Die Schwestern Chanel - Judithe Little - E-Book
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Die Schwestern Chanel E-Book

Judithe Little

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Beschreibung

Frankreich, 1897: Gabrielle Chanel - später unter dem Namen Coco weltberühmt - und ihre Schwester Antoinette werden von ihrem Vater in einem Waisenheim abgegeben. Armut und harte Arbeit bestimmen dort ihren Alltag. Doch Coco ist nicht bereit, sich in ihr Schicksal zu fügen. Unbeirrbar erobert sie sich ihre Freiheit - unter den teils bewundernden, teils neidischen Blicken ihrer Schwester. Antoinette weicht Coco bei ihrem Weg zur Modemacherin nicht von der Seite und unterstützt sie, wo sie kann. Bald schon spricht man in Paris ehrfurchtsvoll von den »Schwestern Chanel«. Doch auf dem Höhepunkt des Erfolges müssen die Frauen erkennen, dass selbst Geld und Unabhängigkeit kein Ersatz für das sind, nach dem sie sich am meisten sehnen: Liebe.

»Judithe Little hat sich wunderschön ausgemalt, wie es sein musste, die Schwester der großen Modemacherin zu sein.« Berner Zeitung, 03.03.2021

»[…] ein klasse Roman über Frauen, die ihr Schicksal in die Hand nehmen und weit über das, was ihnen das Leben mitgab, hinauswachsen.« Grazia, 11.02.2021

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Seitenzahl: 493

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HarperCollins®

Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem TitelThe Chanel Sisters bei Graydon House, New York.

© 2020 by Judithe Little Copyright © 2021 für die deutschsprachige Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959675987

www.harpercollins.de

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PROLOG

Aubazine prägte uns, und einiges davon sollte für immer ein Teil von uns bleiben. Das Bedürfnis nach Ordnung. Eine Vorliebe für Schlichtheit und saubere Gerüche. Eine gewisse Sittsamkeit. Die Wertschätzung handwerklichen Könnens, perfekt ausgeführter Nadelstiche. Der beruhigende Kontrast zwischen Schwarz und Weiß. Stoffe, rau und ungleichmäßig, von Bauern und Waisen. Die Rosenkränze, die die Nonnen um die Taille trugen wie Kettengürtel. Die mystischen Mosaikbilder mit Sternen und Halbmonden im Korridor, die als bijoux de diamants, als Halsketten, Armbänder und Broschen wiederauftauchen würden. Die sich wiederholenden Muster in den Buntglasfenstern von in sich greifenden »C«s, die zu einem Symbol von Luxus und Status werden würden. Sogar das alte Kloster selbst, so riesig und leer, das uns Raum zum Träumen gab, wo die Möglichkeiten grenzenlos schienen.

All die Jahre in der Rue Cambon, in Deauville, in Biarritz dachten die Leute, sie würden mit Chanel Glamour erwerben, Pariser Schick. Doch was sie in Wirklichkeit kauften, waren die Ornamente unserer Kindheit, Erinnerungen an die Nonnen, die zivilisierte Menschen aus uns machten, an das Kloster, das uns beherbergt hatte.

Eine Illusion von Reichtum, entsprungen aus den Lumpen unserer Vergangenheit.

EIN FALL FÜR DIE WOHLFAHRT AUBAZINE 1897–1900

1

In späteren Jahren dachte ich oft an jenen kalten Märztag im Jahr 1897 im Waisenhaus des Klosters von Aubazine zurück.

Wir orphelines, allesamt elternlose Mädchen, saßen im Kreis und nähten. Die Stille des klösterlichen Handarbeitsraumes wurde nur dann und wann von mir unterbrochen, weil ich meinen Sitznachbarinnen etwas zuflüsterte. Als ich Schwester Xaviers Blick spürte, verstummte ich rasch und tat, als wäre ich völlig in die Arbeit vertieft. Ich rechnete damit, dass sie mich wie üblich schelten würde: Hüte deine Zunge, Mademoiselle Chanel. Stattdessen näherte sie sich meinem Platz neben dem Ofen, wobei es wie bei allen Nonnen schien, als würde sie schweben. Den Falten ihres schwarzen Wollrocks entstieg der Geruch von Weihrauch und vergangenen Jahrhunderten. Ihre gestärkte Haube bog sich unnatürlich gen Himmel, als könnte sie jeden Moment emporgehoben werden. Ich betete, dass genau das geschehen möge, dass ein Lichtstrahl das spitze Klosterdach durchbrechen und Schwester Xavier in einem leuchtenden Schein heiliger Erlösung in die Wolken entschweben würde.

Solche Wunder geschahen jedoch nur in Gemälden von Engeln und Heiligen. Sie blieb auf Höhe meiner Schulter stehen, düster und bedrohlich wie eine Sturmwolke über den bewaldeten Hängen des Zentralmassivs draußen vor dem Fenster. Sie räusperte sich, um dann grimmig zu verkünden, als wäre sie der Heilige Römische Kaiser höchstpersönlich:

»Du, Antoinette Chanel, redest zu viel. Deine Näharbeit ist schlampig. Du bist immerzu am Tagträumen. Ich fürchte, wenn du nicht aufpasst, wirst du genauso enden wie deine Mutter.«

Mein Innerstes zog sich zusammen. Ich musste mir auf die Zunge beißen, um nichts zu erwidern. Stattdessen sah ich zu meiner Schwester Gabrielle hinüber, die auf der anderen Seite des Raumes bei den älteren Mädchen saß, und verdrehte die Augen.

»Hör nicht auf die Nonnen, Ninette«, sagte Gabrielle einmal zu mir, nachdem wir zur Pause in den Hof entlassen worden waren.

Wir saßen auf einer Bank, umgeben von kahlen Bäumen, die genauso erfroren aussahen, wie wir uns fühlten. Warum verloren sie ihre Blätter ausgerechnet in der Jahreszeit, in der sie diese am dringendsten brauchten? Neben uns warf Julia-Berthe, unsere älteste Schwester, einer Schar Krähen Brotkrumen aus ihren Taschen zu. Die Vögel kämpften krächzend um den besten Platz.

Um meine Hände zu wärmen, zog ich sie in die Ärmel hinauf. »Ich werde nicht wie unsere Mutter enden. Ich werde überhaupt nichts von dem sein, was die Nonnen behaupten. Noch nicht mal das, von dem sie behaupten, dass ich es nicht werden kann.«

Darüber mussten wir lachen, ein bitteres Lachen. Als vorübergehende Hüterinnen unserer Seelen dachten die Nonnen pausenlos an den Tag, an dem wir in die Welt hinausgehen würden. Was würde aus uns werden? Wo würden wir unseren Platz finden?

Inzwischen waren wir seit zwei Jahren im Kloster und an die Prophezeiungen der Nonnen gewöhnt, ob während der Chorprobe oder mitten im Unterricht, wenn wir Schönschreibübungen machten oder die Könige Frankreichs aufsagten.

Du, Ondine, wirst mit dieser Handschrift nie die Frau eines Geschäftsmannes werden.

Du, Pierette, mit deinen ungeschickten Händen wirst niemals Arbeit bei einer Bauersfrau finden.

Du, Hélène, mit deinem schwachen Magen wirst nie die Frau eines Metzgers werden.

Du, Gabrielle, musst darauf hoffen, dir als Näherin deinen Lebensunterhalt zu verdienen.

Du, Julia-Berthe, musst auf den Ruf des Herrn hoffen. Mädchen mit einer solchen Figur wie du sollten besser im Kloster bleiben.

Mir war vorausgesagt worden, mit etwas Glück könnte ich einen Ackerbauern überreden, mich zu heiraten.

Ich zog die Hände aus den Ärmeln und hauchte sie an. »Ich werde keinen Ackerbauern heiraten«, erklärte ich.

»Und ich werde keine Schneiderin«, sagte Gabrielle. »Ich hasse Nähen.«

»Was werdet ihr dann?« Julia-Berthe sah uns mit großen, fragenden Augen an. Die Leute sagten, sie wäre zurückgeblieben, nicht ganz richtig im Kopf. Für sie war alles einfach, schwarz-weiß wie die Ordenstracht der Nonnen. Wenn die Nonnen etwas sagten, dann würde das auch so sein.

»Irgendetwas Besseres«, antwortete ich.

»Was ist etwas Besseres?«, fragte Julia-Berthe.

»Es ist …«, begann Gabrielle, doch sie beendete den Satz nicht.

Sie wusste genauso wenig wie ich, was »etwas Besseres« wäre, doch mir war klar, dass auch sie es spürte, dieses Kribbeln in den Knochen, tausend kitzelnde Federn auf der Haut. Wir hatten Rastlosigkeit im Blut.

Die Nonnen erklärten, wir sollten mit unserer Stellung im Leben zufrieden sein, denn das wäre gottgefällig. Doch wir konnten nie zufrieden sein, dort, wo wir waren, mit dem, was wir hatten. Wir stammten von einer langen Reihe fahrender Händler ab, von Träumern, die über verschlungene Straßen zogen, im sicheren Glauben, dass »etwas Besseres« gleich dort vorne auf sie wartete.

2

Bevor die Nonnen uns bei sich aufnahmen, waren wir die meiste Zeit hungrig gewesen und unsere Kleidung zerrissen und schmutzig. Wir sprachen nur Patois, diesen alten französischen Dialekt. Lesen oder schreiben konnten wir auch kaum, weil wir nie lange zur Schule gegangen waren. Die Nonnen bezeichneten uns als »Wilde«.

