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»Er hatte nie eine Tochter gehabt. Nun war sie da.«
Für ihren Schwiegervater, den Dichter und Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe, war sie unentbehrlich: Ottilie von Goethe, eine geb. von Pogwisch aus schleswig-holsteinischem Uradel, war eine der unkonventionellsten, faszinierendsten, auch umstrittensten Frauen ihrer Zeit.
Obwohl ihre adelsstolzen Verwandten die Ehe mit August, dem unehelich geborenen Sohn des Dichters, nicht billigten, kam die Heirat zustande. Ottilie hatte dabei hauptsächlich ein Ziel: Goethes Schwiegertochter zu werden.
Die Ehe mit August erwies sich als problematisch, Ottilie suchte Trost in diversen Liebschaften. Doch ihre Heiterkeit, Intelligenz und Hilfsbereitschaft machten sie ihrem Schwiegervater bald unersetzlich. Nach Augusts frühem Tod sah Ottilie in der Sorge für Goethe und sein Werk ihre Lebensaufgabe. Und er förderte die geistigen Interessen der Mutter seiner drei Enkelkinder Walther, Wolfgang und Alma. Ottilie schrieb auch selbst, dichtete und gründete die Zeitschrift Chaos. Goethes letzte Worte gehörten Ottilie.
Dagmar von Gersdorff zeichnet das Bild einer geistreichen, liebeshungrigen, unkonventionellen Frau. Nach Goethes Tod musste sich Ottilie neu erfinden. Sie führte ein unstetes Leben zwischen Weimar, Wien und Italien. Den geistigen Größen ihrer Zeit durch Freundschaften verbunden, genoss sie, nicht nur als »Goethes Schwiegertochter«, bis zuletzt hohes Ansehen.
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Seitenzahl: 387
Dagmar von Gersdorff
Die Schwiegertochter. Das Leben der Ottilie von Goethe
Mit zahlreichen Abbildungen
Insel Verlag
Für Andrea und Alexander von Gersdorff
Man kann Sie nie vergessen, hat man Sie einmal gekannt.
Frédéric Soret an Ottilie von Goethe
Cover
Titel
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Widmung
Motto
Inhalt
I
.
Ottilie
Wilhelmine Ernestine Henriette Freiin von Pogwisch
»Du weißt, ich liebe den Vater
ungewöhnlich
–«
Julius
August
Walther von Goethe
»Du könntest mit diesem wilden Menschen sehr unglücklich sein!«
Begegnung in Goethes Garten
Die Erinnerung glücklicher Stunden …
II
. Verlobung unter Tränen
»Es ist der Wille der beiden jungen Leute«
Der erste Sohn
»Durch ihn wird das Geschlecht in alle Zukunft weiterleben.«
III
. In der preußischen Residenzstadt
»Ottilie freute sich unendlich«
Ein zweiter Junge
»Daß dem Vater in dem Sohne …«
Urfreundin Adele Schopenhauer
»Ich paßte nur zu Ottilien.«
IV
. Ein Götterbote
»Er war eine auffallend anziehende Erscheinung.«
Die Marienbader Grazie
»Ich hoffe, daß der 74jährige Goethe nicht so unweise handeln wird.«
Johann Peter Eckermann
»In dieser Zeit hörte ich zuerst den Namen Goethe.«
V
. Doppelter Verrat
»Ottilies Leidenschaftlichkeit zerstört alles.«
Trennung – oder Scheidung
»Sieben Jahre lang habe ich mich ungeliebt gesehen«
Die englischen Liebhaber
»Weimar an der Ilm ist eine Stadt, Schön, weil sie viele Schönheiten hat, Alle Fremden sind wohlgelitten, Vorzüglich die Briten.«
VI
. Alma soll sie heißen
»Wie ich auch versuchte, glücklich zu sein.«
Jenny von Pappenheim
»Die schönste junge Dame von Weimar.«
Eine Zeitschrift namens Chaos
»Auf der geistigen Höhe unserer Weimarer Gesellschaft.«
VII
. August von Goethe in Italien
»Ich will nicht mehr am Gängelbande …«
August stirbt
»Goethe spricht fast mit niemandem darüber.«
Goethes Letzter Wille
»… eine Wiederverheiratung würde das Fallgatter sein«
VIII
. Goethes Tod
»Er war meine Zeit, denn er füllte sie ganz aus.«
Die Liebenden am Rhein
»Ewige Trennung oder innige Verkettung.«
Die Bettlerin von Weimar
»Ich hab' einst bessere Tage gekannt …«
IX
. Das junge Deutschland
Der Schriftsteller Gustav Kühne
Romeo Seligmann
»In keinem Verhältnis kann man von einem Mann Glück erwarten.«
Die Erben
»Ich habe an meinem berühmten Namen zu schleppen.«
Alma stirbt
»Mein Zimmer wird von Tränen getränkt.«
X
. Abschiede
»Die letzten Sonnenblicke …«
Die Söhne
»Zwei in Nachtvögel verwandelte Prinzen.«
Tod in Weimar
»Weil das Zarte sich nicht in Worten ausspricht.«
Anhang
Dank
Literatur
Anmerkungen
Namenregister
Bildnachweis
Informationen zum Buch
Impressum
Hinweise zum eBook
I.
Wem von beiden war sie zuerst aufgefallen, dem Vater oder dem Sohn? Goethe, soviel ist sicher, hatte sich schon früh wohlwollend über Ottilies warme Stimme geäußert. Er habe sie immer aus allen anderen herausgehört, hatte er behauptet. Daß ihm die Vierzehnjährige zu seinem Geburtstag einen Blumenstrauß überreichte, war nicht vergessen – es hatte Goethe gefallen. Zum Dank wurde die anmutige junge Dame an seinen Mittagstisch gebeten. Ihre spontanen Antworten hatten ihn zum Schmunzeln gebracht. Diese lebhafte Person war entschieden anziehender als die spröden Mitglieder ihres Musenvereins.
Als Karl und Ernst zu Gast waren, die Söhne seines Freundes Schiller, lud Goethe Ottilie wieder ein. »Mittags Frl. Pogwisch und beyde Schillers«, liest man in seinem Tagebuch vom 4. Oktober 1812. Ihre Gegenwart war ein Gewinn. Es wurde viel geredet und noch mehr gelacht. Schon im November durfte sie wiederkommen, im Dezember ebenfalls. »Mittag Frl. Bowisch« und »Mittags Frl. v. Bogwisch« lauten die Einträge. Schließlich merkte sich Goethe ihren richtigen Namen: »Mittags die zwey Fräulein von Pogwisch«. Die jüngere Schwester hatte mitkommen dürfen. Man erfuhr, daß Ottilie Klavier spielte, Englischunterricht nahm und die von der Herzogin gegründete Nähschule besuchte. Das alles berichtete sie mit gewinnender Liebenswürdigkeit. Von ihrem anziehenden Wesen angetan, erwähnte der Dichter bei seinem Freund Knebel noch einmal Ottilies schöne Altstimme, die ihm an den Sonntagen, als in seiner »Hauskapelle« alte italienische Lieder erklangen, besonders gefallen habe.
Es ist anzunehmen, daß an den Mahlzeiten auch des Dichters einziger Sohn teilnahm. Bemerkte der Vater die Blicke, die August der Besucherin zuwarf? Am 25. Dezember 1812, seinem zweiundzwanzigsten Geburtstag, trank man auf Augusts Wohl – der regierende Herzog Carl August hatte ihn zum Wirklichen Assessor im Kammerkollegium ernannt. Grund genug, auch die hübsche Ottilie zur Feier einzuladen. »Mittags Fräulein von Pogwisch.« Schüchtern war sie nicht, das tat dem steifen Sohn gut. Ihm schien die ungewohnte Schlagfertigkeit, mit der die gerade Sechzehnjährige das Tischgespräch belebte, zu gefallen. Den wahren Grund seiner Einladungen verrät Goethes Tagebuch mit keiner Silbe. Daß sich eine Absicht dahinter verbarg, zeigte sich erst später, als der Dichter noch andere Fäden spann, um die Verbindung seines Sohnes mit dem geschätzten Freifräulein fester zu knüpfen.
