sobald sie dazu in der Lage waren.

»Und wie lauten diese Regeln?«, fragte er leise.

»Oh, mir hat man nur die mitgeteilt, die mich direkt betreffen«, antwortete Nigel. »Keine Rekrutierungen mehr, Rowan nicht verlassen, bis unsere Grenzen klar markiert sind und wir die Erlaubnis dazu bekommen. Deshalb ist es so wichtig, dass jemand mit dir spricht, bevor …«

Nigel schien nervös zu werden, klopfte mit den Fingern gegen sein Knie und sah auf die Uhr.

»Ich kann mir vorstellen, was du letztes Frühjahr durchmachen musstest«, meinte er schließlich. »Ein Junge in deinem Alter, der allein kämpfen muss. Dir verdanken wir es, dass Rowan wenigstens die Chance hat, wieder aufgebaut zu werden. Wir schulden dir mehr, als wir dir je zurückzahlen könnten.«

»Nigel«, lachte Max. »Jetzt spuck es schon aus! Worauf willst du eigentlich hinaus?«

Nigel schlug nach einer lästigen Fliege und holte tief Luft. Dann sagte er langsam und bedächtig: »Max, morgen wird eine Delegation von Dämonen kommen …«

»Was?«, rief Max und richtete sich auf.

»Lass mich bitte ausreden«, verlangte Nigel ruhig und streng. »Denn genau darüber wollte ich mit dir reden. Max, ich liebe dich wie einen Sohn. Aber du hast ein furchtbar hitziges Temperament und morgen ist wirklich nicht der ideale Zeitpunkt für einen Ausbruch.«

Max sah Nigel böse an. Um nicht gleich zu beweisen, dass er recht hatte, zwang er sich, ruhig zu bleiben.

Nigel nickte anerkennend und fuhr fort: »Die Dämonen werden morgen eintreffen, angeführt von einem Lieutenant Astaroths – ein Mann namens Prusias. Sie kommen zum Zeichen des guten Willens …«

Max konnte ein abfälliges Lachen nicht unterdrücken.

»… als Zeichen des guten Willens«, wiederholte Nigel und ignorierte die Unterbrechung. »Und um die genauen Bedingungen unserer Vereinbarungen zu besprechen. Sie haben versprochen, uns mit Respekt entgegenzutreten, und wir haben ihnen das Gleiche versprochen. Verstehst du mich, Max? So schließt man Frieden.«

Eine Weile saßen sie schweigend da und sahen zu, wie die Wellen unter ihnen an den Strand liefen. Max war wütend – er fand die Vorstellung, Dämonen einzuladen, unerträglich abstoßend – aber er war auch neugierig. Es schien, dass er morgen die Antwort auf viele Fragen bekommen sollte. Er dachte darüber nach, bis Nigel etwas hervorstieß, was er zuerst nicht verstand.

»Was?«, fragte er nach.

»Emily und ich bekommen ein Baby«, wiederholte Nigel. Dieses Mal sprach er zwar langsamer, aber die Worte sprudelten immer noch aus seinem Mund hervor. »Im März. Du bist der Erste, der es erfährt.«

»Gratuliere«, sagte Max, unsicher, was er sonst sagen sollte. Ihr Gespräch hatte eine unerwartete Wendung genommen.

»Nun ja, so etwas ändert die Perspektive und die Prioritäten in meinem Leben«, meinte Nigel. »Wie alle Eltern möchte ich, dass mein Kind die besten Chancen bekommt, die sie kriegen kann – eine Chance, ihren eigenen Weg zu gehen und in unserer neuen Welt zu überleben.«

»Es wird also ein Mädchen?«, fragte Max.

»Na ja, das wissen wir natürlich noch nicht«, lächelte Nigel. »Aber Emily hat so eine Ahnung. Kannst du dir ein Baby in unserem Haus vorstellen, Max? Ein so kostbares Leben? Emily ist ganz außer sich und ich … nun, ich hatte nicht geglaubt dass wir je dieses Glück haben würden.«

Nigels Bitte hatte eine stärkere Wirkung als alles, was Mrs Richter hätte sagen können. Max’ anfängliche Interpretation war falsch gewesen. Es war keine feige Bitte, klein beizugeben, es war der Beschützerinstinkt eines werdenden Vaters.

»Ich werde mich benehmen«, versprach Max ernst.

