9,99 €
Der 5. Fall der Nummer-1-Bestsellerreihe aus Italien um den unvergleichlichen Rocco Schiavone. Juli 2007: Lange vor seiner Versetzung in das verschneite Aostatal lebt Rocco Schiavone mit seiner Frau Marina in der römischen Heimat. Als in einem Marmorsteinbruch die Leiche des Jurastudenten Giovanni aufgefunden wird, deutet zunächst alles auf einen tragischen Unfall. Doch Rocco findet heraus, dass der Junge aus wohlhabendem Haus ermordet wurde. Kurz darauf wird die Leiche von Giovannis bestem Freund entdeckt. Bei seinen Ermittlungen setzt Rocco Ereignisse in Gang, die sein Leben für immer verändern werden. Und auch Jahre später, in einem kalten Frühling in den Bergen, noch spürbar sind …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 447
Veröffentlichungsjahr: 2020
Antonio Manzini
Kriminalroman
Der Schatten eines Sommers
Juni 2007: Wie aufgebahrt liegt der Tote auf einem Block aus weißem Marmor im Steinbruch an der Via Tiburtina. Um einen Unfall handelt es sich nicht, da ist Rocco Schiavone von der römischen Polizei sich sicher. Aber wer hatte einen Grund, den Jurastudenten Giovanni Ferri zu ermorden? Als kurz darauf auch Giovannis bester Freund stirbt, ergibt sich eine Spur – mit verhängnisvollen Folgen für Rocco. Während die Sommerhitze erbarmungslos auf die Dächer der Ewigen Stadt drückt, erlebt er die dunkelsten Stunden seines Lebens. Und setzt Ereignisse in Gang, die auch Jahre später, in einem kalten Frühling in den Bergen, noch spürbar sind ...
Der Nummer-1-Bestseller aus Italien.
Antonio Manzini, geboren 1964 in Rom, ist Schauspieler, Regisseur und Drehbuchautor. Seine im Aosta-Tal angesiedelten Kriminalromane um den charismatischen Ermittler Rocco Schiavone stehen in Italien regelmäßig an der Spitze der Bestsellerlisten und wurden unter dem Titel «Der Kommissar und die Alpen» erfolgreich verfilmt.
Anja Rüdiger, geboren in Bonn, hat Übersetzen/Dolmetschen studiert. Fünfzehn Jahre lang hat sie in verschiedenen Verlagen als Lektorin und Programmleiterin gearbeitet. Seit 2011 ist sie als freie Übersetzerin, Lektorin und Literaturscout tätig.
«Manzini hat eine spektakuläre Figur geschaffen, die in der Welt der Krimiliteratur ihresgleichen sucht.» (Focus)
«Ein echter Krimigenuss.» (Wiener Zeitung)
«Auf diesen Ermittler wollen wir nicht mehr verzichten.» (La Lettura)
Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel «7-7-2007» bei Sellerio Editore, Palermo.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«7-7-2007» Copyright © 2016 by Sellerio Editore, Palermo
Redaktion Petra Müller
Zitat auf S. 7 aus: John Steinbeck, Jenseits von Eden, übers. von Harry Kahn, Zürich, 1961.
Zitat auf S. 120 aus: Ludovico Ariosto, Der rasende Roland, übers. v. Alfons Kissner, Berlin, 1922.
Zitat auf S. 134 aus: Francesco Petrarca, Italienische Gedichte, übers. v. Carl Förster, Wien, 1827.
Covergestaltung FAVORITBUERO, München
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-00824-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.
Die Nutzung unserer Werke für Text- und Data-Mining im Sinne von § 44b UrhG behalten wir uns explizit vor.
Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.
Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.
Im Text enthaltene externe Links begründen keine inhaltliche Verantwortung des Verlages, sondern sind allein von dem jeweiligen Dienstanbieter zu verantworten. Der Verlag hat die verlinkten externen Seiten zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung sorgfältig überprüft, mögliche Rechtsverstöße waren zum Zeitpunkt der Verlinkung nicht erkennbar. Auf spätere Veränderungen besteht keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.
www.rowohlt.de
Für Tom
In aller Unwissenheit ist es mir gewiss, dass unter den obenauf liegenden Schichten von Schwachheit die Menschen gut sein wollen und dass sie geliebt werden wollen. Ja, die meisten ihrer Laster sind nur Versuche, kürzere Wege zur Liebe einzuschlagen.
John Steinbeck
United, united, united we stand, united we never shall fall!
Er öffnete die Augen und richtete sich abrupt auf. «Aber was …?» Lupa, von der plötzlichen Bewegung ihres Herrchens alarmiert, hatte die Ohren aufgerichtet. Die Musik kam aus der Wohnung nebenan.
United, united, united we stand, united we stand one and all! Stammesrhythmen, verzerrtes, heiseres Gitarrenspiel und ein affenartiger Chor mit einem Refrain für Gehirntote. Dieser Musikstil, Heavy Metal, war für Rocco eine Sieben auf der Messlatte dessen, was ihm auf den Sack ging. Und wenn er um Viertel vor vier in der Nacht zu hören war, wurde daraus schlagartig eine Neun. «Verdammte Scheiße!», brüllte Rocco und stand auf. Nach zehn Tagen hatte er zu der neuen Wohnung in der Via Croix de Ville ein gewisses Vertrauen gefasst, allerdings nicht zu den Nachbarn. Schon gar nicht zu denen von gegenüber.
Doch nun war es unausweichlich, er musste diesen Leuten einen Besuch abstatten.
Er öffnete die Wohnungstür und wurde gleich von der Kälte des Treppenhauses erfasst, woraufhin er sofort wieder kehrtmachte, sich den Lodenmantel über die Boxershorts und das Unterhemd zog und erneut barfuß die Wohnung verließ. Er klopfte an die Tür. Keine Reaktion. Die Musik ließ dröhnend den Treppenabsatz erbeben.
So keep it up, don’t give in …
Er klingelte und bearbeitete gleichzeitig die Tür mit den Fäusten. Plötzlich wurde es still, gefolgt von eiligen Schritten. Ein Kratzen am Holz machte deutlich, dass jemand durch den Spion in der Tür spähte.
«Ja, ich bin’s, Schiavone, der Nachbar! Machen Sie auf!»
Die Tür wurde aufgerissen. Vor ihm stand ein etwa sechzehnjähriger Junge. Pickel, lange Haare und Unterhose, ein löchriges Iron-Maiden-Shirt und bleich wie der Bauch eines Fischs. «J… ja?»
«Ja? Sonst nichts? Verdammte Scheiße, es ist Viertel vor vier, und du hörst dir in voller Lautstärke diesen Dreck an?»
Der Junge zog eingeschüchtert den Kopf ein. «Entschuldigen Sie. Ich dachte, es wär keiner da.»
«Da hast du falsch gedacht. Seit zehn Tagen wohne ich hier. Und an die anderen Mieter hast du gar keinen Gedanken verschwendet?»
«Das ganze Haus steht leer. Die Benaix sind nach Holland gefahren, und die Candianis sind auch weg. Entschuldigung, wenn ich gewusst hätte …»
«Jetzt weißt du’s. Setz dir Kopfhörer auf, dann kannst du deine Judas Priest so laut hören, wie du willst, weil deine Trommelfelle mir scheißegal sind!»
Der Junge wagte ein Lächeln. «Sie kennen Judas Priest?»
«Sicher. Die gab es schon, als ich in deinem Alter war. Die Frage ist eher, wieso du sie kennst!»
Der Nachbar hob schüchtern die rechte Hand und machte den Rockergruß, indem er den Zeigefinger und den kleinen Finger von der Faust abspreizte. «Rock ’n’ roll will never die!», sagte er und grinste.
«Du hast sie doch nicht mehr alle, oder?», fragte Rocco. «Ab ins Bett, Kleiner, morgen ist Schule. Und wenn du mich noch mal mit diesem Mist weckst, lass ich dich von Lupa zerfleischen!»
In dem Moment fiel dem Jungen der Hund auf. «Ah! Ein ganz Hübscher.»
«Eine Hübsche!»
«Welche Rasse?»
«Ein Saint-Rhémy-en-Ardennes.»
Der Junge brach in Gelächter aus. «So ’ne Rasse gibt’s?»
«Wenn es eine Rockgruppe gibt, die Judas Priest heißt, warum soll es dann diese Rasse nicht geben?»
«Ich heiße übrigens Gabriele.»
«Du kannst mich mal», entgegnete Rocco. Er war immer noch wütend, drehte sich um und ging zurück in seine Wohnung.