Unsere Mutter Jeanne arbeitete täglich viele Stunden, um uns zu ernähren und damit wir ein Dach über dem Kopf hatten. Sie war zwar da, aber nicht wirklich anwesend. Ihr Blick wurde so flach, dass ihre Augen uns gar nicht richtig anzusehen schienen. Stattdessen suchten sie nach Albert, immer nur Albert. Unser Vater war für gewöhnlich unterwegs, um alte Korsetts oder Gürtel oder Strümpfe feilzubieten. Er war nicht imstande, an einem Ort länger zu verweilen, und unsere Mutter, eine Närrin der Liebe, jagte ihm stets hinterher, wenn er nicht wie versprochen zurückkehrte. Endlose Landstraßen schleifte sie uns entlang, egal zu welcher Jahreszeit.

Sie waren lange genug zusammen, dass unsere Mutter jedes Mal schwanger wurde, bevor Albert uns wieder monatelang allein ließ und wir uns ohne Geld durchschlagen mussten. Unsere Mutter arbeitete als Wäscherin, als Magd, was auch immer sie finden konnte, bevor sie mit einunddreißig an der Schwindsucht starb, überarbeitet und mit gebrochenem Herzen.

Nach ihrem Tod wollte uns keines der Familienmitglieder haben, vor allem nicht unser Vater. Es hätte uns nicht überraschen sollen. Wie konnte er mit uns allen im Schlepptau von Markt zu Markt – und von Bett zu Bett – ziehen? Und doch, sollten sich Väter nicht eigentlich um ihre Kinder kümmern?

Wir waren drei Mädchen und zwei Jungen. Julia-Berthe, die Älteste, dann kam Gabrielle, dann Alphonse, dann ich, dann Lucien. Alphonse war gerade mal zehn gewesen und Lucien sechs, kaum größer als Garnspulen, als unser Vater sie zu »Kindern des Armenhauses« erklärte. Er verschwendete keine Zeit, bevor er sie einer Bauernfamilie als kostenlose Kinderarbeitskräfte überließ und uns bei den Nonnen ablud. In den drei Jahren, die wir nun bei den Nonnen waren, hatten wir kein Wort von unseren Brüdern gehört.

In der Zwischenzeit lebte unser Vater sein freies Leben, wie er es immer getan hatte, und kümmerte sich nur um sich selbst.

»Ich komme wieder«, hatte er mit dem goldenen Lächeln eines Verkäufers zu meinen Schwestern und mir gesagt, als er uns an der Schwelle des Klosters absetzte. Er tätschelte Gabrielles stolzen Kopf, ehe er in seinem Karren am Horizont verschwand.

Julia-Berthe, die Veränderungen nicht mochte, war untröstlich, denn sie verstand nicht, wo unsere Mutter hingegangen war.

Gabrielle war viel zu wütend, um zu weinen.

»Wie kann er mich zurücklassen?«, sagte sie immer wieder. »Ich bin doch seine Lieblingstochter.« Und: »Wir können uns problemlos um uns selbst kümmern. Das tun wir doch sowieso schon seit Jahren. Wir brauchen diese alten Damen nicht, die uns sagen, was wir tun sollen.« Und: »Wir gehören nicht hierher. Wir sind keine Waisenkinder.« Und: »Er hat gesagt, er kommt zurück. Dann tut er das auch.«

Ich, damals acht Jahre alt, weinte ganz verwirrt, denn die seltsamen Bräuche der Nonnen waren mir fremd. Ihre raschelnden Ordenstrachten, die klappernden Rosenkränze, die von ihren Gürteln baumelten, die wie Geister vorbeischwebenden Wolken aus Weihrauch, der durchdringende Seifenlaugengeruch.

Das Kloster war das genaue Gegenteil von allem, was wir kannten. Man sagte uns, wann wir aufstehen mussten, wann essen, wann beten. Der Tag war in verschiedene Aufgaben aufgeteilt: Unterricht, Katechismus, Näharbeiten, Haushaltsführung, unterbrochen vom Angelusläuten und den vorgeschriebenen Gebeten. »Müßiggang«, wiederholten die Nonnen endlos, »ist aller Laster Anfang.«

Selbst die einzelnen Wochentage waren untergliedert, die Wochen, die Monate des Jahres waren in das unterteilt, was die Nonnen die Zeiten der Liturgie nannten. Statt dem 15. Januar oder 21. März oder 9. Dezember handelte es sich um den zwölften Sonntag im Jahreskreis oder den Montag der ersten Fastenzeitwoche oder den Mittwoch der dritten Adventswoche. Das Leben nach dem Tod war unterteilt in Hölle, Fegefeuer und Himmel. Wir erfuhren alles über die Zwölf Früchte des Heiligen Geistes, die Zehn Gebote, die Sieben Todsünden, die Sechs Heiligen Feiertage, die Vier Kardinalstugenden.

Wir lernten alles über den heiligen Stephan, einen buckligen Mönch, dessen Grab sich im Altarraum befand. Obenauf lag er ausgestreckt als Steinstatue mit weiteren in den Stein des Baldachins eingemeißelten Mönchen. Während des Gottesdienstes wanderte mein Blick die verschlungenen Bögen der Buntglasfenster entlang, die sich überschneidenden Kreise, die aussahen wie »C«s für Chanel – für die ewige Verbundenheit mit meinen Schwestern. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was sich in diesem Grab befand, die alten Knochen, eine leere Kutte aus Sackleinen.

»Hier gibt es Geister«, flüsterte Julia-Berthe mir oft mit großen Augen zu. Es gab heilige Geister, unheilige Geister, Geister aller Art, die die Flammen der Votivkerzen flackern ließen und sich in Ecken und schmalen Korridoren versteckten, um Schatten an die Wände zu werfen. Die Geister unserer Mutter, unseres Vaters, unserer Vergangenheit.

Manchmal, wenn wir uns morgens wuschen oder wenn wir abends stumm unsere Gebete sprachen, packte Julia-Berthe mich plötzlich am Arm und drückte zu. »Ich habe Träume nachts, schreckliche Träume.« Mehr wollte sie mir nicht sagen. Ich fragte mich, ob es wohl derselbe Traum war wie meiner: unsere Mutter in einem Bett ohne Decke, ein blutiges Taschentuch in der Hand, bittere Kälte, die durch die dünnen Wände dringt, ihre Augen geschlossen, ihr dünner Körper reglos.

Ich brachte mir bei, mitten in diesen Träumen aufzuwachen, damit ich das Bild abschütteln und zu Gabrielle ins Bett kriechen konnte. Sie ließ zu, dass ich mich an sie kuschelte wie früher, als wir noch klein waren – vor Aubazine hatten wir nie eigene Betten gehabt –, und mich von der Hitze ihres Körpers trösten ließ, vom gleichmäßigen Rhythmus ihres Atems, bis ich wieder einschlief.

Dann, viel zu früh am Morgen, noch vor Sonnenaufgang, ertönten die Glocken. Schwester Xavier stürmte in den Schlafsaal, klatschte in die Hände und verkündete mit ihrer zu lauten Stimme: »Wach auf, meine Herrlichkeit! Wacht auf, Psalm und Harfe!«

Danach begann die Schelte.

»Schneller, Ondine, schneller. Sonst kommt der Tag des Jüngsten Gerichts, bevor du deine Schuhe anhast!«

»Hélène, du hast viel zu beten. Beeile dich!«

»Antoinette, hör auf, mit Pierette zu tuscheln, und mach dein Bett neu. So ist es schlampig!«

Die Nonnen von Aubazine gaben uns ein Dach über dem Kopf. Sie gaben uns zu essen. Sie versuchten, unsere Seelen zu retten und uns zu zivilisieren, indem sie Struktur und Ordnung in unsere Tage brachten. Doch die Leere in unseren Herzen konnten sie nicht füllen.

3

Tage, Wochen, Monate, gewöhnliche Zeiten, außergewöhnliche Zeiten. Die Routinen, anfangs so beruhigend, wurden ermüdend. Dann, eines stickigen Julimorgens im Jahr 1898, unserem dritten im Kloster des Ordens de Saint Cœur de Marie, änderte sich alles.

»Mesdemoiselles«, sagte die Mutter Oberin, als Gabrielle, Julia-Berthe und ich das Geschirr vom Frühstück in die Küche trugen. »Ihr werdet im Besucherzimmer erwartet.«

Wir? Wir wurden nie ins Besucherzimmer gerufen. Außer …

Das Herz klopfte mir bis zu Hals.

War es möglich, dass unser Vater endlich gekommen war, um uns zu holen?

Wir folgten der Mutter Oberin den Korridor hinunter. Ich strich meinen Rock glatt, befühlte meine Zöpfe, in der Hoffnung, dass sie ordentlich waren. Neben mir sah ich Gabrielle dasselbe tun. Sie war diejenige, die all die Jahre behauptet hatte, er würde zurückkommen. Sie hatte sich eingeredet, er sei nach Amerika gegangen, um dort sein Glück zu machen, und würde dann reich zurückkehren.

Als wir schließlich das Besucherzimmer erreichten und die Nonne die Tür öffnete, hielt ich den Atem an, in Erwartung eines Mannes mit dem Grinsen eines Charmeurs, den Händen eines Bauern – unseres Vaters. Stattdessen sah ich bloß eine ältere Dame mit freundlichem Gesichtsausdruck. Sie trug geschnitzte Holzpantoffeln, genannt sabots, einen dicken grauen Rock, Hanfstrümpfe und eine Hemdbluse mit verblasstem Muster.

Großmutter Chanel?

»Mémère.« Julia-Berthe stürzte auf die alte Dame zu, um sie zu umarmen, als könnte sie so unerwartet wieder verschwinden, wie sie aufgetaucht war.

Ich starrte sie an, noch überraschter, als wenn es Albert gewesen wäre.