»Danke«, erwiderte Nigel und stieß hörbar die Luft aus. Er tätschelte Max die Hand und sah dann beiläufig über den Rand des Sockels. »Weißt du, ich hatte schon immer Höhenangst …«

»Nigel, wir sind keine zwei Meter über dem Boden.«

»Schon, aber da ist auch noch der Abgrund«, winkte Nigel ungeduldig zu der nahen Klippe hin. »Man könnte stolpern und über den Rand fallen. Wahrscheinlich würde man nicht mal mehr die Leiche finden.«

Max meinte zwar, dass man sich dazu schon ziemlich entschlossen über die fünf Meter breite gepflegte Rasenfläche rollen müsste, aber er sprang von der Statue herunter und reichte seinem Freund die Hand.

»Nicht, dass Sie das bräuchten«, erklärte er.

»Genau«, schniefte Nigel. »Es ist lediglich eine Geste der Höflichkeit.«

»Wie haben Sie eigentlich die sportlichen Prüfungen geschafft?«, wollte er wissen.

»Du solltest nie die Macht einer wohlbedachten Bestechung unterschätzen.«

Sobald Nigel wieder festen Boden unter den Füßen hatte, gingen die beiden um die Statue herum und sahen zum Herrenhaus hinüber. Alle Fenster waren hell erleuchtet, eingedenk der Tatsache, dass es vor wenigen Monaten noch eine rauchende Ruine gewesen war, ein bemerkenswert erfreulicher Anblick.

»Ah«, machte Nigel. »Das Essen wartet. Du solltest einmal sehen, was für bizarre Essenskombinationen Emily neuerdings verzehrt. Schweineschnitzel mit Schokolade, Eiscreme mit Senf… man könnte fast glauben, wir bekämen eine Hexe.«

»Gehen Sie schon mal vor«, forderte Max ihn auf. »Ich bleibe noch ein wenig.«

»Sicher?«, erkundigte sich Nigel. »Das Fass ohne Boden will eine Mahlzeit auslassen?«

»Ich komme gleich«, erklärte Max. »Bitten Sie doch meinen Dad, mir etwas aufzuheben.«

»Mache ich«, versprach Nigel. »Ich bin froh, dass wir miteinander gesprochen haben, Max.«

Max nickte und winkte ihm nach. Als seine Schritte verklungen waren, wurde Max bewusst, wie still es auf dem Campus war. Überlaut hörte er die Wellen an den Strand rauschen, das Knarren der Bäume und das Rascheln der trockenen Blätter, die über die gepflasterten Wege flatterten. Er betrachtete den Alten Tom, seine Giebel, Mauern und den Turm, immer noch geheimnisvoll verhüllt. Seufzend grub Max die Hände tief in die Taschen und wandte sich wieder der Statue zu.

Die Marmorfläche von Brams Gesicht zeichnete sich scharf gegen den Himmel ab, sein Kinn war trotzig vorgereckt. Max fiel auf, dass er die Geschichte dieses Mannes nur in groben Zügen kannte: Er war der letzte Aszendent gewesen, der sich bei der Belagerung von Solas selbst geopfert hatte. Die Lehrer von Rowan sprachen mit solcher Ehrfurcht von ihm, dass er für Max eher eine Vorstellung war, dessen abstraktes Wohlwollen dem des Nikolaus oder der Zahnfee gleichkam, als ein wirklicher Mensch.

Doch die Gestalt vor ihm wirkte ganz und gar nicht wohlwollend. Max wusste, dass sein Zimmergenosse David Menlo Bram für den größten Zauberer der Menschheitsgeschichte hielt. Obwohl er über ungeheure Kräfte verfügt hatte, hatten sie ihn doch nicht vor der Macht von Astaroth schützen können. Als Solas gefallen war, hatte der Dämon seine restliche Energie darauf verwendet, ihn zu vernichten.

Eine unerwartete Welle der Sympathie für das strenge Antlitz stieg in Max auf. Er hieb mit der Faust auf den Sockel und sah zu der großen Figur auf.

»Ich wette, du würdest keinen Dämon in deinem Haus willkommen heißen«, flüsterte er.

Die Statue blickte starr geradeaus und Max seufzte. Der Marmor glänzte an diesem klaren Abend und Max lehnte sich zurück, um den Mond zu betrachten, der fast bis zum Zenith aufgestiegen war. Er schien direkt über dem Campus zu stehen und ein Spotlight auf Rowan und seine schwachen Bemühungen zu werfen.

