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Voller Enthusiasmus, aber unfassbar unbeholfen begibt sich Nathan auf seine erste große Soloreise. In Nicaragua hofft er auf Partys, Girls und Abenteuer. Was er nicht erwartet, sind totales Scheitern bei den Frauen, lebende schaurige Volksmythen und der grauenhafte Fluch der Schweinehexe, der ihn an die Grenzen seines Verstandes bringt. Eine Reisegeschichte vor der Kulisse der nicaraguanischen Stadt Léon mit düster-psychoaktiven Magic-Realism-Elementen.
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Seitenzahl: 150
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Schlusswort
»Ach, dann reist du ganz alleine durch Nicaragua?« Ingrids wasserblaue Augen weiteten sich, ihr Mund formte sich zu einem aufgeschlossenen Lächeln.
»So sieht’s aus!«, antwortete Nathan und ließ dabei etwas Stolz durchblicken. »Ich habe mir nach dem Bachelor einfach mal ein paar Monate Zeit zum Reisen genommen. Rucksack auf und ab durch Lateinamerika, dachte ich mir!«
»Nice! Du hast auf jeden Fall die richtige Wahl getroffen, es ist einfach herrlich hier!« Nathan saß auf einem kleinen wackligen Schemel, hatte gerade eine Tüte Chips gefrühstückt und umklammerte seine Tasse viel zu heißen Kaffee.
Die Küche in dem Homestay war halb offen und grenzte frei an den mit Terrakotta gefliesten und mit Kakteen bepflanzten Außenbereich des Hauses. Die warme Vormittagssonne kitzelte Nathan angenehm im Nacken. Die Küche war grellbunt angestrichen, eine Wand war waldgrün, die gegenüberliegende spanischgelb.
Was der kleinen Gemeinschaftsküche noch einen zusätzlichen exotischen Touch gab, war Pacco. Ein handgroßer Papageienvogel mit giftgrünen Federn, der auf einer Metallstrebe in der Gittertür der Küche wohnte. Ab und an ließ er ein trillerndes »Ca-CAW« erklingen und sorgte damit für großes Hallo bei den Gästen. Sandini, ein kleiner Chihuahua mit vorstehenden Zähnen, lag müde in der morgendlichen Sonne.
Auf den zweiten Blick war alles ein bisschen verlebt und abgenutzt, aber Nathan hätte auch in einem Luxusresort nicht glücklicher sein können. Er war frei. Wenn er wollte, könnte er den ganzen Tag hier sitzen und Kaffee schlürfen. Ein wonniges Gefühl strahlte aus seinem Bauch. Die freundliche Sonne und das lässige Ambiente gaben ihm das Gefühl, mit seiner Reise an diesen Ort genau die richtige Entscheidung getroffen zu haben.
Es war sein erster richtiger Tag in León – sein erster Tag in Nicaragua und in Amerika überhaupt. Angekommen war er vorgestern mitten in der Nacht, nach über vierundzwanzig Stunden in viel zu engen Flugzeugsitzen und viel zu großen Flughäfen. Die Landeshauptstadt Managua hatte er nur als ein chaotisches Flirren im Gedächtnis, so übermüdet war er nach der Landung gewesen.
Für die zweistündige Fahrt in die zweitgrößte Stadt des Landes war er Gott sei Dank von einem vom Homestay vermittelten Fahrer abgeholt worden, der ihn durch die Nacht kutschiert hatte.
An manche Dinge würde er sich wohl gewöhnen müssen. Zum Beispiel an den Kühlschrank. Nathan musste beim Öffnen immer ein bisschen würgen. Die Türdichtungen waren schwarz gepunktet vom Schimmel, und das Innere selbst war so vollgestopft, dass er seine eigenen Sachen richtig reinquetschen musste. Halb leere bauchige Colaflaschen, angewelkt-bräunliches Grünzeug, offene Pakete mit Frischkäse, Dutzende verschmierte Einmachgläser mit unbekanntem Inhalt. Nathan hätte es nie laut gesagt, aber der Geruch, der ihm beim Öffnen entgegenschlug, erinnerte ihn am ehesten an volle Müllcontainer in der Sonne. Er war selber sicher kein Ordnungsfanatiker – seine alte Studibude daheim hätte bestimmt Preise für die versiffteste Wohngemeinschaft gewinnen können. Aber selbst dort war der Kühlschrank einmal im Jahr, wie von Mutti verlangt, mit Natron ausgewischt worden.
