Die Schule der Mitternachtswelt 1 - Maëlle Desard - E-Book

Die Schule der Mitternachtswelt 1 E-Book

Maëlle Desard

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Beschreibung

Der fesselnde Auftakt eines Fantasyabenteuers rund um eine Schule für magische Wesen

Der Halbvampir Simeon kennt bislang nur die Welt der Tagaktiven, der Menschen – und dort hatte er es mit seiner Sonnenallergie nicht leicht. Endlich besucht er die berühmte Schule der Mitternachtswelt, in der alle magischen Wesen gemeinsam unterrichtet werden. Doch schon am ersten Schultag erwartet Simeon ein echter Schock: Ausgerechnet in seine Klasse geht Eir, die einzige Werwölfin der Schule. Er ist misstrauisch, denn Vampire und Werwölfe sind schon seit Jahrhunderten verfeindet. Als sich rätselhafte Ereignisse häufen und immer mehr Schüler spurlos verschwinden, fällt der Verdacht auf Eir. Aber hat sie wirklich etwas damit zu tun? Und warum bleiben die Lehrer vollkommen untätig?

Um die Vermissten zu finden, ermitteln Simeon und seine Freunde auf eigene Faust. Dabei erfahren sie nicht nur ein überraschendes Geheimnis der Werwölfe. Sie kommen auch einer Intrige auf die Spur, die die Existenz der gesamten Mitternachtswelt gefährdet. Nur wenn sie alte Feindschaften überwinden und neue Verbündete finden, können sie die Schule und die magische Welt retten.

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Seitenzahl: 340

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Cover

Titel

Maëlle Desard

Die Schule der Mitternachtswelt

Band 1

Aus dem Französischen von Anne Gabler

Insel Verlag

Impressum

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Die Wiedergabe von Gestaltungselementen, Farbigkeit sowie von Trennungen und Seitenumbrüchen ist abhängig vom jeweiligen Lesegerät und kann vom Verlag nicht beeinflusst werden.

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Die französische Originalausgabe erschien 2022 unter dem Titel L’école de Minuit bei Rageot Éditeur, Paris.

eBook Insel Verlag Berlin 2024

Der vorliegende Text folgt der deutschen Erstausgabe, 2024.

© der deutschsprachigen Ausgabe Insel Verlag Anton Kippenberg GmbH & Co. KG, Berlin, 2024© der Originalausgabe Ragéot-Editeur, Paris, 2022Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.

Der Inhalt dieses eBooks ist urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Wir behalten uns auch eine Nutzung des Werks für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG vor.Für Inhalte von Webseiten Dritter, auf die in diesem Werk verwiesen wird, ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber verantwortlich, wir übernehmen dafür keine Gewähr. Rechtswidrige Inhalte waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Illustration und Umschlaggestaltung: Timo Grubing, Bochum

Illustration und Umschlaggestaltung: Timo Grubing, Bochum

eISBN 978-3-458-78149-3

www.insel-verlag.de

Übersicht

Cover

Titel

Impressum

Inhalt

Informationen zum Buch

Cover

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Impressum

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Danksagung

Glossar

Die Welt

Die Magie

Die Nachtgestalten: Die übernatürlichen Wesen des Mitternachtsreichs

Fußnoten

Abbildungsnachweis

Informationen zum Buch

Die Schule der Mitternachtswelt

1

Ich hasse es, zu spät zu kommen.

Aber jetzt würde ich ein Dutzend Panikattacken in Kauf nehmen, wenn ich DOCH NUR die Zeit zurückdrehen und mich daran hindern könnte, meine Familie zu einem früheren Aufbruch zu drängen.

Seit fünfundvierzig Minuten sind wir jetzt schon hier und warten im Auto. Fünfundvierzig Minuten, in denen ich meinen Eltern dabei zuhören muss, wie sie sich in die Wolle kriegen, während ich die ganze Zeit fürchte, zu laut zu atmen und ihnen dadurch einen weiteren Anlass zur Kritik zu geben.

Und das alles nur, weil ich ein Pünktlichkeitsfanatiker bin. Man könnte auch Idiot sagen.

Um ehrlich zu sein, bin ich an der schlechten Stimmung nicht ganz unschuldig. Die dicke Luft, die im Auto herrscht, ist nur die Quintessenz dessen, wie es seit zwei Wochen bei uns zuhause zugeht.

Ich seufze auf, halte jedoch sofort inne, als mir bewusst wird, welches Risiko ich damit eingehe. Aber alles ist nochmal gut gegangen: Mein Vater und meine Mutter sind zu sehr damit beschäftigt, sich über den Rückspiegel mit den Blicken zu töten. Er, vorne auf dem Fahrersitz, das dunkle Haar lichtet sich bereits, seine Augen sind braun und seine Haut hat die Farbe von weißem Sand. Sie sitzt neben mir auf der Rückbank, ihre Zöpfe reichen bis zur Hüfte, ihre Augen schimmern rötlich violett, ihr Teint erinnert an Bernstein.

Wie Tag und Nacht.

Das meine ich tatsächlich wörtlich. Denn meine Mutter ist ein Vampir aus dem Mitternachtsreich, aus dem all jene Gestalten stammen, die die Geschichten und Alpträume eurer Kindheit bevölkern. Und mein Vater ist ein Mensch der Mittagswelt, eurer Welt also, mit ihrer blöden Sonne und dem Fehlen jeglicher Form von Magie.

»Hörst du uns überhaupt zu, Simeon?«

Ich richte mich auf. »Aber ja, Mama. Natürlich …«

»Ich weiß nicht, was in letzter Zeit mit dir los ist«, knurrt sie. »Aber ich erwarte von dir, dass du dich in der Schule tadellos benimmst, ist das klar?«

Ich nicke.

»Die Akademie ist bei der Beurteilung der Bewerbungsunterlagen sehr streng. Und ich dulde keine weiteren Fehltritte, habe ich mich deutlich genug ausgedrückt?«

Ich werde auf meinem Sitz immer kleiner.

»Er ist doch noch jung«, sagt mein Vater mit einem Seufzen. »Vielleicht könntest du …«

»Könnte ich was?«, schneidet meine Mutter ihm das Wort ab. »Ihm dabei zuschauen, wie er durch sein unüberlegtes Verhalten seine Zukunft ruiniert? Ihn glauben lassen, dass wir immer da sind, um die Scherben hinter ihm wieder aufzusammeln? Der Junge braucht kein Verständnis, er braucht Disziplin. Er ist nicht wie seine Schwester, für ihn wird alles viel schwerer sein.«

Es kostet mich all meine Kraft, ruhig zu bleiben. Sobald ich jedoch die geringste Schwäche zeige, würde das noch endlos so weitergehen. Und das will ich auf keinen Fall. Nicht so kurz vor dem Ziel.