»Der Mond hat tatsächlich ein Gesicht.«

KAPITEL 2

Ein Leeres Bett

Als Max schließlich zum Herrenhaus zurückkehrte, war es bereits weit nach Mitternacht. Auf dem Weg durch den Garten begleitete ihn ein Lymrill. Während Max über Dämonen nachgrübelte, sprang sein Schützling vor ihm her und steckte sein breites Maul ins nasse Unterholz.

Auf ebenem Boden hatte das Lymrill einen sonderbaren Gang, ähnlich dem wiegenden Watschelgang eines Dachses. Seine kraftvollen Hinterbeine und großen Klauen ließen vermuten, dass es sich in Felshöhlen oder Bäumen sein Lager suchte. Auch wenn es nicht sprechen konnte wie manch anderer Schützling, war das Lymrill ein intelligentes Wesen, das sich mit seinen miauenden Lauten, dem buschigen Schwanz und den kupferfarbenen Stacheln auszudrücken vermochte, die in einem scharfen Grat auf seinem Rücken wuchsen und nicht nur zur beeindruckenden Verteidigung dienten, sondern auch ein guter Indikator für seine Stimmungen waren. Augenblicklich lagen sie nicht wie ein glänzender, weicher Mantel um seinen Körper, sondern waren protestierend aufgestellt. Max sah ihre Spitzen im Licht einer Straßenlaterne glänzen, als das Tier ungeduldig herumstreifte.

»Du wolltest unbedingt mitkommen, Nick, also beschwer dich jetzt nicht«, erklärte Max.

Nick jaulte und grub seine Klauen in ein Blumenbeet.

»Lass das!«, zischte Max und ging vor einem Regen aus Erde und Blumenstängeln in Deckung. »Das ist gerade erst bepflanzt worden!«

Doch Dreck und Blumen flogen weiter, bis Max nachgab und einen Metallriegel aus seiner Tasche holte.

»Das ist der letzte«, verkündete er und bot ihm den kleinen Barren auf der Handfläche an. Sofort hörte das Lymrill auf, Unsinn zu machen, und kam angetapst, um sich den Leckerbissen so vorsichtig wie ein Spaniel abzuholen. Nicks Ottergesicht nahm einen wohlwollenderen Ausdruck an und seine Schnurrhaare zitterten vor Behagen, als er sich hinsetzte, um den Barren zu verschlucken.

Es war immer wieder erstaunlich, ein Lymrill essen zu sehen. Ungeziefer jagte Nick mit plötzlicher, unersättlicher Wildheit, doch bei den Mineralien und Metallen, die sein einzigartiger Stoffwechsel benötigte, war er wesentlich vorsichtiger. Metallobjekte wurden meist ganz verschluckt und nicht gekaut – selbst so große Objekte wie eine antike und offensichtlich teure Spielzeugeisenbahn. Es war ein Rätsel, wie Nick diese Dinge hinunterschlucken oder gar verdauen konnte. Aber es bestand kein Zweifel daran, dass alles Metall seinen Weg in Zähne, Klauen und Stacheln fand. Diese Teile seiner Anatomie waren härter als Stahl und machten ein ausgewachsenes Lymrill zu einem wahrhaft imposanten Wesen.

Doch die Gaben der Natur waren bittersüß. Seit Urzeiten hatten Forscher und Alchemisten die Lymrills gejagt, bis sie fast ausgestorben waren, um hinter das Geheimnis der Zusammensetzung ihres Fells zu kommen. Soweit Max es wusste, war Nick der Letzte seiner Art – daher fand Max es nur gerecht, ihn zu verwöhnen.

Früher hatten sich die Schützlinge Rowans – mystische Kreaturen, die in die Obhut der Schüler gegeben wurden – ausschließlich im Sanktuarium aufgehalten und durften nur zu besonderen Gelegenheiten hinaus. Doch seit der Belagerung hatten sich diese Bestimmungen gelockert. Es war nicht mehr unüblich, einen Faun im Garten des Herrenhauses dösend zu finden oder in der Bacon-Bücherei einen mürrischen sprechenden Hasen die Tische okkupieren zu sehen. Zu Nicks Lieblingsplätzen – abgesehen von einem natürlichen Drang, genau dort zu sein, wo er nicht sein sollte – gehörte Max’ Bett. Es war ein bequemes Bett und das Lymrill zog die weiche Matratze und das kuschelige Federbett seiner wäldlichen Behausung vor. Wenn man ihn darauf setzte, grub er sich gerne einen Tunnel zwischen den Laken bis ans Bettende und schlief ein.