»Sie können sich ja gar nicht vorstellen, wie beruhigend das für uns war all die Jahre«, erklärte Mémère der Mutter Oberin, »von Markt zu Markt zu reisen und zu wissen, dass unsere lieben Enkeltöchter bei Ihnen gut aufgehoben sind. Das ist kein leichtes Leben da draußen auf der Straße, und nun sind wir zu alt dafür.« Sie schnalzte mit der Zunge, wie alte Leute das gerne tun. Dann bot sie uns Zitronenpastillen an.

Sie und Pépère hatten ein kleines Haus in Clermont-Ferrand gemietet, einem mit dem Zug nicht weit entfernten Ort, und wir waren für ein paar Tage dorthin eingeladen, um den vierzehnten Juli zu feiern, den Nationalfeiertag zum Gedenken an den Sturm auf die Bastille. Wenigstens kamen wir aus dem Kloster raus, und sei es auch nur für kurze Zeit.

Ich sprach nicht aus, was ich dachte, und Gabrielle gewiss ebenso: Vielleicht würde unser Vater in Clermont-Ferrand sein. Vielleicht wartete er dort auf uns.

Irgendwo tief in dieser Leere in meinem Innern, die eigentlich mit Liebe gefüllt sein sollte, konnte ich den Hoffnungsschimmer nicht auslöschen, so dumm es auch war, dass Albert zurückkehren würde. Nicht der alte Albert, aber ein neuer, der uns haben wollte.

Wir brachen auf, und Mémère scheuchte uns in einen Zug. In Clermont-Ferrand führte sie uns zu einem schiefen Häuschen mit nur einem Zimmer, das vollgestopft war mit wahllosem Kram zum Verkauf auf dem örtlichen Markt – platte Fahrradreifen, schimmelige Kisten, verkrustete Pfannen. Angeschlagenes, bunt zusammengewürfeltes Geschirr reihte sich an den Wänden rund um den Herd entlang. Beim Anblick einer Sammlung alter, kaputter Gebisse, gelb und scheußlich, drehte sich mir der Magen um. Es war, als wäre nie etwas weggeworfen worden.

Vor lauter Gerümpel bemerkten wir das Mädchen in der Nähe des Bettes zuerst gar nicht. Sie war etwa fünfzehn, genauso alt wie Gabrielle, oder vielleicht auch sechzehn wie Julia-Berthe, und sie begrüßte uns mit einer Wärme und Begeisterung, die wir nicht gewohnt waren. »Gabrielle?«, sagte sie. »Julia-Berthe? Erinnert ihr euch an mich? Und die kleine Ninette! Es ist schon so lange her. Auf einem der Jahrmärkte, glaube ich, da sind wir uns schon mal begegnet. Seht nur, wie hübsch ihr alle geworden seid.«

Sie hatte den gleichen langen Hals wie Gabrielle, die gleichen feinen Züge und den schmalen Körperbau, doch mit freundlicheren, sanfteren Kurven. Wie wir trug sie die Uniform einer Klosterschülerin, aber sie bewegte sich darin so leicht und anmutig, dass es gar nicht wie Klosterkleidung wirkte. Ich sah, wie Gabrielle eine Haarsträhne hinters Ohr strich. Wir mussten sie wohl ziemlich dümmlich angestarrt haben, denn schließlich mischte sich Mémère ein:

»Ihr dummen Mädchen, das ist Adrienne! Meine jüngste Tochter. Die Schwester eures Vaters. Eure Tante.«

»Tante?«, wiederholte Julia-Berthe. »Sie ist zu jung, um unsere Tante zu sein.«

»Und ob sie eure Tante ist. Ich sollte es schließlich wissen«, erklärte Mémère. »Ich habe neunzehn Seelen auf diese Welt gebracht. Euer Vater war der Erste, da war ich sechzehn, Adrienne die Letzte.«

»Das grande finale«, ergänzte Adrienne mit einem reizenden kleinen Knicks.

Eine Tante in Klosterschuluniform? Eine Tante in unserem Alter? Gabrielle und mir schien es die Sprache verschlagen zu haben.

»Ach, Mädchen, nun schaut doch nicht so verwirrt drein«, sagte Mémère. »Adrienne ist genau wie ihr. Sie geht auf eine Klosterschule in Moulins. Bevor der vierzehnte Juli vorbei ist, werdet ihr alle mehr wie Schwestern sein.«

Vielleicht lag es an diesem verwirrenden neuen Ort, aber einen seltsamen Moment lang schien Adrienne für mich eine Aura zu umgeben, eine Wolke aus goldenem Licht, die sie einhüllte wie die Heiligen auf den religiösen Abbildungen. Ich sah zu Gabrielle hinüber. Normalerweise mochte sie neue Leute nicht auf Anhieb, doch sie lächelte. Adrienne wirkte wie jemand, von dem wir etwas lernen konnten, und ich spürte, dass ich ebenfalls lächelte.

4

Die gute Adrienne. Ihr erster heiliger Akt bestand darin, uns aus diesem dunklen, vollgestopften Haus zu befreien. »Denn, Maman, ich bin schließlich ihre Tante«, erklärte sie mit Nachdruck und überzeugte Mémère, dass es angemessen wäre, uns die Stadt zu zeigen. »Das bedeutet, dass ich ihre Anstandsdame sein kann.«

Ehe Mémère etwas einwenden konnte, folgten wir Adrienne auch schon hinaus. Julia-Berthe, ganz ins Knöpfesortieren versunken, blieb bei unserer Großmutter.

Draußen spazierten wir die kopfsteingepflasterten Straßen entlang, und alles erwachte zum Leben. Die blau-weiß-roten Fahnen flatterten fröhlich von Gebäuden und Laternenmasten. Pferde zogen klappernd Kutschen hinter sich her. Lieferanten mit hochgekrempelten Ärmeln riefen sich Dinge zu, während sie Mehlsäcke oder Kisten mit Senfgläsern von Wagen wuchteten. Die Straßencafés waren laut und voller alter Männer, die kurz eine Tasse Kaffee tranken. Um die Marktstände drängten sich Frauen, um Äpfel und Melonen zu begutachten. Auf dem zentralen Platz des Städtchens errichteten Arbeiter unter lautem Hämmern Bühnen und Buden für die Feierlichkeiten des nächsten Tages.

Adrienne führte uns mit einer Leichtigkeit, und ich versuchte, sie zu imitieren, ein leichtes Lächeln auf den Lippen, den Rücken gerade. Im Schein ihres Lichts verblasste die Dunkelheit in mir. Ich konnte spüren, wie sie vom Wind davongetragen wurde.

Auf einmal blieb ich abrupt stehen, weil ich eine Art Zugwaggon entdeckte, der sich von allein die Straße entlangbewegte. Vorne waren keine Pferde angespannt. Es gab keinen Dampfantrieb. Die Passagiere saßen ruhig darin, als wäre nichts Besonderes dabei. Kabel ragten aus dem Dach wie Fühler von einem Käfer, die zu weiteren Kabeln hinaufführten, die parallel zur Straße verliefen. Obendrauf befand sich ein Schild, auf dem in schöner Schrift geschrieben stand: La Bergère Liqueur.

Adrienne bemerkte mein Staunen. »Le tram électrique«, erklärte sie. »Habt ihr in Aubazine keine Tram? Wir in Moulins schon.«

Gabrielle schnaubte. »Alles, was wir in Aubazine haben, sind Ziegen. Und Kühe. Viele, viele Kühe. Und Schweinezüchter und Ackerbauern, die wir heiraten sollen, wenn es nach den Nonnen geht. Da ist nichts électrique.«

»Aubazine ist so langweilig. Was habt ihr in Moulins noch so?«, fragte ich Adrienne.

Ihre Augen leuchteten auf. »Die Kavallerie. Es gibt eine Kaserne mit Soldaten. Gut aussehende. Sie tragen hohe Lederstiefel und Jacken mit Messingknöpfen. Und leuchtend rote Reithosen. Die solltet ihr mal sehen. Sie stolzieren herum wie Gockel in einem Hühnerstall. Wir bewundern sie, aber nur aus der Ferne.«

Ich seufzte. »Ich wünschte, wir hätten etwas zum Bewundern.«

»Aber das habt ihr doch«, erwiderte Adrienne mit spitzbübischem Lächeln. »Kommt mit, ich zeige es euch.«

Wir folgten ihr bis ans Ende der Straße. Dort bog Adrienne ab und führte uns durch einen hohen Backsteinbogen, hinter dem sich ein Park erstreckte.

»Voilà«, sagte sie.

Wir blieben am Eingang stehen, um den Anblick, der sich uns bot, in uns aufzunehmen. Kieswege schlängelten sich durch hohes smaragdgrünes Gras. Ein Teich schimmerte in der Sonne. Zwei weiße Schwäne mit elegant gebogenen langen Hälsen trieben träge nahe dem Ufer. Bäume raschelten im leichten Wind. Das emsige Treiben der Stadt verblasste. Stattdessen flanierten Damen und Herren in edler Kleidung die Wege entlang. Menschen, die, im Gegensatz zu denen außerhalb des Parks, offenbar nichts zu tun hatten, als verfolgten auch sie wie die Schwäne kein anderes Ziel, als die Szenerie zu verschönern.

»Sie sind alle so … so …« Mir fehlte das richtige Wort. Eindrucksvoll? Dekorativ? Exotisch?