An Schlaf war nicht mehr zu denken. Nach einer schnellen Dusche und Fressen für Lupa verließen sie das Haus. Die Morgenröte färbte den Himmel und die taunassen Dächer Aostas. Er wollte frühstücken, mit einem doppelten Espresso und zwei Croissants, und zusehen, wie die Piazza Chanoux allmählich die Farben des neuen Tages annahm, der vielversprechend begann: keine Wolke zwischen den Schornsteinen, die seit etwas mehr als einem Monat nicht mehr rauchten.
Rocco betrachtete seine Schuhe, das siebzehnte Paar Clarks in zehn Monaten, das bisher am längsten durchgehalten hatte. Mit ein wenig Glück würden sie es vielleicht bis zum nächsten Winter schaffen. Ein leichter Wind, kühl, aber nicht eisig, streichelte sein Gesicht. Lupa hielt an jeder Ecke an, um die Marken zu erschnüffeln, die die anderen Hunde am Vorabend hinterlassen hatten. Er seinerseits blieb am Kiosk stehen, um die Zeitung zu kaufen. Als er den Artikel auf der Titelseite sah, traute er seinen Augen nicht.
Niemand spricht mehr über den Mord in der Rue Piave, wo vor etwas mehr als einem Monat Adele Talamonti von sieben Schüssen durchsiebt wurde, während sie, dem Pressesprecher der Staatsanwaltschaft zufolge, in der Wohnung von Vicequestore Rocco Schiavone zu Gast war. Wer ist in diese Wohnung eingedrungen, um die arme Frau zu erschießen? War tatsächlich sie das Ziel, oder galten die Schüsse eigentlich dem Vicequestore? Inzwischen scheinen wir die Einzigen zu sein, die sich diese Frage stellen. Doch es ist unsere Pflicht, unsere Leser daran zu erinnern, dass die scheinbar unerklärlichen Fakten vielleicht ganz leicht aufzuklären sind, diese Aufklärung aber gewisse Leute in Schwierigkeiten bringen könnte. Zum Beispiel einen leitenden Angestellten der Polizei, der seit zehn Monaten in der Questura von Aosta arbeitet und, wie es aussieht, ein Protegé von Questore Andrea Corsi ist. Wir dagegen möchten nicht versäumen, in Erinnerung zu rufen, dass in der Nacht des 13. Mai Adele Talamonti brutal ermordet wurde und dass trotz aller Versprechungen nach wie vor im Dunkeln liegt, wer die Auftraggeber oder die Täter gewesen sein könnten. Das Einzige, was seitdem geschehen ist, ist Rocco Schiavones Umzug in eine andere Wohnung, da es ihm offensichtlich unmöglich ist, mit der Verantwortung zu leben. Bleibt zu wünschen, dass die Questura oder Staatsanwalt Dottor Baldi uns und den Bürgern Aostas bald eine konkrete Antwort gibt.
Sandra Buccellato
Rocco knüllte die Zeitung zusammen und warf sie in den Mülleimer. Es war allerhöchste Zeit, diese Journalistin endgültig zum Schweigen zu bringen: Sandra Buccellato, die Exfrau des Questore und Grund für dessen Hass auf die Presse, weil sie ihn wegen eines Reporters von La Stampa verlassen hatte. Er musste sie aufsuchen, bedrohen, verprügeln … Wie konnte sie es wagen? Vor allem der Satz «… da es ihm offensichtlich unmöglich ist, mit der Verantwortung zu leben …» ließ ihn rotsehen. Denn er war schon seit dem 7. Juli 2007 gezwungen, mit der Verantwortung zu leben, und davon hatte diese Sandra Buccellato keine Ahnung! Er musste ihr überhaupt nichts erklären, das Einzige, was er tun musste, war, in dieser Redaktion aufzulaufen und der Frau ein für alle Mal das Maul zu stopfen.
Auf einmal schmeckte der Espresso nach Erde und das Croissant nach ranziger Butter.
«Was ist los, Dottore?», fragte Ettore. Es waren bereits etwa ein Dutzend Gäste zum Frühstück in der Bar.
Rocco schüttelte den Kopf. «Heute ist nicht mein Tag, Ettore.»
«Aber um die Zeit schon wach. Ist irgendwas im Busch?»
«Nein, nichts. Sag mal, kennst du diese Sandra Buccellato?»
Ettore grinste. «Ob ich die kenne? Die kommt mindestens dreimal am Tag hier in die Bar. Die Redaktion ist gleich da vorn.»
«Könntest du sie beschreiben?»
«Nein. Weil auch ich Zeitung lese, sie kenne und weiß, dass Sie wissen wollen, wie sie aussieht, um ihr etwas Unschönes anzutun.»
«Ich habe noch nie einer Frau irgendetwas angetan, Ettore!»
«Ach nicht? Dann reden wir doch mal über Nora Tardioli, die Ihnen genau hier einen Aperol Spritz übers Jackett gekippt hat. Oder über Anna Cherubini, die, wenn man nur Ihren Namen erwähnt, bleich wird und hektische rote Flecken kriegt …»
Rocco sah dem Barista in die Augen. «Nur dass dich das einen Scheiß …»
«Kommen Sie, Dottore! Ich bin schließlich Barista …», sagte Ettore, um sein Verhalten zu rechtfertigen. Dann wandte er sich um und ging zur Theke zurück.
Rocco trank seinen Espresso aus. Dann wandte er sich zum Gehen, blieb jedoch am Ausgang noch mal stehen. «Hör mal, du Schlaumeier, da du ja alles weißt», rief er. Drei Leute drehten sich zu ihm um. «Dann weißt du ja sicher auch, was die Rasse meines Hundes ist, oder?»
«Saint-Rhémy-en-Ardennes, Dottor Schiavone. Natürlich weiß ich das!»
Sie lachten. Ettore gefiel ihm immer besser. «Sag ihr, dass ich nach ihr suche!»
«Mach ich.»
Die Putzkolonne der Questura musste sich im Streik befinden, denn offensichtlich hatte niemand einen Fuß in sein Büro gesetzt. Es herrschte die gleiche Unordnung wie am Vorabend, als wäre sein Schreibtisch der Tatort eines Verbrechens, wo bis zum Eintreffen der Spurensicherung nichts angerührt werden durfte. Rocco schloss die Tür und öffnete die Schublade. Die Holzschachtel mit den Intarsien war nur noch spärlich gefüllt. Das war wie ein Schlag in die Magengrube! Eine drohende Katastrophe! Der Joint, den er sich nun genehmigen würde, war einer der letzten! Er machte ihn äußerst umsichtig zum Rauchen bereit. Zündete ihn an. Und genoss ihn in aller Ruhe, den Blick durchs Fenster auf den Himmel gerichtet und darauf wartend, dass seine nach der schlaflosen Nacht erlahmten Neuronen wieder zu funktionieren begannen.
Beim dritten Zug klingelte das Telefon. «Schiavone …»
«Corsi.»
«Ich wollte gerade zu Ihnen kommen, Dottore …»
«Gut. Und lassen Sie den Hund, wo er ist. Beim letzten Mal hat er hier ein Stuhlbein angenagt.» Rocco legte auf. Betrachtete Lupa, die sich zum Schlafen auf dem Sofa zusammengerollt hatte. Er hob den Tennisball vom Boden auf, den er für sie gekauft hatte, und legte ihn neben ihre Schnauze. Dann öffnete er das Fenster und verließ den Raum.
Corsi saß an seinem Schreibtisch und Baldi in einem der hellen Ledersessel. Der Staatsanwalt musterte Rocco abschätzend und reichte ihm unwillig die Hand, wobei er ein unfreundliches «Salve …» vor sich hin murmelte. Corsi wirkte nervös, begrüßte Rocco aber im Gegensatz zu Baldi im üblichen Posaunenton: «Buongiorno, Dottor Schiavone, bitte setzen Sie sich!» Dabei wies er auf den freien Sessel direkt neben dem Staatsanwalt. «Gut, gut, gut …» Der Questore verschränkte die Hände und legte sie auf den Schreibtisch. Dann kam er gleich zur Sache. «Es geht um den Fall in der Rue Piave. Wie Dottor Baldi mir gesagt hat, wissen Sie, wer der Mörder ist und warum er es getan hat, und sind nicht bereit, diese Informationen mit uns zu teilen. Stimmt das, oder ist das nur eine Annahme der Staatsanwaltschaft?»
Rocco sah Baldi an und grinste: «Sie wissen doch alles. Warum dann also die Umstände?»