Über Ottilies Herkunft, ihre Familie, ihre Geschwister wußte Goethe, der bis dahin gerade einmal ihren Namen kannte, so gut wie nichts. Was würde er erfahren, wenn er nach der Familie derer von Pogwisch, nach Ottilies Eltern fragte? August hatte berichtet, daß Ottilie in den Mansarden des Fürstenhauses wohnte, unmittelbar über den Gemächern der regierenden Herzogin Luise. Allerdings hatte er Ottilies Vater noch nie zu Gesicht bekommen.
Weder Goethe noch sein Sohn wußten, daß Ottilie von Pogwisch noch nie in ihrem Leben ein richtiges Zuhause erlebt hatte, sondern unter denkbar ungünstigen Bedingungen aufgewachsen war. Schuld an der Misere war der preußische Major Julius von Pogwisch, Ottilies Vater. Er war zweiunddreißig Jahre alt, als er der sechzehnjährigen Komtesse Henriette Henckel von Donnersmarck begegnete, Tochter des Gouverneurs von Königsberg, in die er sich stürmisch verliebte. In Schloß Rheinsberg bei Potsdam fand die Vermählung der zwanzigjährigen Henriette mit dem wohlhabenden Gutsbesitzer statt.
Noch im Hochzeitsjahr wurde ihnen am 31. Oktober 1796 im preußischen Danzig das erste Kind geboren, die Tochter Ottilie Wilhelmine Ernestine Henriette Freiin von Pogwisch. Zu dieser Zeit, und auch nach der Geburt der zweiten Tochter, Ulrike Henriette Adele Eleonore, herrschte zwischen den Eltern das schönste Einvernehmen. Der Major war ein liebender Ehemann und zärtlicher Vater – bis das denkbar größte Unglück über ihn hereinbrach. Durch Grundstücksspekulationen verlor Freiherr von Pogwisch seine gesamten Güter und Ländereien. Unglaublicher Leichtsinn hatte den finanziellen Ruin zur Folge. Die Katastrophe erwies sich als so weitreichend, daß der unselige Major nicht einmal mehr Frau und Kinder ernähren konnte. Henriettes Mutter, die energische Reichsgräfin Eleonore Henckel von Donnersmarck, befahl ihrer Tochter die sofortige Trennung von diesem unrühmlichen Gatten.
Damit begann für die vierundzwanzigjährige Freifrau von Pogwisch ein elendes Wanderleben. In trostloser Verfassung ging sie zunächst zu einem Onkel, der sie und die kleinen Mädchen, vier und zwei Jahre alt, so lange aufnahm, bis der verschuldete Major seine Finanzen geregelt haben würde. Doch nichts geschah. Um ihrer Mutter nicht auf der Tasche zu liegen, beschloß Henriette, sich eine bezahlte Tätigkeit zu suchen. Für Frauen – und speziell solche der gehobenen Stände – war ein derartiges Vorhaben so gut wie aussichtslos. Doch Henriette von Pogwisch hatte Glück. Prinzessin Friederike von Solms-Braunfels, Schwester der Königin Luise von Preußen, suchte eine Erzieherin für ihre Kinder. Henriette bekam die Stelle und war überglücklich, auch ihre kleinen Töchter ins fränkische Ansbach mitbringen zu dürfen. Allerdings waren die Mädchen fortan meist sich selbst überlassen; ihre Mutter war von morgens bis abends eingespannt. Die sechsjährige Ottilie mußte lernen, Verantwortung zu übernehmen und sich klug anzupassen, um der Mutter keine Schwierigkeiten zu bereiten. Als es nach drei Jahren zu Mißhelligkeiten zwischen Fürstin und Erzieherin kam, trennte man sich. Frau von Pogwisch ging nach Dessau zu ihrer Stiefschwester Auguste von Hagen. Hier wurden die Mädchen zwar liebevoll aufgenommen, doch das Gefühl, wieder nur Anhängsel zu sein, verließ Ottilie nicht.
An eine Rückkehr in die Heimat war nicht zu denken. Major von Pogwisch saß weiter auf hohen Schulden. Was sollte eine mittellose Offiziersfrau mit zwei Kindern bei einem nichtswürdigen Taugenichts, zürnte die Reichsgräfin, und untersagte der Tochter jede Wiederannäherung. Daraufhin suchte Henriette Zuflucht bei ihrer Tante Bertha von Schmeling in Ludwigslust, wo sie so lange unterkam, bis sie nach Thüringen befohlen wurde: Die Reichsgräfin hatte eine Stellung als Oberhofmeisterin bei Erbprinzessin-Großfürstin Maria Pawlowna in Weimar erhalten. Das geschah im April des verhängnisvollen Jahres 1806, in welchem der preußische König Friedrich Wilhelm III. die entscheidende Schlacht gegen Napoleon bei Jena und Auerstedt verlor. Geschlagene und verwundete Preußen und marodierende französische Soldaten fielen in der Stadt ein; am 15. Oktober 1806 erlebten die Neuankömmlinge den Einzug Napoleons im Weimarer Schloß. Goethe wurde in seinem Haus von plündernden Soldaten bedroht, von seiner Gefährtin Christiane Vulpius jedoch mutig beschützt, so daß er sie aus Dankbarkeit für ihre Fürsorge am 19. Oktober zur Frau nahm. Der gemeinsame Sohn August war zu diesem Zeitpunkt sechzehn Jahre alt.
Reichsgräfin Henckel von Donnersmarck, Ottilies Großmutter, hatte ihr Logis im Fürstenhaus nahe der Anna-Amalia-Bibliothek bezogen; gnadenhalber durfte auch ihre Tochter mit den Kindern dort einziehen. Die Zimmer unter dem Dach waren kalt, kahl und unbeheizbar. Als dann auch Henriette eine Stelle als Hofdame erhielt, blieben die zehnjährige Ottilie und die achtjährige Ulrike wieder sich selbst überlassen. Der gutherzigen Oberkammerherrin Caroline von Egloffstein war es zu verdanken, daß die Mädchen wenigstens täglich mit einer warmen Mahlzeit versorgt wurden. Von einem geregelten Unterricht ist nirgends die Rede. Nach ihren Briefen zu urteilen, war Ottilie wißbegierig, intelligent und lernbereit. Sie las wie besessen und hatte bald eine ganze Reihe von Lieblingsschriftstellern, worunter E. T. A. Hoffmann an erster Stelle rangierte. Seine überschäumende, groteske Phantasie diente ihr später als Vorbild zu eigenen Erzählungen. Außerdem betrieb sie mit ungewöhnlichem Eifer ihre Englischstunden. Englisch war leicht faßbar, war modern, war zukunftsweisend. Ottilie lernte.
Als besonderer Glücksfall erwies sich die Bekanntschaft mit einem Mädchen, das ebenfalls vor nicht langer Zeit nach Weimar gekommen war: Luise Adelaide Lavinia Schopenhauer, genannt Adele. Sie stammte wie die fast gleichaltrige Ottilie aus dem preußischen Danzig und war wie sie ohne Vater aufgewachsen. Adele Schopenhauer war intelligent und eigenständig, führte ein kluges Tagebuch und schrieb durchdachte Briefe. Hübsch war sie freilich nicht. Mit ihren hervorstehenden Augen und der großen Nase wirkte sie neben der anmutigen Freundin knochig und unschön. Adele war deshalb nicht ganz ohne Neid, doch Ottilies überwältigende Liebenswürdigkeit beseitigte jede Unstimmigkeit. Wißbegierig und begabt, gründeten beide einen Musenverein, lasen abwechselnd die Odyssee und Jean Pauls Hesperus, schrieben sich Liebesbriefe, dichteten, sangen gemeinsam im Chor von Stadtmusikus Eberwein; beide vereinte über alle Schicksalsschläge hinweg bis zum Lebensende eine anhängliche, aufrichtige, seltene Frauenfreundschaft.