Genau dorthin wollte Nick jetzt und Max ebenso. Also schlichen sie sich zur Tür des Herrenhauses herein, durchquerten das düstere Foyer und gingen die Wendeltreppe zu den Schlafzimmern hinauf. Max schloss die Tür zum Zimmer 318 auf und bedeutete Nick streng, sich möglichst leise zu verhalten.

Doch die Mühe hätte er sich sparen können, denn David Menlo war noch wach. Max’ Zimmergenosse saß in der unteren Ebene des großen Observatoriums mit der Kuppel. Zwischen Bücherstapeln, Bechern und seltsamen Vorrichtungen war sein blonder Schopf kaum noch sichtbar.

Max warf einen Blick in die Kuppel und stellte fest, dass sich die Ansicht auf den Sternenhimmel der südlichen Hemisphäre verschoben hatte. Hydra blinkte weit entfernt und schön hinter dem gewölbten Glas. Goldene Lichtfäden verbanden die Sterne des Sternenbildes, dann lösten sie sich auf und verblassten, um sich ein paar Augenblicke später neu zu bilden und das Sternzeichen des Löwen hervorzuheben.

Max liebte das Observatorium und seine ruhige Schönheit, aber er bildete sich keinen Augenblick lang ein, dass es auf magische Weise für ihn geschaffen worden war. Er war ja nicht einmal dabei gewesen, als das Zimmer nach der Belagerung neu konfiguriert worden war. Es war eines Tages im Sommer geschehen, als Max unten in der Eingangshalle mit Holzbauarbeiten beschäftigt gewesen war. Er hatte den Kopf in das zuvor noch verkohlte Zimmer gesteckt und hatte David friedlich am Feuer sitzen und aus seinem Lieblings-Thermobecher Kaffee trinken sehen. Das Zimmer war bis ins letzte Detail restauriert worden, vom achteckigen Tisch in der Mitte bis zu den glänzend polierten Schränken und den prall gefüllten Bücherregalen.

Max nahm es David nicht übel, dass er die Initiative ergriffen und das Zimmer konfiguriert hatte, schließlich nutzte er den Raum und seine einmaligen Beschaffenheiten ganz anders als Max. In vielen Nächten war Max aus seinen Träumen erwacht und hatte David auf dem Tisch in der Mitte stehen und die wirbelnden Bilder an der Kuppel betrachten sehen, als seien sie ein Puzzle, ein Rätsel, das große und schreckliche Geheimnisse barg.

Als er die untere Ebene betrat, stellte Max fest, dass sich Davids Aufmerksamkeit nicht auf den Sternenhimmel, sondern auf einen Messbecher richtete, in dem etwas brodelte. Er hatte die Stirn gerunzelt und schien sein ganzes Denken auf die Mixtur zu konzentrieren, aus der ein dünner weißer Rauchfaden aufstieg. Ohne zu blinzeln, nahm er ein paar rote Blütenblätter aus einer kleinen Holzkiste.

Ein plötzlicher greller Lichtblitz ließ Max erschrocken aufschreien und Nick sauste die Treppe wieder hinauf. Jetzt quollen dichte rote Rauchwolken aus dem Becher. Sie verbreiteten einen grässlichen Gestank im Zimmer, der Max würgen ließ.

»Puh!«, machte er, schnappte sich einen Atlas und versuchte, die Dämpfe wegzuwedeln. »David, was machst du da eigentlich?«

»Ich probiere etwas aus«, antwortete David geistesabwesend und kritzelte in sein Notizbuch. »Es ist schon spät. Ich habe geglaubt, du schläfst bei deinem Vater.« Er schaute auf und sah, wie Nick von der Treppe herabblickte und sich die Nase putzte. David legte den Stift weg und wedelte mit der Hand, woraufhin sich der Rauch zusammenzog und durch den Kamin aus dem Zimmer verschwand.

Max hob Nick hoch und trat zum Tisch, wobei er vorsichtig über allerhand Manuskripte, Schriftrollen und die verbotenen Grimoires steigen musste, die David sich so gerne auslieh. Er setzte das Lymrill in einen Ledersessel und beugte sich vor, um Davids Gebräu näher zu betrachten.