«Sie sind ein Vertreter der staatlichen Behörden», wandte Baldi ein, «und müssen sich dementsprechend verhalten. Wir wissen, dass Sie sich häufig in Rom aufhalten, mit wem Sie sich dort treffen, mit wem Sie in regelmäßigem Kontakt stehen …»
«Also kennen Sie auch den Namen des Mörders: Enzo Baiocchi.»
Bei der Nennung des Namens sahen Corsi und Baldi sich an. «Wer ist Enzo Baiocchi, und warum will er Sie töten?»
Rocco massierte seinen Nacken, der nach der schlaflosen Nacht schmerzte. «Sie wissen alles Mögliche über mich, aber ausgerechnet das wissen Sie nicht?»
«Sie sind eine Nervensäge, Schiavone, und merken nicht, dass Dottor Baldi und ich versuchen, Ihnen zu helfen. Verstehen Sie? Wir versuchen, Sie zu beschützen!»
«Beschützen wovor?»
«Sie haben jede Menge Feinde und das nicht nur in Verbrecherkreisen. Nur im Innenministerium nicht, wie es scheint. Denn die haben Sie hierhergeschickt, dabei hätte es Sie viel übler treffen können.»
«Sicher?»
«Stecken Sie sich Ihre Ironie sonst wo hin!», brüllte Baldi. «Sie riskieren ein Verfahren und noch viel Schlimmeres!»
Schiavone breitete hilflos die Arme aus. «Was zum Beispiel? Aus dem Polizeidienst zu fliegen? Irgendwo im Aspromonte zu landen?»
«Nein, mein Freund.» Corsi bemühte sich um ein verbindliches Lächeln. «Sie riskieren eine Lawine an Ermittlungen gegen Sie. Dann werden Ihre Konten überprüft, Ihre Anschaffungen, Ihr Eigentum, Ihre Freunde. Glauben Sie mir, aus dem Polizeidienst zu fliegen wäre ein Segen im Vergleich zu dem, was Ihnen in diesem Fall bevorstünde.» Corsi stand auf. Machte zwei Schritte aufs Fenster zu. Verschränkte die Hände hinter dem Rücken und atmete tief durch. «Und Sie haben keinen Verbündeten, Schiavone. Weder in mir noch in der Staatsanwaltschaft. Das wäre für Sie ein unerträglicher Spießrutenlauf, und ich schwöre Ihnen, dass wir alles tun würden, um der Sache sehr genau auf den Grund zu gehen. Also …», er wandte sich abrupt zu Rocco um, «… entweder Sie reden endlich, oder dieses Treffen ist beendet!»
Rocco fuhr sich mit den Händen übers Gesicht. Sah seine Gesprächspartner an. «Drei Dinge: Zeit …»
«So viel Sie wollen», sagte Baldi.
«Kaffee …»
«Lasse ich bringen … Und das dritte?»
«Ich will meinen Hund hier haben.»
Corsi griff nach dem Telefonhörer. «Rispoli? Bringen Sie Schiavones Hund her. Und sagen Sie allen, dass ich den ganzen Tag nicht zu sprechen bin. Und wenn Sie schon unterwegs sind, bringen Sie uns Kaffee mit.» Er beendete das Gespräch und setzte sich wieder.
«Gut. Wir sind ganz Ohr.»
«Bevor ich anfange …»
«Noch was?» Baldi verlor allmählich die Geduld.
«Könnten Sie mir bitte erklären, wie Sie all diese Dinge über mich in Erfahrung gebracht haben?»
Baldi und Corsi lächelten. «Sie haben Ihre Quellen und wir die unseren.»
Rocco nahm eine Zigarette aus seinem Päckchen und steckte sie sich zwischen die Lippen. «Darf ich?»
«Das ist ein Ausnahmefall. Aber das ist die erste und letzte Zigarette in meinem Büro!» Der Questore zündete Rocco die Zigarette mit dem Dupont-Feuerzeug auf seinem Schreibtisch an. Rocco nahm den ersten Zug, blies den Rauch an die Decke, dann sagte er: «Also, machen wir es so wie beim Lesen eines Buchs. Ich erzähle Ihnen siebzig Prozent, und den Rest müssen Sie sich mit ein bisschen Phantasie zusammenreimen. Davon haben Sie ja mehr als genug, oder?»
Baldi und Corsi sparten sich die Antwort, und Rocco begann.
«Wie spät ist es, Amore?», fragte er und drehte sich im Bett um. Doch neben ihm lag niemand.
Seit drei Tagen.
Er versuchte zu atmen, aber irgendetwas blockierte seine Luftröhre. Mühsam schnappte er nach Luft, doch es gelang ihm nicht, seine Lunge zu füllen. Er versuchte, seinen Herzschlag zu beruhigen, drehte sich auf den Rücken und entspannte sämtliche Muskeln. Langsam holte er tief Luft, versuchte, die Blockade in seiner Kehle zu überwinden, und diesmal strömte die Luft in seine Lunge. Er atmete aus. Wiederholte das Ganze noch viermal. Es wurde besser, sein Herzschlag beruhigte sich allmählich. Er schloss die Augen. Drei Tage ohne Marina waren einfach zu viel! Dabei war Rocco schon oft länger als eine Woche von seiner Frau getrennt gewesen. Aber diesmal war sie einfach gegangen. Ohne die Tür hinter sich zuzuschlagen, denn das war nicht ihre Art, kein großes Theater, kein Geschrei. Sie hatte einfach nur gesagt: «Ich übernachte für ein paar Tage bei meinen Eltern», und hatte ihre Tasche gepackt. Vor drei Tagen.
An diesem Scheißsonntag!
Seine Frau hatte schon seit einer Weile darüber nachgedacht. So viel war klar. Am Sonntagmorgen hatte er sie dann im Wohnzimmer vorgefunden, in der strahlenden Junisonne am Tisch sitzend, mit jeder Menge Papierkram von der Bank um sich herum. Sie las jeden Brief und schrieb mit einem Stift Zahlen in ein Notizbuch. Rocco war gähnend ins Zimmer gekommen. «Willst du einen Kaffee?», hatte er gefragt, und sie hatte die Brille abgenommen, um ihm in die Augen zu sehen. «Erklärst du es mir?»
Seine Frau wollte die Wahrheit hören. Das mit der Erbschaft von seinem Onkel hatte sie nicht geglaubt, genauso wenig wie das mit der Gehaltserhöhung, dem Lottogewinn, dem Verkauf des Ladenlokals in Trastevere, in dem sich die Druckerei seines Vaters befunden hatte. Das passte alles nicht zusammen. «Setz dich, Rocco. Und sag mir, woher du das Geld hast. Keine Lügen, das habe ich nicht verdient.»
Rocco hatte sich hingesetzt. Und ihr alles erklärt. Während er gestand, hatten sich Marinas Augen mit Tränen gefüllt. Beim Zuhören hatte sie mit den Bügeln der Brille gespielt. Draußen brannte die Sonne, während sich in ihrer Wohnung in der Via Poerio eine herbstliche Kälte breitmachte. Er sagte ihr nicht alles, verschwieg einige Dinge, sparte ein paar Details aus, doch schließlich wusste sie genug, um eine Entscheidung zu treffen. «Das also bist du …», hatte sie gesagt, «für ein bisschen Geld bist du zu allem fähig.» Dann war sie aufgestanden. Rocco hatte versucht, sie zurückzuhalten, aber sie wollte nicht mehr reden. Vor seinen Augen packte sie ihre Tasche und griff sich die Schlüssel vom Fiat Panda. «Ich muss nachdenken. Ausgiebig. Ich übernachte für ein paar Tage bei meinen Eltern. Bitte ruf mich nicht an.» Dann hatte sie die Wohnung verlassen und die Tür hinter sich geschlossen. Rocco war aufs Sofa gesunken, hatte sich eine Zigarette angezündet und war dort sitzen geblieben, bis die Sonne hinter den Dächern Roms unterging.
Er trat aus dem Schlafzimmer. Die Briefe von der Bank, die Marina sich angesehen hatte, lagen noch auf dem Tisch. Er hatte versucht, Marina anzurufen, aber Laura, ihre Mutter, hatte ihm höflich erklärt, dass sie nicht zu Hause sei. Sie arbeite.
«Ich muss nachdenken.» Rocco wiederholte die Worte seiner Frau halblaut, während er das Kaffeepad in die Espressomaschine gab. «Und wie lange willst du nachdenken? Du denkst schon seit drei Tagen nach!»
Hatte Marina denn nicht begriffen, wer er war? Hatte sie nicht verstanden, aus welcher Welt er kam? Sie war doch zu Hause bei seinen Eltern in der Via della Lungara gewesen. Kannte seine Freunde Sebastiano, Furio und Brizio. War ihr nicht klar, was die drei machten? Warum war sie jetzt auf einmal aufgewacht und hatte begonnen, in seinem Leben herumzuschnüffeln?