Also lasse ich meinen Blick nach draußen wandern, zur Mitternachtsschule auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Das Gebäude ist, man kann es nicht anders sagen, total hässlich. Aber nach zwei alptraumhaften Wochen kommt es mir so vor, als sei es von einem überirdischen Strahlen umgeben und würde mir liebevoll »Freeeeiiiheit« zuflüstern.

Laut meinem Vater war in dem Gebäude, bevor es zu einer Schule umfunktioniert wurde, ein Kloster untergebracht. Das erklärt sein strenges Aussehen. Und sicher auch, warum man seine Front, in dem missglückten Versuch, es etwas freundlicher aussehen zu lassen, bis zu den Dachluken mit Geranien geschmückt hat. Epic fail: Jetzt sieht es so aus, als habe das Gebäude starke Akne. Immerhin gibt ihm das einen nahbaren Touch, vielleicht werden wir beide ja T-Zonen-Kumpel.

»Wenn du in den gehobenen Staatsdienst aufgenommen werden willst«, wiederholt meine Mutter zum tausendsten Mal und reißt mich aus meinen Gedanken, »musst du auf die Akademie gehen. Und dass du dort angenommen wirst, Simeon, setzt tadelloses Verhalten in jeder Hinsicht voraus. Fleißig sein, keine Widerworte geben und nicht negativ auffallen.« Sie schlägt sich mit der Faust auf den Oberschenkel, um ihre Aussage zu unterstreichen.

›Keine Sorge, Mama‹, hätte ich am liebsten geantwortet, ›ich werde den Kopf einziehen, so sehr, dass ich den Gebeinen in der Gruft Hallo sagen kann.‹ Aber ich verkneife es mir. Meine Mutter hat so viel Humor wie ein Stuhlbein.

»Ich weiß, Mama«, versuche ich sie stattdessen zu beruhigen. »Meine Bewerbungsunterlagen werden makellos sein. Sogar glänzend.«

Meine Mutter runzelt die Stirn, als sie den Hauch von Genervtheit wahrnimmt, der sich in meine Stimme geschlichen hat.

»Ich finde dich ganz schön frech für jemanden, der sich vor nicht einmal zwei Wochen ohne seinen Schleier fast von der Sonne hat überraschen lassen.«

Ich zucke zusammen. Verdammt, ist sie flott. Eine echte Kritik-Akrobatin, auf Cirque-de-Soleil-Niveau. Wenn ich nicht auch noch das letzte bisschen Selbstachtung verlieren will, muss ich unbedingt weitere Vorwürfe verhindern. Also zwinge ich meine Stirn dazu, sich nicht in Falten zu legen, und meinen Mund, sich nicht zu verziehen, bloß keine Gefühle zeigen. Meine Mutter mustert mich scharf. Als sie merkt, dass von meiner Seite mit keiner Reaktion zu rechnen ist, fährt sie mit ihren Ratschlägen fort. Darunter einer ihrer Favoriten: Welche Sanguinade-Sorten ich, ihrer Erfahrung nach, lieber nicht oder auf jeden Fall zu mir nehmen sollte.

»Pass bei der Rinder-Sanguinade auf«, warnt sie mit erhobenem Zeigefinger. »Du weißt, wie schwer dir die im Magen liegt.«

Über den Rückspiegel sehen mein Vater und ich uns ertappt an, und er schenkt mir eines dieser immergleichen Lächeln, die ein bisschen traurig sind und mir durch Mark und Bein gehen. Er ist enttäuscht darüber, dass ich so bin … nun, wie ich eben bin. Wir beide stehen uns nicht besonders nah. Das hängt natürlich auch damit zusammen, dass ich Sonnenlicht absolut nicht vertragen kann und sich deshalb nur wenige gemeinsame Aktivitäten ergeben. Ich glaube, es verstört ihn, dass sein Sohn so anders ist als er. Wohingegen meine große Schwester, die ach so tolle, einzigartige und fabelhafte Suzelle, die beiden Welten auf perfekte Art in sich vereint.

Von meiner Mutter aus dem Mitternachtsreich hat sie ihre beeindruckende Schönheit. Und dank meines Vaters kann sie problemlos in die Sonne gehen, alle Nahrung der Mittagswelt essen und ein ganz normales Leben unter Menschen führen.

Ich dagegen habe bei der genetischen Lotterie die Niete gezogen und nur die negativen Eigenschaften beider Welten mit auf den Weg bekommen. Ihr glaubt mir nicht? Wartet, bis ich euch das Ausmaß des Desasters geschildert habe.

Von meiner Mutter habe ich:

meine Sonnenallergie;

mein Verdauungssystem, das nichts als Blut, Blut und nochmals Blut verträgt;

meinen aufbrausenden Charakter, der mir, laut meinen Eltern, später noch einmal Ärger bereiten wird.

Und von Seiten meines Erzeugers wird es nicht besser. Hier habe ich Folgendes zu bieten:

einen ziemlich ausgeprägten Körperumfang, mein Hintern erinnert an ein Milchbrötchen, und an den Oberschenkeln habe ich Dehnungsstreifen;

Pickel, weil die Pubertät ja ohne blinde Passagiere, die sich plötzlich mitten auf deinem Gesicht niederlassen, langweilig wäre;

außerdem bin ich kurzsichtig wie ein Maulwurf.

Ich bin eine ziemlich glamouröse Inkarnation von Mensch und Vampir, oder?

Meine Mutter wird nicht müde, an all meinen Mängeln herumzunörgeln und mit viel Mühe zu retten, was zu retten ist. Doch ich höre nicht auf ihre Verbote und Anweisungen. Das ist übrigens das einzige Geheimnis, das ich mit meinem Vater teile: Er ist mittlerweile Profi im Schmuggeln meiner Lieblings-Sanguinade und kümmert sich darum, dass ich immer mit den größten Leckerbissen versorgt werde.

»Ich bleibe bei den Light-Varianten«, verspreche ich meiner Mutter.

Schnaubend lässt sie die Armreifen an ihrem Handgelenk klirren. Auf ihrer Schulter summt Odysseus, ihr Irrlicht, das genauso streng ist wie sie. Kaum verwunderlich, denn Irrlichter sind die Spiegelbilder derjenigen Nachtgestalten, in deren Dienst sie stehen. Und so verbringt Odysseus ebenfalls seine Zeit damit, mich mit der Überheblichkeit eines dicken Katers kritisch zu beäugen … Ich hätte ihn schon längst in der Badewanne ertränkt, wenn das nicht genauso unangebracht wäre, wie sich die Hand abzuschneiden und sie der Familie zum Abendessen vorzusetzen. Denn die Irrlichter einer anderen Nachtgestalt sind tabu. Niemals, unter keinen Umständen, fasst man sie an. Immerhin lässt Odysseus mir, seit Suzelle mit ihrem eigenen Irrlicht aus der Mitternachtsschule zurück ist, ein bisschen mehr durchgehen und konzentriert sich stattdessen darauf, den Neuankömmling zu tyrannisieren. Heute aber habe ich wieder seine ganze Aufmerksamkeit. Und so funkeln seine Flammenaugen jetzt vor Wut.