Adeles Mutter Johanna Schopenhauer hatte in Weimar einen bekannten Salon etabliert, in dem die Gäste Fragen zu Kunst und Literatur erörtern und die politische Lage diskutieren konnten. Wenn er Zeit und Lust hatte, kam auch Goethe; eigens für ihn hielt die Gastgeberin einen Tisch bereit, an dem sich der Dichter neben Tee und Gespräch mit seinem Zeichengerät beschäftigen konnte.
Abb. 1: Die zehnjährige Adele Schopenhauer mit ihrer Mutter Johanna, 1806. Ölgemälde von Caroline Bardua
Am Nachmittag des 10. Juli 1813 ließ Goethe an Madame Schopenhauer eine überraschende Bitte übermitteln: »Sodann könnten vielleicht die Fräuleins von Pogwisch eingeladen werden.«1 Die Gastgeberin brauchte nicht lange über den Grund der ungewöhnlichen Bitte zu rätseln – statt des Vaters kam diesmal sein Sohn. »Der schöne August«, wie Louise von Harstall ihn titulierte, versetzte die sechzehnjährige Ottilie in große Aufregung. Ein Glück, daß das Wiedersehen auf neutralem Terrain stattfand; zu Hause hätte es wegen der unerlaubten Nähe sofort Streit gegeben. Großmutter Reichsgräfin hatte ihr den Umgang mit Goethes außerehelichem Knaben kategorisch verboten.
Der dreiundzwanzigjährige August ließ das Treffen offenbar nicht ungenutzt verstreichen. Wie sehr er sich um die kapriziöse Schönheit bemühte, entnimmt man einem Brief, den Ottilie am 14. Juli 1813 ihrer Mutter nach Karlsbad schickte. »Unsere Ruhe wird durch nichts unterbrochen, nicht einmal durch die Seufzer eines Anbeters, da dieser wenige Tage nach Deiner Abreise die Masern bekommen hat; doch weiß ich aus sicheren Quellen, daß die Masern ihn nicht von einer andern Krankheit befreit haben, an welcher der junge Herr schon seit mehreren Monaten litt« – diese »andere Krankheit«, erläuterte Ottilie reichlich arrogant, sei bekannt »unter dem Namen des Liebesfiebers«.2 August war nicht nur gefährlich krank, seine schönen Pläne wurden außerdem jäh durch kriegerische Ereignisse zunichte gemacht. Nach dem Sieg der alliierten Truppen über Napoleon im Oktober 1813 hielten preußische Offiziere in Weimar Einzug, und die reizende Ottilie verliebte sich Hals über Kopf in einen anderen Mann.
Augusts Rivale war der dreißigjährige Premierleutnant Ferdinand Heinke aus Breslau. Er war dem Aufruf des Königs »An mein Volk« augenblicklich gefolgt, hatte als Freiwilliger an der Völkerschlacht bei Leipzig teilgenommen und war mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet worden. August von Goethe dagegen war die Teilnahme am Krieg strikt untersagt worden. Der Dichter hatte Angst, den einzigen Sohn im Gefecht zu verlieren. So wurde der unglückliche August nicht nur von seinen siegreich heimkehrenden Altersgenossen verspottet, er mußte auch erleben, daß Ottilie sich von ihm ab- und einem anderen zuwandte.
Ferdinand Heinke machte durch sein entschlossenes Auftreten wie durch seine elegante Erscheinung hoch zu Roß in preußischer Uniform großen Eindruck. Sein Regiment hatte sich in einem sechsstündigen Reitergefecht gegen die Franzosen durchgesetzt; auch deshalb wurde er wie ein Held begrüßt und von den bedeutenden Familien begeistert empfangen. Heinkes Ruhm wuchs noch, als es ihm gelang, Goethes Haus vor zwölf Gardekosaken zu bewahren, die gewaltsam Quartier nehmen wollten. Der arme August mußte mit ansehen, wie sein Vater dem jungen Helden als Dank ein handsigniertes Exemplar der Wahlverwandtschaften überreichte.
Abb. 2: Der preußische Gardeleutnant und Jurastudent Ferdinand Heinke
Ottilie von Pogwisch, in diesem Oktober 1813 gerade siebzehn Jahre alt, lernte Ferdinand Heinke bei Schopenhauers kennen. Der schneidige Premierleutnant mit seinem strahlenden Lächeln unter schwarzem Schnurrbart entpuppte sich als gebildeter Studiosus, der kurz vor dem juristischen Examen gestanden hatte, als er sich zur Waffe meldete. Ohnehin war Ottilie seit ihrer frühesten Jugend von Enthusiasmus für Preußen erfüllt – schließlich war sie im preußischen Danzig geboren worden, ihr Vater stand als Hauptmann im Dragonerregiment von Werthern in preußischen Diensten – Preußen war ihre eigentliche Heimat. Nun trat Ferdinand Heinke als glänzender Repräsentant dieses Staates in ihr Leben. Er hatte Geist und Witz, war dunkelhaarig und schön wie ein junger Gott – alles an ihm war hinreißend. Man verabredete sich, man traf sich. An Einladungen, Tees und Soupers war kein Mangel. Heinkes Geburtstag nahte, er wurde einunddreißig Jahre alt. Ein »neues, reich blühendes Leben« sei für ihn aufgegangen, notierte Heinke in sein Tagebuch.
Ottilie von Pogwisch mit ihren wirbelnden Locken, ihren Einfällen, ihrem Lachen blieb nicht ohne Wirkung. In Heinkes Aufzeichnungen ist sie der leuchtende Stern, »wie gewöhnlich Mittelpunkt« und »Glanzpunkt« der Gesellschaft. Ottilie wich nicht von seiner Seite, auch dann nicht, als Heinke ihr berichtete, daß er bereits verlobt sei mit Charlotte Werner, der Tochter eines wohlhabenden Bergwerksdirektors. Das war ein herber Schlag. »Ferdinand Heinke ist der einzige Mann, dessen Wert ich weit über den meinigen erhaben fühlte, zu dem ich hinaufstrebte und wo ich deutlich fühlte, wie untergeben ich ihm sei«, hat Ottilie bemerkt.3 Aber Großmutter Reichsgräfin hatte ihr ohnehin jeden Gedanken an eine Verbindung mit Heinke untersagt. Es war unmöglich, »daß ein Fräulein von Pogwisch, wenn auch arm, einen bürgerlichen Breslauer Kaufmann geheiratet hätte«.4 Heinke wurde zwar nicht Kaufmann, sondern Justitiar, Regierungsrat und später Kurator der Universität Breslau, dennoch war er für eine adlige junge Dame nicht passend. Die Verliebtheit jedoch blieb, und die Silvesternacht 1813 wurde von beiden als unvergeßlich schönes, wenn auch schmerzliches Fest begangen – im neuen Jahr stand der Abschied bevor. Am 1. Januar 1814 erschien Heinke zum letzten Mal bei Pogwischs, dann ritt er davon, der Heimat und seiner Braut entgegen. Ottilies Sehnsucht blieb. Zu ihrer Mutter sagte Ottilie: »Nie ist mir ein Mann so lieb gewesen wie er, und schwerlich wird es je einer werden.«5
Nach Heinkes Abschied richtete Ottilie ihr Auge wieder auf August von Goethe, den sie immer noch falsch als Göthe schrieb. Sein Name durfte im Hause allerdings nicht einmal erwähnt werden. Großmutter Reichsgräfin war fest entschlossen, eine Verbindung ihrer Enkelin mit dem Goethesproß unter allen Umständen zu verhindern. Aus uraltem Adel stammend, durch ihre hohe Stellung als Oberhofmeisterin eine Respektsperson, war die resolute Dame nicht gesonnen, die reizende Ottilie, deren Heranwachsen sie mit Anteilnahme und freigebigen Zuwendungen begleitet hatte, sehenden Auges ins Unglück rennen zu lassen! Sie hatte das Geld und sie hatte das Sagen. Niemals würde sie einer derart unwürdigen Verbindung ihre Zustimmung erteilen.