«Wie ich an das Geld gekommen bin? Ich habe mein Gehalt ein wenig aufgebessert. Habe ein bisschen von dem beschlagnahmten Marihuana abgezweigt und etwas von dem Schmiergeld, wenn wir einen Abgeordneten beim Handaufhalten erwischt haben, habe zwei Bilder weiterverkauft, ja, verdammt! Das hab ich getan!» Aber er hatte sich niemals an armen Leuten vergriffen oder vor mächtigen Auftraggebern klein beigegeben.
«Ich bin kein Heiliger, Mari’, bin ich nie gewesen!»
Nutzlose Worte, die ihm noch immer im Kopf herumgingen. Er konnte sie nicht überzeugen. Hatte es gar nicht versucht. Marina kam aus einem anderen Stadtviertel, einer anderen Welt. «Du bist im Liceo Giulio Cesare zur Schule gegangen, hast am Corso Trieste gewohnt, dein Vater und deine Mutter sind einem ehrlichen Beruf nachgegangen, waren immer gesetzestreu und hatten auch am Monatsende noch genügend Geld. Hast du jemals zu viert auf dreißig Quadratmetern gelebt? Hast du jemals erlebt, dass deine Mutter beim Obsthändler weint, weil der sie erniedrigt und bedroht hat? Du hättest ihr Gesicht sehen müssen, als sie sich bei einem miesen Kredithai Geld leihen musste, um Papas Beerdigung zu bezahlen. Wie viele Turnschuhe hast du getragen? Du weißt es nicht? Daran kannst du dich nicht erinnern? Ich nur ein Paar. Gekauft in der sechsten Klasse, und zwar zwei Nummern größer, damit sie bis zur achten Klasse halten! Hast du schon mal ein Foto vom Weihnachtsbaum bei uns zu Hause gesehen? Nein. Und weißt du, warum? Weil wir keinen hatten und auch keine Kamera, um ein Foto zu machen! Euer Weihnachtsbaum war wunderschön, und darunter lagen jede Menge Geschenke, und du und deine Schwester in euren Rollkragenpullovern konntet es gar nicht erwarten, die Puppen und Spiele auszupacken.»
Das ist keine Rechtfertigung für das, was du getan hast.
Das war Rocco bewusst. Sein Vater war sein ganzes Leben über arm gewesen und hatte sich niemals die Hände schmutzig gemacht außer mit Druckertinte. Seine dagegen waren völlig verdreckt. Er hatte schon früh angefangen. Nach dem Tod seines Vaters nahm er jeden Job an, um zu Hause zu helfen. Aber die Kredithaie forderten von seiner Mutter immer mehr Geld. «Verstehst du das, Marina? Jeden Tag, an dem Gott die Sonne hat aufgehen lassen, kamen sie und wollten noch mehr Geld von ihr, Geld, das sie längst zurückgezahlt hatte!» Und dann hatte Rocco den Schweinen eines Morgens zusammen mit Sebastiano und Furio einen Besuch abgestattet. «Wir waren zu dritt. Und ich bereue es nicht, Marina, ganz und gar nicht. Wir haben sie verprügelt und bedroht und sind mit einem dicken Bündel Scheine wieder nach Hause gekommen! Und Mamma hab ich gesagt, dass ich im Lotto gewonnen hätte. Sie hat so getan, als würde sie mir glauben. Warum kannst du das nicht?»
Das ist keine Rechtfertigung für das, was du getan hast.
Die Erinnerungen, der Streit drei Tage zuvor, die Hitze, die Sehnsucht, all das toste wie ein Sturzregen durch Roccos Kopf. Er nahm sich den Kaffee und betrachtete die Stadt im Morgengrauen. Versuchte seine Gedanken zu beruhigen, die jeglichen Bezug zu Zeit und Raum verloren hatten. Er hatte keine Lust, zur Arbeit zu gehen. Auch nicht zu Hause zu sein. Das Einzige, was er wollte, war Marina. So war es in Roccos Leben schon immer. Das, was er sich am meisten wünschte, konnte er nicht haben.
Clara Ferri stellte den Espressokocher auf den Herd und sah auf die Uhr. Halb neun, Zeit, Giovanni zu wecken, der um zehn in der Uni sein musste, soweit sie sich an das erinnerte, was er gestern Abend gesagt hatte. Sie stellte die Tasse auf den Küchentisch und ging aus dem Raum, um an die Zimmertür ihres Sohnes zu klopfen: «Giovanni? Giovanni? Aufwachen, es ist halb neun!» Vorsichtig öffnete sie die Tür. Die Jalousien waren oben. Das Bett war unberührt. Clara spürte eine Welle der Sorge in sich aufsteigen. «Giovanni …?» Das Zimmer war aufgeräumt, so wie die Haushaltshilfe es am Vortag hinterlassen hatte. Kein Kleidungsstück hing über dem Stuhl, der Computer war ausgeschaltet, die Bücher standen ordentlich nebeneinander.
Giovanni war nicht nach Hause gekommen.
Clara ging wieder in die Küche und nahm ihr Handy. Keine verpassten Anrufe, keine neuen Nachrichten. «Aber wo …?» Sie gab die Telefonnummer ihres Sohnes ein, die einzige neben der ihrer Schwester, die sie auswendig wusste. Die emotionslose Stimme verkündete, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar war. Sie versuchte es erneut. Mit dem gleichen Ergebnis. Sie sah unter ihren Kontakten nach und wählte die Nummer von Isabella. Nach dem fünften Klingeln war deren verschlafene Stimme zu hören.
«P… pronto?»
«Isabella, entschuldige, dass ich dich so früh anrufe. Ich bin’s, Clara … Ist Giovanni bei dir?»
«Bitte?»
«Giovanni, ist er bei dir?»
«Nein, Signora Ferri. Ist er nicht …»
«Wart ihr gestern zusammen?»
Schweigen. Clara sah vor sich, wie sich Isabella mit der Hand über die Augen fuhr, um zu sich zu kommen. «Wir waren zusammen im Pub. Aber …»
«Aber was?»
«Na ja. Giovanni und ich haben uns gestern gestritten.»
Clara biss sich auf die Lippe. «Und weißt du vielleicht, wohin er danach gegangen ist?»
«Nein, keine Ahnung. Er hat mich nach Hause gebracht und ist wieder aufs Mofa gestiegen. Haben Sie es schon bei Pietro versucht? Oder vielleicht hat er bei Maurizio übernachtet. Ich weiß, dass er heute in die Uni muss …»
«Hast du Maurizios Nummer?»
«Ich schicke sie Ihnen sofort.»
«Nein, bitte sag sie mir, ich traue diesen Handys nicht.»
Alberto Ferri kam um zehn in die Redaktion, mit Schmerzen im unteren Rücken, die sich seit dem Vorabend hartnäckig hielten. Das Spiel gegen die Kollegen vom Messaggero war ihm gar nicht bekommen. Mit achtundvierzig Jahren konnte er es sich einfach nicht mehr erlauben, auf den Platz zu gehen, ohne sich vorher vernünftig warm gemacht zu haben, zu rennen und herumzuspringen wie ein Idiot, mit rasendem Herzen und brennender Lunge. Wie oft hatte er schon gehört, dass ein Mann um die fünfzig auf dem Fußballfeld an einem Herzinfarkt gestorben war? Ganz zu schweigen von Schädel-Hirn-Traumata oder Schien- oder Wadenbeinen, die wie Streichhölzer brachen. Er musste zurückschrauben, sich öfter auswechseln lassen und durfte vor allem nicht mehr so ungestüm wie ein Halbwüchsiger in den Zweikampf gehen. Seinem Kollegen De Dominicis, der genau wie er für die Verbrechensmeldungen zuständig war, hatte er durch eine Blutgrätsche beinahe das Schienbein zertrümmert. «Was machst du denn, du Spinner!», hatte der ihn mit Schaum vorm Mund angebrüllt. «Glaubst du, dass du hier in der Champions League spielst, du Blödmann?» Und Pino De Dominicis hatte recht, es gab keinen vernünftigen Grund für eine solche Aktion! Wobei die eigentliche Frage war: Welchen vernünftigen Grund es dafür gab, einmal pro Woche beim Kleinfeldfußball Haut und Knochen zu riskieren? «Machen Sie Sport, das ist gut für die Durchblutung!», hatte sein Arzt gesagt. Aber wahrscheinlich hatte er damit ein paar wohltuende, ruhige Stunden im Fitnessstudio gemeint, wo man wie ein Hamster im Laufrad auf so einem blöden Band lief oder sich auf einem Fahrrad abstrampelte, ohne von der Stelle zu kommen. «He, Alberto, deine Exfrau ist am Telefon. Sie hat heute schon zweimal angerufen!», sagte seine Kollegin Monica mit den blauen Augen, als sie mit einem Stapel Papier an ihm vorbeiging.