In dem Becher brodelte eine schäumende roséfarbene Flüssigkeit. Winzige goldene Bläschen stiegen in Doppel-und Dreifachreihen auf und platzten mit einem geradezu menschlich klingenden Seufzen.

»Was ist das?«, erkundigte sich Max neugierig.

»Oh, eines meiner Lieblingsprojekte«, erklärte David, stöpselte die Flüssigkeit zu und nahm sie vom Brenner. Er stellte den Becher neben eine Reihe anderer Behälter mit ähnlichem Inhalt – trüben Flüssigkeiten mit Färbungen zwischen leuchtendem Rot und düsterem Lila.

»Also ein Geheimnis!«, neckte ihn Max.

»Wenn man so will«, seufzte David. »Es wird anstrengend, wenn man es ständig erklären muss. Mrs Richter, Kraken, Boon und jeder andere selbst ernannte Magier auf dem Campus nervt mich den ganzen Tag mit Fragen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen, wenn ich mich gelegentlich hierher zurückziehe, um den Fragen zu entgehen, Max. Ich brauche das.«

Max sah seinen Freund an. Es war nicht Davids Art, ihn abzuweisen. Sein Tonfall war freundschaftlich – eine vorsichtige Bitte um Verständnis –, aber darunter konnte er unmissverständlich die Ungeduld erkennen.

»Keine Angst«, entgegnete Max. »Ich frage nicht mal, was das hier ist …«

Er wies auf einen kleinen Haufen roter Blumen, die auf einem zerknitterten Tuch lagen. Solche Blüten hatte er noch nie gesehen, weder auf dem Campus noch in einem Lehrbuch. Sie besaßen sieben blutrote Blütenblätter mit goldenen Blattadern, die spiralförmig von einem schwarzen Blütenstempel ausgingen. Max streckte die Hand nach einer der Blüten aus.

David sprang abrupt auf. »Nicht!«, rief er und riss ihm die Blumen weg.

Davids Körper sandte eine Hitzewelle aus, als ob man eine Ofentür geöffnet hätte. Papiere flogen vom Tisch, und während sie langsam zu Boden sanken, kräuselten sich ihre Blattränder.

Max erstarrte, als hätte man ihn dabei ertappt, wie er unerlaubterweise in die Keksdose griff. Einen Augenblick lang starrte er seinen Zimmergenossen nur an. David schien gleichermaßen erschrocken, stützte sich schwer auf den Tisch und vermied es, Max’ Blick zu erwidern. Erst ein paar Sekunden später gewann er seine Fassung wieder. Mit vorsichtigen, ganz bewussten Bewegungen faltete David das Tuch über den roten Blüten zusammen und legte das Bündel in die Holzkiste. Dann machte er sie zu und räusperte sich.

»Ich arbeite an einigen Dingen, Max, und ein paar meiner Projekte sind sehr gefährlich. Bitte fass nichts davon an, wenn ich nicht ausdrücklich sage, dass es in Ordnung ist.«

Max richtete sich auf und sah seinen Zimmergenossen böse an. »Ich bin kein kleines Kind, David. Und ich wohne auch hier.«

David wirkte betrübt und sah Max flehend an. »Nein, nein, so habe ich das doch nicht gemeint«, sagte er leise. »Natürlich ist das dein Zimmer – unser Zimmer.« Verwirrt sammelte er angesengte Papiere, Diagramme und Bücher ein. Unangenehmes Schweigen breitete sich aus, bis David schließlich die letzten Notizblätter in ein zerschlissenes Buch mit dem Titel »Seeking Lazurus« gesteckt hatte.

»Es tut mir leid, Max«, murmelte er. »Ich weiß, wie das geklungen haben muss.«

»Schon gut.« Max versuchte, es mit einem Achselzucken abzutun. Er legte noch ein Holzscheit in den Kamin und setzte sich zu Nick auf den Ledersessel.

David stellte die Becher und Röhrchen in einen mit Samt ausgeschlagenen Kasten und verstaute ihn zusammen mit der Kiste, in der er die Blumen aufbewahrte, in seinem magischen Rucksack. Max streichelte Nicks Stacheln und versuchte, sich die vielen Fragen, die ihm auf der Seele lagen, zu merken und sie in eine Reihenfolge zu bringen.