Ottilies Mutter war anderer Meinung. Nirgends auf der Welt könnten sich vorteilhaftere Aussichten bieten, nie eine solche Chance wiederkehren! Für sie war August von Goethe fraglos eine glänzende Partie. Mit neunzehn Jahren in die Regierung berufen, verfügte er schon jetzt über ein nicht zu unterschätzendes Gehalt. Man mußte abwarten, schließlich hatte auch sie kämpfen müssen, bis sie den Major von Pogwisch hatte heiraten dürfen. Alle Hindernisse hatte sie überwunden, sogar den eisernen Widerstand ihrer erzürnten Mutter Reichsgräfin gebrochen, so verliebt war sie gewesen.
War Ottilie verliebt?
Man wurde aus beiden nicht klug, weder aus ihr noch aus ihrem Bewerber. Einerseits verhielt sich Goethe junior rasend eifersüchtig, wenn ein Rivale auftauchte, dann wieder war er unentschlossen und steif wie ein Hagestolz. Lag es an seiner Erziehung, an seinem bekannten Vater? August von Goethe – was für ein Name! Einziger Sohn eines in ganz Europa berühmten Dichters. Und einer unschicklichen Mutter. Man hatte Christiane Vulpius in letzter Zeit nicht mehr zu Gesicht bekommen; sie war krank, wie es hieß. Sollte man diese Madame, die weit unter Stand war, etwa als Ottilies Schwiegermutter begrüßen? Der Gedanke, erklärte die Reichsgräfin, sei absurd. Schon dieser unangenehmen Person wegen sei eine Verbindung mit dem illegitimen Sprößling ausgeschlossen. Würde der Staatsminister nicht auch ein Wort dabei mitzureden haben? wandte die Enkelin ein. Der Name Goethe, erklärte die resolute Großmutter, tue hier nichts zur Sache.
In dieser unerfreulichen Phase aufwühlender Debatten trat ein anderes Problem in Gestalt eines heiratswilligen Grafen auf den Plan. Es war kein Geheimnis, sondern bekannt und geduldet: Ottilies Mutter, die noch nicht vierzigjährige Freifrau, hatte einen Liebhaber: Albert Cajetan Graf von Edling. Er stammte aus altem aristokratischem Geschlecht, war Hofmarschall und im Begriff, zum Staatsminister aufzusteigen. Bei der Trennung von Ottilies Eltern war Edling zum Vormund der kleinen Töchter ernannt worden. Bekanntlich durfte eine Frau weder über ihr Vermögen noch über ihre Kinder selbst bestimmen – das war nur einem Mann erlaubt, was ihm zugleich die Rolle eines Ersatzvaters verlieh. Darauf schien sich Edling jetzt zu besinnen. Er rief die achtzehnjährige Ottilie zu sich.
Graf Edling galt als ein angesehener Mann, doch in der geschilderten Szene mit der viel jüngeren Ottilie muß er die Grenzen des Anstands deutlich überschritten haben. Am 4. Juli 1815 gab Ottilie ihrer Freundin Adele eine Schilderung des überfallartigen Ereignisses. »Graf Edling kam und erklärte mir, dass jedes Verhältnis zwischen ihm und der Mutter aufgelöst sei … Die Versicherungen von ewiger Freundschaft und des Schmerzes, den er über die notwendige Trennung von der Mutter und uns empfinde, kurz alles, wie Du es ja kennst, begleitete diese Erklärung. Ich sah das letzte Lebensglück der Mutter sich zertrümmern, sah, wie auch das letzte Band, was sie an das Leben knüpfte, sich löste … mir tat auch der Verlust des Freundes weh, und ich konnte nicht aufhören, recht schmerzlich zu weinen – der Graf riß mich mit einer leidenschaftlichen Heftigkeit an sich und bat mich, um Gottes willen nur ja zu sagen, daß ich ihm gut bleiben wollte; ich konnte es nur mit Mühe herausbringen, und immer mußte ich es wiederholen.«6 »Du weißt, wie gräßlich mir schon jeder leidenschaftliche Blick ist«, fuhr Ottilie fort, »wie er mich quälen und martern kann; urteile nun, in was für einen Zustand mich dies alles versetzte: ich sprach mit ihm noch verschiedenes, auch über Herrn von Göthe, wo ich aber durchaus nicht verstand, was er meinte.« Der Vormund hatte es zwar nicht gewagt, ihr den Nebenbuhler zu verleiden, es aber auch nicht vermieden, sie durch seine schmeichelhaften Beteuerungen in Zweifel zu stürzen. »Der Schluß war, daß er mir sagte, ich wäre sehr beneidenswert, – denn wenn ich ihn so liebte wie er mich, so würde ich jetzt sehr unglücklich sein.« Die seltsame Formulierung wird noch rätselhafter durch Ottilies Bekenntnis, sie habe sich bis vor kurzem »zum Opfer« bringen und der Mutter dadurch Kummer ersparen wollen. War ihre Heirat mit Edling gemeint?
Adele Schopenhauer war nur zu gerne bereit, den Vorfall auf ihre Weise zu kommentieren. »Meine Meinung über eine Ehe mit Edling, Ottilie, hast Du früher oft hören müssen, vergiß nicht – ich hielt es damals für möglich. Jetzt, Ottilie, wäre es Sünde; hieße es nicht Dir Frohsinn, Lebenskraft, Mut, kurz das Leben rauben?« Ottilie würde die Ruhe der Mutter damit nicht wiederherstellen können. »Ach, meine Ottilie, Deiner Mutter Verhältnis mit ihm wäre noch peinlicher … geworden. Behalte Deine Freiheit, sie ist jetzt ja Dein Einziges, Liebstes, und überlaß der Zeit das übrige«, schrieb Adele am 8. Juli 1815. »Über Göthen kann ich nichts sagen … Jetzt sei auf Deiner Hut, ich muß Dich schon wieder warnen. Denn aus dem grauen Chaos von schmerzlichen und bittern Empfindungen stiehlt sich freundlich schimmernde Hoffnung …« So vorsichtig, diplomatisch und zugleich poetisch äußerte sich die fast achtzehnjährige Adele Schopenhauer.7
Ottilie schrieb ihrer Mutter: »Was nun werden wird und werden soll? wirst Du mich fragen.« August von Goethe, das wußte sie, war für die Familie tabu. Zwar konnte man ihm Verstand und ein blendendes Aussehen nicht absprechen, aber den unehelichen Sproß des Dichters würden ihre Verwandten nie akzeptieren. Die Reichsgrafen Henckel von Donnersmarck ließen sich bis ins 14. Jahrhundert nachweisen. Ottilies Urgroßvater Maximilian Graf Henckel war Obermundschenk bei Friedrich dem Großen von Preußen und Träger des Schwarzen Adlerordens gewesen. Dagegen war das Adelspatent, das Herr Johann Wolfgang von Goethe vor 33 Jahren erhielt, gänzlich ohne Bedeutung.