Gut, in diesem Homestay gingen jeden Tag neue Leute ein und aus, die ihr Futter hier reinstopften und wahrscheinlich oft genug vergaßen. Über zwanzig gute Bewertungen gab es für seine Unterkunft, die werden ja nicht frei erfunden sein. Er würde den Kühlschrank wahrscheinlich eh nur für Getränke benutzen. Kochen war nicht so sein Ding. Und auch wenn er sich freute, neue Leute kennenzulernen, Städte zu erkunden und sich im tropischen Ambiente zu verwöhnen, vor dem Essen hatte er schon ein wenig Respekt. Fremde Zutaten und ungewohnte Geschmäcker hatten ihn nie so richtig gereizt. Seine kulinarischen Freunde daheim waren Döner, Mäcces und Pizza. Hier in Nicaragua würde er sich ziemlich umstellen müssen, ahnte er.
Nathan wollte sich selber keinen Stress machen und war deshalb den ersten Tag in seinem Zimmer geblieben und hatte seinen Jetlag ausgeschlafen. Ein bisschen hatte er sich auch nicht richtig getraut, rauszugehen. Einmal war er kurz auf die Straße getreten, um etwas zu Essen zu holen. Schon schwierig gewesen. Im kleinen Laden nebenan, der Pulpería, konnte er sich nicht mal genug artikulieren, um eine Tüte Chips hinter der Kasse zu verlangen. Er musste umständlich mit den Fingern auf die Sachen im Schrank hinter der Verkäuferin zeigen und sie mehrfach korrigieren, weil sie was Falsches rausgeholt hatte. Er hätte gerne noch etwas Schokolade bekommen, aber die billigen Riegel, die er bislang hier gehabt hatte, schmeckten für ihn, als wäre Kakaopulver mit Pappe vermischt worden.
Ab heute ist Schluss mit dem faulen Lenz, dachte er. Ab ins echte Backpacker-Leben. Raus aus der Komfortzone und rein ins Abenteuer! Ab jetzt heißt es Feiern, Entdecken und Leute kennenlernen, am besten auch ein paar nette, aufgeschlossene Mädels.
Ingrid stand an der Arbeitsplatte und schmierte sich etwas Rotes auf ein Stück Weißbrot. Kaum zu glauben, dass er bei ihr tatsächlich schon etwas Anschluss gefunden hatte. Sie war eine kanadische Studentin, die hier in Léon ein Auslandspraktikum absolvierte und schon seit mehreren Wochen im Homestay wohnte. Sie hatte sich direkt nach seiner Ankunft herzlich bei ihm vorgestellt und ihn durch die Gemeinschaftsräume geführt. Nathan mochte ihr helles Gesicht, ihr superblondes Haar und dass sie beinahe so groß war wie er. Und sie schien echt nett zu sein, es gab also schon mal gute Vibes zwischen ihnen. Nathan brauchte nicht lange, um zu beschließen, dass er sich erst einmal an sie halten wollte.
Einfach mal so ein paar Monate Zeit genommen – ganz so easy war es nun nicht für ihn gewesen. Aber sollte er Ingrid direkt sagen, dass er seine Freundin verloren, sein Studium abgebrochen und diese Reise praktisch als Flucht aus seinem deprimierenden Leben in einer ziemlich langweiligen mitteldeutschen Stadt genutzt hatte?