Was habe ich auch anderes erwartet?

Seit fünfzehn Jahren beschränkt sich mein gesamtes soziales Leben auf das, was ich durch meine Schwester mitkriege. Auf die Abende, an denen ich mich dazuschleiche, wenn ihre Freunde sie besuchen. Auf die Berichte über ihre Erlebnisse in der Mittagswelt. Auf die wenigen gemeinsam verbrachten Momente, wenn sie aus der Schule nach Hause kommt.

Aber das … das war früher.

Bevor diese Verräterin mir das Messer in den Rücken gerammt hat. Ihr glaubt, dass ich übertreibe? Entscheidet selbst.

Als Suzelle auf die Mitternachtsschule kam, war das ein Schock für mich. Da es für die Schüler verpflichtend ist, im Internat der Schule zu wohnen, hatte sich meine Welt von einem Tag auf den anderen auf unser Haus, seine unmittelbare Umgebung und meinen Heimunterricht reduziert. Ich fand es albern, allein durch die Felder zu streifen, eingehüllt in meinen Nachtweltschleier, der mich vor den tödlichen Strahlen der Sonne schützte. Unter uns gesagt: Ein Vorteil der Spaziergänge mit Suzelle war auch, dass sie alle Blicke auf sich zog und niemand darauf achtete, dass ein kleines, wie ein Imker gekleidetes Pummelchen neben ihr herlief.

Ohne sie an meiner Seite bin ich von unsichtbar zu angestarrt gewechselt, und ehrlich gesagt, könnte ich auf diese Erfahrung verzichten (will sagen: es war grauenvoll).

Dann kam sie in den Sommerferien zurück, und mein Leben wurde wieder bunt.

Das dachte ich zumindest. Bis sie mich, ohne zu zögern, verraten hat. Noch dazu am Abend meines Geburtstags … Um es kurz zu machen: Sie hat mich für ihre Freunde sitzengelassen. Ich hatte beschlossen, mit ihnen zu einer geheimen Raveparty zu gehen. Nur um dann am Ende ohne meinen Schleier auf offenem Feld festzusitzen, während die Morgendämmerung hereinbrach, um mich herum zu meinem Schutz nur ein paar Büsche und kahle Sträucher. Als meine Schwester mich schließlich entdeckte, rief sie meine Mutter an, damit diese mich abholte. Ein absolutes Desaster.

Das Ergebnis war, dass ich bis Schulbeginn Hausarrest hatte und mein Nachtweltschleier konfisziert wurde. Ich habe zwei Wochen zuhause gehockt, eingesperrt hinter unseren verdunkelten Scheiben, habe ferngesehen oder gelesen, während ich der geballten schlechten Laune meiner Mutter und ihres Irrlichtes ausgesetzt war.

Suzelle dagegen hat mit ihrem netten Leben einfach weitergemacht, als wäre nichts gewesen. Schlimmer noch, meine Mutter hat sie sogar dafür gelobt, so schnell und umsichtig gehandelt zu haben. Null Konsequenzen dafür, dass sie bei einer illegalen Party gewesen war. Ein Beweis mehr, dass für Suzelle andere Regeln gelten.

Sie hat sich nicht einmal bei mir entschuldigt.

Das Miststück.

Während ich also zuhause deprimiert rumsaß, nutzte meine Mutter die Gelegenheit, um sich mit guten Tipps nur so zu überschlagen. Nach meinem Übergewicht, das anscheinend hinderlich für meine übrigens völlig utopische zukünftige Karriere sei, kommt sie direkt auf sexuell übertragbare Krankheiten und die Risiken ungeschützten Verkehrs zu sprechen. Ich hatte nicht die Kraft, um rot zu werden oder peinlich berührt zu sein. Wenn ich auch nur das geringste Zeichen von Schwäche zeige, wird sie sich darauf stürzen. Meine Mutter ist schließlich ein Raubtier, sie kann Schwäche riechen.

Und mal ehrlich, warum kümmert sie das überhaupt?

In der Schule wird es vor Super-Nachtgestalten nur so wimmeln, alle wahnsinnig begabt und das ganze Tralala. Unwahrscheinlich, dass da ein Mischwesen, halb Vampir, halb Mensch, mit 30 Prozent Körperfettanteil eine Chance hat …

Mein Vater reißt mich aus meinen Gedanken. »Liebling«, sagt er zu meiner Mutter, »es wird langsam Zeit. Willst du ihn Simeon nicht zurückgeben?«

Ich spitze die Ohren.

Meine Mutter wirft mir einen Blick zu, der derart eisig ist, dass er allein das Problem der globalen Erwärmung lösen könnte, aber das ist mir egal: Seitdem wir ins Auto gestiegen sind, warte ich nur auf diesen Moment.

Ich habe sie heute Morgen dabei beobachtet, wie sie die mit grünem Leder bezogene Kiste unter dem Fahrersitz verstaute. Und natürlich sind mir die beiden mit Gold verzierten ineinander verflochtenen Monde aufgefallen, die ihren Deckel zieren. Mein Nachtweltschleier.

»Lass es mich nicht bereuen«, knurrt meine Mutter und legt mir die Kiste auf den Schoß.

Als sie den Deckel anhebt, hätte ich beinah vor Ungeduld mit den Füßen gescharrt, weil ich dieses Wunderding, mit dem ich auch in der Mittagswelt überleben kann, endlich wieder in den Händen halten will.

Die Nachtwelt-Witwen, von denen der Stoff des Schleiers stammt, sind eine extrem seltene Spinnenart und in vielerlei Hinsicht tödlich. An ihre Seide zu kommen, ist äußerst riskant. Meine Mutter hat mir mehr als einmal gesagt, dass sie mit dem Preis für den Schleier problemlos meine Schulgebühren zahlen könnte. Aber nicht sein Wert macht ihn für mich so besonders, sondern die Freiheit, die er mir schenkt. Mit ihm werde ich ein fast normales Leben führen können.

Ich hatte echt Schiss, dass sie ihn mir nicht zurückgibt. Ich weiß, dass einige Vampire, die die Mitternachtsschule besuchen, keinen Schleier besitzen und ihre gesamte Schulzeit damit verbringen, sich an den Wänden der schmalen Gänge entlangzudrücken, sich alle fensterlosen Wege zu merken, und dabei trotzdem stets Gefahr laufen, hinter der nächsten Ecke oder bei plötzlichem Gedränge für immer zu einem Häufchen Asche zu zerfallen.