Was Augusts Mutter betraf – kein Mensch wäre auf die Idee gekommen, Christiane Vulpius als eine Adlige zu bezeichnen. Zwar konnte sie sich seit ein paar Jahren Geheimrätin nennen, doch in Wirklichkeit blieb sie weiterhin »die von Goethe'sche Haushälterin«. Die Verbindung erschien so grotesk, daß sogar Schiller das Verhältnis »elend« genannt hatte und überzeugt gewesen war, Goethe würde sich früher oder später von seiner Haushälterin trennen. Doch Weihnachten 1789 – ausgerechnet am Geburtstag der Frau von Stein – war Goethes Sohn Julius August Walther geboren und damit das Band fester geknüpft worden. Christiane hatte noch vier weitere Kinder zur Welt gebracht; alle waren nach kurzer Zeit gestorben. August war der einzige, der am Leben blieb. Der Junge war zutraulich und anhänglich, so daß ihn sogar die enttäuschte Frau von Stein zu lieben begann. »Er muß bildschön gewesen sein«, berichtet Jenny von Pappenheim, die später im Goethehaus ein und aus ging. »Der alte Goethe liebte seinen Sohn unendlich, er sah in ihm ein Stück seiner selbst oder wollte es vielmehr sehen; das empfand August aber nicht als Glück, sondern als drückende Last. Goethe hatte viele Kinder verloren, dieser Eine sollte ihm alle anderen ersetzen. Er nahm ihn schon als Knaben auf seinen Wanderungen mit, versuchte ihm seine Passionen einzuimpfen …« Unterrichtet wurde August zunächst vom Vater, lernte dann Griechisch und Latein in der Schule und beherrschte alle üblichen Sportarten vom Reiten und Fechten bis zum Schwimmen und Schlittschuhlaufen. Wie sein Vater wurde August ein begeisterter Sammler von Münzen und Mineralien. Er ging zum Jurastudium nach Heidelberg, hatte aber noch keinen Abschluß, als sein Vater ihn zurückbeorderte, weil er ihn brauchte.
Mit noch nicht dreiundzwanzig Jahren trat August als Assessor in den Staatsdienst ein, bereitwillig und gehorsam, denn dem Vater zu widersprechen war dem Sohn schon damals unmöglich. Der Sieg über Napoleon und der anschließende Wiener Kongreß hatten entscheidende Veränderungen für das Land mit sich gebracht. Im Juni 1815 wurde der Fünfundzwanzigjährige zum Kammerjunker befördert. »Alles lobt unsern August in seinem neuen Stand bei Hof«, freute sich seine Mutter Christiane, die nur bedauerte, seine schicke Uniform noch nicht gesehen zu haben, weil sie in Berka weilte.
In den Gesprächen, Briefen und Zetteln, die zwischen Ottilie und ihrer Mutter gewechselt wurden, war August weiterhin ein wichtiges Thema. Ottilie äußerte sich ebenso vorsichtig wie zweideutig. »Ich betrage mich bis jetzt meisterhaft, worunter wohl zu rechnen, daß ich gestern Herrn von Göthe 4 mal stehen ließ.« Er war ihr bei Hof nachgegangen, sie hatte ihn abblitzen lassen. »Mir ist Herr von Göthe sehr fremdartig, doch erinnert mich sein Blick zuweilen an die alte Zeit.«8 »Die alte Zeit« – Ottilie war vierzehn, als sie mit August auf der Ilm Schlittschuh lief. Allmählich hielt sie die Unklarheit nicht länger aus. Es war Ottilie nicht verborgen geblieben, daß August sich einer anderen zugewandt hatte. Es mußte etwas unternommen werden.
Abb. 3: August von Goethe zur Zeit seiner Bewerbung um Ottilie Freiin von Pogwisch. Zeichnung von Julie von Egloffstein, 1817
An Herrn von Göthe bei Übersendung eines Uhrbandes, auf welchem ein Schmetterling und Bogen und Pfeile gestickt waren. In Ottilies Umschlag steckte eine Geschichte, »die einen eignen Bezug auf Sie enthält«. In ihrer Erzählung schilderte sie einen Jahrmarkt, auf dem sie als »Tabulettkrämerin« einem Fremden – nämlich August – Raritäten offeriert, aus denen er schließlich ein Uhrband auswählt. Die Verkäuferin überreicht es ihm mit den Worten: »Farbig und hell schlingt sich das schimmernde Band des Glückes und der Freude um den Kreis schöner Stunden!« Der Fremde möge »an den Giftblumen der Pein und des Mißmuthes« vorübergehen – nämlich an anderen Frauen – und nur dort verweilen, wo Ruhe und Zufriedenheit winken – nämlich bei ihr.9
Adele Schopenhauer warnte. Hatte August nicht eine Liebschaft mit Caroline S., der Tochter von Kriminalrat Schumann, der er sogar einen Ring gesandt hatte? »Du könntest mit diesem wilden, zerstörenden, auffahrenden Menschen sehr, sehr unglücklich sein!«10 Adele war entsetzt. »Mein Kopf ist mir ganz verrückt, wenn er Dich als A's Frau denkt; dieser harte, wilde Mensch, ich weiß, er zerstört Dich noch ganz«, schrieb sie, »lieben, wie das Wort in unseren Seelen steht, kannst du A. nicht.«11
Ottilie schwieg. Die wunderbaren Erlebnisse mit Heinke, den sie nicht heiraten durfte, die schrecklichen Erfahrungen mit Edling, den sie nicht heiraten wollte, waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen. Als Kind hatte sie Ortswechsel, Demut, Unbehaustheit, Geldmangel und Geduldetsein erlebt. Die Sehnsucht nach ihrem leichtsinnigen, aber zärtlichen Vater hatte sie nie verlassen. Die Angst vor Ungewissheit und Verlust führten zu einem fast panischen Streben nach Sicherheit. Ottilie wollte nicht herumgestoßen werden wie ihre Mutter. Schutz und Geborgenheit, das hatte sie gelernt, fand man nur bei einem vertrauenswürdigen Mann. Goethes Sohn war vertrauenswürdig und zuverlässig. Der Herzog ernannte ihn Weihnachten 1815 – August wurde sechsundzwanzig Jahre alt – zum Kammerrat. Sein Gehalt betrug stolze achthundert Taler; damit konnte man durchaus an Heirat denken. Augusts Stellung bei Hof und seine Verpflichtungen für die Regierung waren nicht seine einzigen Tätigkeiten. Ebenso arbeitsintensiv waren die Aufgaben bei seinem Vater, als dessen offizieller Vertreter bei allen amtlichen Funktionen er auftrat. Er war für Ökonomie und Organisation des großen Haushalts ebenso zuständig wie für die Vermittlung zwischen dem Dichter und seinen Verlegern.