»Reich«, ergänzte Adrienne ehrfürchtig. »Sie sind alle so reich.« Als sie einen Schritt nach vorn trat, zögerten Gabrielle und ich. »Kommt schon«, sagte sie lachend, »die beißen nicht. Um genau zu sein, werden sie uns überhaupt nicht bemerken.«

Sie führte uns zu einer schattigen Bank in der Nähe des Teiches, von wo aus wir diese Leute beobachteten, die noch faszinierender waren als le tram électrique. Die Herren trugen trotz der Hitze edle Anzüge mit schicken Jacketts und gestreiften Hosen und dazu steife Strohhüte. In einer Hand schwenkten sie Spazierstöcke, obwohl sie nicht hinkten, und schritten mit vornehmem Selbstbewusstsein neben zarten Frauen her, die in viele Schichten feiner weißer Spitze gehüllt waren. Spitzenrüschen. Spitzenkrägen. Röcke mit Spitzensaum. Spitzensonnenschirmchen. Die Damen trugen Hüte mit breiter Krempe, so ausladend wie die Hauben der Nonnen, aber mit übergroßen Blumen, riesigen, dramatischen Federn und in manchen Fällen sogar bunten, ausgestopften Vögeln geschmückt. Trotz deren Gewicht gelang es den Damen irgendwie, mit anmutigem Schwung dahinzuschreiten.

»Wer sind die?«, wollte ich wissen.

»Die élégantes«, erwiderte Adrienne theatralisch. »Und ihre schneidigen Begleiter, die gentilhommes.«

Ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren, doch es war egal. Sie sahen nicht einmal in unsere Richtung. Adrienne hatte recht. In unserer Klosterkleidung waren wir für sie etwa so auffällig wie Grashalme.

Gabrielle beobachtete sie nicht mit demselben Entzücken und derselben Bewunderung wie Adrienne und ich. Als ich ihren Gesichtsausdruck sah, wurde mir elend.

»Riesige Sahnetörtchen.« Gabrielle schüttelte den Kopf. »Lebensgroße Staubflocken.«

»Was?« Adrienne drehte sich um. »Wo?«

Gabrielle deutete auf die Damen auf den Wegen. »Vulkanausbrüche von Spitze. Der Puy de Dôme ist nichts dagegen«, erklärte sie und meinte damit den größten der alten Vulkane, die Aubazine umgaben.

»Gabrielle!« Adrienne hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund und hatte die Augen aufgerissen. Ich erstarrte vor Angst, Gabrielle könnte sie beleidigt haben, sodass sie nun nichts mehr mit uns zu tun haben wollte.

Doch hinter vorgehaltener Hand versuchte Adrienne, das Lachen zu verbergen. Mit aufgesetzt ernster Stimme sagte sie: »Eines Tages werden Archäologen sie finden, für die Nachwelt bestens erhalten, wie die Leichen in Pompeji. Nur nicht unter Asche begraben, sondern unter Spitze.«

Nun lachten wir alle gemeinsam. Es fühlte sich gut an, uns über diejenigen lustig zu machen, die unsere Existenz nicht einmal wahrnahmen.

»Was müssen die für Kopfschmerzen haben, mit diesem ganzen Zeug da auf dem Hut«, sagte Gabrielle.

»Wie schön muss es sein, nichts anderes zu tun zu haben, als sich als Bonbon zu verkleiden und völlig sorgenfrei durch den Park zu spazieren«, sagte ich.

»Aber Ninette.« Adriennes Miene wurde feierlich. »Das hier ist viel mehr als ein Spaziergang durch den Park. Siehst du es nicht? Schau sie dir an, wie sie sich bewegen und sich gegenseitig Blicke zuwerfen. Siehst du, wie die Männer die Brust rausstrecken und die Damen die Herren mit klimperndem Augenaufschlag betrachten, sich gegenseitig aber nur giftige Blicke zuwerfen? Das hier ist ein Geschäft, das Geschäft der Liebe und des Umwerbens.« Seufzend fasste sie sich ans Herz. »Ist es nicht fabelhaft?«

Ich sah genauer hin und versuchte, die Augenaufschläge und Blicke zu erhaschen, doch ehe ich Gelegenheit dazu hatte, stand Adrienne auf und strich ihren Rock glatt. »Wir sollten uns auf den Heimweg machen, ehe Maman die Gendarmen nach uns ausschickt.«

Mit diesen Worten hakte sie sich bei uns unter. Doch statt direkt zum Backsteinbogen zu gehen, der zurück in die Stadt führte, steuerte sie auf einen der Kieswege zu und zog uns mit in das Schauspiel hinein, wo wir mit unterdrücktem Lachen trippelten und stolzierten, als würden eines Tages auch wir in das Geschäft der Liebe und des Werbens einsteigen.

5

Der nächste Tag war der vierzehnte Juli. Wir spazierten über den Jahrmarkt, vorbei an den Buden mit Glücksrädern und anderen Spielen, an den Bühnen mit Musik, umgeben von Jungen und Alten, die sich tummelten, so weit das Auge blickte. Alle waren da, außer den élégantes.

»Wo sind sie denn?«, wollte ich von Adrienne wissen. Nach dem gestrigen Spaziergang wollte ich vor allem die élégantes sehen. Nicht die Puppenspieler oder Männer, die versuchten, eingeölte Stangen hinaufzuklettern, um den Schinken oben zu ergattern.

»In ihren châteaux«, erwiderte sie auf meine Frage. »Ihren Schlössern. Sie gehen nicht auf Jahrmärkte. Jahrmärkte sind für die gewöhnlichen Leute.«

Natürlich. Deshalb waren ja auch wir hier.

Aber nicht mehr lange. Adrienne hatte wie immer eine bessere Idee. »Es gibt noch andere Orte, um élégantes zu sehen.«

Wir machten an einem Tabac halt, einer Art Kiosk, und kauften uns mit den Ein-Franc-Münzen, die Pépère jeder von uns für den Jahrmarkt gegeben hatte, für 50 Centimes pro Stück Zeitschriften mit schönen Damen auf der Titelseite. Femina, La Vie Heureuse, L’Illustration. Zurück im Haus, stiegen wir auf den Dachboden hinauf und machten es uns zwischen Getreidesäcken und Kräutern gemütlich, die von den Balken hingen. Durchs offene Fenster drangen die entfernten Klänge der Kapellen herein.

»Seht ihr?« Adrienne hielt die Zeitschriften hoch. »Hier sind unsere élégantes. Alles, was wir brauchen.«

»Brauchen?«, wiederholte Gabrielle. »Wofür?«

Adrienne lächelte. »Um eine élégante zu werden, natürlich.«

Gabrielle und ich wechselten einen Blick. Wir könnten zu élégantes werden?

Adrienne blätterte eine Zeitschrift durch, und da waren sie, die Damen und Herren der feinen Gesellschaft, die Adrienne »la haute« nannte. Seite sechs: élégantes, die Arm in Arm durch den Bois de Boulogne spazierten, während attraktive gentilhommes mit flotten Schnauzbärten sie beobachteten. Seite acht: élégantes, die sich zu Wohltätigkeitsveranstaltungen in den exklusivsten Pariser Salons versammelten und kleinen Mädchen in Rüschenkleidern Blumen abkauften. Seiten elf und vierzehn und fünfzehn: élégantes, die sich in den neuesten Kreationen der großen Modeschöpfer präsentierten.

»Seht euch nur diese Frisuren an.« Adrienne zeigte auf die glänzenden Seiten. »Ist das nicht elegant? Später hole ich meine Haarnadeln, und dann schauen wir mal, ob wir das nachmachen können. Oh, und dieser Hut hier – bezaubernd! Meine Schwester Julia kauft schlichte Strohhüte und dekoriert sie dann selbst. Ich glaube, den hier könnte sie nachmachen.«

Wir teilten uns eine Schere. Adrienne und ich schnitten die Hochzeitsfotos aus, die Bräute umklammerten Blumensträuße. Neben ihnen stand ihr Bräutigam, groß und stolz in Militäruniform mit Bändern und Schärpen und Medaillen. Wie fühlte es sich wohl an, so ausgezeichnet zu sein, mit goldenen Sternen und Sonnen auf der Brust?

Julia-Berthe schnitt ein Foto der Königin von Rumänien und ihren Kindern aus, fein herausgeputzte kleine Mädchen mit glänzenden Haaren und dem gleichgültigen Blick der Verwöhnten. Saubere, plüschige kleine Hunde saßen zu ihren Füßen oder auf ihrem Schoß, nicht die wilden Streuner, an die wir gewöhnt waren.

Es gab Artikel über Theaterstücke, Bilder von Schauspielerinnen in dramatischen Posen, die Augen weit aufgerissen und voll Emotion. Die sammelte Gabrielle.

Es fühlte sich an, als hätte sich ein schwerer Vorhang gehoben. Dank der Zeitschriften waren die élégantes nicht mehr nur ein flüchtiger Anblick im Park, ein verschwommener Eindruck aus weißer Spitze und Sonnenschirmen, den wir nie wiedersehen würden. Diese élégantes hier konnten wir behalten, ausschneiden, studieren, in leere Bonbondosen legen, die Adrienne aus einem von Mémères Stapeln für uns gerettet hatte, »weil es dann leichter ist, sie ins Kloster zu schmuggeln«. Statt das Leben der Heiligen zu imitieren, wie es die Nonnen wollten, konnten wir nun das Leben der élégantes nachahmen, ihren Stil, ihre Haltung, ihre Miene, alles an ihnen.

Als es langsam Abend wurde, versuchte ich, den Gedanken zu verdrängen, dass wir am nächsten Tag zurückfahren mussten. Trotzdem senkte sich die Schwere nach und nach auf mich herab, als hätte sie nur wie eine Wolke Stechmücken hinter mir geschwebt. Nur Julia-Berthe, die sich darum sorgte, dass niemand die Vögel im Klostergarten gefüttert hatte, war bereit zurückzukehren.

Adrienne versprach, dass wir sie wiedersehen würden. Zu jedem Festtag, sagte sie, würden wir nach Clermont-Ferrand kommen. Außerdem gab sie uns ein Andenken mit: Monsieur Decourcelle.