Als ich meine Finger über den Stoff des Schleiers gleiten lasse, bin ich wie jedes Mal aufs Neue überrascht: Ich habe den Eindruck, eine Wolke in den Händen zu halten, durch die eine frische Brise weht. Obwohl der Schleier als unzerstörbar gilt, ist er unglaublich fein und luftig.

Ich setze den breitrandigen Hut auf, von dem der Stoff wie ein Schleier über meinen Körper herabfällt, und will gerade aus dem Auto steigen, als mein Vater sich zu mir umdreht.

»Suzelle kommt morgen«, erinnert er mich. »Wenn du Fragen hast, gehst du zu ihr, okay?«

Ich versichere ihm, dass ich mich natürlich immer an mein geliebtes Schwesterherz wenden werde. Aber es ist klar, dass das für mich nicht in Frage kommt. Lieber krepiere ich, als diese Verräterin um Hilfe zu bitten.

2

Seit Monaten träume ich vom Schulbeginn, nur um es jetzt genauso schnell wieder zu bereuen. Meine Eltern sind gerade mal fünf Minuten weg, fünf Minuten, in denen ich wie erstarrt auf den Stufen der Freitreppe stehe. Der Eingangsbereich der Schule ist brechend voll. Obwohl heute nur der erste Jahrgang vor Ort sein muss, stehen die Schüler bis auf den Bürgersteig, unmöglich zu sagen, wie viele wir sind. Verstößt man bei einer derartigen Anzahl von Schülern pro Quadratmeter nicht gegen die Brandschutzbestimmungen?!

Als ich mich in die Mitte der Menge vorwage, bin ich drauf und dran, mich auf meinen Koffer zu setzen und einfach wie bei Mario Kart zu verduften.

Wie sich alle auf den Rücken klopfen und johlen. Ich weiß nicht wie, aber um mich herum haben sich bereits die ersten Grüppchen gebildet, und ich habe das Gefühl, meine einzige Chance, mich zu integrieren, verpasst zu haben. Und das alles nur, weil meine Mutter unbedingt mit mir über Geschlechtskrankheiten und mein Gewicht reden musste? Wie viele Jahre Therapie werde ich brauchen, damit ich dieses Trauma wieder loswerde?

Ein lautes, dreckiges Lachen zu meiner Linken lässt mich zusammenfahren, und ich werde von einem Muskelprotz angerempelt, der fast meine Brille runtergeworfen hätte. Im letzten Augenblick fange ich sie auf, wobei ich mit den Daumen mitten aufs Glas fasse. Na toll.

»Scheiße, tut mir leid!«, sagt der Junge und klopft jetzt mir auf die Schulter. »Ich hab dich nicht gese…«

Sein Lachen erlischt. Oder besser gesagt, es dreht sich. Eine Art 180-Grad-Wende, seine Mundwinkel zeigen fast bis zum Kinn. Sieht sehr seltsam aus. Genauso wie die Tatsache, dass seine Muskeln sich plötzlich anspannen, woraus ich ableite, dass ihm irgendwas an meiner Visage nicht gefällt.

»Nicht schlimm«, versuche ich ihn zu beruhigen. »Sie ist ja nicht kaputtgegangen, ich werde …«

Gar nichts werde ich. Der Junge packt mich beim Kragen und hebt mich mit stumpfem Blick hoch, als wäre ich federleicht.

»Kreon!«, ruft neben uns ein Mädchen. »Lass ihn doch in Ruhe!«

»Das ist ein Vampir«, wispert er.

Ich tue mein Bestes, um seinen Mundgeruch zu ignorieren, der mir Übelkeit verursacht, und schiele auf sein Wappen. Nicht ganz einfach, es trotz des Abdrucks auf meiner Brille zu entziffern. Ein Minotaurus.

Kreon schüttelt mich wie einen Pflaumenbaum, während er mit dem Mädchen diskutiert, und ich nutze meine plötzliche Verwandlung in eine Stoffpuppe, um in meinem Gedächtnis danach zu wühlen, was meine Mutter mir über die Minotauren beigebracht hat: nicht besonders clevere Muskelprotze. Mit einem erbärmlichen Orientierungssinn.

Na toll. Heißt das, ich muss mit ihm Verstecken spielen, wenn ich nicht vermöbelt werden will? Klingt nicht sehr wahrscheinlich.

»Wegen ihm wurde mein Opi gestohlen.«

Ich verdrehe die Augen. Worüber redet er?

»Sei nicht albern, er ist gerade mal dreizehn.«

»Fünfzehn!«, halte ich für angebracht, mich einzuschalten.

Das Mädchen starrt mich an, als wäre ich der letzte Trottel. Sie hat eine lange spitze Nase, und ihre Arme reichen ihr bis zum Knie. Eine Harpyie. Tatsache.

Ich sollte besser die Klappe halten und nicht den Schlauberger spielen.

»Wir haben doch das Grab gesehen«, beharrt Kreon. »Es war offen.«

»Na und? Vampire plündern doch keine Gräber.«

»Nein. Aber sie haben sich geweigert, meinen Opi in ihre Gruft zu lassen.«

Autsch.

Wenn es ein Klischee über Vampire gibt, das nicht an den Haaren herbeigezogen ist, dann, dass wir in Sachen Geld ziemlich eigen sind. Außerdem sind die Krypten der Vampire die einzigen Totenhäuser der Mitternachtswelt, die wirklich sicher sind. Und man sollte erwähnen, dass wir für diese Marmorschubladen ein kleines Vermögen verlangen.

»Ich schwöre dir, ich weiß nicht, wovon du sprichst!«, rufe ich. »Ich bin hier in der Mittagswelt geboren.«

Kreon starrt mich an.

Das Problem ist, dass ich in seinen Augen keinen Funken von Intelligenz oder Verständnis erkenne. Ich berechne schnell einen möglichen Angriffswinkel … vorausgesetzt, es gelingt mir, meine Bauchmuskeln anzuspannen – was gar nicht so einfach ist – und mein ausgestrecktes Bein zu heben, erreiche ich vielleicht …

»Wenn ihr mich fragt, solltet ihr euch mal über euren Totengräber erkundigen«, mischt sich eine selbstbewusst klingende Stimme ein.

Ich stoppe meine Berechnungen und schaue nach unten. Auch ohne einen Blick auf sein Wappen zu werfen, kann ich den Jungen sofort einordnen. Eindeutig ein Lich.