Augusts Vorgesetzter in der Regierung war Ernst Christian Freiherr von Gersdorff, Präsident des Geheimen Konsiliums, acht Jahre älter als August und einer der vier Minister des neuen Großherzogtums.12 Gersdorff war beauftragt worden, als Abgeordneter auf dem Wiener Kongreß sein Land zu vertreten, wozu Goethe ihm die schmeichelhaften Worte mit auf den Weg gab: »Der Herzog und das weimarische Volk verdienen es, daß ein Mann wie Sie Gedanken und Tatkraft für ihre Sache einsetzt.« Tatsächlich wirkte Gersdorff erfolgreich. Er erzielte eine bedeutende Vergrößerung des Landes, Sachsen-Weimar-Eisenach wurde Großherzogtum, die Staatsdiener erhielten neue Ämter und höhere Titel, ihre Aufgaben schwollen an, Gersdorff führte als wichtigste Maßnahme die Pressefreiheit ein und erarbeitete eine moderne Verfassung.13
Ottilies Versöhnungsbrief mit dem schön gestickten Uhrband verfehlte seine Wirkung. August schwieg. Er hatte Sorgen. Seine Mutter war schwer krank und dem Tode nahe. Ottilie hatte Christiane Vulpius bei ihren Besuchen nur als eine im Hintergrund waltende Hausfrau erlebt, die bei Tisch nicht anwesend war. August verhielt sich abweisend und verschlossen, Ottilie glaubte allmählich, was Adele ihr schon lange gepredigt hatte: Er liebte eine andere. »14 Tage hatte er mich nicht gesehn, und er hatte heute kein armseliges Wort! Ach Gott, er war ja der erste Traum meiner Jugend …« Ottilie hielt ihn schon für verloren, am liebsten, schrieb sie, wäre sie tot. »Im Tode hört ja jeder Haß auf«, sagte sie zu Adele. »Du weißt es gar wohl, daß zu meinen schönsten Plänen und Hoffnungen Göthes Achtung und wohl auch eine etwas wärmere Empfindung gehört – vielleicht würde dies ihm seinem Beßren Selbst wiedergeben.«14
Am 6. Juni 1816 starb kurz nach ihrem 51. Geburtstag an ihrem furchtbaren Leiden Augusts Mutter Christiane. Das große Haus am Frauenplan war nun ohne die zuverlässige Verwalterin, der Haushalt ohne Aufsicht. Durch ihren Tod trat eine neue Situation ein. Sein Sohn sei ihm »Helfer, Ratgeber, ja einziger haltbarer Punkt in dieser Verwirrung«, sagte Goethe. August war unerreichbarer denn je. Ottilie geriet in einen Zustand, den sie selbst »Gemütskrankheit« nannte. Sie flüchtete an den Schreibtisch und verfaßte eine zweite Erzählung. Ein krankes Mädchen – sie selbst – sucht nach einem Heilmittel und findet es in einer weißen Rose, die sie sich am Abend auf Geheiß eines Engels auf die Brust legt. Der Name der Blume lautet Treueliebe. August wählte, wohl aufgrund dieser Erzählung, zu ihrem Hochzeitsstrauß weiße Rosen und nannte sie Treueliebe.
Die Ungewißheit war schwer zu ertragen. »Schon seit längerer Zeit, liebe Mutter, sah ich die Notwendigkeit ein, mit Dir einmal ausführlich über das Verhältnis mit Herrn von Göthe zu sprechen und Dich um eine Entscheidung darüber zu bitten«, schrieb Ottilie. Seit drei Jahren seien sie und August nun schon befreundet. Bisher habe sie geglaubt, es sei der Mutter gleichgültig, »uns verheiratet zu sehen oder nicht, jetzt weiß ich doch wohl, daß Du es wünschst«. Außerdem sei die Sache schon zu weit gediehen, um noch umzukehren.15 »Für ein Spiel ist es zu ernst.« Sodann eine kritische Bemerkung, die alles wieder in Frage stellte. »Herr von Göthe steht nicht hoch genug über mir, um daß er vielleicht vorteilhaft auf mich wirken und mich zu etwas erheben könnte …« (Juli 1816) Derjenige, zu dem sie aufblicken, den sie ehren, von dem sie lernen könnte, das war allein sein Vater.
Ottilies Nervosität war für alle unerträglich. Die Mutter versprach, ihr eine Hofdamenstelle in Hannover zu verschaffen. Die Trennung sei beschlossene Sache, erfuhr Adele Schopenhauer, »bei Gott, es ist nicht leicht, sich von allem loszureißen … Ich sah August nicht wieder, wohl aber den Vater. Wie? Erzähle ich Dir nächstens.«16
Das, was Ottilie zu erzählen hatte, war für Adele Schopenhauer brennend interessant. »Nur flüchtig berührte ich in meinem letzten Brief, daß ich den Geheimrat gesehen – ja gesprochen habe.« Sie sei Goethe rein zufällig vor dem Haus der Frau von Stein begegnet. Ob Ottilie diesen »Zufall« nicht vielleicht selbst arrangiert hatte, verschwieg sie. Der Dichter habe sie mit einer höflichen Handbewegung in seinen Garten gebeten, der sich vom Frauenplan bis zur Ackerwand erstreckte. Es war der 1. August 1816. »Da trat ich wieder über die Schwelle, die ich in drei Jahren nicht betreten hatte, war wieder in dem Raum, in dem mancher Kindertraum geträumt worden war, mancher duftige Nebel mich getäuscht, und der mich sehr glücklich, aber auch manchmal manche kindische Tränen weinen sah …« Auf dem Weg zwischen den Rabatten mit Stockrosen, Levkojen und Aurikeln habe Goethe ihr versichert, daß ihm ihre schöne Stimme schon früher aufgefallen sei, besonders wenn in seinem Haus die italienischen Motetten gesungen wurden. Sie habe dabei an die schönen Sonntage denken müssen, an denen sie und die anderen Chorsänger redend und lachend in Goethes Garten saßen. Die schöne Vergangenheit sei ihr vorgekommen wie etwas unwiederbringlich Verlorenes, sagte Ottilie. »Der Geheimrat war freundlich und gütig, begleitete mich wieder zurück und schenkte mir Blumen … Gewaltsam hielt ich mich aufrecht und die Augen klar, die jeden Augenblick feucht werden wollten, wenn die Vergänglichkeit von Allem mich mit so eisig kalter Hand berührte – und alle die Erinnerungen der frohen und glücklichen Stunden lächelnd an mir vorüber zogen, und wollte ich ihnen näher treten, sich in das Leichentuch hüllten und mir sagten, ›wir sind nur in der Vergangenheit‹.« Ob Ottilie wisse, daß sein Sohn zum Hofjunker ernannt worden sei, habe der Geheimrat gefragt. »Großer Gott, ich verging in dieser Stunde fast vor Glück und Wehmut.«17
Kein Zweifel, der Geheimrat war von ihr angetan, das hatte Ottilie deutlich empfunden. Niemand außer Adele würde jemals erfahren, welche Wandlung die Begegnung bewirkt hatte. Das Treffen ereignete sich sechs Wochen nach Christianes Tod. Ottilie war einem Witwer begegnet.
Das Gespräch in Goethes Garten hatte alles verändert, was Ottilie zuvor gedacht, gewollt, was sie Mutter und Großmutter versprochen hatte. Goethe hatte sie unerwartet an die schönen Zeiten in seinem Haus erinnert und dabei seinen Sohn erwähnt. »Warum gibt es keine äußere Stimme, die der inneren, fragenden, Antwort gibt? In wie vielen Fällen des Lebens wäre es nicht sehr nötig!« Ottilie floh. Sie fuhr nach Dessau zu ihrer Tante, um zur Besinnung zu kommen. Diese kinderlose Tante, Auguste von Hagen, hatte sie als Sechsjährige für ein Jahr ins Haus genommen. Ottilie überdachte die Vergangenheit. In ein Heft mit der Aufschrift Schaafgarbe und Gedankenstrich18 notierte sie ihre Erinnerungen an alles, was sie bisher erlebt hatte: die Dessauer »Kindheitsinsel«, die Gefühle für Ferdinand Heinke, die Begegnung mit Goethe. In Dessau merkte Ottilie auch, wieviel anspruchsvoller und interessanter es zu Hause zuging. Sie konnte nur in Weimar leben. Anscheinend kam August heimlich nach Dessau; es existiert von ihm ein überaus beglückter Brief.
Ottilie entschloß sich, August von Goethe zu heiraten.
