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Josina ist grad mal Anfang zwanzig und schon frustriert von ihrem Job. Dann bekommt sie auch noch Albträume, in denen sie Nacht für Nacht in einem Fluss aus Blut ertrinkt. Träume, die sie in die germanische Asenwelt führen, in der ausgerechnet sie die auserwählte Schwarze Träumerin sein soll? Die an der Seite des Feuerriesen Surt eine uralte Prophezeiung erfüllen muss?! Um irgendeine mythische Welt zu retten, von der sie bislang nicht mal wusste?!? Ein Burnout, der weltschlimmste Liebeskummer und die Hoffnung, in ihren Träumen Heilung zu finden, geben Josina den Mut. Sie lässt sich ein auf ein Abenteuer, das ihre bekannte Welt zum Einstürzen bringen wird ... Hier in "Die Schwarze Träumerin" beginnt Josinas Reise in die WELT der Asen. In "Nicht schon wieder Ragnarök" findet die Geschichte ihr Ende.
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Seitenzahl: 280
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ÜBER PATRICIA ECKERMANN
Patricia Eckermann wurde in Bielefeld geboren.
Nach einer Handwerkerlehre wurde sie Beamtin, sie kämpfte für die Gewerkschaft und studierte Theater-, Film-, und Fernsehwissenschaft, Anglistik und Pädagogik.
Heute arbeitet sie als Fernseh-autorin im Team der antagonisten und engagiert sich für mehr Diversität in den Medien.
In den Sozialen Medien findet man sie unter @feireficia. Mehr Infos gibt’s auf www.antagonisten.de
PATRICIA ECKERMANN
DIE SCHWARZE TRÄUMERIN
Roman
Triggerwarnung
In dieser Geschichte werden die Figuren u.a.
mit folgenden Themen konfrontiert:
• Angststörungen und Panikattacken
• Burnout
• Tod & Todeskampf
• Blut
Solltest du davon getriggert werden, empfehle ich dir, ein anderes Buch zu lesen.
Es gibt inzwischen viele tolle Werke von progressiven, deutschsprachigen Autor*innen, du wirst sicher fündig!
Gerade Selfpublisher und die kleineren Verlage freuen sich sehr über deine Unterstützung.
Für Anregungen & Feedback schreib mir gern eine Mail an: [email protected]
© 2023 Patricia Eckermann
Autorin: Patricia Eckermann Cover, Umschlaggestaltung, Illustration: meladesign Lektorat und Korrektorat: Judith Vogt Layout: Judith Vogt
Sensitivity Reading: Alexandra Boisen Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg ISBN: 978-3-347-83945-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und der Autorin unzulässig. Dies gilt insbesondere für elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar
Einst war das Alter, da Ymir lebte:
Da war nicht Sand nicht See, nicht salzge Wellen,
Nicht Erde fand sich noch Überhimmel, Gähnender Abgrund und Gras nirgend.
Edda, Völuspa
Das’ für dich, mailof
»I have come to learn that every great dream begins with a dreamer.
Always remember, you have within you the strength, the patience,
and the passion to reach for the stars to change the world.«
Harriet Tubman
Cover
ÜBER PATRICIA ECKERMANN
Titelblatt
Urheberrechte
PROLOG
DIE AMAZONENPRIESTERIN
BURN-OUT
DER LETZTE VERS DER PROPHEZEIUNG
EIN GUTES GESPRÄCH
KOTZÜBEL
DAS AUGE DES YMIR
OVERDRESSED AM KÜCHENTISCH
NEUGIERIGE AUGENPAARE
KNEBELVERTRAG
DIE GEFÄHRTEN
AUF DEM MEER
NICHT DER BESTE ANFANG
INITIATION
DER ZAUBERSPRUCH
DAS INNERE FEUER
RASTLOS
DIE FEUERSÄULE
AUF DEN ERSTEN BLICK
HOFFNUNGEN
DAS KALTE HERZ
DIE SCHMERZENDE LEERE
IN SEINER HAND
UNVERHOFFT & WUNDERSCHÖN
GESPRÄCH UNTER VETTERN
DER MORGEN DANACH
AM ZELTPLATZ
SCHNODDERFÄDEN
DAS HAUS DER NORNEN
NIEDERGESCHMETTERT
VERDANDA
WTF?
EIN GUTES OMEN
ROSEN, ZITRONE UND MUSKATNUSS
INFLAGRANTI
VERWACKELTER SCHNAPPSCHUSS
IM LAGER VORM WACHOLDERHEXENWALD
SCHULD
BEIM BIO-ITALIENER
DIE WACHOLDERHEXE
VERIRRT
EIN GUTER RAT
AM BACHLAUF
KEIN TRAUM SEIT TAGEN
EIN ABGRUNDTIEFER SPALT
NACHTS AM OFFENEN FENSTER
MOMENT DER ERKENNTNIS
DER SCHUSS
TRANSFORMATION
STILLE BEOBACHTER
BERUFEN
ANGST
DAS ENDE
ZWEIFEL
FREIER FALL
ZÜNGLEIN AN DER WAAGE
DANKESCHÖNS
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Titelblatt
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PROLOG
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PROLOG
Als ich Remy zum ersten Mal sah, ahnte ich nicht, dass die Welt, wie ich sie kannte, dem Untergang geweiht war. Noch dass er und ich unseren Teil dazu beitragen würden.