»Aber wer ist das?«, fragte ich flüsternd, da Julia-Berthe inzwischen tief und fest schlief.

»Ein Schriftsteller«, antwortete Adrienne. »Von dem habt ihr doch sicher schon gehört.«

»Wenn es kein Heiliger oder Apostel ist, dann bestimmt nicht«, meinte Gabrielle. »Dafür sorgen die Nonnen.«

»Aber ihr müsst Monsieur Decourcelle kennen!« Adrienne war fassungslos. »Das Leben ist nicht lebenswert ohne ihn. Er hat Die Kammer der Liebe geschrieben und Die Frau, die ihre Tränen unterdrückt und Brünett und Blond. Ich könnte noch ewig weitermachen. Er schreibt über Klosterschülerinnen, die Grafen heiraten, und Bauernmädchen, die Königinnen der Pariser Gesellschaft werden. Die Armen werden reich, die Reichen werden arm. Voilà. Man kann die Bücher einfach nicht aus der Hand legen.«

Draußen krachte plötzlich eine Explosion und schreckte uns auf. Das Feuerwerk hatte begonnen. Aus dem winzigen Fenster der Dachkammer beobachteten wir, wie die flackernden Teilchen in der Ferne funkelten und blitzten wie elektrischer Schnee.

»Klosterschülerinnen, die Grafen heiraten?«, fragte ich. Ich konnte den Blick nicht von den funkelnden Lichtern abwenden.

»Das sind doch bloß Geschichten«, sagte Gabrielle.

Ich ignorierte sie und wandte mich stattdessen an Adrienne. »Wo können wir diese Geschichten finden?«

Sie griff in ihre Tasche und zog ein kleines Büchlein heraus. »Sie erscheinen Kapitel für Kapitel in den Zeitschriften. Man nennt sie mélos. Melodramen. Meine Schwester Julia sammelt sie. Sie wartet jede Woche auf die nächste Folge, und wenn sie alle hat, näht sie sie zusammen und schenkt sie mir. Das hier ist Das tanzende Mädchen aus dem Kloster. Eine reiche, schöne Ballerina von der Pariser Oper gibt alles auf, um Nonne zu werden und in ein Kloster einzutreten und …«

Gabrielle schnaubte. »Das würde niemand freiwillig tun.«

»Schhhh«, machte ich, verärgert über ihre Unterbrechung.

»… sie schenkt all ihre weltlichen Güter einem hübschen Bauernmädchen. Das Bauernmädchen zieht nach Paris und führt nun das Leben der Ballerina voller Reichtum, gut aussehender Verehrer, Schmuck und Seidenkleider. Sie wird der Stolz der Stadt und rettet ihre Familie vor dem Armenhaus. Das Buch ist voll von Leidenschaft und Romantik. Sie tragen die edelsten Kostüme und wohnen in den luxuriösesten Villen.«

Ich seufzte unweigerlich. Vor dem Fenster zischten wieder Silber- und Goldstreifen durch den Himmel.

»Erlauben die Nonnen in Moulins solche Geschichten?«, erkundigte ich mich.

Adrienne schüttelte den Kopf. »Ich habe meine Verstecke. Irgendwo gibt es immer ein loses Dielenbrett. Und jetzt wirst du auch eines finden müssen. Nimm es mit nach Aubazine, Ninette. Ich bin damit durch. Und vielleicht können wir drei – du, ich und Monsieur Decourcelle – Gabrielle davon überzeugen, dass eine Klosterschülerin wirklich einen Grafen heiraten kann.«

In dieser Nacht wurde ich in meinen Träumen nicht von Geistern heimgesucht oder von meiner Mutter, kalt und grau auf einer Bahre. Stattdessen war ich wieder im Park, in mehrere Lagen feinster Spitze gehüllt, als wäre ich etwas Schützenswertes, etwas Wertvolles. Ein Miniaturgarten thronte auf meinem Kopf, während ich durch die Gegend stolzierte, stattliche gentilhommes mit nutzlosen Gehstöcken an meiner Seite. Ich war eine élégante. Ich war eine Heldin in einem mélo von Decourcelle. Ich war »etwas Besseres«.

Es war so viel leichter zu träumen, wenn man wusste, wovon.

6

»Was machst du da?«, fuhr ich Gabrielle im Dämmerlicht des Klosterdachbodens mit seinen tanzenden Staubflocken entsetzt an. Wir hatten Die tanzende Klosterschülerin unter einem Dielenbrett versteckt, genau wie Adrienne es vorgeschlagen hatte, und nun saß Gabrielle hier und löste die Bindung des Buches.

»Pssst.« Sie warf einen Blick Richtung Tür. »Dich kann ja das gesamte Zentralmassiv hören. Entspann dich. Ich tu das hier für uns. Auf diese Weise können wir lesen, wann immer wir wollen.« Sie nahm ein paar Seiten und steckte sie in ihre Tasche. »Wir nehmen sie mit in den Unterricht, raus auf den Hof, wo immer wir hingehen. Wir verstecken sie in unseren Aufsatzheften und Geschichtsbüchern. Das werden die Nonnen nie bemerken. Verstehst du nicht, Ninette?«, sagte sie, und ein schelmisches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. »So können wir den ganzen Tag Decourcelle lesen.«

Wir. Es hatte nicht lange gedauert, bis Decourcelle auch Gabrielle in seinen Bann gezogen hatte.

Die aufgetrennten Seiten mit seinen eher irdischen Leidenschaften legten wir nun zwischen die Geschichten über Frömmigkeit und Verfolgung in Das Leben der Heiligen und tauschten sie aus, sobald wir damit fertig waren. Er war unser Lehrer, nicht die Heiligen oder die Nonnen. Wir lasen in unserer wenigen freien Zeit. Wir lasen während der Ruhepausen. Wir lasen, wann immer wir konnten, so viel, dass wir den anderen Mädchen von den Nonnen als gutes Beispiel vorgehalten wurden.

»Margueritte, hör auf, in die Luft zu starren«, sagte die Mutter Oberin zum Beispiel. »Sieh dir Gabrielle an, wie aufmerksam sie liest.«

Oder: »Pierette, wach auf! Das Buch ist dir in den Schoß gefallen! Warum kannst du nicht wie Antoinette sein?«

Julia-Berthe weihten wir in unser Geheimnis nicht ein. Sie, die immer brav die Regeln befolgte, wäre nicht in der Lage gewesen, den Mund zu halten, sondern hätte alles in einem Anfall überwältigender Schuldgefühle gestanden. Aber abends vor dem Einschlafen kroch ich zu ihr ins Bett und erzählte ihr Geschichten aus Die tanzende Klosterschülerin und betete, dass sie wie ich statt von unserer Mutter von Ballerinas, gut aussehenden Grafen und Liebe auf den ersten Blick träumen würde.

Genau wie Adrienne es versprochen hatte, wurden wir nach dem vierzehnten Juli im August zu Mariä Himmelfahrt wieder nach Clermont-Ferrand eingeladen und dann wieder zu Allerheiligen im November. Zu Weihnachten und dann zu Mariä Lichtmess im Februar. Jedes Mal kauften wir weitere Zeitschriften, um auf dem Laufenden zu bleiben, was die aktuelle Mode anging. Wir schnitten neue Bilder aus und nahmen neue mélos mit nach Aubazine. Das Zimmer der Liebe. Die Frau, die ihre Tränen unterdrückt. Brünett und Blond. Im selben Maß, wie unsere geheime Bibliothek wuchs, eröffneten sich neue Möglichkeiten und erweiterte sich unser Horizont.

Als wir im darauffolgenden April zu Ostern dort waren, regnete es wie les vaches qui pissant, wie Pépère gerne sagte, wie pissende Kühe, sodass wir im Haus blieben. Er gab jeder von uns eine Münze, dann ging er ins Café. Mémère war nicht da, also hatten wir Mädchen das Haus für uns allein.

»Wir veranstalten einen Nachmittagstee«, verkündete Adrienne. »Die élégantes trinken nachmittags immer Tee. Das müssen wir üben.«

Also rannten wir durch den strömenden Regen, um Tee zu kaufen. Adrienne und Gabrielle gaben den Rest ihres Geldes für bunte Zierbänder und Zitronen aus, weil deren Saft angeblich den Teint ebenmäßiger machte. Julia-Berthe kaufte von ihrem Geld Dosen mit Sardinen für die wilden Katzen, die durchs Haus unserer Großeltern schlichen. Ich beschloss, meinen Rest aufzuheben.

»Aber in Aubazine gibt es doch nichts zu kaufen«, sagte Gabrielle.

»Das ist nicht für Aubazine«, erwiderte ich. »Es ist für später.«

Gabrielle lachte. »Später? Da ist es noch zu lange hin. Ich will jetzt etwas Süßes, bevor wir ins Kloster zurückmüssen, wo die Nonnen behaupten, alles, was weniger langweilig schmeckt als eine Hostie, sei Völlerei. Außerdem, was bekommst du schon für ein paar Centimes?«

Ich ignorierte sie und genoss das Gewicht der Münzen, als trüge ich ein Stück Zukunft in der Tasche.