»Ah.« David ließ sich ihm gegenüber auf einen Sessel sinken und legte die Füße auf die Ottomane. »Ich habe übrigens Nachrichten für dich. Sie wurden unter der Tür hindurchgeschoben.«

Aus der Tasche seiner Strickjacke holte David ein Bündel verknitterter Zettel.

»Von wem sind sie denn?«, erkundigte sich Max misstrauisch.

»Hmm«, erwiderte David und betrachtete die zusammengefalteten Briefbögen. »Ich glaube, Julie, Julie, Julie … und ja, noch eine von Julie. Es sei denn, Connor fängt jetzt auch an, seine Zettel mit kleinen roten Herzen zu signieren. Soll ich sie dir vorlesen?«

»Nein!«

David gab ihm die Zettel, die Max errötend las, während sein Zimmergenosse das Feuer schürte.

»Und was schreibt Julie so?«, erkundigte sich David.

»Nichts«, entgegnete Max hastig. »Äh, sie möchte morgen früh mit uns zusammen frühstücken.«

»Ja, ich denke, auf meine Anwesenheit legt sie dabei besonders viel Wert«, meinte David milde. »Aber ich werde leider nicht dabei sein können.«

»Was hast du denn vor?«

David antwortete nicht, sondern blickte zu ein paar Zeichnungen auf dem Tisch hinüber. Max erkannte, dass es sich um einige Beschwörungskreise handelte, komplizierte, mächtige Diagramme, die man brauchte, um böse Geister zu beschwören. Max hatte David ähnliche Kreise schon früher benutzen sehen und wusste, wie gefährlich so etwas sein konnte.

»David, hast du … Dinge beschworen?«, wollte er wissen.

Davids blassblaue Augen sahen Max an. »Mach dir um mich keine Sorgen, Max«, meinte er kühl.

»Aber Dämonen sind gefährlich«, warnte Max.

David sah ihn ein wenig amüsiert an. Er zog den Pulliärmel zurück und enthüllte den Stumpf, wo seine rechte Hand gewesen war. Astaroth hatte ihm bei ihrer ersten Begegnung seine Hand genommen – verschlungen –, um David zu bestrafen. David legte den Rest des Armes auf die Lehne und betrachtete seufzend die pockige Haut um den Stumpf.

»Ich bin mir sehr wohl dessen bewusst, dass Dämonen gefährlich sein können. Ich bin allerdings auch der Meinung, dass man sie gründlich missversteht.«

»Klar«, erwiderte Max und verlagerte Nicks Gewicht auf sein anderes Bein. »Dass Connor letztes Jahr besessen war und dich fast umgebracht hat, war also nichts als ein großes Missverständnis.«

»Mach dich nicht lächerlich«, sagte David und ignorierte den Sarkasmus. »Ich sage nur, dass die Vorstellung von Dämonen als verlogene Monster eine moderne Fehldeutung ist, die uns nicht weiterbringt.«

»Aber du hast einmal gesagt, dass selbst Gnome Dämonen sind und …«

»Ich weiß, was ich gesagt habe«, unterbrach ihn David heftig. »Ich wollte sie damit aber nicht ›dämonisieren‹, sondern Connor warnen, dass selbst Gnome Fähigkeiten besitzen können, deren er sich bewusst sein sollte. Ich nehme an, dir ist klar, schon das Wort ›dämonisieren‹ zeigt, dass ich recht habe.«

»Inwiefern?«

»Weil Dämonen anders sind als wir, neigen die Leute dazu, sie als eine Familie von Kreaturen zu bezeichnen, die man verabscheuen, fürchten, meiden oder sogar verehren muss«, erklärte David. Er räusperte sich und sprach mit der lauten Stimme eines römischen Redners. »Sie steigen auf aus der See, mit Haut aus Metall und Gliedern von Tieren und wir werden sie als wiederkehrende Götter besänftigen …«

»Haben Dämonen tatsächlich eine Haut aus Metall«, fragte Max neugierig.

»Nein«, lächelte David. »So haben die Azteken Cortez und die Konquistadoren beschrieben, als sie in Tenochtitlán auftauchten. Die Azteken haben die Rüstungen der Spanier für ihre Haut gehalten und die Pferde – so etwas hatten sie noch nie gesehen – für den Unterkörper der Soldaten.«

Max zwinkerte. »David, was haben denn die Konquistadoren jetzt damit zu tun?«

»Bevor wir all unsere Ängste darauf konzentrieren, dass unsere Welt von Dämonen bewohnt wird, sollten wir meiner Meinung nach zuerst einmal versuchen, sie zu verstehen, Max«, sagte David, rutschte tiefer in seinen Sessel und nippte an seinem Becher. »Objektives Verstehen – ohne blinde Vorurteile und ignorante Klischees.«

Max wollte etwas einwenden, aber David schien ihm gar nicht zuzuhören. Immer wenn David seinen Gedanken nachhing, nahmen seine weichen Züge den nachdenklichen Ausdruck eines viel älteren Menschen an.