Damals hätte mir die Aussicht darauf, dass sich mein ganzes Leben verändern würde, eine Riesenangst gemacht. Heute kann ich mich nur darüber wundern, wie verkopft ich war. Trotzdem muss es schon tief in mir angelegt gewesen sein, das Wissen darum, dass es Dinge gibt, die die Wissenschaft nicht erklären kann. Dass andere Wesen existieren, in uns unbekannten Welten, deren Schicksal mit unserer Realität verbunden ist.
Aber zurück zu Remy. Er strich die Tür des Antiquariats mit schwarzer Farbe, als ich aus Gertas Kräuterhimmel kam, dem herrlich duftenden Teeladen daneben. In der Hand hielt ich eine Packung Hopfenkräuter, die mir gegen meine Schlafprobleme helfen sollten.
Mit ihren über siebzig Jahren war Gerta der Hot Spot für all diejenigen, die einen Rat suchten, der keine weißkittelmedizinische Ausbildung erforderte: Menschen in Designer-Klamotten, die sich selbst optimieren wollten, gestresste Paare mit Babywunsch, Kreative mit Schaffensblockaden – und jetzt auch ich, eine Anfang-zwanzig-jährige Jung-Redakteurin beim Stadtfernsehen, die es einfach nicht schaffte, sich im Job von ihrem toxischen Chef abzugrenzen.
Als ehemalige Hebamme, Heilpflanzenexpertin und praktizierende Schamanin verfügte Gerta über ein immenses Heilwissen und hatte schon vielen Menschen geholfen. Auch wenn mich allein der Gedanke an Schamanismus und Pflanzenheilkunde irritierte, wollte ich versuchsweise daran glauben, dass ihr Hopfentee wirkte und mich schon bald wieder durchschlafen lassen würde. Denn nur so konnte ich die Energie zusammenkratzen, die ich brauchte, um meinem ätzenden Vorgesetzten die Stirn zu bieten.
Ich steckte den Tee in den Rucksack zum Gelben Schein, den ich vom Doc bekommen hatte. Zusammen mit der ärztlichen Anweisung, endlich mal loszulassen.
»Und damit meine ich nicht nur körperlich«, hatte er mit sonorer Stimme gesagt, »auch Ihr Verstand braucht eine Auszeit. Versuchen Sie in der nächsten Zeit doch immer mal, ob Sie Zugang zu Ihrer Intuition erlangen können. Versuchen Sie, die Dinge geschehen zu lassen, auch wenn sie anders laufen als gewohnt. Beobachten Sie. Nehmen Sie wahr, statt einzugreifen. Die Welt geht nicht gleich unter, nur weil Sie mal nicht alles kontrollieren. Vertrauen Sie.«
Ehrlich? Ich habe genickt und so was wie »Ich versuch’s mal«, gesagt. Aber natürlich keine Sekunde daran gedacht, probeweise zum Bauchmenschen zu mutieren. Mich kopfüber in Gefahr zu stürzen war einfach nicht mein Ding. Je mehr du riskierst, desto schlimmer fühlst du dich, wenn es schief geht, dachte ich damals. Und es ging oft schief, da war meine Freundin Kamille das beste Beispiel. Die Bandbreite an emotionalen Höhen und Tiefen in ihrem Leben hätte mich komplett überfordert.
Hinter mir fiel die Tür zu Gertas Kräuterhimmel ins Schloss, begleitet von klirrendem Tür-Glöckchen-Gebimmel. Seit einiger Zeit stresste mich zu meiner Schlaflosigkeit auch mein linkes Ohr, beziehungsweise das, was ich damit hörte. Besonders die hohen Frequenzen waren eine echte Folter.