7

Sonntagnachmittags wurden wir gezwungen, hinter Schwester Xavier her die Hügel des Zentralmassivs hoch und wieder runter zu wandern. Um unsere »Konstitution zu stärken«, die, laut den Nonnen, durch unsere Armut in Kindertagen geschwächt war. Während einer solchen Winterwanderung versuchte ich, mir vorzustellen, es sei Frühling und ich wäre im Bois de Boulogne wie die élégantes aus den Zeitschriften, wo ich gemütlich im Schatten eines rüschenbesetzten Seidensonnenschirms dahinflanierte. Da hörte ich Gabrielle zu Hélène sagen: »Unser Vater ist in Amerika. Er hat dort ein Vermögen gemacht und wird uns bald holen kommen.«

Beinahe wäre ich über ein hervorstehendes Stück Vulkangestein gestolpert und konnte mich gerade noch abfangen, um nicht zu stürzen. Hélène schnaubte verächtlich. »Wenn er reich ist, warum sind du und deine Schwestern dann hier?«

Gabrielle hatte das Kinn in die Luft gereckt. »Um eine Ausbildung zu bekommen. Ich habe ihm geschrieben und ihn gebeten, mir ein weißes Chiffonkleid mitzubringen. Er hat es mir versprochen.«

»Du lügst«, sagte Hélène.

»Du bist bloß neidisch«, entgegnete Gabrielle.

Hélène verschränkte die Arme vor der Brust. »Du bist genau wie wir anderen auch. Eine Waise, die keiner haben will. Hör auf, so zu tun, als wärst du was Besseres.«

»Ich bin was Besseres. Jeder ist was Besseres als du.«

»Um genau zu sein, bist du schlechter dran. Meine Eltern sind gestorben. Aber dein Vater lebt noch. Und er will dich nicht haben. Wahrscheinlich hat er dich nie gewollt.«

Am liebsten hätte ich Hélène getreten, so fest ich nur konnte. Ich hätte sie gerne von einem Felsvorsprung gestoßen und ihrem Schrei bis zum Aufprall gelauscht.

Ich schob mich zwischen Gabrielle und Hélène und schob die Hand in die Tasche. Manchmal trug ich die Münzen von Pépère, die ich gespart hatte, mit mir herum. »Er kommt uns holen«, sagte ich zu Hélène. »Und er schickt uns Geld. Schau.«

Ich streckte ihr die Hand hin. Die Sonne ließ die Münzen für den Bruchteil einer Sekunde aufblitzen, ehe ich sie schnell wieder wegsteckte. Hélènes Gesicht war rot angelaufen.

»Siehst du?«, sagte Gabrielle zu ihr. »Hab ich’s dir doch gesagt.«

»Hrmpf«, machte Hélène. Sie gesellte sich zu Pierette, und die beiden bogen scharf ab.

Gabrielle und ich gingen in unbehaglichem Schweigen weiter. Ihre Worte hallten in meinem Kopf nach. Unser Vater kam zurück? Sie hatte ihm geschrieben?

Das konnte nicht stimmen. Es stimmte nicht. Ich wusste es, und mir wurde übel. Nach all unseren Ausflügen nach Clermont-Ferrand, der ganzen Zeit, die wir mit Adrienne verbracht hatten, all den Geschichten in den mélos hatte ich angenommen, Gabrielle würde nicht mehr so viel an Albert denken. Dass sie aufgehört hatte, auf seine Rückkehr zu hoffen. Ich war froh, dass Julia-Berthe weiter vorne ging, näher bei Schwester Xavier, sodass sie nichts hören konnte. Sie würde jedes Wort glauben.

Ich zog den Schal um meinen Hals zurecht, während düstere Gedanken in meinem Kopf kreisten. Ich träumte von Prinzen. Gabrielle träumte von Albert. Für sie war er ein Prinz.

»Vielleicht ist er ja wirklich nach Amerika gegangen«, sagte sie schließlich. »Vielleicht hat er dort ein Vermögen gemacht. Vielleicht ist er gerade jetzt auf dem Weg, uns zu holen.«

Ich schüttelte den Kopf. Mein Mund und mein Hals waren trocken. »Du hast doch die Unterhaltungen bei Mémère gehört. Manchmal, wenn wir dort waren, nannten Nachbarn oder andere Familienmitglieder Albert le grand séducteur, den großen Verführer. Einer sagte, Albert würde in Quimper Damenschuhe verkaufen. Ein anderer behauptete, es wäre Damenunterwäsche in Nantes. Er ist nicht sonderlich weit weg«, sagte ich zu Gabrielle, »und er will trotzdem nichts mit uns zu tun haben.«

Der Blick, den Gabrielle mir daraufhin zuwarf, war der einer viel älteren Frau. Er war hart wie Schorf über einer offenen Wunde. »Umso mehr Grund, ihn zu etwas zu machen, das er nicht ist«, sagte sie.

Die Bäume bogen sich, und Blätter wirbelten vom Boden in Wolken empor, als versuchten sie, ihren rechtmäßigen Platz an den Zweigen wieder einzunehmen. Im Kloster hatte eine starke Windbö den Riegel eines alten Eisentores gelöst, das nun mit lautem, blechernem Getöse auf- und zuschwang. Ich hasste den Wind. Wie er sich durch Ritzen drückte und alles knarzen und beben ließ.

Später am selben Tag landete ich im Krankenzimmer, weil der Sonntagsausflug in der Kälte meinen Zustand verschlechtert hatte. Einen Moment lang glühte ich, als brenne in mir ein Feuer, und kurz darauf klapperten meine Zähne vor Kälte. »Kränklich, genau wie ihre Mutter«, glaubte ich, die Nonnen flüstern zu hören, während sie sich bekreuzigten wie immer, wenn sie von den Toten sprachen.

Schwester Bernadette, die für die Krankenpflege zuständig war, wickelte mich in ein feuchtes Tuch, um das Fieber zu senken. Sie rieb Balsam auf meine Brust und gab mir einen Schluck starken Wein zu trinken, ehe sie als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme meine Stirn mit Weihwasser betupfte. Ich würde leben, verkündete sie, aber man ging besser auf Nummer sicher.

Gabrielle bot an, neben meinem Bett zu wachen. Auf diese Weise kam sie um den Katechismusunterricht und die Handarbeit herum und konnte stattdessen lesen. Sie hielt dabei Das Leben der Heiligen dicht vors Gesicht, und ihre Stimme war so leise, dass Schwester Bernadette nicht hören konnte, dass es sich nicht um den steinigen Weg der Heiligen handelte, sondern um den von Decourcelles Die tanzende Klosterschülerin. Als der Wein und Gabrielles Worte begannen, ihre Wirkung zu entfalten, wurde ich schläfrig. Beinahe hätte ich nicht bemerkt, wie die Mutter Oberin und Schwester Xavier das Krankenzimmer betraten, genau in dem Moment, als Gabrielle die Stelle erreichte, wo Yvette, das Bauernmädchen, das mit der Ballerina die Rollen tauscht, in Paris ankommt.

Gabrielle hörte auf zu lesen und klappte rasch das Buch zu. Die Mienen der Nonnen waren ernst. Würde ich sterben? Waren sie deshalb gekommen? Die Mutter Oberin sah mich streng an, eine Augenbraue so weit hochgezogen, dass sie beinahe das weiße Band ihrer Haube berührte.

Gabrielle sprang auf. Ihr Gesicht war so bleich, dass ich die blauen Adern auf ihrer Stirn durchscheinen sah wie die Schimmelspuren auf einer Käserinde. »Was machen Sie damit?«, wollte sie von den Nonnen wissen. »Das gehört Ihnen nicht.«

Ich stützte mich auf einen Ellbogen, um zu sehen, wie die Mutter Oberin meine blau-weiße Dose in den Händen hielt, in die ich nach der Wanderung die Münzen zurückgelegt hatte. Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich hatte die Dose in einem dunklen Winkel unter meinem Bett im Schlafsaal versteckt.

Die Mutter Oberin zitierte Matthäus: »Ihr sollt euch nicht Schätze sammeln auf Erden, wo sie die Motten und der Rost fressen und …«

»… wo die Diebe einbrechen und stehlen!«, unterbrach Gabrielle sie. Sie stürzte sich mit spitzen Ellbogen auf die Nonnen, das Kinn energisch vorgereckt. Sie war nicht länger die tanzende Klosterschülerin, deren Haltung wir beide nachzuahmen versuchten. Sie war das Bauernmädchen, das auf den Straßen der Auvergne aufgewachsen war. »Das ist Antoinettes Geld«, rief sie. »Sie haben kein Recht dazu, es zu nehmen!«

Ich erschauderte, gleichermaßen aus Sorge um meine Münzen und wegen Gabrielles Kühnheit. Doch sie setzte sich für mich ein, wie ich es für sie bei Hélène getan hatte. Gabrielle wusste, was mir diese Münzen bedeuteten, auch wenn es nicht viele waren. Ich sparte sie für die Zukunft. Für »etwas Besseres«.

»Was ist nur aus dir geworden, Gabrielle?«, schalt Schwester Xavier. »Du kennst die Bibel doch gut. Das heißt, Antoinette und du, ihr solltet eigentlich wissen, dass Reichtümer, wenn überhaupt, im Himmel zu finden sind und nicht in irdischen Dingen.«

Ich hätte gerne etwas gerufen, aber ich war zu benommen, mein Kopf vom Fieber umnebelt. Meine Münzen. Meine kostbaren Münzen. Die waren doch für die Zukunft. Für »etwas Besseres«.

Die Mutter Oberin öffnete die Dose. »Und was ist das hier?« Sie zog meine Papier-élégantes heraus, meine Brautpaare, meine Prinzen und Prinzessinnen. »Ihr sollt Heiligenbilder mit Gebeten sammeln, keine falschen Idole.«

Draußen heulte der Wind und ließ die Fenster klappern. Das kaputte Tor schlug wie eine alte Kirchenglocke. In meinem Fieberzustand hallte sein Klang zusammen mit dem Wind und der Verachtung im Gesicht der Mutter Oberin in mir wider. Ich fühlte mich zu krank, um Widerstand zu leisten.