Was will die denn?, fragte er sich. Für diesen Monat war schon alles geregelt; er hatte ihre Miete bezahlt, also was konnte los sein? Er ging zu seinem Platz und nahm den Hörer ab. «Pronto?»
«Alberto!» Ihre Stimme klang besorgt.
«Was ist los, Clara? Ist was passiert?»
«Was ist mit deinem Handy? Warum gehst du nicht ran?»
«Um Telefonate wie dieses zu vermeiden. Was willst du?»
«Giovanni ist gestern Abend nicht nach Hause gekommen.»
«Na ja, wahrscheinlich hat er bei seiner Freundin übernachtet, dieser … Eleonora, oder?»
«Nein, seine Freundin heißt Isabella, aber ich hab sie schon angerufen. Da ist er nicht und auch nicht bei Maurizio …»
Während Clara die Namen aller Freunde seines Sohnes aufzählte, schaltete Alberto sein Handy an. Sieben Anrufe. Fünf von seiner Frau. Einer von Giovanni.
«… Matteo weiß nicht, wo er ist, und seine Kommilitonin Lucia auch nicht. Sein Handy ist die ganze Zeit aus. Ich hab ihn schon mindestens zehn Mal angerufen, aber nichts.»
«Clara!»
«Was ist?»
«Warte, ich schau mal nach, wann … Giovanni hat mich gestern Abend angerufen. Um elf.»
«Und was hat er gesagt?», schrie seine Exfrau.
«Weiß ich nicht. Da hab ich schon geschlafen. Ich seh hier nur, dass er angerufen hat.»
«Oh, Madonna mia …»
«Hör zu, Clara, ich ruf jetzt alle Krankenhäuser und Kommissariate in der Stadt an. Aber es wird schon nichts sein. Ganz ruhig, okay? Mach dir einen Kamillentee und überlass mir das Ganze, einverstanden?»
«Ja … ja …»
«Gut. Immer die Ruhe bewahren.» Er nahm das Telefon vom Ohr.
«Monica! Könntest du mir bitte mal helfen?»
Monica sah ihn aus dem Augenwinkel an, ohne den Blick von dem Blatt Papier zu nehmen, das sie gerade las.
«Monica, hilfst du mir jetzt oder nicht?»
«Soll ich dir helfen oder deiner Frau?»
«Exfrau, bitte, Monica. Und es geht dabei gar nicht um sie.»
«Ach nein? Worum dann?»
Alberto ging zum Schreibtisch seiner Kollegin hinüber: «Bitte, das ist jetzt nicht der richtige Moment, um eine Szene zu machen. Es geht um Giovanni. Er ist seit gestern Abend spurlos verschwunden. Hilfst du mir?»
Monica nickte, legte das Blatt zur Seite und stand auf. «Ich kümmere mich um die Krankenhäuser. Du um die Kommissariate.»
Die Bohrungen waren fertig. Jetzt konnten sie den Diamantdraht einfädeln, um mit dem vertikalen Schnitt zu beginnen. Er sollte sich von Omar helfen lassen und auf die Bancata steigen. Die Hitze war unerträglich, und der weiße Marmor reflektierte die Sonne wie ein Spiegel. Zum Glück standen die Ferien vor der Tür. Ernesto wollte auch dieses Jahr wieder nach Torvajanica fahren und würde wie immer viel Gelächter ernten, wenn er sich auszog und seine gescheckte Bräune zeigte: Gesicht und Hals fast schwarz, genau wie die unteren beiden Drittel der Arme, und der Rest weiß wie ein Sack Mehl. Seine Tochter nannte das Marmor-Bräune, was wortwörtlich stimmte. Ernesto musste jedes Mal lachen, wenn er sah, wie sich seine Frauen am Strand dieses spiegelartige Ding unters Kinn hielten, um so braun wie möglich zu werden. «Ihr braucht nur mal drei Tage mit in den Steinbruch zu kommen, dann seid ihr so schwarz wie Afrikanerinnen.» Daraufhin lachten seine Frau und seine Tochter, setzten sich die Plastik-Sonnenbrillen auf – ein Give-Away aus der Amica –, justierten den Spiegel unterm Kinn und rösteten sich weiter in der Sonne, während er im Schatten der Strandbar den Corriere dello Sport las und zu ihnen hinüberschaute. Zu seiner Frau und seiner Tochter. Für sie tat er das alles. Den Marmorstaub im Steinbruch einatmen, im Sommer in der Sonne braten und in der Winterkälte zittern, literweise Wasser auf die Säge gießen, sich mit dem Lärm der Diamantseile, die sich in den Stein fraßen, die Trommelfelle ruinieren. Alles für seine Frau, die er nach dreiundzwanzig Ehejahren immer noch liebte, und für seine Tochter, die im kommenden Jahr ihre Ausbildung zur Hotelfachfrau beenden würde und schon ein Jobangebot von einem Restaurant in Circeo hatte.
«Omar! Wo bist du?», rief er, den Moment der Arbeitspause nutzend. «Omar? Hat jemand Omar gesehen?» Ciro wies auf den Container, in dem sich das Büro des Chefs befand. «Ich hab ihn dort drüben gesehen … Er kommt bestimmt gleich wieder!» Ernesto Auriemma nahm den Helm ab, wischte sich den Schweiß von der Stirn und hielt nach seinem Kollegen Ausschau, der plötzlich ganz hinten im Steinbruch auftauchte. Er rannte stolpernd auf sie zu, durch den von der in der Hitze glühenden Erde aufsteigenden durchsichtigen Dampf, wie ein schwarzes Gespenst aus Gelatine. Sein Mund war geöffnet, er schien etwas zu rufen. Wenig später konnten Ernesto und die gebeugt arbeitenden Kollegen ihn deutlich verstehen: «… tot … kommt schnell … tot», hörten sie.
«Tot? Was redest du da, Omar?», rief Ernesto zurück.
Omar wies hinter sich in Richtung des Sees in der Mitte des Steinbruchs. Er war völlig aufgelöst. Sein Helm fiel ihm aus der Hand, aber er blieb nicht stehen, um ihn aufzuheben. Schließlich war er nah genug bei ihnen. «Unten am See … liegt einer … ganz sicher tot!»
Mario, der Chef im Steinbruch, wie immer im karierten Hemd und mit einer Zigarette zwischen den Lippen, trat aus dem Container. «Was, zum Teufel, ist hier los?», schrie er.
Ernesto breitete hilflos die Arme aus. «Keine Ahnung. Omar sagt, da ist ein Toter …»
«Wie, ein Toter?» Mario stieg die schmale Treppe hinunter, um dem ägyptischen Arbeiter entgegenzugehen. «Was erzählst du da, Omar? Wer ist tot? Einer von uns? Gott bewahre!»
«Nein, nicht einer von uns …» Endlich hatte Omar die Kollegen erreicht. «Kommt. Unten am See, beeilt euch», keuchte er und rannte wieder los. Ernesto, Mario und die anderen drei Arbeiter liefen dem Nordafrikaner hinterher. «Da unten …», sagte Omar mit schreckgeweiteten Augen. «Es ist furchtbar, furchtbar.» Dann fügte er noch etwas auf Arabisch hinzu, was keiner verstand.
Sie liefen um den letzten Marmorblock herum und erreichten endlich den Rand der Grube. In der Tiefe schimmerte ein kleiner See, so strahlend blau wie ein Stück karibisches Meer. Der Pool eines Fünf-Sterne-Hotels. Aber tatsächlich nutzten sie ihn als Brunnen und schöpften daraus das Wasser, das sie zur Kühlung der Sägen und des zu schneidenden Marmors brauchten. Omar wies hinunter in die Grube. Dort lag auf einem Marmorblock ein Mann. Der in der Junisonne weiß leuchtende Stein betonte die rote Farbe des Blutes. Die Gliedmaßen des Mannes waren unnatürlich verrenkt. Das rechte Bein nach hinten, der linke Arm auf den Rücken verdreht. «Oh, Scheiße …!», sagte der Chef. «Wie …»
«Jemand hat ihn gestoßen!», meinte Ernesto und schloss die Augen, um das Bild auszulöschen, das sich für den Rest seines Lebens in seine Erinnerung einbrennen sollte.