Ich schob die Krankschreibung in die Tiefen meines Rucksacks und zog den Reißverschluss zu. Die Worte meines Docs hallten in meinem Hirn wider. Vielleicht sollte ich mich tatsächlich mal was trauen. Etwas tun, was ich sonst nicht machen würde. Vielleicht würde mir das ja helfen, wieder Spaß im Job zu haben? Eigentlich hatte ich nämlich meinen Traumberuf. Ich arbeitete beim Fernsehen; es war zwar nur ein kleiner Stadtsender mit geringer Reichweite, aber er bot mir täglich neue Themen und Herausforderungen, in die ich mich einarbeiten musste. Ich lernte also nie aus! Dazu war ich Teil einer diversen Redaktion und würde schon bald ein eigenes Team anführen. Das Highlight an meinem Job aber war, dass ich mit meiner besten Freundin zusammenarbeitete. Kamille stand allerdings zusätzlich zu ihrem Job als Redakteurin auch immer öfter vor der Kamera. Sie hatte nach dem Abi Journalismus studiert und sich dabei als ein echtes Interviewtalent entpuppt. In ihrem Vertrag mit dem Sender stand ausdrücklich, dass sie als Redakteurin und als Moderatorin eingesetzt werden sollte. Ich dagegen hatte nach meinem Realschulabschluss eine senderinterne Ausbildung zur Mediengestalterin gemacht und war danach übernommen worden. Vor die Kamera wollte ich nicht, und abgesehen davon hätte ich dafür auch keine Zeit gehabt. Denn nebenbei war ich Holgers rechte Hand – und genau da fing mein Jobstress an: Holger war unser direkter Vorgesetzter, ein mittelalter, weißer Mann, der nicht mal im Ansatz kapierte, dass nicht seine Kompetenz, sondern seine Privilegien für seinen Status im Sender verantwortlich waren. Dass ausgerechnet er der Kopf unseres diversen Teams war, machte mir schwer zu schaffen. Meine Gedanken kreisten in letzter Zeit nur noch darum, wie ich mich gegen seine Intrigen zur Wehr setzen konnte. Denn er schob mir die Fehler zu, die er gemacht hatte, und sackte im Gegenzug die Lorbeeren für meine Arbeit ein. Dazu drückte er mir all den Papierkram auf, für den er keinen Nerv hatte. Mehrmals täglich stand ich deshalb vor dem Waschbecken im Frauenklo, den Kopf in eiskaltes Wasser getaucht, und brüllte die angestauten Emotionen aus mir heraus. Wenn ich dann den Stöpsel zog und die Holger-Wut strudelnd abfließen sah, ging es mir kurzfristig besser. Doch das gute Gefühl hielt nie lange an, dafür sorgte Holger schon.
Auf meinem Konto zahlte sich meine Leidensbereitschaft allerdings nicht aus: Ich verdiente gerade mal so viel, dass ich mir entweder eine eigene Wohnung oder ein Leben leisten konnte. Ich biss also die Zähne zusammen und klammerte mich an das Licht am Horizont: die Beförderung, die mir die Senderchefin in Aussicht gestellt hatte.
Die schrillen Türglöckchen des Kräuterhimmels schraubten sich tiefer in mein Ohr. Ich schob meine Brille den Nasenrücken hoch und warf einen genaueren Blick auf den Typen im zerknitterten Maler-Overall an der Tür des benachbarten Ladens. Er war weiß, mittelgroß, von Kopf bis Fuß mit schwarzer Farbe besprenkelt und schien etwa so alt wie ich, vielleicht aber auch schon Mitte zwanzig. Er hatte eine feine, leicht gebogene Nase, markante Wangenknochen, volle Lippen und ein schön geschwungenes, kantiges Kinn, das stark war, ohne derb zu sein. Auf einen Schlag verpuppten sich hunderte Schmetterlingsraupen in meinen Eingeweiden.
»Na? Ausgeträumt?« Er sah mich an und legte den Kopf schief. Seine Augen gaben mir den Rest. Sie waren länglich geformt, von unglaublich dichten Wimpern umrahmt und blitzten im krassesten Blau der Evolutionsgeschichte. Als ob er den Ozean und das All in sich trug. Dazu diese winterweiße
Haut und rabenschwarze, glänzende Haare, die er zu einem Knoten auf dem Kopf gebunden hatte: ein echtes Tausendschönchen.
»Hey«, grüßte ich und ärgerte mich über meine Einfallslosigkeit. Das Schrillen der Türglocke war sehr viel leiser geworden. Aber seltsamerweise nervte sie jetzt fast mehr als am Anfang. Das Tausendschönchen im Maler-Overall lächelte. Was tun? »Beobachten, wahrnehmen«, hatte der Doc gesagt. Also blieb ich stehen und wartete ab.
»Ich heiß Remy.« Er ging in die Hocke und kramte einen metallenen Gegenstand aus der Werkzeugkiste, die zwischen uns auf dem Boden stand. Auf seinem rechten Unterarm, unter dem hochgekrempelten Ärmel seines Overalls, blitzte ein dreieckiges Tattoo auf. Es war sehr fein gestochen und bestand aus klaren Linien und dunklen Flächen. Von der Machart her erinnerte es mich entfernt an eine Maori-Tätowierung, doch das Motiv, ein Eber mit großen Hauern, schien eher germanischen Ursprungs zu sein. »Ich hab das Antiquariat hier übernommen«, sagte er mit strahlenden Augen und deutete hinter sich. »Leider ist die Kaution verboten hoch, für einen Handwerker reicht‘s nicht mehr. Die Renovierung muss ich allein stemmen.«
»Ich bin Josina. Willkommen in der Nachbarschaft«, sagte ich und ignorierte die zappelnden Schmetterlingskokons in meinen Eingeweiden.
»In ein paar Tagen ist Eröffnung. Bei schönem Wetter am Freitag, ansonsten auf jeden Fall Samstag. Hast du Lust, vorbeizukommen?«
»Klar«, hörte ich mich sagen. »Also Freitag, mein ich. Samstag eher nicht, da hab ich schon was anderes geplant«, schob ich bremsend hinterher, er musste ja nicht wissen, dass ich ihn so schnell wie möglich wiedersehen wollte.