Er dachte an seine Ex, Patricia, und versuchte, sie augenblicklich wieder aus seinem Kopf zu schmeißen. Was soll man schon von jemandem denken, der einen so lang begleitet und irgendwann so hintergangen hat, dass es nur noch schmerzte? Sie war seine erste richtig lange Beziehung gewesen, sie war bei ihm gewesen, als er sich an der Uni eingeschrieben hatte, mit ihr war er das erste Mal in Spanien gewesen und hatte Fisch im Restaurant gegessen. Sie hatte einen Schlüssel für seine WG, er für ihre. Bis es irgendwann alles abflaute. Ihre Begeisterung war nicht mehr da – obwohl er sich überhaupt nicht verändert hatte – und irgendwann hatte sie ihm in seinem Zimmer eröffnet, dass sie was mit diesem einen Typen am Laufen hatte, der immer auf der Bierbank neben ihm gesessen und ihn mit seinem App-Developmentscheiß zugelabert hatte. Das war’s dann mit Patricia. Und mit seiner Stammkneipe irgendwie auch. Sein Studium lief sowieso nicht mehr. Er musste raus. Warum dann nicht gleich nach Mittel- und Südamerika?
Nathan hatte seine Reise zwei Monate nach der Trennung angetreten. Eine Ewigkeit für ihn, aber rückblickend betrachtet, ging das eigentlich ziemlich schnell. Für sein WG-Zimmer gab es gleich haufenweise Bewerber. An Krempel hatte er eh nicht viel, die paar Kisten konnte er noch im Keller seines Vaters unterstellen.
Wie er zuerst auf Nicaragua gestoßen war, wusste er gar nicht mehr. Leute im Internet hatten geschrieben, wie fantastisch es wäre, die Landschaft, die Kultur, die Geschichte – und viel billiger als Costa Rica. Hier wollte er starten und dann weiter nach Süden ziehen, Kolumbien, Ecuador, Peru entdecken. Orte, die er nur aus Dokumentationen und alten Donald-Duck-Heften kannte.
»Und was hast du so alles geplant?«, fragte Ingrid im Plauderton.
»Geplant habe ich noch gar nichts. Ich werde mal die Stadt erkunden und mich so vom Flow treiben lassen«, antwortete Nathan bemüht lässig.
»Also, wenn du nichts vorhast, kannst du dich unserer Gruppe anschließen, wenn du willst. Wir wollen in den nächsten Tagen mal eine Vulkanwanderung unternehmen.«
»Auf einen Vulkan?«, fragte Nathan überrumpelt. »Mit Lava und Rauchwolken und so?«
»Klar!« Ingrid leckte Marmelade von ihrem Brotmesser. »Es gibt einige davon hier in der Umgebung. Eine Freundin von mir will mit Leuten aus ihrem Hostel dort hoch.«
»Wahnsinn. Ich wollte schon immer mal einen Vulkan sehen!«, sagte Nathan ehrlich überrascht. In Wirklichkeit war er noch nie auf die Idee gekommen, aber jetzt, wo er die Möglichkeit hatte, bekam er schon Lust.
»Wir gehen auf den, äh, wie hieß er doch gleich?« Sie nahm ihr türkises Telefon vom Küchentisch, suchte etwas darin und beugte sich damit zu ihm. »You have to see the Telica Volcano!«, hatte ihr jemand geschrieben.
»Telica-Vulkan, klingt cool!«, sagte er und erhaschte dabei einen Blick in ihre enthusiastisch lachenden Augen.
»Wir fahren morgens los und bleiben über Nacht. Wir kennen auch einen Guide, der uns hochführt. Wir werden dann oben am Krater übernachten, und am nächsten Morgen geht’s zurück.«
»Wir schlafen direkt auf dem Vulkan?«
»Ja, man wandert dort hoch, schaut den Sonnenuntergang an, und dann kann man an den Kraterrand klettern und die Lava sehen.«
»Klingt ja abgefahren. Ich bin dabei! Muss ich etwas mitbringen?«
»Bring Wasser und etwas zu Essen mit. Hast du einen Schlafsack?«
»Leider nein.«
»Ich glaube, da hinten bei dem Gerümpel liegt einer. Schau ihn dir mal an und frag Violeta. Sie lässt ihn dich bestimmt ausleihen.«
Ein aufgebrachtes Bellen unterbrach ihr Gespräch. Sandini, der kleine Hund, der vor sich hingedöst hatte, war aufgewacht und wetzte seine Pfoten an der Eingangstür, deren metallenes Schloss sich klappernd drehte. Die Tür öffnete sich, und der Winzhund wurde von einer schrillen Frauenstimme überschwänglich begrüßt. Auf dem Terrakottaboden klapperten Stöckelschuhe, und dann stand Violeta in der Küche.