«Parrillo, ich würde gern lebend an der Via Tiburtina ankommen!», schrie Rocco, um das Dröhnen des Alfas zu übertönen, der mit Vollgas über die Ringstraße schoss.
«Wenn Sie mir erlauben, die Sirene einzuschalten …»
«Ich hasse die Sirene! Untersteh dich, sie einzuschalten! Und Vorsicht, der Lastwagen!»
Parrillo wechselte die Spur, streifte beinahe einen Smart, überholte den Lastwagen und fuhr auf den Randstreifen, um wieder auf hundertzwanzig Stundenkilometer zu beschleunigen.
«Sag mal, bist du taub? Der Mann ist tot, warum, zum Teufel, rast du so?»
«Ich will vor der Spurensicherung da sein.»
«Und dürfte ich erfahren, warum?»
Der Kollege am Steuer zuckte mit den Schultern und antwortete nicht.
«Hör mir gut zu, Parrillo, wenn du nicht sofort mindestens dreißig Stundenkilometer langsamer fährst, lasse ich dich ins kalabrische Hinterland versetzen. Außerdem haben wir keine Klimaanlage im Wagen, und wenn du so rast, können wir die Fenster nicht öffnen.»
Parrillo gehorchte, bremste ab und schaltete zurück.
«Manchmal bist du echt dämlich, Parrillo.»
Der Kollege grinste.
«Ist dir klar, warum dauernd der Tank leer ist? Weil du fährst wie eine gesengte Sau. Und warum, glaubst du, muss der Wagen ständig in die Werkstatt? Weil du diese Karren gnadenlos verschleißt. Gleich rechts … die nächste.»
Parrillo bog ab. Sie ließen die Ringautobahn hinter sich und fuhren noch etwa zehn Kilometer auf der Via Tiburtina. Als sie am Eingang zum Marmorsteinbruch ankamen, standen dort zwei Wagen des örtlichen Kommissariats vor dem Tor. Die Agenti traten zur Seite und begrüßten Rocco und Parrillo, die auf dem kleinen Platz vor dem Container mit dem Chefbüro neben zwei Lieferwagen parkten.
«Scheiße!» Parrillo hieb wütend aufs Lenkrad. «Die Spurensicherung ist schon da.»
Rocco sah ihn nur genervt an, öffnete die Tür des Wagens und stieg aus.
Ein Mann mit feuerrotem Haar kam ihnen mit ausgestreckter Hand und einem breiten Grinsen im Gesicht entgegen: «Ciao, Rocco … Danke fürs Kommen.»
«Schon gut, Massimino …»
«Wir sind stark unterbesetzt. Ich hab die Zentrale angerufen und …»
«Und da hast du dir gedacht, dass du mir ja mal ein bisschen auf den Sack gehen könntest. Das ist Agente Parrillo.»
«Sehr erfreut.»
«Massimo Casale, Viceispettore hier in Tiburtina.» Er klopfte Parrillo freundschaftlich auf die Schulter und wandte sich dann wieder an Rocco: «Komm, schau dir das mal an.»
Sie gingen um den Bürocontainer des Vorarbeiters herum, bahnten sich einen Weg durchs Gestrüpp und erreichten schließlich den Rand der Grube. Ein Polizist mit durchgeschwitztem Hemd blickte nach unten, während zwei Agenti im weißen Overall mit Kapuze den Bereich am Abgrund genau untersuchten.
«So, Rocco, von hier aus kannst du einen Blick drauf werfen.» Rocco sah nach unten auf die verrenkte Leiche, die in einer Blutlache auf einem Marmorblock lag.
«Von hier oben sieht das Ganze aus wie Sprühsahne mit Johannisbeer- oder Amarenasauce», kommentierte der Viceispettore.
Rocco setzte sich seine Ray-Ban auf und entgegnete: «Du solltest dringend mal Urlaub nehmen, Massimo.» Er rückte die Sonnenbrille auf der Nase zurecht. «Das Licht hier ist mörderisch.»
«Das liegt an dem hellen Marmor. Der reflektiert das Licht wie ein Spiegel.»
Bei der Leiche befand sich ein Mann im blauen Polohemd. «Wer ist der Gerichtsmediziner da unten?», fragte Rocco den Viceispettore.
«Spartaco Pichi. Pass auf, der ist ziemlich angepisst, weil er keinen Urlaub gekriegt hat.»
«Das ist mir so was von scheißegal. Wie kommt man da runter?»
Massimo Casale wies auf einen Weg, der in Serpentinen auf den Boden der Grube führte. «Zu Fuß in fünf Minuten.»
«Spinnst du, auf keinen Fall! Und dann den ganzen Weg wieder rauf? In der prallen Sonne?» Rocco sah sich um, und sein Blick fiel auf eine Ape, die in der Nähe stand. «Benutzen die Arbeiter das Ding da?»
«Soweit ich weiß, ja …»
Rocco ging auf das Fahrzeug zu. «Und danach will ich mit dem sprechen, der die Leiche gefunden hat.»
«Dotto’, soll ich mitkommen?»
«Warum? Willst du in der Ape die Sirene anmachen? Nein, nimm dir einen Kaffee und warte.»
Rocco stieg in das kleine Vehikel. In der Fahrerkabine sah es aus wie auf einer Müllhalde. Zeitungsseiten auf dem Boden, Flecken auf dem Sitz, und es stank nach Alkohol und Pisse. Er machte den Motor an und fuhr in einer weißen Staubwolke los, die die beiden Agenti von der Spurensicherung stinkwütend machte. «He, pass doch auf!», schrien sie, was Rocco jedoch nicht hören konnte, weil der kleine Dreirad-Transporter einen Heidenlärm machte.
Es war das erste Mal, dass Rocco eine Ape fuhr, aber auf dem Gymnasium hatte er eine Vespa gehabt, sodass er schnell begriff, wie der Lenker zu handhaben war. Langsam tuckerte er den kurvigen Weg hinunter, immer weiter auf den türkisfarbenen See zu, dessen klares Wasser so einladend aussah, dass er sich am liebsten mit einem Kopfsprung hineingestürzt hätte. Der Gerichtsmediziner stand über den Toten gebeugt und hob auch dann nicht den Kopf, als Rocco in einer Entfernung von etwa zwanzig Metern anhielt. Rocco machte den Motor aus, und plötzlich war es in dem Steinbruch irritierend still. Er sah nach oben. Parrillo, Casale und die beiden von der Spurensicherung blickten zu ihm herunter. Wie komplette Vollidioten schwenkten sie die Arme, um ihm zuzuwinken. Das Wasser des Sees links neben ihm kräuselte sich in einer leichten Brise. Und die Clarks an Roccos Füßen waren schon komplett mit weißem Marmorstaub bedeckt, genau wie der Saum seiner Hosenbeine.
«Ciao, Uccio.»
«Ciao, Rocco.» Spartaco Pichi, genannt Uccio, hob den Blick und kniff wegen der blendenden Sonne ein Auge zusammen. Er schwitzte, und sein Gesicht war bereits gerötet. «Ich geb dir lieber keine Hand», sagte er und zeigte die bereits bis zu den Handgelenken befleckten Latexhandschuhe. «Hast du den See gesehen?»
«Schön … macht Lust, drin zu schwimmen.»
«Das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre. Wahrscheinlich kommt die Farbe von den ganzen Säuren, die sie da reinkippen.»
«Dem Gestank nach hast du sicher recht. Also, was kannst du mir bereits sagen?», meinte Rocco und richtete seinen Blick auf den Toten. Ein junger Mann, der ein weißes Shirt mit grüner Aufschrift und einem kleinen Elefanten auf dem Ärmel trug; aus seinem Mund sickerte ein Rinnsal Blut, die Jeans war neu, hatte aber schon Risse, und seinen Augen war anzusehen, dass er ein paar Schläge hatte einstecken müssen. «Papiere?»
«Nichts. Vielleicht ist er kein Italiener. Siehst du, das Shirt?»
«Ja und?»
«Ein original Baseball-Trikot von den Oakland Athletics. So was kriegst du nur in den USA.»
«Oakland Athletics. Wieso weißt du das?»
«Ich interessiere mich für Baseball …»
«Ah ja. Wie ist er gestorben?»
«Zuerst haben sie ihn zusammengeschlagen. Dann …» Er drehte den Toten langsam um. «Siehst du hier, an der Schädelbasis?»
Rocco trat näher. «Ein einzelner Stoß mit einer schmalen Klinge, einem Stilett oder einem ähnlichen Werkzeug. Zack! Das war’s.»
«Hast du schon eine Idee, wieso er hier unten liegt?»