Adele Schopenhauer reagierte bestürzt und nannte die Dinge aufgebracht beim Namen. Eine Ehe mit August sei Wahnsinn. Darüber gab es in ihrer Familie einen lautstarken Krach. Großmutter Reichsgräfin entlud ihren aufgestauten Zorn, Mutter Henriette brach in Tränen aus, Ulrike schluchzte, Ottilie rannte aus dem Zimmer. Die herrische Großmutter drohte, Tochter und Enkelinnen aus dem Haus zu werfen. »Gestern war für mich einer der schmerzlichsten – nein, das Wort drückt es nicht aus – entsetzlichsten Abende, die ich je erlebte. Mutter und Schwester griffen unbarmherzig in das Saitenspiel der Vergangenheit und Gegenwart, überspannten jede einzelne Saite, bis sie zum schreienden Mißton ward … so ward mir fast das Herz gebrochen. Nein Gute – laß mich Dir nicht all das Einzelne wiederholen, was mein Inneres zerschnitt …« Adele konnte aufatmen, denn Ottilie fügte hinzu: »In zwei Stunden geh ich an Hof, werde suchen, Herrn von Göthe zu sprechen und ihm auseinanderzusetzen, daß unser Verhältnis enden muß …« Der Sturm im Hause hatte so heftig getobt, daß Ottilie eingewilligt hatte, sich endgültig von August zu trennen. »Sobald ich von Hof zurückkomme, setze ich diese Zeilen fort …« schrieb sie hastig. Einige Stunden später: »Abends 9 Uhr. Herr von Göthe war nicht an Hof, sondern in der Loge …«19 Ein Zufall brachte die Entscheidung. Ottilie hatte den Befehl der Großmutter nicht ausführen können, denn sie hatte August nicht angetroffen: »Herr von Göthe war nicht an Hof.«
Eine Woche nach dem Familienkrach, am 31. Oktober 1816, wurde Ottilie von Pogwisch zwanzig Jahre alt. Sie war nun kein junges Mädchen mehr, über das die Großmutter bestimmen konnte. Die familiäre Auseinandersetzung hatte Ottilie die Augen geöffnet. Sie hatte erfahren, daß sie jederzeit aus Weimar vertrieben werden konnten, waren sie doch vom Wohlwollen – und vom Vermögen – der Reichsgräfin abhängig. »Erloschen ist jedes Gefühl der Liebe in mir, denn das Betragen der Großmutter hat mich empört und jede warme Empfindung in Eiseskälte umgeschaffen!« meldete sie Adele. »Seit ich sie kenne, hat sie nur immer zerstörend in mein Leben gegriffen, aber nie beglückend. Sie nahm mir den Vater, zerstörte durch die unglückselige Hofdamenstelle mein eigentliches häusliches Verhältnis, und nun wollte sie mich auch noch von Mutter und Schwester trennen …«20 Was wirklich in ihr vorging, erfuhr auch Adele nicht. Es war Ottilie nicht nur um die Sicherheit zu tun, die August bieten konnte – ihr ging es auch um seinen Vater. Der Dichter hatte sie spüren lassen, daß er sie mochte. Einmal hatte er sie sogar sein »Töchterchen« genannt, ein Wort, das sie in »Glück und Wehmut« versetzt hatte.
Abb. 4: Goethes Gartenhaus im Park an der Ilm, 1828
Ottilie hatte ihre Entscheidung längst getroffen. Auf gewisse Weise war sie dabei geschickt, sogar raffiniert vorgegangen. Ohne jede Veranlassung, aber mit sicherem Instinkt hatte sie an Goethe einen Brief geschrieben. »Kindern – und Scheidenden darf man nichts abschlagen, ich bin Beides, lieber Geheimrat – denn Sie nannten mich ja oft ›Ihr gutes, liebes Kind‹ – und mögen sich nun selbst schelten, wenn Sie mich durch manch freundliches Wort vorzogen und so mir den Mut gaben, Sie wie ein Kind mit Bitten zu quälen. Die Mutter schenkte mir ein Stammbuch, und ich wüßte wirklich nicht, wie es mir lieb werden sollte, fände ich Ihren Namen nicht darin; gern hätte ich es Ihnen mündlich gesagt, um, falls Sie böse würden, Ihnen gleich wieder Verzeihung abzuschmeicheln, aber ich war ziemlich lange krank und dieser Plan daher unausführbar … Leben Sie recht, recht wohl – und bleiben Sie so gütig gegen Ihr kleines Töchterchen, als Sie bis jetzt es immer waren. Weimar, den 10ten August 1816.«21
Das entscheidende Wort war gefallen: Töchterchen. Das war es, was sie, die nie einen Vater gehabt hatte, für Goethe sein wollte.
II.
Ottilie hatte sich mit August getroffen. Worüber war gesprochen worden? Adele hatte keinen Zweifel. Alles deutete darauf hin, daß das Unvermeidliche geschehen war. »Ach, es wird doch nun so kommen, denn sie liebt ihn sehr!«22 Wäre Ottilies Entschluß auch dann erfolgt, wenn Goethe sie nicht – aus Zufall oder in kalkulierter Absicht – durch seinen Garten geführt hätte? Die scheinbar unbedeutende Episode hatte zur Folge, daß Ottilie alle familiären Rücksichten über Bord warf. Was Adele am meisten gefürchtet hatte, traf ein. Goethe hatte dem Sohn seine Zustimmung signalisiert! Weihnachten 1816 bewarb sich der siebenundzwanzigjährige Kammerrat August von Goethe bei Mutter Henriette und Großmutter Reichsgräfin um die Hand der zwanzigjährigen Freiin Ottilie von Pogwisch. Es existiert noch das Antwortbillett der Mutter: »Morgen früh indessen werde ich von 10 Uhr an bereit seyn Sie zu empfangen u. wünsche daß der Erfolg unserer Unterredung Seegen über uns Alle bringe. Hochachtungsvoll bin ich Ewr: Hochwohlgeb. ergebne Henriette Pogwisch geb. Gräfinn Henckel.«23 Adele notierte melodramatisch: »Mir ist, wie vor einem gewaltsamen Tode einem Verurteilten sein muß: Ottilie betrachte ich als Augusts Braut. Alle übrige Pein verschwindet neben diesem Übel … O mein Gott, ich kann ja nicht dafür, daß es so tief schmerzt!« August gefiel ihr nicht im mindesten – und seinetwegen würde sie die liebste Freundin verlieren. »Hier hat meine Kraft ihr Ende gefunden.« Das Weihnachtsfest war ihr verdorben. »Ottilie ist seit drei Tagen seine Braut! Jetzt eben fährt sie zum Vater.«24
Silvester 1816 fand die offizielle Verlobung statt. Tränen flossen reichlich, teils aus Wehmut, teils aus Wut. Frau von Pogwisch weinte am heftigsten, man sah »eine tiefbetrübte, in Tränen zerfließende Mutter«. Erschüttert wirkte jetzt auch die Großmutter Reichsgräfin, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Julie von Egloffstein beobachtete »eine halb mit dem Zorne, halb mit der Rührung kämpfende Großmutter, deren Stolz durch die Verlobung ihrer Enkelin mit dem jungen Goethe bitter gekränkt ist und die gerne gezankt und getobt haben würde, hätte es das in Wehmut aufgelöste Herz und die von Tränen erstickte Stimme gestattet …« Davon unberührt, sah man »das beglückte – zärtlich liebende Brautpaar, das nichts von allem sah oder hörte, was umher sich ereignete – wovon jedes mit einem langen, seligen Blick tief in das Auge des andern versank«.25
Adele dachte: »Sie ist ja wenigstens jetzt glücklich. Sonderbar aber wächst meine Abneigung gegen das Heiraten – es ist schrecklich! Und dennoch, welche Leere bringt jedes neue Jahr!«26 Die junge Jenny von Pappenheim, die später die Kinder des Paares hüten würde, hatte gehört, Goethe persönlich habe die Heirat mit der von ihm favorisierten Dame bewerkstelligt, »August habe deshalb eine große Jugendliebe aufgeben müssen. Das ist nicht wahr«, schrieb Jenny. Augusts Liebe gehöre Ottilie allein.