Sein Kopf ist von einer Seite zur anderen zusammengenäht. Er hat ein blaues und ein schwarzes Auge, einen schiefen Mund, der leicht zur rechten Seite zieht, und mehrere Haarimplantate, die auf seinem Kopf miteinander wetteifern.

Wenn mein Körper an einen Kürbis erinnert, dehnt sich seiner wie ein riesiges Wattestäbchen.

Ich will gar nicht über seine Haut sprechen. Hier wechseln sich braune Stellen mit schwarzen, hellen und mehr oder weniger roten ab und bilden ein zugleich morbides wie faszinierendes Patchwork.[1]  Er ist echt hässlich. Aber was soll ich sagen, mit meinem Zinken, der wie eine Halbinsel voller Pickel aussieht?

»Fang jetzt bloß keinen Streit an, Joel«, sagt das Mädchen, das mich vorhin retten wollte, seufzend.

»Aber ich meine es ernst«, versichert Joel. »Wenn dein Opa verschwunden ist, waren es weder die Lichen noch die Oger noch die Vampire. Wir haben gar nicht die Zeit, einen Leichnam komplett rauszuholen, wenn wir unsere Besorgungen machen, weißt du?«

Das Mädchen verzieht das Gesicht. Ich verziehe das Gesicht. Der Minotaurus verzieht das Gesicht. Aber sein Arm bereitet langsam den Landeanflug vor. Gleich darauf berühren meine Zehen den Boden, und ich tue mein Bestes, um einen gewissen Grad an Würde zu bewahren und nicht mit den Knien zu zittern.

»Im Ernst?«, fragt Kreon.

»Ich schwöre«, verspricht ihm Joel. »Frag Samia, sie weiß, dass ich nicht lüge.«

Samia, die Harpyie, dreht ihre große, schnabelförmige Nase zu dem Lich und wirft ihm tödliche Blicke zu.

»Jep, das kann ich bestätigen.«

Kreon entscheidet sich endlich, mich abzusetzen, und klopft mir zuvorkommend den Staub vom Kragen.

»’tschuldigung«, seufzt er. »Meine Eltern mögen keine Vampire.«

»Verstehe ich natürlich«, brumme ich und versuche mich unauffällig von ihm zu entfernen.

Ich schaffe es, gerade mal zwei Schritte zu machen, als sich mir eine Hand um den Nacken legt. Joel, der Lich, ist offensichtlich noch nicht mit mir fertig.

»Öh … danke?«, sage ich und versuche, mich aus seinem Griff zu befreien.

»Du bist also hier geboren?«, fragt er ohne Umschweife.

»Ja, das …«

»Du solltest dich vor ihm in Acht nehmen«, ruft mir Samia zu, während Joel mich zur Seite nimmt. »Er ist ein Vollidiot.«

»Kümmere dich um deinen eigenen Kram, Samia! Sag mal, Suzelle ist nicht zufällig deine Schwester?«

Ein Schauer läuft mir den Rücken runter. Mit einer Schulterbewegung mache ich mich aus seiner vermeintlich freundschaftlichen Umarmung frei und schaue ihn mit so viel Verachtung, wie ich nur aufbieten kann, an:

»Wenn du zu ihrem Fanclub gehörst, bemüh dich nicht, wir stehen uns nicht nahe.«

Was gelogen ist. Wir standen uns sogar super nah. Bevor sie mich so mies hintergangen hat.

Joel scheint überrascht – das heißt, eigentlich hat jede Partie seines Gesichts einen anderen Ausdruck, aber alles zusammen lässt ihn überrascht wirken. Dann bricht er in Lachen aus.

»Entspann dich! Sie hat nur nie von einem Bruder gesprochen. Aber deine Hautfarbe und die Tatsache, dass du in der Mittagswelt geboren wurdest, und dann … na ja, nichts und dann. Das haut einfach hin.«

»Sie hat nie von mir gesprochen?«

Joel blickt mich von der Seite an.

»Na ja, sie und ich, wir sind jetzt keine Freunde oder so.«

»Was machst du heute überhaupt hier? Der Tag ist doch für die Neuen reserviert.«

»Weiß ich doch, aber … ich bin sitzen geblieben.«

Was mich nicht besonders überrascht. Die Mitternachtsschulen sind sehr, sehr, sehr selektiv. Ich habe nicht die genaue Prozentzahl im Kopf – außerdem bezweifele ich, dass das, was meine Mutter mir ständig einbläut, um mich zu stressen, tatsächlich der Wahrheit entspricht –, aber ein großer Teil der Jahrgänge bleibt hängen. Wenn man die Schule in nur drei Jahren schafft, ist man quasi ein Genie.

Suzelle gelingt das natürlich mit links. Die Akademie hat ihr wahrscheinlich schon das Bett in ihrem zukünftigen Zimmer gemacht … Joel hingegen wirkt ein bisschen niedergeschlagen, was ihn mir direkt sympathisch macht.

»Wohl Pech gehabt?«, wage ich mich vor.

Joel lacht auf und wirft mir einen scharfen Blick zu.

»In welcher Klasse bist du?«, fragt er mich dann. Ohne in das Heft zu schauen, das mir mit einer Liste der benötigten Materialien zugeschickt wurde, antworte ich: »1B.«

»Na, perfekt! Wir auch!«

›Wir‹?

Bevor ich darüber nachdenken kann, folge ich Joel in die Menge und bleibe an seiner Seite, bis wir vor einem absolut beeindruckenden Kreuzgang wieder ausgespuckt werden. Lange Gänge, gesäumt von gotischen Säulen, ein nettes Kräutergärtchen in der Mitte, mit einem kleinen Springbrunnen, der vor sich hin gluckert. Vor allem viel Schatten, was mich beruhigt, auch wenn ich nicht vorhabe, mein Zimmer jemals ohne meinen Schleier zu verlassen.

Joel hat sich zu einer Gruppe Schüler gesellt, und mit einem Mal fühle ich mich klein und schrecklich ungeschützt.

»Hey, Leute«, ruft Joel ihnen zu, »das ist … Mist, wie heißt du nochmal?«

Alle Blicke richten sich auf mich. Und ich habe vergessen, wie man schluckt.

»Simeon. Simeon Saint-Paul.«

»Hallo Simeon Saint-Paul.« Joel schüttelt mir die Hand, während er in lautes Gelächter ausbricht. »Das ist Colin.« Damit schiebt er mich zu einem Schüler, der derart gut aussieht, dass ich einige Sekunden lang geblendet bin.