»Dann bete ich mal zum Wettergott«, lächelte er, und seine Augen waren wie zwei Sterne, die mich in ihre Umlaufbahn rissen. Ich verabschiedete mich einigermaßen souverän und schwebte schwer verknallt in die WG.
Die Euphorie hielt für den Rest des Tages an. Garantiert waren die Glückshormone in meinem Blut auch der Grund dafür, dass ich am Abend in die Schenke ging, in der Kamille mit ein paar Freunden saß. Es wurde ein schöner Abend, auch wenn sich meine Hoffnung, dort zufällig Remy zu begegnen, nicht erfüllte.
Als die anderen weiterzogen, machte ich mich auf den Heimweg in die WG, in der ich mit Kamille zusammenwohnte. Doch kaum stand ich vor der Tür, lief ich in Remy hinein. Von einem auf den anderen Moment war ich wieder hellwach und lud ihn auf einen Willkommensdrink ein. Stunden später saßen wir immer noch an der Bar und redeten.
Ehre, schwöre: Da war was zwischen uns. Beidseitig.
Jetzt, im Rückblick, weiß ich, wie naiv ich war. Ich dachte, das ist mein Mr. Right, und meine kleine Lebenskrise hätte ein Ende. Dabei hatte ich nicht mal im Ansatz den Tiefpunkt erreicht. Ich befand mich nur in einem rosaroten Zwischenhoch, kurz vor der langen Talfahrt in den Burnout – und ans Ende meiner vertrauten Welt. Doch das war die Zukunft, von der ich damals nichts ahnte. In der Gegenwart war ich einfach nur verliebt.
Irgendwann passierte es dann. Seine Augen, schwarz und blau, unendlich und lebendig, waren unwiderstehlich. Als wir uns zum ersten Mal küssten, explodierten die Kokons in meinem Bauch in Fetzen. Übrig blieb eine schockverliebte Kolonie Schmetterlinge.
DIE AMAZONENPRIESTERIN
Zum letzten Mal begegnete Surt den Amazonenpriesterinnen, wehrhaften Kriegerinnen, die dem Orden des Heiligen Bogen angehörten. Der Orden war noch in der ALTEN WELT gegründet worden, lange bevor der Mond RAGNARÖK zum ersten Mal am Himmel erschien. Natürlich hatte Loki, der einzige Riese im Kreis des herrschenden Göttergeschlechts der Asen, bei der Gründung des Ordens seine Finger im Spiel. Wie eigentlich immer, wenn in der WELT etwas von Bedeutung geschah.
Die Amazonen waren nicht nur berüchtigte Axtkämpferinnen, sondern auch unübertroffene Bogenschützinnen. Niemand sonst in der WELT konnte es in dieser Kunst mit ihnen aufnehmen. Den Priesterinnen sagte man sogar nach, dass sie mit ihren Bögen bloße Luft in tödliche Pfeile verwandeln konnten.
Im Lauf der vielen RAGNARÖKS hatten die Amazonen mal an der Seite der Asen und mal an der Seite der Riesen gekämpft. Sie waren mutig, ehrlich und kannten keine Todesfurcht. Unglaublich, dass sie verwandt waren mit den feingliedrigen Alben, den sanftmütigen Naturgeistern der Wälder.
Die kriegerischen Amazonen lebten überall auf der WELT verstreut, ihre Priesterinnen jedoch nur auf der Tempelinsel. Hier beschützten sie ihr höchstes Heiligtum: den STEIN DER PROPHEZEIUNGEN.
Surt sah über das Meer. Es war Nacht, nur das kalte, metallisch anmutende Licht, das vom Mond RAGNARÖK ausging, erhellte die dicht bewaldete Insel. RAGNARÖK war so nah, dass es aussah, als würde er jeden Moment mit der WELT zusammenstoßen. Seine Landschaft war wüst und öde, da war nichts außer Staub und Steinen, Bergen und Kratern.
Viele Riesen hatten gelebt und waren gestorben, ohne jemals den Mond zu sehen, denn RAGNARÖK stand nur sehr selten am Himmel. Er kündigte die Veränderung an, in seinem Schlepptau folgten stets Krieg und Leid. Doch RAGNARÖK bedeutete auch Hoffnung; er stand für die Möglichkeit, die WELT zum Besseren zu verändern. Denn mit der Energie des übergroßen Mondes erwachte auch der GAP GINNUNGA, der klaffende Abgrund, durch den einst der Ur-Riese YMIR die WELT beseelt hatte. Als Odin YMIR tötete, stieß er dessen Seele in den GAP GINNUNGA und formte die WELT aus den Überresten seines Körpers. Seitdem herrschte das Asengeschlecht. Doch zu RAGNARÖK, wenn der GAP GINNUNGA erwachte, konnte es gelingen, YMIRS Seele zurückzuholen und die Herrschaft der Asen zu beenden.