Goethe notierte im Tagebuch die Verlobung seines einzigen Sohnes so knapp wie möglich. »Gegen Abend Hofrat Meyer. Frau von Pogwisch und Tochter. Verlobung von Ottilie von Pogwisch mit meinem Sohn.« Immerhin wußte Julie von Egloffstein zu berichten, daß anschließend bei Ottilies Mutter eine fröhliche Feier stattfand, die bis zwei Uhr morgens dauerte. Adele fühlte sich auf dem Fest nicht wohl. Mißtrauisch beobachtete sie den zukünftigen Gatten ihrer angebeteten Freundin und notierte den entscheidenden Satz: »Ottilie hat ihn lieb, liebt ihn nicht.«27
»Ich bin seit 8 Tagen mit Herrn von Goethe verlobt.« Erst jetzt schrieb Ottilie nicht mehr Göthe, sondern verlieh August seinen richtigen Namen: Goethe. Sie teilte die Neuigkeit ihrer Gönnerin mit, Oberkammerherrin Caroline von Egloffstein, bei der sie die Bekanntschaft von deren Nichten Caroline und Julie von Egloffstein gemacht hatte, zwei begabten Schwestern, die gerade erst nach Weimar gezogen waren. Caroline war eine professionelle Musikerin, Julie eine hochbegabte, von Goethe geförderte Malerin – zwei Jahre später würde sie Ottilies ersten Sohn porträtieren. Julie schrieb ihrer Mutter: »Ottilie von Pogwisch spricht von allen allein mich an – sie ist originell, ernsthaft, melancholisch und komisch zugleich, dabei voll Verstand und scharfer Ecken …« Ernst und komisch zugleich, diese Gegensätze hatte sie bereits erkannt. Deshalb war sie auch nicht davon überzeugt, daß Ottilies Ehe gelingen würde. Ottilie sei »geistreich und lebhaft«, August dagegen »von trockner, pedantischer Lebensweise« und »kleinlich in manchen großen Dingen«, so daß sie wirklich nicht zusammenpassten.28
Vermutlich hat der Vater des Bräutigams, Seine Exzellenz der Wirkliche Geheime Rat und Staatsminister Johann Wolfgang von Goethe, nie erfahren, wie unzufrieden man in der Familie der Braut die Verlobung mit seinem Sohn aufnahm. Gewohnheitsgemäß äußerte Goethe sich anderen gegenüber betont nüchtern. »Eben mit dem Neuen-Jahr erklärt sich die Heyrath meines Sohnes mit der ältern Fräulein von Pogwisch; es ist der Wille der beiden jungen Leute, gegen den ich nichts einzuwenden habe.« Die Botschaft an seinen Berliner Freund, den Komponisten, Chorleiter und Baumeister Carl Friedrich Zelter, betont es zusätzlich: Er persönlich habe nichts bewirkt: »Es ist der Wille der beiden jungen Leute.« Ebenso am 2. Januar 1817 an Freund Knebel: Die »Verbindung« werde ihm »angenehme Verhältnisse« bringen. Das Wort Liebe fällt in keinem von Goethes Briefen, in denen weniger von seinem Sohn als von ihm selbst die Rede ist. An den Weimarer Minister von Voigt: »Schon sehe ich im Geiste mein Haus der Geselligkeit wiedergegeben.«29 Das war für den Witwer Goethe ein nicht zu unterschätzender Gewinn. Schon jetzt, wenn Ottilie zum Mittagessen ins Haus am Frauenplan kam, freute er sich über die neu erstandene »Geselligkeit«.
Die Verlobung von Goethes Sohn war eine Sensation und stand in allen Zeitungen. Aus Berlin meldete sich in eiliger Aufregung Ottilies Verwandtschaft. Friederike Gräfin Henckel von Donnersmarck gab sich entrüstet, daß ihre Nichte einen so gewöhnlichen Menschen zum Gatten wählte. Der Bruder der Mutter, Wilhelm Graf Henckel von Donnersmarck, bestürmte den Bräutigam mit der Nachricht, »daß sie gar kein Vermögen hat«. Es sei »der Schlußstein« seiner Wünsche, schrieb er vornehm, »meine theuere Ihnen nun anvertraute Ottilie in jeder Art glücklich zu wissen«. Daher müsse August pflichtschuldig einen Ehevertrag abschließen. Es äußerte sich auch Ottilies Mutter Henriette, die selbst ein finanzielles Desaster erlebt hatte, und bedrängte August in mehreren höflichen Schreiben, ihrer Tochter ein anständiges »Nadelgeld« zu gewähren. Dabei betonte sie, daß »ein Einkommen von 900 Reichstalern noch immer nicht zu den brillanten Lebensverhältnissen gehört«. Mit seiner zukünftigen Schwiegermutter stand August auf gutem Fuß. Er wußte, daß sie ihm, der vor einem Jahr seine Mutter verloren hatte, liebevoll zugetan war.
Es dauerte nicht lange, bis in der noch frischen Verbindung der erste Streit losbrach. August mußte wegen einer Erkältung die Tanzaufführung zum Geburtstag der Erbprinzessin Maria Pawlowna absagen. Selbstverständlich galt das auch für seine Braut, die ebenfalls stark erkältet war. Doch Ottilie war empört, daß August ohne weiteres über sie verfügt hatte. Ihre Vorwürfe brachten ihn aus der Fassung – den erhobenen Zeigefinger war er nicht gewöhnt. Ottilie ging trotz ihrer Halsschmerzen im dünnen Kleid aus dem Haus, so daß August sich hinter den Arzt stellte, um sie zur Vernunft zu bringen. Als auch das nichts half, rief er die einzige Autorität an, die Ottilie respektierte. »Der Vater, von denselben Gesinnungen wie ich beseelt, läßt seine Tochter bitten, sich zu schonen, jede Verkältung zu meiden und den morgenden Ball aufzugeben … Sobald Du ganz hergestellt bist, erwartet Dich der Vater mit Freude und Liebe.«30 So gut der Hinweis gemeint war – Ottilie fühlte sich bevormundet. August war wie vor den Kopf geschlagen. Eine so kleine Bitte und ein so großes Debakel! »Liebste beste Ottilie …« Es sei doch nur eine harmlose Unannehmlichkeit. Sie beurteile ihn ganz falsch. »Laß meinen Ernst nicht für Härte gelten, dies ist er bei Gott nicht …« Sie entgegnete streng und von oben herab: »Ich bin heute wieder ruhig, – ich bin es, weil ich es sein will.« Er und sein Vater hätten sie unterschätzt. »Nein August, ich habe nicht bloß dem Vater die Tochter sein wollen dadurch, daß ich den Namen des Sohnes tragen werde; ich versprach Dir wohl mehr …«
Aus ihrer Verteidigung wurde ein Bekenntnisbrief. »Du weißt, ich liebe den Vater ungewöhnlich – dies in jede Handlung meines jetzigen und zukünftigen Lebens zu legen und legen zu dürfen, ist mir ein Glück, das ich mehr empfinden als aussprechen kann … Lebewohl, August, die Zukunft lehrt Dich vielleicht besser, was ich eigentlich bin und was ich Dir und dem Vater sein will.«31 »Dir und dem Vater« – Ottilie würde niemals Goethe sagen. Für sie ist er immer der Vater, eine andere Anrede gab es nicht. Da sie selbst niemals »Vater« hatte sagen können, würde sie den Vorzug, Goethe so nennen zu dürfen, nachgerade kultivieren. Nach seinem Tod würde sie ihrer Mutter entgegnen: »Die Welt vermißt Goethe, ich aber verliere den Vater!«
Ein neues Jahr, ein neues Leben begann. Ottilie kam einmal pro Woche, dann an jedem zweiten Tag ins Haus am Frauenplan. Es war das schönste und prächtigste, das kultivierteste und vornehmste Haus, das sie sich vorstellen konnte, ein Haus voller Kunstschätze, Gemälde, Graphiken und Skulpturen – eine Welt für sich.