Er hat pastellrosa Haare, die zu langen Spitzen aufgerichtet sind wie kleine Flämmchen. Seine Haut schimmert golden, als würde sie von innen heraus glänzen, seine meerblauen Augen funkeln, seine Zähne erinnern an Perlmutt, und die Proportionen seines Gesichtes sind einfach nur perfekt. Der Blazer der Schuluniform, die es nur in vier Standardgrößen gibt (und ja, ich trage XL), sieht aus, als sei er auf seinen Modelkörper zugeschnitten worden. Um es kurz zu machen: Ich möchte so sein wie er.

»Hi Simeon«, heißt er mich willkommen. »Bist du ein Vampir?«

Ich nicke. Nicht schwer zu erraten bei meinem Schleier, den ich über den Hut zurückgeworfen habe und der mir jetzt wie ein schlecht sitzender Umhang über den Rücken baumelt. Ich schiele auf das Wappen, das an seiner Brust steckt: ein Sirene. Oder ein Siren. Oder eine Sirene? Verflixt, ich weiß nicht, wie man ihn richtig bezeichnen soll.

»Sie hast du ja schon kennengelernt«, sagt Joel und zeigt auf Samia, die ich mit einem unbeholfenen Nicken begrüße. Ihre Hände sehen aus wie Krallen, und ich will sie nicht unbedingt schütteln.

»Diese Welt ist immer noch ziemlich seltsam«, murrt sie und wackelt mit den Ellenbogen. »Ich gewöhne mich einfach nicht an diesen Körper, das nervt …«

Colin schenkt ihr ein umwerfendes Lächeln: »Dabei steht er dir fantastisch.«

»Fang damit gar nicht erst an«, sagt sie warnend, dann seufzt sie. »Es macht mich fertig, dass wir gezwungen werden, hier die Schule zu besuchen. Uns ginge es im Mitternachtsreich so viel besser …«

»Klar«, stimmt Joel ihr zu. »Das wäre verdammt praktisch, wenn wir uns alle in unseren eigentlichen Gestalten zeigen könnten. Anstelle der Schlafsäle hätten wir dann eine ganze Menagerie.«

»Jaa … », brummt ein Mädchen, das ich bisher nicht bemerkt habe, weil Samia es verdeckt hatte. »Du hast leicht reden. Du riskierst ja auch nicht zu sterben, nur weil du dein Fenster öffnest.«

Es ist komisch, aber ich muss noch nicht einmal auf ihr Wappen schauen, um zu wissen, dass sie eine Vampirin ist. Irgendwas in ihrem Blick, ein kalter oder, besser gesagt, harter Glanz und diese Ebenmäßigkeit ihrer Züge erinnern mich an meine Mutter. Ganz anders als die strahlende Schönheit Colins.

»Ich bin Noemie«, stellt sie sich vor. »Wie ist er so, der Schleier?«

Ich schließe daraus, dass sie keinen hat und fühle mich ein bisschen blöd. »Ziemlich praktisch wahrscheinlich, schließlich wurde Simeon hier in der Mittagswelt geboren!«, verrät Joel den anderen, ohne mich vorher zu fragen.

Das Schweigen, das darauf folgt, ist legendär.

»Moment, meinst du das ernst?«, ruft Samia schließlich. »Ich dachte, du hast das nur so gesagt, damit der Blödmann dich in Ruhe lässt.«

Ich schüttle den Kopf. »Nein, es stimmt, ich wurde hier geboren.«

»Aber du lebst im Mitternachtsreich, oder?«, fragt Noemie und klingt dabei so, als hätte sie die Schwachstelle in einem komplexen Gedankengang gefunden.

Ich verziehe das Gesicht. »Äh, … nein, und um ehrlich zu sein, war ich dort noch nie.«

Alle starren mich mit großen Augen an. So großen Augen, dass ich schon befürchte, einer der Augäpfel von Joel würde aus seiner Höhle springen, aber er drückt ihn mit seinem Zeigefinger wieder hinein – was zugleich ekelhaft und beruhigend ist, denn ich hätte bestimmt wie ein Baby geschrien, wenn mir ein Auge vor die Füße gefallen wäre.

»Ein Vampir? Bei den Tagaktiven?«, fragt Noemie verwundert. »Ernsthaft?«

»Echt klasse«, stellt Colin anerkennend fest. »Ich wusste ja, dass es hier viele Lichen und Wassergeister gibt, aber auch Vampire? Respekt.«

Ich nicke zustimmend und bin ein bisschen stolz, dass endlich mal jemand erkennt, wie bad ass ich bin.

»Wartet erst mal, bis ihr seine Schwester seht«, kichert Joel. »Wir haben sie die Päpstin genannt, weil sie einfach so wow ist.«

Mein Lächeln schwindet. Hat ja nicht wirklich lange gehalten, mein Fame.

Glücklicherweise wird unser Gespräch von Stimmengewirr unterbrochen, das immer lauter wird, gefolgt von Schweigen, das sich unter den Schülern ausbreitet und uns erstarren lässt. Die Luft verändert sich, und ich spüre, wie sich alle Härchen auf meinem Körper aufstellen. Mein Instinkt sagt mir, dass ich die Beine in die Hand nehmen sollte.

»Du spürst es auch, oder?«, knurrt Noemie, die zu mir getreten ist.

»Ja.«

Meine Stimme zittert.

Dann teilt sich die Schülermenge, um jemanden durchzulassen …

Ein Mädchen.

Ein Mädchen, das von dem größten Irrlicht begleitet wird, das ich jemals gesehen habe, und das ihren Kopf wie eine glühende Krone umgibt.

Ihre Haut ist derart hell, dass sie schon blau aussieht. Die grauen Haare sind zu einem Bob frisiert und fallen ihr in leichten Wellen bis über die Ohren. Ihre gelben Augen sind mit orangen Einsprengseln durchsetzt. Unnötig, auf das Wappen an ihrem Blazer zu schauen, mein Körper weiß es auch so. In meinem Jahrgang gibt es eine Werwölfin.

3

Ich bin taub für die Diskussionen, die um mich herum entbrennen. Eine Werwölfin. In meinem Jahrgang. Ich muss fast lachen, als mir klar wird, dass bei dem Berg von Ratschlägen, unter dem meine Mutter mich begraben hat, kein einziger dabei war, der unsere Wolfsfeinde erwähnt.

Und das aus gutem Grund: Werwölfe gehen nicht auf die Mitternachtsschulen. Sie haben die im Jahr 197 – des Mitternachtskalendariums – unterzeichneten Vereinbarungen abgelehnt, die zu einem Zusammenschluss der Nachtgestalten aufrufen und festlegen, dass alle Jugendlichen eine gemeinsame Erziehung durchlaufen müssen. Die Vereinbarung wurde vor sechsundsiebzig Jahren unterschrieben. Sechsundsiebzig Jahre lang hat kein Werwolf auch nur den kleinen Zeh in die Mittagswelt gesetzt. Und trotzdem … und trotzdem ist sie hier.