Die Ältesten erzählten sich, dass die Seele des Ur-Riesen darauf wartete zurückzukehren, auf der anderen Seite des GAP, in einer ANDEREN WELT. Es brauchte nur den EINEN, der sich mit der Seele verband. Aus diesem Bündnis würde eine NEUE WELT entstehen, gerechter, harmonischer, friedlicher und voller Liebe. Doch bisher hatten Odin und die anderen Asen alle Versuche vereitelt, YMIR in die WELT zu holen. Jedes Mal, wenn RAGNARÖK am Himmel gestanden hatte, hatten sie die Aufstände der Riesen niedergeschlagen und die Herrschaftsfrage unter sich ausgemacht. Diesmal würde es anders enden. Davon war Surt überzeugt.
Er spürte den Sand unter den nackten Füßen und atmete die salzige Luft ein. Vor ihm lag das EWIGE MEER, in das sich alle Flüsse der WELT ergossen. Hinter ihm, nur einen Steinwurf entfernt, stand der Tempel der Priesterinnen, ein schlichtes Gebäude aus heiligem Holz. Er würde diese Insel vermissen. Hier hatten die Priesterinnen ihn in der Kampfkunst ausgebildet und ihm beigebracht, seinen Geist zu leeren. Viele Monde seiner Kindheit und Jugend hatte er auf der Tempelinsel verbracht. Niemals allein, immer war die Amazone an seiner Seite gewesen. Anfangs hatte er in ihr eine Schwester gesehen, doch dann wurde sie zur Frau, und alles änderte sich. Die Amazone war die geborene Kämpferin. Obwohl sie kleiner war als er, hatte er sie im Übungskampf nur selten bezwungen. Er bewunderte ihren Mut und ihr Geschick als Bogenschützin. Mit ihr an seiner Seite wäre er in jeden Krieg gezogen. Seine Hochachtung für ihr Kämpferherz wurde nur von seiner Liebe für sie übertroffen. Doch diese Liebe konnten sie nicht ausleben. Heute diente sie ihrem Orden als Oberpriesterin, doch schon bald würde sie zur Hohepriesterin erhoben. Wenn der letzte Vers der Prophezeiung enthüllt war, mussten sich ihre Wege trennen.
So lange Surt denken konnte, hatte er immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Doch jetzt, da es so weit war, brach es ihm das Herz. Er wollte nicht an den bevorstehenden Abschied denken und versuchte, seinen Geist zu leeren. Doch trotz all seines Trainings gelang es ihm nicht. Er liebte diese Frau mehr als alles auf der WELT.
Sein Blick fiel auf einige Delphine, die ruhig im Meer dümpelten. Zu seiner Rechten, nur wenige Schritte entfernt, setzte das himmelhohe Massiv der Steilküste dem Strand ein abruptes Ende. Davor, halb im Wasser, lag ein rotbrauner Bernstein von der Größe eines zusammengerollten Bären: der STEIN DER PROPHEZEIUNGEN. Die meisten Verse hatte der Stein schon offenbart, es fehlte nur noch der letzte.
Surt bückte sich nach einem silbern glitzernden Steinchen und steckte es in die Hosentasche. Vielleicht würde das Andenken Glück bringen für das, was vor ihm lag. Wie zur Antwort strich ein kühler Windhauch über seine Brust. Die lederne Hose, die ihm bis knapp über die Knie reichte, war sein einziges Kleidungsstück. Sogar Messer und Beil hatte er im Reservat zurückgelassen, denn die Priesterinnen erlaubten keine fremden Kriegswaffen auf der Tempelinsel. Surts blonde Locken, die meist wild den Kopf umrahmten, waren über seiner Schädelmitte zu einem strengen Zopf geflochten. Brust, Rücken und Arme waren tätowiert mit den magischen Zeichen seines Clans: Kreise, Triskelen und heilige Knoten. Für Riesen symbolisierten sie das Allerheiligste: Das Nichts, das alles war und alles durchdrang und sowohl Anfang als auch Ende bedeutete. Das Zeichen des Feuers, die Rune INGWAZ, war in seine Stirn tätowiert: Wie bei allen Feuerriesen befand sie sich zwischen seinen Brauen über dem inneren Auge. Im Verbund mit dem Kreis, der die Rune umgab, war Surt so für alle erkennbar ein Erbe der berüchtigten SCHWARZEN AUS MUSPELLSHEIM, der letzten Auserwählten aller Riesenclans. Die Ältesten erinnerten sich noch, wie sie Seite an Seite mit Thor gekämpft hatte. Doch die Asenzwillinge Balder und Hödur hatten ihnen übel mitgespielt und den Thron an sich gerissen. Surt würde alles dafür geben, dass sich die Prophezeiung dieses Mal erfüllte.