Doch Gabrielle gab noch nicht auf. Sie versuchte es mit einer anderen Taktik, indem sie sich, diesmal mit beherrschterer Stimme, an die Mutter Oberin wandte: »Bitte, Ma Mère. Unser Großvater schenkt uns bei jedem Besuch eine Münze. Ich habe meine alle für unsinnige Dinge ausgegeben. Aber Antoinette hebt ihre immer auf. Sie könnte sie an Süßigkeiten und bunte Bänder und Krimskrams verschwenden, so wie ich, aber das tut sie nicht. Sie spart sie, damit sie, wenn sie das Kloster mal verlässt, ein bisschen was hat für den Anfang.«

Ich beobachtete den harten Ausdruck auf dem Gesicht der Mutter Oberin, in der Hoffnung, er würde sich verändern, doch das tat er nicht. Sie nahm das bisschen Geld heraus und hielt es in der Hand. Dann schloss sie ihre alten, krummen Finger darum.

»Wir sollen Almosen an die Armen und Bedürftigen verteilen«, sagte sie, »und damit dem Beispiel unseres Erlösers folgen. Die Priester sammeln für La Mission Catholique in China, um den hungernden Kindern in Schanghai zu essen zu geben. Das hier werden wir ihnen als Akt der Frömmigkeit spenden.«

Die beiden Nonnen drehten sich um und gingen hinaus, wobei die Röcke ihrer Tracht über den Boden raschelten und die Rosenkränze an ihrem Gürtel hin und her baumelten. Sie machten Gabrielle ein Zeichen, ihnen zu folgen.

Ich fing an zu weinen, die Art von Tränen, die zuerst ganz still fallen. In irgendeinem Winkel meines fiebernden Kopfes dachte ich noch, dass die Nonnen wenigstens die Lüge über unseren Vater nicht erwähnt hatten. Doch bald folgten Schluchzer, bis mein Kissen ganz durchnässt war und mir die Nase lief. Ich war nicht Die Frau, die ihre Tränen unterdrückt.

Ich weinte um Gabrielle, die sich immer noch nach Albert sehnte, es aber hinter Stolz und Lügen verbarg. Ich weinte um Julia-Berthe, die in jeder Ecke Geister sah. Ich weinte um die Brüder, die ich nicht mehr kannte. Und ich beweinte den Verlust meiner blauweißen Blechdose und der Schätze darin. Diese Dose war wie eine zusätzliche Kammer in meinem Herzen, die heiligste von allen.

Ich blieb eine ganze Woche lang im Krankenzimmer, während der Schüttelfrost kam und ging. Julia-Berthe brachte mir heiße Brühe, die mich von innen aufwärmte wie eine weiche Decke. Nach und nach ging es mir besser, doch wenn die Nonnen das Zimmer betraten, hustete und stöhnte ich. Ich wollte das Bett nicht verlassen. Ich wollte einfach nur schlafen.

Als Schwester Xavier Ende der Woche hereinkam, zuckte ich zusammen und versuchte, tiefer unter die Decke zu kriechen und zu verschwinden. Ich wartete darauf, dass sie in die Hände klatschen würde. Dass sie mich mit lauter Stimme zum Aufstehen auffordern würde. Wach auf, meine Herrlichkeit! Wacht auf, Psalm und Harfe!

Doch ausnahmsweise war sie nicht zu laut. Sie nannte mich nicht schwach oder faul und schimpfte auch nicht mit mir, dass ich wie meine Mutter enden würde. Stattdessen sagte sie, sie hätte mit der Äbtissin gesprochen und sie davon überzeugt, mein Erspartes nicht an die hungernden Kinder in China zu spenden.

»Es war klug von dir, dein Geld zu sparen«, sagte sie. »Nicht verschwenderisch zu sein wie Gabrielle. Ich werde deine Ersparnisse für dich aufbewahren, Antoinette. Ich werde auf das Geld aufpassen, bis es Zeit für dich ist, das Kloster zu verlassen, und du es wirklich brauchst. Hungernde Kinder in China? Arme und Bedürftige – davon haben wir hier in Frankreich genug. Als du und deine Schwestern vor vier Jahren zu uns gekommen seid, da wart ihr so dünn und schmutzig. Ihr habt nur Patois gesprochen. Ihr kanntet noch nicht einmal das apostolische Glaubensbekenntnis. Und nun kannst du es auswendig aufsagen.«

Sie legte mir die Hand auf den Kopf, und ich schluckte mühsam. All die bösen Gedanken, die ich über Schwester Xavier hatte, und nun hatte sie so etwas Nettes für mich getan.

Ich hatte immer geglaubt, die Nonnen würden uns gerne quälen. Doch das Bild von uns, als wir damals nach Aubazine gekommen waren und was nun aus uns geworden war, tauchte wie aus der Ferne vor mir auf. Die Nonnen hatten uns geformt wie die Wasserläufe das Zentralmassiv. Sie hatten uns das einzige Zuhause gegeben, das wir je gekannt hatten, und uns auf die Welt dort draußen, außerhalb der Klostermauern, vorbereitet. Das alles hatte uns nicht geschadet. Selbst bei Decourcelle heiratete der Prinz keine Frau, die nur Patois sprach.

8

Wir waren uns sicher, dass wir Aubazine bald verlassen und unser eigenes Leben beginnen würden. Julia-Berthe war fast achtzehn. Gabrielle bald siebzehn und ich dreizehn. Unsere Ausflüge mit Adrienne in die Welt dort draußen machten uns nur umso ungeduldiger.

Das dritte Jahr in Folge feierten wir den vierzehnten Juli nun in Clermont-Ferrand. Doch ich sparte das Geld von Pépère nicht länger auf. Trotz Schwester Xaviers Beteuerung hatte ich Sorge, die Mutter Oberin würde ihre Meinung ändern und mein Erspartes nach China schicken. Ein weiterer Grund war, dass ich eine andere Verwendung dafür gefunden hatte. Während Julia-Berthe Mémère am Marktstand half, besuchten Gabrielle, Adrienne und ich die Wahrsagerin, die sich am Rand des Marktes herumdrückte. Julia-Berthe, die Brave, fürchtete, das wäre alles Blasphemie und Sünde. Doch ich dachte an den Spruch von Jeremias: »Denn ich weiß wohl, was für Gedanken ich über euch habe.« Vielleicht gravierte Gott diese Gedanken ja in unsere Handflächen ein. Es erschien mir ein guter Weg zu sein, nichts zu vergessen. Oder vielleicht ließ sich das Göttliche ja auch durch die Karten einer Wahrsagerin offenbaren.

Den Aberglauben hatten wir von unserem Vater geerbt, der immer einige Weizenkörner in der Tasche hatte. »Für Wohlstand«, sagte er. Und wenn er nach längerer Abwesenheit nach Hause zurückkam, legte er uns immer einem nach dem anderen mit dramatischer Geste die Hand auf den Kopf, Julia-Berthe, Gabrielle, Alphonse, mir und dann Lucien, wobei er uns zählte: »Eins, zwei, drei, vier, fünf. Fünf. Meine Glückszahl.« Inzwischen wusste ich, dass das alles nur Gerede gewesen war. Doch Gabrielle hatte die Fünf ebenfalls zu ihrer Glückszahl erkoren. Als wir noch klein waren, malte sie sie mit einem Stock in den Staub. In Aubazine zeichnete sie dann fünfzackige Sterne und Halbmonde wie die, die wir in den geheimnisvollen Mosaiken sahen und die wir immer für Glücksbringer hielten. Wann immer wir den Korridor entlanggingen, versuchten wir, daraufzutreten, als würde uns das eine himmlische Kraft verleihen.

Die Wahrsagerin trug ein lila-goldenes Kopftuch und die lockigen Haare lang und offen. Sie mischte ihre Lenormandkarten mit geheimnisvollen Bildern darauf, ehe sie eine nach der anderen auf dem Tisch aufdeckte. Es gab eine Karte mit einem Schiff, eine Wolkenkarte, Baumkarte, Kreuzkarte, Sargkarte, und alle bedeuteten unterschiedliche Dinge in verschiedenen Kombinationen, die nur die Wahrsagerinnen verstanden. Wolken verhießen Unheil, doch Wolken hockten auf den Bergrücken des Zentralmassivs wie Mehlsäcke. An Wolken waren wir gewöhnt. Aber Geld. Liebe. Davon wollten wir mehr hören.

»Du wirst eines Tages große Reichtümer besitzen«, prophezeite die Wahrsagerin Gabrielle.

»Das sagt sie, damit ich jetzt mein Geld für sie ausgebe«, flüsterte Gabrielle leise.

»Du wirst eine wunderbare Liebschaft haben«, verkündete sie Adrienne, als diese an der Reihe war.

Adrienne beugte sich vor. »Aber wen werde ich heiraten?«

Um weitere Antworten zu bekommen, zogen sie und Gabrielle zur Handleserin weiter, während die Wahrsagerin mir die Zukunft voraussagte.

Die Ringe an jedem ihrer Finger klapperten gegeneinander, als sie die Karten mischte. Dann legte sie eine nach der anderen aus: ein Sarg über einem Kreuz. Ich wartete darauf, dass sie mir sagen würde, was das bedeutete, doch sie starrte mich nur wortlos an, als ob sie mein Gesicht lesen könnte. Ihre Augen, dunkel und tiefgründig, blickten unter dem Kopftuch hervor, das sie weit in die Stirn gezogen hatte.

»Ich weiß, dass der Sarg auch etwas Gutes bedeuten kann«, sagte ich hoffnungsvoll. »Wie zum Beispiel das Ende von etwas Schlechtem. Oder der Tod von etwas Ungewolltem …«

Sie legte die Karten weg, ohne sie mir zu deuten.