Die Schüler drängeln sich mittlerweile in den sonnigen Hof und die benachbarten Gänge, aber erst als eine kräftige Stimme von den Wänden widerhallt, tauche ich aus meinen Gedanken wieder auf.

»Willkommen in der Mitternachtsschule, liebe Schülerinnen und Schüler. Wir freuen uns, Sie im ersten Schuljahr zu begrüßen, und sind sehr stolz darauf, Sie auf dem Weg zur nachtweltlichen Exzellenz begleiten zu dürfen.«

Die Frau, die das Wort ergriffen hat, ist mollig, aber selbst ihre rundliche Silhouette vermag weder die Strenge ihres Blickes noch die tiefen Falten an ihren Mundwinkeln zu mildern. Sie muss die furchteinflößende Schulleiterin Madame Percepois sein, von der Suzelle schon mehrmals erzählt hat: Dem Ordnungswahn verfallen, unerbittlich in Bezug auf Disziplin, streng bis ins Mark, terrorisiert sie nicht nur die Schüler, sondern auch die Lehrer. Wenn sie es dürfte, würde Madame Percepois uns selbst das Atmen in den Gängen verbieten, so meine Schwester. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf, höre ich mir den Rest ihrer Begrüßungsrede an. »Toleranz, das Miteinander, Verständnis und Respekt sind die Grundsteine unseres Unterrichts. Wir erwarten, dass Sie uns das Beste der Nachtgestalten zeigen, dass Sie ambitionierte Ziele verfolgen.«

»Na, das werden wir ja sehen.« Mit hochgezogenen Augenbrauen und verschränkten Armen lacht Joel auf.

»Was meinst du?«, fragt Noemie erstaunt.

»Toleranz, Miteinander? Ich musste das letzte halbe Jahr nachsitzen, weil ich mir das Thaum für die Alchemie-Experimente nicht leisten konnte.«

Samia schnalzt mit der Zunge und durchbohrt Joel mit ihrem Blick: »Ah, aber du wirst uns jetzt nicht wieder mit deinen seltsamen Theorien zuquatschen, oder? Du musstest nachsitzen, weil du Mist gebaut hast, das ist alles. Die anderen, die auch sitzen geblieben sind, können das bestätigen. Hör auf, dich immer als Opfer darzustellen, das nervt.«

»Ich stelle mich als Opfer dar? Hast du sie nicht mehr alle?«

»Okay, Leute …«, versucht Noemie sie zu beruhigen. »Ihr habt euch da ein bisschen verrannt.«

Colin und ich können ihr nur beipflichten.

»Der Preis für Thaum hat sich im letzten Jahr beinah verdreifacht«, murrt Joel. »Und ich musste mich entscheiden, ob ich welches kaufe, um zu überleben oder um es für den Unterricht zu verwenden. Ich hab mich halt entschieden, meinen Kopf zu retten.«

Weil ich schon Suzelles Lehrbücher durchgeblättert habe, verstehe ich sofort, was er meint.

Thaum ist eine Substanz, die das gesamte Mitternachtsreich am Laufen hält. Es wird in der Medizin und im Maschinenbau verwendet, wir beschwören mit ihm unsere Irrlichter oder nutzen es, um ein Haarwuchsmittel herzustellen. Es ist ein Extrakt, das von den Kobolden abgebaut wird und das aus dem Mitternachtsreich nicht wegzudenken ist.

Außerdem definiert uns das Thaum als Nachtgestalten. Denn alle Arten, die unter dieser Bezeichnung zusammengefasst werden, haben ein gemeinsames Merkmal: In unseren Adern fließt Thaum. Aus ihm beziehen wir unsere besonderen Fähigkeiten. Bei den Vampiren sind das beispielsweise ihre Langlebigkeit und ihre Stärke, bei den Harpyien ihre ohrenbetäubenden Schreie und ihr Gefieder aus Stahl. Bei den Minotauren ist es … okay, ihr Stierkopf. Manche Nachtgestalten sind eben besser dran als andere.

Womit wir wieder bei den Lichen wären, die sicherlich am meisten Grund haben, sich zu beschweren. Denn zusammengefasst ist ein Lich ein Puzzle aus mehr oder weniger neuen Nachtgestalten und wird durch die Thaum-Reste der einzelnen Körperteile am Leben gehalten. Lichen müssen also regelmäßig raffiniertes Thaum zu sich nehmen, um ihren zusammengeflickten Körper am Leben zu halten. Deswegen hat der Preisanstieg ihnen sicherlich ziemlich zu schaffen gemacht. Ich habe gehört, wie meine Mutter sich ein paar Mal darüber beschwert hat, aber bislang habe ich mich nicht wirklich darum gekümmert. Geld war bei uns nie ein Problem.

»Wie auch immer«, knurrt Samia. »Du hast das ganze Gebäude mit Flugblättern gepflastert, auf denen du der Schule vorwirfst, dass sie ihre Schüler in die Armut treibt. Und du und dein dummer Cousin, ihr habt versucht …«

»Na, na, na«, unterbricht Joel sie. »Wenn man nicht die ganze Geschichte kennt, sollte man besser den Mund halten.«

Samia verdreht die Augen und ignoriert ihn.

Die Rede der Direktorin endet, ohne dass noch etwas Wichtiges verkündet worden wäre, und wir werden aufgefordert, kleine Gruppen zu bilden, bevor wir zu einem Rundgang durch die Schule aufbrechen. Ich habe gar nicht die Zeit, mich zu fragen, ob ich überhaupt bei diesen etwas seltsamen Gestalten bleiben will, als schon ein deutlich älterer Schüler zu uns tritt.

Groß, fast schon zu groß, und strichdünn, mit einem Adamsapfel, dessen Anblick bereits schmerzhaft ist, neigt er sich zu uns hinunter und überschüttet uns mit einem derart strahlenden Lächeln, dass seine Brille bis zu den Augenbrauen hochgeschoben wird.

»Hallo Kinder.«

»Oh nein …«, brummt Joel. »Nicht der …«

»Ich freue mich auch, dich zu sehen, Joel. Na, wie lange wird es wohl dauern, bis du in mein Büro kommen musst?«

Joel vergräbt die Hände in seinen Taschen und zuckt mit den Schultern.