«Na ja … Sie haben ihn von oben runtergeworfen, oder? Die Spurensicherung schaut gerade nach, ob am Rand der Grube irgendwelche Blutspuren zu finden sind …»
«Würdest du sagen, sie wollten ihn in den See werfen, und er ist ihnen weggerutscht?»
Uccio blickte aufs Wasser: «Könnte sein, ja.»
«Die Uhrzeit, deiner Meinung nach?»
«Weiß ich noch nicht. Dafür brauche ich noch etwas Zeit.»
«Ich komm drauf zurück. Willst du mitfahren?»
Uccio überlegte. «In der Ape?»
«Warum nicht? Setz dich hinten auf die Pritsche.»
«Na, dann los …»
Rocco in der Fahrerkabine, Spartaco Pichi hinten auf der Ladefläche, mühten sie sich mit dem dreirädrigen Fahrzeug zurück nach oben. Die verschmutzten, mit Klebeband zusammengehaltenen Fenster zitterten und klapperten. Schließlich umkurvten sie die letzte Serpentine. Uccio schien mit geschlossenen Augen den sonnigen Tag zu genießen. Rocco machte den Motor aus und stieg aus dem Fahrzeug. Ein Stück Zeitung hing an seinem Schuh. Er bückte sich, um es zu entfernen, und stellte angeekelt fest, dass unter seiner Sohle ein gebrauchtes Präservativ klebte.
«Verdammte Sch…!» Er streifte den Schuh an der Türkante ab.
«Was ist?», fragte der Gerichtsmediziner.
«Und ich hab mich für einen Helden gehalten, weil ich mit achtzehn in einem Fiat 500 gevögelt hab.»
Uccio brach in Gelächter aus. «Mann, bist du alt! Ich hab im Fiat Panda angefangen. Man musste nur die Sitze runterklappen, und schon wurde das Auto zum Bett.»
«Hör auf zu lachen.» Sie ließen das Fahrzeug hinter sich. «Meinst du, wir sollten das Kondom der Spurensicherung übergeben?»
Erneutes Gelächter.
Inzwischen war auch die Presse eingetroffen. Die üblichen Journalisten, die die Verbrechensmeldungen schrieben und deren Gesichter Rocco allesamt bekannt waren. «Was wollen die denn schon hier …?»
«Tja», meinte der Viceispettore. «Was machen wir mit ihnen?»
«Lass sie ein paar Fotos schießen, und dann sollen sie sich verpissen. Ich will mit denen reden, die den Toten gefunden haben.»
«Die sind in dem Bürocontainer. Ich hab ihnen schon ein paar Fragen gestellt. Jedenfalls hat der Tote nicht hier gearbeitet.»
Rocco nahm die Sonnenbrille ab und folgte Parrillo in den Container.
Drinnen war mehr Platz, als man von außen vermutet hätte, mindestens fünfzig Quadratmeter, mit Klimaanlage, drei Schreibtischen und zwei Regalen mit Aktenordnern. Sechs Männer saßen wartend auf den Kunstledersesseln oder lehnten an den Wänden. Einer von ihnen, der eine dicke Wampe hatte und ein kariertes Hemd trug, trat vor. Zwischen seinen Lippen steckte eine nicht angezündete Zigarette. «Mario Mastini … Ich bin hier der Chef.»
Rocco schüttelte dem Mann die Hand. «Dürfte ich fragen, wer den Toten gefunden hat?»
Daraufhin machte einer der Arbeiter einen Schritt nach vorn. Er biss sich nervös auf die Lippe. «Ich … Omar Shawqi …»
«Angenehm, Rocco Schiavone. Erzählen Sie.»
Der Mann warf einen Blick auf seinen Chef, der nickte, als gäbe er ihm seine Erlaubnis. «Ich hab ihn beim Pinkeln gesehen. Das mach ich immer da unten, wo keine Steine sind, die geschnitten werden müssen. Zwischen den Sträuchern.»
«Okay. Und was ist daran nicht in Ordnung?»
«Der Chef sieht das nicht gern. Er sagt, wir sollen die Chemietoiletten benutzen. Aber die stinken so. Deshalb mache ich das lieber hier draußen.»
«Kann ich verstehen.»
«Dabei habe ich mich umgesehen und den Toten entdeckt. Mit all dem Blut. Ich bin sofort losgerannt, um die anderen zu holen.»
Die anderen mit ihren weiß bestäubten sonnenverbrannten Gesichtern hatten ihre Blicke auf Rocco gerichtet. «Hat irgendjemand von Ihnen den Jungen vorher schon mal gesehen?»
«Hören Sie, um das gleich klarzustellen: Ich bin der Einzige, der da runtergegangen ist. Die anderen haben es nicht über sich gebracht», ergriff der Chef wieder das Wort. «Und ich hab ihn noch nie vorher gesehen.»
«Haben Sie irgendwas angefasst?»
«Aber nein. Ich hab nur geschaut, auch weil mir gleich klar war, dass da nichts mehr zu machen ist.»
«Der See da unten. Wozu dient der?»
«Wir benutzen das Wasser beim Schneiden, um den Marmor und die Sägen zu kühlen.»
«Ist er tief?»
Die Männer sahen sich an. «Ach was», meinte ein kleiner Mann. «In der Mitte vielleicht drei, vier Meter.»
«Und ist da noch nie was reingeworfen worden?»
«Einmal haben wir einen Einkaufswagen drin gefunden», antwortete Mastini.
«Ist es denn so leicht, in den Steinbruch reinzukommen?»
«Na ja … ich würde sagen, ja. Also, da ist ein Zaun, der aber irgendwann zu Ende ist …», meinte Ernesto Auriemma. «Das heißt, dass nicht das ganze Gelände umzäunt ist.»
«Kein Wächter?»
«Doch, aber der Alte schläft nachts immer. Er heißt Luigi Cuticchio.»
«Genannt Gigi das Scheißhaus», fügte einer der Arbeiter hinzu, und die anderen brachen in Gelächter aus.
«Gigi das Scheißhaus?», fragte Rocco.
«Ja. Versuchen Sie mal, ein paar Worte mit ihm zu wechseln, dann wissen Sie, warum.»
«Gigi ist auf einem Auge blind. Er ist hier bei uns, weil er sonst keine Bleibe hat. Möchten Sie mit ihm reden? Um diese Zeit schläft er.»
«Anstatt in der Nacht?», meinte Ernesto, und wieder lachten alle.
Rocco fand die allgemeine Heiterkeit ziemlich deplatziert. «Was ist denn daran so witzig, verdammt noch mal?»
Auf einen Schlag hörten alle auf zu lachen, und der Bürocontainer war von ernstem Schweigen erfüllt. Plötzlich hallte ein markerschütterndes Geschrei im Steinbruch wider.
«Was ist das denn?»
Rocco eilte nach draußen, dicht gefolgt von Mastini und den Arbeitern.
Sie erreichten den Rand der Grube. Auf dem Weg nach unten rannte ein Mann auf die Leiche zu, dicht gefolgt von Viceispettore Massimo Casale, der ihm etwas zubrüllte, was aus der Entfernung nicht zu verstehen war. Der Mann eilte mit großen Schritten voran und drohte jeden Moment das Gleichgewicht zu verlieren. Er schwang die Arme und wirbelte mit jedem Schritt eine weiße Staubwolke auf.
«Wer ist das?», fragte Rocco.
«Keine Ahnung», meinte Spartaco Pichi.
«Ein Journalist», antwortete einer der Agenti. «Er ist mit einem Fotografen gekommen, der von hier aus ein Bild machen wollte, und kaum hatte er die Leiche gesehen, hat er angefangen zu schreien und ist runter zum See gelaufen.»
Der Fotograf beobachtete die Szene schweigend und wirkte wie betäubt. Mit der Kamera um den Hals, den Blick starr auf den Kollegen gerichtet, der völlig hysterisch schien. Schließlich hatte der Mann, von einer weißen Staubwolke umgeben, die Leiche erreicht. Er sah dem Toten ins Gesicht. Dann richtete er den Blick zum Himmel. Er hatte aufgehört zu schreien, sank stumm auf die Knie und nahm den Kopf des Toten in den Schoß, als der Viceispettore ihn erreichte und ihn dazu zu bewegen versuchte, wieder aufzustehen.
Rocco ging zu dem Fotografen hinüber. «Kennen Sie den Mann?»
Der Fotograf schien aus einem Albtraum zu erwachen. «Was?»
«Ich habe Sie gefragt, ob Sie den Mann kennen.»
Der Journalist nickte. «Das ist mein Kollege. Aus dem Verbrechensressort. Er hat den Toten erkannt.»