»¡Bueenos díaas!«, rief sie in die Frühstücksgesellschaft. »¿Comó estais todo?« Viel mehr verstand Nathan nicht, denn die Gastgeberin fiel in ein brutal schnelles Spanisch mit schwerem nicaraguanischen Akzent, von dem er kaum Bruchstücke aufschnappen konnte. Ingrid und eine ihrer Freundinnen nahmen das Gespräch mühelos auf. Nathan hatte vor seiner Abreise zwar ein paar Stunden lang Spanisch mit einer Gratis-App gelernt, aber schon schnell gemerkt, dass er mit den Locals überhaupt nicht mitkam, sie hätten eigentlich auch Urdu sprechen können.
Violeta war das, was Nathan unter dem Stichwort »feurige Latina« beschrieben hätte, hätte man ihn danach gefragt. Schwarze, wallende Locken, übergroße goldene Creolen, knutschroter Lippenstift, ein Dress in Jamaica-Farben, das alle Rundungen an den richtigen Stellen betonte, Armreifen bis zu den Ellenbogen und an jedem Finger schätzungsweise drei bis vier Ringe. Feine Linien zogen sich über ihr sonnenbraunes Gesicht, das vor Lebenslust sprühte. Nur die tiefen, überschminkten Augenhöhlen verrieten, dass sie einige ereignisreiche Jahrzehnte verlebt haben musste. Ein paar der Worte, die Nathan verstand, als sich Violeta mit den Kanadierinnen unterhielt, waren »Esta noche«, »El Club« und »Fiesta de Salsa«, wobei sie das Wort in ihrem Nica-Dialekt eher wie »Fieta« aussprach. Ingrid nickte eifrig. Nathan kam sich etwas doof vor, ahnte aber schon, worum es ging.
»Die Leute hier sind besessen vom Salsatanzen«, erklärte Ingrid für Nathan. »Violeta gibt uns Tanzunterricht! Sie zeigt uns immer wieder coole neue Bars.«
»Oh, so richtiger Salsatanz? Mit schwingenden Hüften und so?«
»Ja, es macht echt Spaß! Kommst du auch mit?«
Nathan zögerte. Fiesta? Auf jeden Fall. Club? Gerne. Komplizierter Paartanz zu einer Musik, die er höchstens aus schnulzigen Filmen kannte? Eher nicht. Aber konnte er zu dieser erwartungsfrohen neuen Reisebekanntschaft Nein sagen?
»Salsa ist mein Leben!«, versuchte er zu witzeln.
»¡Bueno, Nathan nos acompaña!«, sagte Ingrid.
Violeta warf ihm einen gespielt zweifelnden Blick zu, lachte dann und sagte etwas in einer sonoren Stimme. »Schauen wir mal, ob der Kerl sich auf der Tanzfläche auskennt …«, übersetzte Ingrid mit einem Zwinkern.
Während Violeta ein paar Einkäufe in den Schränken verstaute, trapsten zwei leicht verpennte Kanadierinnen in die Küche, nahmen sich Kaffee und machten müde Frühstückskonversation mit Ingrid. Was für ein Glück, dachte Nathan. Eigentlich hatte er richtig Angst gehabt, dass er überhaupt keinen Anschluss finden und den ganzen Tag alleine durch die Gegend laufen würde. Mit anderen Leuten zu connecten war ihm immer schon schwergefallen. Und in einem fremden Land ist das ja noch mal was anderes. Außer das eine Mal mit Patricia war er eigentlich nur früher mit seinen Eltern so richtig im Urlaub gewesen.