»Was ist denn? Was heißt das?«

»Manchmal ist es besser, etwas nicht zu wissen«, antwortete sie mit warnendem Blick.

Alles in meinem Innern war plötzlich wie erstarrt. Mein Herz, meine Lunge, selbst das Blut in meinen Adern. Würde etwas Schreckliches passieren? »Bitte sagen Sie es mir!«

Sie betrachtete mich aufmerksam. »Bist du sicher?«

»Ja.«

Ihre Stimme war leise. »Ein früher Tod.«

Mehr sagte sie nicht. Stattdessen zog sie einen Ring von ihrem kleinen Finger und reichte ihn mir. »Nimm das hier.«

Der Ring bestand aus einem dicken Goldband mit einem runden gelben Stein. Wunderschön und wertvoll sah er aus. Wie etwas, das in meiner Vorstellung eine élégante tragen würde. Noch nie hatte ich so etwas Prachtvolles in der Hand gehalten.

»Der Stein besitzt die Kraft der Sonne«, sagte die Wahrsagerin. »Er bringt Licht und Wärme an die dunkelsten Orte.« Dann sagte sie noch etwas in einer Sprache, die ich nicht verstand, ehe ihre Augen dunkel wurden, als wäre ein Vorhang zugezogen worden, und sie sich wegdrehte.

Ein früher Tod. Jemand würde jung sterben. Jemand würde sterben, bevor seine oder ihre Zeit gekommen war. Dann begriff ich plötzlich voller Erleichterung: unsere Mutter. Die Karten hatten sich auf Jeanne bezogen.

Als ich Gabrielle und Adrienne den Ring zeigte, untersuchte Gabrielle ihn, als wäre sie Expertin für Edelsteine. »Der ist nicht echt«, verkündete sie.

»Woher willst du das wissen?«, fragte ich.

»Weil er von einer herumreisenden Wahrsagerin kommt.«

Schnell schaltete sich Adrienne ein. »Aber das bedeutet doch, dass er wirklich echt sein könnte. Herumreisende kriegen alles Mögliche in die Finger. Oh, Ninette, stell dir nur vor, vielleicht hat der mal einer Königin gehört!«

Gabrielle schüttelte den Kopf. »Königinnen haben dicke Finger. Dafür ist er zu klein. Einer Königin würde dieser Ring nie passen.«

»Nun denn«, sagte ich, weil ich nicht zulassen wollte, dass sie das für mich kaputtmachte. »Dann hat er genau die richtige Größe für eine Prinzessin.«

9

Gabrielle und ich hatten unser Geheimnis: die mélos unter den Dielenbrettern, in Büchern versteckte Seiten von Decourcelle. Und ich besaß meinen geheimen Ring, den ich an einer Schnur um den Hals trug, verborgen unter meiner Bluse.

Doch als der Sommer in den Herbst überging, war es Julia-Berthe, die uns alle mit dem größten Geheimnis von allen überraschte. Es war Gabrielle und mir, so besetzt von Decourcelles Welt, völlig entgangen. Genau wie allen anderen. Bis Schwester Genevieve irgendwann in den Gartenschuppen ging, weil sie ein Seil holen wollte, um das klappernde Tor festzubinden.

Hélène, Pierette, Gabrielle und ich saßen dicht gedrängt um den warmen Ofen im Handarbeitsraum herum und übten zum zehntausendsten Mal unsere Stiche, während Hélène endlos von einem Jungen erzählte, der an einem Obst- und Gemüsestand in der Stadt arbeitete, wo sie mit ihrer Großtante in den Ferien gewesen war. Seine Finger hatten ihre berührt, als er ihr eine Pflaume reichte, was laut Hélène bedeutete, dass er in sie verliebt war. Sie redete immer noch, als plötzlich irgendwo aus dem Kloster ein lautes Heulen erklang, das uns alle zusammenzucken ließ.

Nadel und Faden rutschten mir aus der Hand und fielen zu Boden. Es klang wie Julia-Berthe. In der Vergangenheit war sie untröstlich gewesen, als ein Habicht aus den Bergen herbeigesegelt kam, sich ein Kaninchenbaby schnappte und mit dem armen Tier in den Krallen davonflog. Und auch als sie mal ein Vogelnest auf dem Boden fand, mit zerbrochenen Eiern darin und zwischen den Schalenstücken zwei ungeschlüpfte Küken, rosa und faltig, die nie Federn bekommen oder fliegen lernen würden.

Das hier jedoch fühlte sich anders an.

Voller Panik sprang ich auf und stürzte in die Richtung davon, aus der nun laute Schluchzer kamen, dicht gefolgt von Gabrielle. Wir eilten durch die Gänge, die ausgetretenen Steinstufen der Treppe zum Flur hinunter, der zum Büro der Äbtissin führte. Vor der geschlossenen Tür blieben wir stehen. Wir konnten das leise Murmeln der Nonnen hören. Wir konnten Julia-Berthe weinen hören und wie sie in einem fort wiederholte: »Aber er sagt, er liebt mich.«

Er?

Gabrielle und ich wechselten einen Blick, denn wir schnappten nur Bruchstücke von dem auf, was Schwester Bernadette sagte.

»… der Sohn vom alten Hufschmied … der, der das Tor reparieren sollte … kein Wunder, dass es immer noch kaputt ist … wenn ich nicht in dem Moment in den Gartenschuppen gekommen wäre … kurz davor, Unzucht zu begehen.«

Dann »Jesus, Maria und Josef« und das Klacken von Rosenkranzperlen.

Einen Augenblick lang stockte mir der Atem. Julia-Berthe, die immer alle Regeln befolgte. Julia-Berthe, die die Welt in Schwarz und Weiß sah, in Richtig und Falsch, Gut und Schlecht. Julia-Berthe hatte sich heimlich mit einem Mann getroffen?

»Aber er hat gesagt, er liebt mich«, schluchzte Julia-Berthe wieder. »Er liebt mich, und er will mich heiraten.«

Die Stimme der Äbtissin war schneidend. »Dich heiraten? Er ist schon verheiratet. Seine Frau hat vor Kurzem ein Kind bekommen, das hier in der Kirche getauft wurde.«

Hinter der Tür herrschte dumpfes Schweigen, schwer vor Julia-Berthes Kummer.

»Nein«, widersprach sie mit schwacher Stimme. »Nein. Das kann nicht sein. Er will mich heiraten. Warum sollte er sagen, dass er mich heiraten will, wenn er schon verheiratet ist?«

Ich erstarrte. Ein verheirateter Mann. Ein Mann, der sie belogen hatte. Ein Mann mit Frau und Kind zu Hause. Ein séducteur. Ähnlich wie unser Vater.

Hier im Kloster, direkt vor unseren Augen, war Julia-Berthe von einem Mann getäuscht worden.

Die Tür ging auf. Gabrielle und ich sprangen zurück. Julia-Berthe kam mit gesenktem Blick heraus, das Gesicht glänzend vor Tränen und auf beiden Seiten von Nonnen flankiert. Schwester Bernadette folgte und verkündete, dass sie einen Priester finden müssten, und zwar sofort, es sei keine Zeit zu verlieren.

Sie verschwanden am Ende des Ganges, während weitere Nonnen aus dem Büro der Mutter Oberin herausgeflattert kamen, zu abgelenkt, um uns wegzuscheuchen. Dann kam Schwester Xavier.

»Was macht ihr hier?«, wollte sie wissen. »Geht zurück in den Handarbeitsraum.«

»Ist mit Julia-Berthe alles in Ordnung?«, fragte ich.

»Was passiert jetzt mit ihr?«, wollte Gabrielle wissen.

Die Mutter Oberin sah uns streng an. »Der ewige Friede ihrer Seele ist in Gefahr. Eure Schwester hat eine schwere Sünde begangen und gegen das Gebot der Keuschheit verstoßen.« Sie bekreuzigte sich und eilte davon.

Ich sah Gabrielle an, doch die schüttelte bloß den Kopf und murmelte leise und verwundert: »Wenn man schon gegen das Gebot der Keuschheit verstößt und sich versündigt«, sagte sie, »dann doch wenigstens mit jemandem, der reich ist.«

Wir wussten schon von klein auf über die Beziehung zwischen Männern und Frauen Bescheid. Schließlich hatten wir in kleinen Zimmern mit dünnen Wänden oder ganz ohne Wände gehaust. Wir sahen Katzen in Hinterhöfen, Ziegen in ihren Pferchen, Vieh auf der Weide.

Wir wussten, dass Babys nicht vom Storch gebracht wurden. Hatte sich Julia-Berthe daran erinnert, was unser Vater mit unserer Mutter gemacht hatte, wenn er von seinen Wanderungen zurückkam? Erinnerte sie sich an sein Grunzen in der Nacht, an die Schatten an den Wänden? Unsere Mutter nannte es faire l’amour. Liebe machen. Julia-Berthe, für die Wörter nie eine übertragene Bedeutung hatten, musste geglaubt haben, sie könnte »Liebe machen«, wie man einen Pullover strickte. Dass hinterher etwas Greifbares blieb, etwas, das man behalten konnte.

Die anderen Waisen im Kloster sprachen über Julia-Berthes Rendezvous mit dem Sohn vom alten Schmied wie von einem Skandal. Die Nonnen wiederholten oft ein Sprichwort des heiligen Hieronymus: Wer eine Menge Gold bei sich trägt, sollte darauf achten, keinen Schurken zu begegnen. Wann immer sie das in der Vergangenheit gesagt hatten, musste ich das Lachen unterdrücken. Die Nonnen wussten doch, dass wir kein Gold besaßen, weder viel noch wenig. Doch nun ergab es einen Sinn. Julia-Berthe war einem Schurken begegnet. Beinahe hätte er ihr Gold gestohlen.