Sein Herz schlug schneller, als er die Schritte der Priesterinnen hörte. Es war so weit. Er sah ihnen entgegen und obwohl sie wie die anderen eine Maske trug, erkannte er die Amazone auf Anhieb. Sie war die Größte der acht Priesterinnen und alles an ihrem Körper – ihre schwarzen krausen Haare, die grazile Taille, die kräftigen Arme und muskulösen Beine, die vielen Narben auf ihrer dunklen Haut – das alles strahlte Stärke und Entschlossenheit aus. Nichts an ihr und gleichzeitig alles erinnerte an das kleine Mädchen, das sie einmal gewesen war.
Ihre sieben Ordensschwestern stellten sich in einem Halbkreis um Surt herum. Wie die Oberpriesterin trugen auch sie weiße, geschlitzte Roben ohne Ärmel, die elegant an ihren tiefbraunen Körpern hinabflossen. In ihren Händen hielten sie kurze Stöcke, die sie langsam aneinanderschlugen. Die versetzten Schläge ergänzten sich zu einem prasselnden Takt, der es Surt ermöglichte, seinen Geist zum Schweigen zu bringen und ihn immer tiefer in Trance führte. Die Amazone stellte sich vor ihn. Ihr silberner Ritualdolch blitzte auf, als sie ihre Robe an der Schulter zerschnitt und seinen Blick auf ihren vertrauten Busen lenkte. Schon bald würde sie eine ihrer Brüste opfern, um Hohepriesterin zu werden. Im kalten Licht des Mondes RAGNARÖK schimmerte ihre dunkle Haut bläulich und die Narben auf ihrem Körper traten deutlich hervor. Sie hatte in vielen Schlachten kämpfen müssen, bevor sie zur Oberpriesterin geweiht worden war. Wie so oft wünschte sich Surt, einmal ihr Gesicht zu sehen. Sie kannten einander fast ihr ganzes Leben lang, und trotzdem hatte er sie noch nie ohne Maske gesehen. Heute trug sie die Rabenmaske, die nur das starke Kinn, den anmutig geschwungenen Mund und die liebevollen Augen erkennen ließ. Die Nase versteckte sich hinter einem schwarzen Schnabel, und Wangenknochen, Schläfen und Stirn waren mit Rabenfedern bedeckt.
Ihre Augen versenkten sich in seinen. Es fiel ihm schwer, ihnen standzuhalten. Sie waren dunkel wie das Moor und strahlten doch so hell, dass ihm die Tränen kamen. Schon bald würden sie einander verlieren. Der Gedanke war so unerträglich, dass er ihn zur Seite schob.
»Es ist so weit.« Ihre Stimme verriet keine Emotionen. »Heute offenbart sich der letzte Vers. Bist du bereit für das Blutopfer?«
»Ich bin bereit«, nickte er. Auf sein Wort hin lösten die sieben Priesterinnen den Halbkreis auf und bildeten ein Spalier, das den Weg zum STEIN DER PROPHEZEIUNGEN freigab. Sobald Surt darauf zuging, begann der Stein von innen heraus zu glühen. Schwach erst, doch je näher Surt kam, desto stärker pulsierte der Bernstein im Takt seines Herzschlags, im Rhythmus seiner gespannten Erwartung.
Wie würde der letzte Vers lauten?
Welches Schicksal stand ihm bevor?
Surt warf einen Blick auf die ersten Verse, die ihm der Stein im Tausch für sein Blut bereits offenbart hatte:
I. Grünäugiger Erbe der SCHWARZEN AUS MUSPELLSHEIM, dein Gebo und YMIR werden eins sein. Du bist der EINE, auserkoren, die NEUE WELT zu begründen.
II. Das Feuer braucht das Eis, denn es wird die Leere füllen, die durch die Falschheit entsteht. Das Ziel der Reise wird dasselbe bleiben, doch der Weg ändert sich.
III. Nur wenn der, der mit den Steinen spricht, die Fackel der Erleuchtung ergreift, kann eine NEUE WELT entstehen.
BURN-OUT
Das Zwischenhoch, in das mich die Nacht mit Remy befördert hatte, lag über zwei Monate zurück. Inzwischen war es Herbst geworden und ich schob meinen traditionellen Winterblues. Wenn die Sonne nicht scheint, geht mir das an die Substanz. Im Sommer ist das schlimm genug, im Herbst und Winter maximal dramatisch. Ich wurde täglich antriebsloser, kam morgens kaum aus dem Bett. Nachts schlief ich zwar wieder, dank des Hopfentees, doch tagsüber war ich trotzdem todmüde. Dazu terrorisierte mich mein Ohr: Es puckerte jetzt ununterbrochen und dazu so unrhythmisch, dass mich jeder Taktwechsel rasend machte.