Wie es Patricia hier wohl gefallen hätte, dachte er, als er seinen Kaffee leerte. Sie wäre bestimmt gerne mitgekommen, wenn sie noch zusammen wären. Aber sie hätte es wohl eher an den Strand verschlagen, nicht in die wilden Berge, so wie ihn. Wahrscheinlich hätten sie beide in der Küche gesessen, und Patricia hätte Busrouten zum Strand rausgesucht, während die Volunteer-Girls ihre Vulkantour geplant hätten. Dann würde Nathan mit Patricia am Strand sitzen und darüber nachdenken, wie sinnlos es doch ist, den ganzen Tag im Sand zu liegen, und wahrscheinlich Pommes essen und abends UNO spielen. Pärchenurlaub eben.
Und jetzt? Er ließ seinen Blick über die tropisch bunte Küche schweifen und blinzelte in den wolkenlosen Himmel. Pacco krächzte leise vor sich hin, ein paar andere Vögel sangen auf einem Mauervorsprung. Wenn Patricia sich nicht entschieden hätte, ihn zu betrügen, dachte er, würde er jetzt nicht mal davon träumen, in Nicaragua mit heißen kanadischen Studentinnen auf einen noch heißeren Vulkan zu steigen.
Nathan nahm sein Geschirr und brachte es an die Spüle, wobei er wie zufällig Ingrid an der Schulter streifte und ihr noch einmal lächelnd in die Augen schaute. Er wünschte allen einen schönen Tag und legte die Bananenschale in die Mülltüte, die am Türgitter verknotet war. Dabei unterschätzte er die Flinkheit von Papagei Pacco, der direkt darüber saß. Pacco keifte und biss ihm mit seinem gebogenen Schnabel in den Zeigefinger. Nathan zog die Hand zurück und riss dabei den Müllbeutel auf. Faulige Essensreste und verschmierte Verpackungen fielen auf den Boden.
»Mist!«, zischte er.
»¡Ayayayayay!«, rief Violeta. »¡Cuidado con el pájaro!«
Nathan entschuldigte sich und bückte sich, um den Müll aufzuheben. Blut tropfte von seinem Finger und vermischte sich mit dem Abfall. Violeta gab ihm ein Küchentuch, das er sich um den Finger wickelte. Dann fasste sie ihn plötzlich am Oberarm, sah ihn mit dunklen, eindringlichen Augen an und sprach in gebrochenem Englisch: »Die Tiere hier sind anders, als du es bei dir zu Hause gewohnt bist. Sie sind intelligenter, und wilder. Sei vorsichtig, sonst kommen deine Fehler auf dich zurück!« Dann zwinkerte sie und lächelte mit ihrem roten Lippenstiftmund. Nathan schluckte. Was sollte das denn jetzt heißen? Er schaute zum Vogel, der ihn frech anschaute und einen lustigen Piepser machte. Er ging aus der Küche und hörte die Frauen hinter sich im Plauderton weiterreden.
Nathan liebte sengende Sonnentage. Manchmal war er an Wochenenden, an denen alle anderen im Schwimmbad waren oder zu Hause vor ihren Klimaanlagen saßen, durch die Straßen seiner kleinen Heimatstadt gegangen und über großflächige Kreuzungen spaziert, als wäre er der letzte Überlebende einer Zombieseuche. Irgendetwas hatte es, wenn ein Ort so sehr bestrahlt wurde, dass sich niemand mehr hinauswagte. Etwas Verlockendes, wenn es nicht nur nicht empfehlenswert war, sondern absolut hirnrissig, sich irgendwie länger als unbedingt nötig im Freien aufzuhalten. Die flimmernde Verlassenheit hatte etwas endzeitlich Magisches für ihn.