»Das Leben ist ein Wettkampf«, sagte er leise. »Ob man der Meinung ist, dass es ein darwinistischer Kampf um Ressourcen oder geistige Überlegenheit ist, spielt bei unserem Problem eigentlich keine Rolle. Die Tatsache bleibt bestehen, dass eine andere Rasse – eine intelligente, mächtige Rasse – die Kontrolle über die Welt übernommen hat. Man kann sie als Teufel aus der Hölle, als himmlische Wanderer oder eine andere Entwicklung von Cro-Magnon-Menschen sehen, die die Neandertaler verdrängen.«

»Willst du sie bekämpfen?«, fragte Max.

David warf Max einen Blick zu, der ihm nicht wirklich eine Antwort gab. Dann erhob er sich, nahm den Rucksack und schlurfte die Treppe hinauf.

»Gute Nacht, Max«, sagte er müde. »Bitte halte dein Versprechen Nigel gegenüber. Morgen ist ein sehr wichtiger Tag.«

Max grunzte Gute Nacht und hörte das vertraute Rutschen der Ringe, als David den Vorhang vor seinem Bett zuzog. Gähnend hob er Nick hoch und trug das schwere Tier zu seinem Bett. Erst als Nick am Fußende schnarchte und er selbst schon in den Schlaf driftete, wurde ihm Davids letzte Bemerkung wirklich bewusst. Halte dein Versprechen Nigel gegenüber.

Er hatte David von diesem Versprechen nichts erzählt.

Leise glitt er aus dem Bett und zu dem Messinggeländer, um auf die andere Seite des Zimmers zu sehen, wo David hinter den dunklen Vorhängen lag. Wie die kalte Dünung des Ozeans wallte Misstrauen in ihm auf. Er blinzelte hinunter zu den Beschwörungsformeln, die David in seiner krakeligen Schrift notiert hatte.

Max hatte aus erster Hand erfahren, wie es war, wenn von jemandem Besitz ergriffen wurde. Seinem besten Freund, Connor Lynch, war das im letzten Jahr widerfahren. Er wusste zwar, dass ein kleiner Gnom einen so gelehrten und mächtigen Magier wie David nicht beherrschen konnte, aber er wusste auch, dass sich sein Zimmergenosse nicht mit kleinen Gnomen abgab. David war vor allem an den gefährlichen Geistern, den alten, ungeheuer mächtigen Wesen interessiert, die unter Ihresgleichen als eine Art Könige galten.

Astaroth war einer von ihnen. Prusias möglicherweise ebenfalls …

Du bist ein Mitglied des Roten Dienstes, erinnerte sich Max. Du hast Cooper versprochen, David vor jeder Gefahr zu schützen. Es ist deine persönliche Verantwortung …

Max dachte darüber nach und spürte, wie seine Wangen vor Scham brannten. Er kratzte an der Tätowierung auf seinem Arm und sah zu Davids Bett hinüber. Hinter diesen Vorhängen schlief der freundlichste, sanfteste Mensch, dem Max je begegnet war. Er würde David nicht wegen eines Eides oder eines Auftrags die Hand reichen, er würde ihm helfen, weil er sein Freund war.

Max ging den halbrunden Gang auf der oberen Ebene entlang. Es war kalt im Zimmer und nur das Ticken von Davids Uhr war zu vernehmen. Als Max die Vorhänge erreichte, blieb er stehen und merkte, wie sein Herz heftig in seiner Brust hämmerte. Einen kurzen Augenblick lang

Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform

1. Auflage 2011

© 2011 für die deutschsprachige Ausgabe cbj, München Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © by Henry H. Neff

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »The Tapestry – The Fiend and Forge« bei Random House Children’s Books, a division of Random House, Inc., New York Übersetzung: Tanja Ohlsen

hf ∙ Herstellung: RF Satz: Uhl + Massopust, Aalen

eISBN 978-3-641-05116-7

www.cbj-verlag.de

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