Im Job hätte ich den ganzen Tag kotzen können. Freie Wochenenden waren gestrichen, Urlaub gab es nicht. Offiziell natürlich schon, aber wer pocht schon aufs Recht, wenn es um den Arbeitsplatz geht? Und das Schlimmste: Wenn ich nicht im Büro war, hatte ich automatisch Homeoffice. Heißt: Handy immer an, Mails mehrmals stündlich checken. Mit anderen Worten: Mein Verstand kam nicht zur Ruhe. Ich musste vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche erreichbar sein, denn für das Team war ich die Ansprechpartnerin (auch so eine Holger-Nummer, denn eigentlich war es sein Job). Steckerziehend ausgehen, feiern, abends entspannt durch die Stadt cruisen und Leute treffen: Fehlanzeige. Mit Holger als Vorgesetztem gab es kein Unplugged. Die Krönung war, dass die Senderchefin meine Beförderung erstmal on-hold gesetzt hatte. Natürlich hatte auch da Holger seine Finger im Spiel. Ich wusste, dass ich etwas tun musste. Aber ich hatte keinen Schimmer, was. Ich wusste nur, dass ich nicht weiter mit Holger zusammenarbeiten konnte. Er war unehrlich, egoistisch und ein Quell an verletzenden Mikroaggressionen, die sich vor allem gegen nichtweiße, weiblich gelesene Teammitglieder wie Kamille und mich richteten. Leider hielt die Chef-Etage große Stücke auf ihn, weil er mal bei RTL ein Erfolgsformat mitverantwortet hatte. Als Holger die Chefin warnte, ich sei noch nicht so weit, ein eigenes Team zu leiten, übertrug sie die Leitung deshalb vorläufig auf ihn.
»Holger übernimmt erstmal auch das TV-Magazin, und du arbeitest ihm wie gewohnt zu. Sobald er davon überzeugt ist, dass du der Aufgabe gewachsen bist, übergibt er dir die Leitung.«
Ich stand fassungslos vor ihrem Schreibtisch und wollte nicht glauben, was ich hörte. Ich war ausgelaugt und überarbeitet, weil ich den Großteil von Holgers Job miterledigte. Und diese Mehrarbeit, die ihm verhalf, vor ihr zu glänzen, sorgte jetzt dafür, dass ich selbst nicht befördert wurde?
»Aber du hast mir versprochen …« Ich brach ab. Meine Stimme war rau und hörte sich weinerlich an. Damit konnte ich die Chefin garantiert nicht beeindrucken.
»Lerne von Holger.« Sie lächelte aufmunternd. Ich wusste, dass sie es gut mit mir meinte. Und dass es mir nicht gelingen würde, ihr in Sachen Holger die Augen zu öffnen. Sie war weiß und hatte es aus einem privilegierten, angesehenen Elternhaus mit Ellenbogen, Talent und einem Schuss Vitamin B in ihren Chefinnensessel geschafft. Wie Frauen im Job struggleten, die nicht aus einflussreichen Familien kamen und darüber hinaus auch noch Schwarz wie ich oder of Color wie Kamille waren, konnte sie nicht nachvollziehen. »Schau dir an, wie Holger Probleme löst«, fuhr sie fort, »wie er mit dem Team arbeitet. Und vor allem, wie er Aufgaben delegiert.«
In dem Moment machte etwas Klick. Die ganze ohnmächtige Wut, die seit Monaten in mir schwelte, verpuffte. Ich hatte verloren und Holger gewonnen: Er machte Karriere und ich nicht.
In den nächsten Wochen lief »mein« TV-Magazin, in dem Kamille in einer festen Interview-Rubrik zu sehen war, im Fernsehen an. Es wurde von Tag zu Tag beliebter und bekam gute Kritiken. Logisch, denn ich hatte akribische Vorarbeit geleistet. Dass Holger jetzt die Lorbeeren dafür einheimste, frustrierte mich mehr, als ich wahrhaben wollte.
Konsequenterweise verwandelte sich das Puckern in meinem Ohr in eine Diesel-Lok, die mal auf mich zu und mal von mir weg stampfte. Dazu befielen mich verstörende Albträume, in denen ich mich in einem Fluss aus Blut wiederfand. Irgendwann war ich so neben der Spur, dass mein Arzt mich wieder für ein paar Tage krankschrieb. Dazu verordnete er mir therapeutisches Bildermalen und Gespräche mit einer von der Krankenkasse empfohlenen Psychologin. Von Gerta bekam ich einen Misteltee gegen die Albträume und eine Johanniskrauttinktur, die meine Stimmung aufhellen sollte.
Doch nichts schien zu zünden. Mein Antrieb war weg. In mir war alles schwarz. Da war kein Funken Licht, das mir einen Weg, geschweige denn ein Ziel hätte weisen können.
Obendrauf kam der unglaublichste Liebeskummer, den ich je erlebt hatte. Der Abend mit Remy hatte nach der Schenke auf der WG-Wohnzimmercouch geendet. Dass es nicht zum Sex gekommen war, lag nur daran, dass in der ganzen Wohnung kein Kondom aufzutreiben war. Am nächsten Morgen, beim Abschied, waren wir uns so nah; ich dachte echt, das wird was. Ich Ahnungslose! Digital servierte Remy mich eiskalt ab. Ich schrieb ihm ein paar Nachrichten, bekam aber nie eine Antwort. Und wenn ich ihm auf der Straße begegnete, machte er zwar freundlichen Smalltalk, ignorierte aber jedes Gesprächsangebot über unsere gemeinsame Nacht. Er schien die Nähe, die da zwischen uns entstanden war, komplett ausgespeichert zu haben. Für mich war das hart zu nehmen, nicht nur mein Herz, auch mein Ego war am Boden zerschreddert. Dass ich Remy so falsch eingeschätzt hatte, zerstörte mein Weltkonzept. Was noch von allem, was ich bisher unkritisch hingenommen hatte, war eine Illusion? Lebte ich wirklich das Leben, das ich leben wollte?