»Nicht lange, würde ich sagen, wenn die Schule nicht endlich etwas tut, um die schlechter gestellten Schüler zu unterstützen.«

»Immer noch diese Geldsache?«

»Ja, noch immer«, knurrt Joel. »Ihr brecht doch unter den Spenden der Eltern zusammen, die Angst haben, dass ihre Sprösslinge nicht angenommen werden. Jetzt erklär mir bloß nicht, dass ihr keine Rücklagen habt, das ist doch nur eine Frage der Prioritätensetzung. Wie wäre es, wenn ihr einfach weniger Geld in den Blumenschmuck steckt und dafür mehr den Schülern zugutekommen lasst. Scheint mir als Idee nicht ganz so abwegig, oder?«

Ein seltsamer Kloß bildet sich in meinem Bauch, als mir klar wird, dass ich das perfekte Beispiel für einen dieser Sprösslinge bin, von denen Joel gerade gesprochen hat.

»Deine Vorschläge wurden selbstverständlich an die Direktion weitergeleitet«, versichert der Neuankömmling Joel. »Aber jetzt ist nicht der richtige Moment, um darüber zu sprechen. Nun denn! Hallo zusammen, ich heiße Augustin, ich bin im dritten und letzten Kursjahr, und ich werde euch heute Vormittag durch die Schule führen. Heute Nachmittag habt ihr frei und könnt euch in den Schlafsälen einrichten.«

Er schleppt uns durch das Gewirr der Säle im Erdgeschoss. Für Kreon, den Minotaurus, muss es die Hölle sein, durch dieses Labyrinth zu navigieren, geht mir durch den Kopf. Augustin teilt uns mit, dass ein Plan der Korridore und Flure auf Anfrage in der Verwaltung erhältlich ist. Samia und Joel bekommen sich erneut in die Haare, Colin erzählt mir von den Accessoires, die er hat, um unseren Blazern eine persönliche Note zu geben, und Noemie ignoriert uns, als wir plötzlich vor einer Wand stehen. Bildlich gesprochen, denn die Mauer trägt Rock und Blazer und kommt direkt auf uns zu.

»Ah, da bist du ja!«, ruft Augustin. »Darf ich euch meine kleine Schwester Prune vorstellen?«

Kleine Schwester?! Sie überragt ihn locker um zwei Meter.

»Eine Riesin?«, ruft Noemie, während ich noch den Hals recke, um ihr Wappen zu erkennen.

»Halbriesin«, korrigiert Augustin rasch. »Sie wird in eure Klasse gehen, ich zähle auf euch, dass ihr sie willkommen heißt.«

Wir nicken. Im Grunde genommen sind Riesen nicht gefährlich, wenn man von ihrer Größe und Kraft absieht. Ohne es zu wollen, könnte ein Riese uns den Kopf abreißen, während er versucht, uns die Schuppen vom Blazer zu klopfen. Ich werde also immer saubere Haare haben …

Prune reiht sich, schweigend wie ein Grab, hinter uns ein. Mir gelingt es nicht mal, ihr Gesicht hinter dem Vorhang aus Haaren zu erkennen, die ihr bis zum Kinn fallen, weil sie trotz der beträchtlichen Deckenhöhe gebückt stehen muss.

»Wunderbar, weiter geht’s«, sagt Augustin aufgekratzt.

Um zu verhindern, dass Noemie bereits an ihrem ersten Tag zu Asche verbrennt, führt uns Augustin durch schattige Gänge, die er von seinem Irrlicht erleuchten lässt.

»Ich stelle fest, dass einige von euch noch kein Irrlicht haben«, wendet er sich an uns, nachdem er seinem eigenen Elementarwesen den Bauch gekrault hat. »Vielleicht solltet ihr in den Laden gehen und euch einen Beschwörungsbausatz kaufen?«

Mein Herz setzt einen Schlag aus. Suzelle und ich hatten uns vorgenommen, mein Irrlicht gemeinsam zu beschwören. Noch etwas, das sie durch ihren Verrat kaputt gemacht hat.

»Ja«, antworte ich. »Das würde ich sehr gerne!«

Ich werfe Joel einen Blick zu, darauf gefasst, dass er meinen verschwenderischen Umgang mit Geld kommentiert, aber er ist in ein Gespräch mit Colin vertieft. Nachdem er uns die Bibliothek und die Arbeitsräume gezeigt hat, führt Augustin uns in die dritte Etage (ohne Aufzug), wo sich das Geschäft der Schule befindet.

Wir betreten einen verrückten Kräuterladen, der aussieht wie aus einem Studio-Ghibli-Film. Hunderte von Regalen ziehen sich die Wände hinauf bis zu den düsteren Deckenbögen und biegen sich unter dem Gewicht von Zauberbüchern, Truhen, Tonkrügen und Weckgläsern, die mit Kräutern und psychedelisch riechenden Flüssigkeiten vollgestopft sind.

Ein riesiger Holztisch, der ganz abgewetzt ist, trennt den Eingangsbereich von diesem Durcheinander.

Und dahinter thront ein nagelneuer Warenautomat, wie man ihn aus Bahnhofshallen kennt. Dieser hier enthält aber keine Schokoriegel, sondern winzige Tüten, die in einem intensiven Blau flimmern. Die angeschlagenen Preise sind exorbitant: Eine Prise Thaum kostet 12 Perseus. In Mittagswelt-Währung sind das … ich rechne und rechne … beinahe 160 Euro.

»Ist hier niemand?«, fragt Colin verwundert.

Joel deutet mit dem Finger auf die Ecken des Raumes: »Keine Sorge, wir werden gut bewacht.«

Ich schiebe meine Brille hoch. Das Zwielicht verbirgt eine beeindruckende Ansammlung an mechanischen Gerätschaften, wie ich sie noch nie gesehen habe. Kabel, Linsen und Kolben: Koboldtechnik. Ich schlucke.

»Ich rate euch, behaltet lieber eure Hände bei euch«, erklärt Joel. »Bei dem geringsten Verdacht knallt man euch ab.«

»Bitte was?!«

»Wenn du was klaust oder nur so aussiehst, als würdest du etwas klauen, knallen sie dich ab«, wiederholt er, als sei das völlig selbstverständlich.

»Mein Cousin hat letztes Jahr einen Bruch versucht, man musste ihm ein neues Gesicht annähen, so krass haben sie ihn zugerichtet.«

Joel kichert, die Arme über dem Bauch verschränkt, als sei es vollkommen normal, Schüler zu entstellen.

»Witzig, wie du die Geschichte umschreibst, wie es dir passt«, murrt Samia.

»Los, lasst uns mal wieder runterkommen«, ermahnt Augustin uns. »Simeon, du kannst deinen Beschwörungsbausatz am Automaten kaufen.«

»Oh, echt?«

Ich bin seltsam enttäuscht. Meine Schwester hat mir gesagt, dass der Hausmeister den Laden führt – und der Hausmeister ist nichts anderes als ein Kobold.

Obwohl ich schon Abbildungen von ihnen gesehen habe, möchte ich unbedingt mal einen echten Kobold treffen.

Egal. Vielleicht beim nächsten Mal.