«Wodurch?»
Der Fotograf zeigte mit dem Finger nach unten. Der Kollege umklammerte inzwischen die Brust des Toten, Viceispettore Casale gelang es nicht, ihn zum Aufstehen zu bewegen, und der aufwirbelnde Staub hatte den Mann und den Toten in eine Marmorskulptur verwandelt, eine Art Pietà.
«Das Trikot. Er hat es dem Jungen im Winter aus Kalifornien mitgebracht.»
«Wem hat er es mitgebracht?»
«Seinem Sohn.»
Sie brachten den Journalisten in den Bürocontainer. Dort gab es zumindest eine Klimaanlage. Alle anderen blieben draußen. Einige betrachteten den Wagen der Gerichtsmedizin, andere hatten sich zum Rauchen in den Schatten der Pinien zurückgezogen, die am Rand des Steinbruchs wuchsen. Rocco war dem Wagen der Staatsanwaltschaft entgegengegangen. Er atmete erleichtert auf, als er Sasà D’Inzeo sah. Mit ihm arbeitete Rocco am liebsten zusammen. Daher eilte er gleich auf ihn zu, als wollte er ihn umarmen.
«He, Rocco! Und?»
«Junger Mann, zwanzig Jahre, wurde tot unten im Steinbruch gefunden. Du hast gerade eine furchtbare Szene verpasst.»
«Welche?»
«Der Vater hat den Toten als seinen Sohn erkannt. Ein Journalist, der mit einem Kollegen hergekommen ist, um ein paar Fotos zu machen. Schreckliche Sache.»
Die beiden Ermittler gingen gemeinsam weiter. «An so was gewöhnt man sich nie, Sasà, oder?»
«Mit der Erfahrung meiner sechsundfünfzig Jahre kann ich dir ehrlich sagen, dass man sich wirklich nie daran gewöhnt. Und bei dir zu Hause? Alles in Ordnung?»
«Marina fragt, warum du nicht mehr zu uns zum Essen kommst», log Rocco. Es erschien ihm nicht angebracht, unter diesen Umständen von seinen Eheproblemen zu reden.
«Weil ich abends um neun schon todmüde bin. Und ich will nicht auf deinem Sofa einschlafen.»
«Das ist aber sehr bequem.»
«Und außerdem weißt du ja, dass ich verrückt nach deiner Frau bin, und es tut mir weh zu sehen, dass sie sich an einen wie dich verschwendet.»
«Du bist ein wahrer Freund, Sasà …»
«Nicht wahr? Verdammt heiß hier … Ich war noch nie in einem Steinbruch. Das Licht macht einen ja blind!»
«Was glaubst du wohl, warum ich die Sonnenbrille trage? Um dich mit meiner Coolness zu beeindrucken?»
«Du würdest mich nicht mal im Smoking auf dem roten Teppich beeindrucken, Rocco. Na los, komm …» Der Staatsanwalt öffnete die Tür des Containers.
Der Journalist saß vornübergebeugt, den Blick starr auf den Linoleumboden gerichtet, die Hände auf den Knien gefaltet. Nur seine Handgelenke zuckten nervös. Sein Haar und die Schultern waren mit Marmorstaub bedeckt. Rocco erkannte ihn sofort. Beruflich war er ihm schon Dutzende Male begegnet. Er wusste, für welche Agentur er arbeitete, an seinen Namen erinnerte er sich allerdings nicht.
«Dottore?», fragte D’Inzeo.
Der Journalist schüttelte den Kopf. «Nichts ‹Dottore›, ich hab nicht studiert.» Dann hob er den Blick. Seine Tränen hatten in dem weißen Staub auf seinem Gesicht Spuren hinterlassen.
«Sasà D’Inzeo, Staatsanwaltschaft.»
«Vicequestore Schiavone, Staatspolizei. Wir kennen uns.»
«Stimmt. Entschuldigen Sie, ich hatte nicht …» Der Journalist schüttelte dem Staatsanwalt die Hand. «Angenehm. Alberto Ferri. Redaktion Verbrechensmeldungen bei der Presseagentur Agsi.» Er stand abrupt auf. «Ich muss meine Frau anrufen, bevor sie es von jemand anderem erfährt. Denn ich weiß, wie das sonst abläuft.» Der Mann steckte die Hand in die Tasche und nahm ein Zigarettenpäckchen heraus. «Wenn einer von Ihnen es ihr sagt, wird es für sie umso schlimmer sein. Sie sind nicht taktvoll und freundlich genug, also … Hat einer von Ihnen Feuer?»
Rocco näherte sich ihm mit dem Feuerzeug.
«Danke. Nein, wirklich nicht. Darin seid ihr nicht besonders gut und … Wie spät ist es?»
«Zwei.»
«Zwei. Ich habe seit heute Morgen nicht mehr mit ihr gesprochen. Nein, stimmt nicht. Sie hat heute Mittag angerufen, als ich mich gerade auf den Weg hierher machen wollte. Unglaublich, nicht? Manche Dinge hat man im nächsten Moment wieder vergessen.»
«Ferri, setzen Sie sich», bat Rocco.
Der Journalist sah ihn an, zog gierig an seiner Zigarette und zwinkerte ein paarmal mit den Augen. «Bitte?»
«Könnten Sie sich wieder setzen und uns ein paar Fragen beantworten?»
«Sicher. Ja. Sicher. Legen Sie los.» Er ließ sich auf den Sessel neben dem Eingang fallen.
«Wie … Wie ist der Name Ihres Sohnes?»
«Er heißt Giovanni. Ja, Giovanni. Wie der Vater meiner Frau. Sonst hätte ich ihn niemals so genannt. Der Name hat mir noch nie gefallen. Rodolfo. Ja, ich hätte ihn Rodolfo genannt.» Die Worte sprudelten nur so aus dem Mann hervor, unablässig, ohne dass er Luft holte. Hin und wieder fuhr er sich mit der Zunge über die Lippen.
«Wie alt war er, Signor Ferri?»
«Zwanzig. Im Mai. Am ersten. Am Tag der Arbeit.»
«Und Ihrer Frau ist aufgefallen …»
«Ja.» Der Mann warf die Zigarettenkippe auf den Boden und trat sie mit dem Absatz aus. «Dass er gestern Abend nicht nach Hause gekommen ist. Deshalb habe ich alle Kommissariate und Krankenhäuser angerufen, also, um nach meinem Sohn zu fragen.» Mit einem traurigen Lächeln im Gesicht und feucht glänzenden Augen sah er den Staatsanwalt an. «Und stattdessen war er hier!» Alberto Ferri zuckte nervös mit den Schultern.
«Hatte er … fragwürdige Bekannte?», fragte Rocco.
«Wer? Giovanni? Abgesehen von seiner Mutter?» Alberto Ferri lächelte. «Kleiner Scherz. Er lebte bei ihr. Clara und ich sind seit sieben Jahren geschieden. Giovanni war damals dreizehn. Wir haben gewartet, bis er mit der achten Klasse fertig war. Dann haben wir uns getrennt. Wir haben gedacht, dass es so besser ist. Oder? Wenn er in der Mittelstufe ist, um das Trauma in Grenzen zu halten. In der Oberstufe haben meine Frau und ich ihn abwechselnd zur Schule gebracht, an einem Tag ich, an einem Tag sie. Im ersten Jahr. Dann wollte Giovanni ein Mofa haben, und das war’s. Wir haben ihn kaum noch gesehen …»
«Waren Sie oft mit Ihrem Sohn zusammen?»
«Oft? Ja, ziemlich. Jede zweite Woche war er bei mir. Auch jedes zweite Weihnachtsfest und im August auch. Wir haben uns mit der Betreuung abgewechselt. Er hat im ersten Jahr Jura studiert. Hat sich gerade mit … warten Sie … Institutionen und Geschichte des Römischen Rechts beschäftigt. Er war ziemlich gut. Sicher, den Stoff mit ihm zu wiederholen war, ehrlich gesagt, immer ein bisschen langweilig. Zumal Jura nicht gerade meine Spezialität ist. Aber Giovanni war gut, richtig gut. Wenn er so weitergemacht hätte, hätte er in weniger als vier Jahren seinen Abschluss machen können. Hin und wieder ist er mit mir zur Arbeit gegangen. Hat sich mit den Ermittlungen beschäftigt, wissen Sie? Ich glaube, er wollte auch Journalist werden. Witzig, oder? Wie ich. Ich hab ihm nicht nur die Haarfarbe, die Augen und die helle Haut vererbt, sondern auch diese Begeisterung. Begeisterung, denn darum geht es bei der Arbeit im Grunde ja, oder?»