Mit der Zeit konnte sich mein Herz regenerieren. Wenn ich Remy über den Weg lief, gab ich mich so unverkrampft wie möglich. Ich wollte nicht, dass er bemerkte, wie verknallt ich in ihn war. Wenn wir uns begegneten, spielte ich sein Smalltalk-Spielchen mit und lächelte ebenso freundlich zurück. Die Schmetterlinge in meinem Bauch röchelten sich dabei jedes Mal fast zu Tode. Irgendwann reimte ich mir zusammen, dass Remy es bereute, mir so nahe gekommen zu sein, dass er mich aber trotzdem mochte. Und noch eine Weile später begann ich aktiv, ihn loszulassen. Zumindest versuchte ich es. Aber Liebe ist wie Krebs, nur viel, viel hartnäckiger: Wenn sie sich einmal in dir eingenistet hat, kriegst du sie nie wieder komplett aus dir raus. Das begriff ich allerdings erst, als ich erfuhr, dass Remy die ganze Zeit etwas vor mir verheimlicht hatte: seine Freundin Viola.
DER LETZTE VERS DER PROPHEZEIUNG
Seitdem er denken konnte, wusste Surt, dass die Prophezeiung von ihm sprach. Man hatte ihn dazu erzogen, ein Held zu sein und ihm das Opfer abverlangt, sein Leben, seine Wünsche und seine Bedürfnisse zurückzustellen. Als Einziger seiner Freunde und Freundinnen war er nicht mit jemandem verbunden. Als Einziger hatte er keine Kinder, denen er beibringen konnte, mit dem Feuer zu sprechen und in die Seele aller Wesen zu schauen. Es war ihm nie leichtgefallen, darauf zu verzichten. Doch zum Wohle aller hatte er das Erbe der SCHWARZEN AUS MUSPELLSHEIM angenommen. Er hatte sich dieser Pflicht gebeugt, auch wenn sein Herz etwas anderes begehrte. Er liebte die Amazone wie kein anderes Wesen in der WELT. Er liebte ihre Unnahbarkeit, ihre Stärke, ihren Kampfesmut, ebenso wie ihre Zartheit, ihr Lachen und ihre Klugheit. Seite an Seite waren sie zu Mann und Frau gereift, hatten ihre Ängste, ihren Zorn und ihre Neugier auf einander geteilt. Er hatte die Wunden versorgt, die sie sich in vielen Schlachten zugezogen hatte, und ihre Ernennung zur Priesterin und Oberpriesterin miterlebt. Wenn die Amazone bei ihm war, fühlte er sich ganz. Doch mit der Offenbarung des letzten Verses musste er sie verlassen. Schon der Gedanke an die bevorstehende Trennung riss an seinem Herzen, und dass er weder ihren Namen noch ihr Gesicht kannte, änderte nichts daran.
Noch wusste Surt nicht, wie er die Prophezeiung erfüllen sollte, zumal die Amazone nicht an seiner Seite sein würde. Er war zwar auserwählt, die NEUE WELT zu begründen. Aber wie das geschehen sollte, verrieten ihm die ersten Verse nicht. Hoffentlich tat es der letzte Vers. Bis jetzt war sicher, dass ein Eisriese zu seinen Gefährten gehören würde. Und ebenso ein Zwerg: »Der mit den Steinen spricht« war eine alte Bezeichnung für die Mächtigsten unter diesen schwer einzuschätzenden Wesen.
Die Wenigsten wussten, dass Riesen und Zwerge gemeinsame Vorfahren hatten. Damals, bevor Odin die WELT aus YMIRS Überresten geschaffen hatte, waren neben Feuer- und Eisriesen auch Luft- und Steinriesen bekannt. Doch die Asen hatten dafür gesorgt, dass die Clans der Riesen sich entfremdeten. Sie schwächten die Luftriesen- und Steinriesenclans mit blutigen Kriegen, die nur wenige überlebten. Bald wussten nur noch die Ältesten, dass es jemals Luftriesen gegeben hatte und die wenigen Steinriesen, die in den Stollen der Berge Unterschlupf gefunden hatten, nannten sich fortan Zwerge. Sie mieden den Kontakt zu anderen und galten als ausgesprochene Sonderlinge. Heute, viele RAGNARÖKS später, hatten die meisten Bewohner der WELT die gemeinsamen Wurzeln vergessen. So mancher Zwerg empörte sich sogar, wenn ihm Gemeinsamkeiten mit einem Riesen unterstellt wurden.