Hier, in León, hatte er ein ähnliches Gefühl, als er auf die Straße ging, um die Stadt zu erkunden. Er lief extra auf der Straßenseite, die nicht vom dünnen Schatten der eingeschossigen Wohnhäuser geschützt war, und ließ sich die Sonne auf die Stirn knallen, die er vielleicht mal hätte eincremen sollen. Der Spaß ging ein paar Hundert Meter, bis er so aufgeheizt war, dass er doch auf die Schattenseite wechselte. Gut, in der halbwegs gemäßigten Zone, aus der er kam, sahen die Menschen die Sonne, wenn man glücklich war, mal ein paar Stunden im Sommer. Dieser leere Himmel mit unerbittlicher Sonne war hier Dauerzustand.
Nathan fiel schnell auf, dass er nicht nur darauf achten musste, im Schatten zu bleiben, sondern auch, wo er hintreten konnte. Dort war eine Bodenplatte aufgeplatzt, da ein Schlagloch, kleine Treppenstufen stiegen ohne jegliche Funktion aus dem Bordstein heraus, Metallsporne von Konstruktionen, die früher vielleicht mal öffentliche Telefone gewesen waren, spießten aus dem Stein. Auch über seinem Kopf war Obacht geboten. Die überirdischen Stromkabel waren in undurchschaubaren Gewirren über die Straße verlegt, und einige von ihnen hingen lose herunter, sodass ein unachtsamer, langgewachsener Tourist leicht ein Kabelende mit unbekannter Elektrowucht im Gesicht hängen hatte.
Grillgeruch. Noch so etwas, das er mit angenehmen Sommerabenden zu Hause in Verbindung brachte. T-Shirt-Wetter und leichte Schwaden von verbrannter Grillkohle, die um die Häuser zogen. Würstchen, Koteletts, all das gute Zeug. Für Nathan bedeutete Grillgeruch, dass die Sommerferien nicht weit weg waren und es wahrscheinlich irgendwo wochenendliche Partys mit Freunden und Familie gab. Denselben Geruch von schwelender Holzkohle nahm er auch hier wahr. Schwere, schwarze Grills mit Hühnerbeinen und Schweineschwarten standen mitten auf dem Gehweg, teilweise saßen die Leute in Schaukelstühlen daneben, manche schienen auch ganz unbeaufsichtigt zu sein. Nathan hatte kaum ein vernünftiges Essen gehabt, seit er seine Heimat verlassen hatte. In den letzten drei Tagen hatte es nur Flugzeugfraß, Schmierbrot, Chips, Schokolade und zwei Bananen gegeben.
Ob er hier an den Grillständen einfach ein Hühnerbein kaufen konnte? Wahrscheinlich war das alles Familienessen, und er würde sich nur als absolut dämlicher Tourist outen, wenn er irgendwo an einen der Grills gehen und auf ein Stück Fleisch zeigen würde. Lieber irgendwo hin, wo auf einer englischsprachigen Speisekarte klar gemacht wird, was es zu essen gibt.
So langsam näherte er sich dem Ortskern. Der Verkehr wurde dichter, gelbe Taxis reihten sich aneinander, und daneben Marktstände, an denen die Verkäufer Sonnenbrillen, Mützen, T-Shirts und allen möglichen anderen Kram verkauften. Es war nicht so, dass Nathan sich auf dem Hinweg unsicher gefühlt hatte, aber wo es ein größeres Menschengewusel gab, fühlte er sich ein bisschen besser. Vielleicht, weil er hier nicht so sehr herausstach. Hier liefen auch andere junge Leute herum, die Backpacker sein könnten. Eigentlich galt Nicaragua ja als das sicherste Reiseland in Mittelamerika. Wenn er aufpassen würde, konnte ihm also nichts passieren.
Nathan schlenderte an den Ständen vorbei, wo alle möglichen Dinge verkauft wurden. Auf Plastikplanen lagen mechanische Teile, Rasierbedarf, Spielzeug, Telefonhüllen, Mützen. Ventilatoren mit Standfüßen aus alten Lenkrädern. So einen hatte er auch auf seinem Zimmer. Natürlich gab es auch Früchte und Gemüse. Viele Sorten, die Nathan noch nie zuvor gesehen hatte.