Die Sehnsuchtsfalle - Hera Lind - E-Book

Die Sehnsuchtsfalle E-Book

Hera Lind

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Als Rita kurz vor dem Abi den aus Ghana stammenden Studenten Tony kennenlernt, ist es die große Liebe. Sie wird schwanger, doch Tony muss zurück in seine Heimat. Jahre vergehen, bis sie sich wiedersehen. Rita kann ihr Glück kaum fassen, aber es ist nur von kurzer Dauer. Tony stirbt bei einem Autounfall. Und weil sie blind vor Kummer ist, wird sie in Brasilien in eine Falle gelockt: Man erwischt sie mit einer großen Menge Kokain und verhaftet sie. Damit gerät Rita in eine Hölle, aus der es kein Entrinnen gibt …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 484

Veröffentlichungsjahr: 2016

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Rita Rosario ist Anfang dreißig, als sie in Spanien ein neues Leben beginnt. Die alleinerziehende Mutter ging in Deutschland jahrelang durch die Hölle: Tony, der ghanesische Vater ihres Sohnes Benni, verließ sie noch während der Schwangerschaft, Familie und Freunde wandten sich von ihr ab. Torremolinos ist für sie eine neue Heimat geworden. Das kleine Strandcafé läuft gut, Benni wird in der Schule nicht mehr wegen seiner Hautfarbe gehänselt. Doch dann steht eines Tages Tony vor der Tür. Ihre Liebe flammt wieder auf, bis er unter mysteriösen Umständen tödlich verunglückt. Die Trauer wird Rita zum Verhängnis: Zwielichtige Freunde schicken sie auf Tonys Spuren nach São Paulo. Aber kann es sein, dass er überlebt hat? Statt Antworten zu finden, landet Rita im brasilianischen Gefängnis wegen Drogenschmuggels. Ohne Aussicht auf Freilassung und Hoffnung, ihren minderjährigen Sohn je wiederzusehen …

Die Autorin

Hera Lind studierte Germanistik, Musik und Theologie und war Sängerin, bevor sie mit zahlreichen Romanen sensationellen Erfolg hatte. Seit einigen Jahren schreibt sie ausschließlich Tatsachenromane, ein Genre, das zu ihrem Markenzeichen geworden ist. Mit diesen Romanen erobert Hera Lind immer wieder die SPIEGEL-Bestsellerliste: Platz 2 erreichten »Die Frau zwischen den Welten«, »Grenzgängerin aus Liebe« und »Mit dem Rücken zur Wand«, auf Platz 1 gelangten »Die Hölle war der Preis« und »Für immer deine Tochter«. Hera Lind lebt mit ihrem Mann in Salzburg, wo sie auch gemeinsam Schreibseminare geben.

Von Hera Lind sind im Diana Verlag bisher erschienen:

Die Champagner-Diät Schleuderprogramm Herzgesteuert Die Erfolgsmasche Der Mann, der wirklich liebte Himmel und Hölle Der Überraschungsmann Wenn nur dein Lächeln bleibt Männer sind wie Schuhe Gefangen in Afrika Verwechseljahre Drachenkinder Verwandt in alle Ewigkeit Tausendundein Tag Eine Handvoll Heldinnen Die Frau, die zu sehr liebte Kuckucksnest Die Frau, die frei sein wollte Über alle Grenzen Vergib uns unsere Schuld Die Hölle war der Preis Die Frau zwischen den Welten Grenzgängerin aus Liebe Mit dem Rücken zur Wand Für immer deine Tochter

HERA LIND

Die

Sehnsuchtsfalle

Roman nach einer

wahren Geschichte

Vorbemerkung

Dieses Buch erhebt keinen Faktizitätsanspruch. Es basiert zwar zum Teil auf wahren Begebenheiten und behandelt typisierte Personen, die es so oder so ähnlich gegeben haben könnte. Diese Urbilder wurden jedoch durch künstlerische Gestaltung des Stoffs und dessen Ein- und Unterordnung in den Gesamtorganismus dieses Kunstwerks gegenüber den im Text beschriebenen Abbildern so stark verselbstständigt, dass das Individuelle, Persönlich-Intime zugunsten des Allgemeinen, Zeichenhaften der Figuren objektiviert ist.

Für alle Leser erkennbar erschöpft sich der Text nicht in einer reportagehaften Schilderung von realen Personen und Ereignissen, sondern besitzt eine zweite Ebene hinter der realistischen Ebene. Es findet ein Spiel der Autorin mit der Verschränkung von Wahrheit und Fiktion statt. Sie lässt bewusst Grenzen verschwimmen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Diana Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: t.mutzenbach design, München

Covermotive: © Natalie Faye/Gettyimages;

Iakov Kalinin, Galyna Andrushko/Shutterstock

Satz: Leingärtner, Nabburg

Alle Rechte vorbehalten

ISBN 978-3-641-19869-5V005

www.diana-verlag.de

Für meinen Sohn

1

Torremolinos, Spanien, 5. Mai 2005

»Nebenan wohnt Raúl. Warum schläfst du nicht bei ihm? Seine Mutter hat sicher nichts dagegen!«

»Kein Bock. Die haben keinen Platz.« Benni kickte seinen Fußball an die Hausmauer.

»Aber ich wäre deutlich beruhigter!«

»Mama, ich schlafe bei Raymond!«

Jetzt klang die Stimme meines Sohnes eindeutig genervt.

Mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich meinen Zwölfjährigen während meiner Brasilienreise lieber bei seinem Schulfreund und dessen netter Mutter Marta parken sollte als bei meinem ehemaligen Lebensgefährten Raymond.

»Benni, bitte. Mir zuliebe.«

Benni zuckte nur mit den Schultern. »Reg dich ab, Mama. Ich bin schließlich kein Baby mehr.«

Er dribbelte den Ball auf der Strandpromenade vor sich her und kehrte mir demonstrativ den Rücken zu. Seine schwarzen Rastalocken hüpften ihm um den Kopf und flirrten in der spanischen Mittagssonne. Er war ein bildschöner Junge, der jetzt schon größer war als ich, und ich liebte ihn so sehr, dass es körperlich wehtat.

Nein. Mein bevorstehender Abschied tat mir weh. Auf was hatte ich mich da nur eingelassen? War ich noch ganz bei Trost, nur auf Verdacht mal eben nach São Paulo zu fliegen, um – was zu finden? Das große Glück? Womöglich schon wieder auf Bennis Kosten?

Das Ziehen in meiner Magengegend verstärkte sich, und eine undefinierbare dumpfe Angst fraß sich in meine Eingeweide.

»Benni. Marta nimmt dich sicher gerne auf. Du hast doch schon öfter bei Raúl geschlafen!«

»Mama, LASS es!«

Das Kicken gegen den Ball wurde aggressiver. Das dumpfe Plopp-Plopp ging mir auf die Nerven.

»Ich hätte einfach ein besseres Gefühl …«

»Ich hab keinen Bock, bei denen auf der Luftmatratze zu schlafen! Klar?« Benni wirbelte herum und funkelte mich mit seinen fast schwarzen Augen an. »Bei Raymond kann ich fernsehen, und er lässt mich an seinen Computer, wann immer ich will!«

»Aber er hat neuerdings ständig diesen Friday im Schlepp. Dem traue ich nicht über den Weg.«

»Dann musst du eben hierbleiben, Mama. Ist mir egal.«

Grausam-gelassen trat er das Leder in die Luft und fing es wahlweise mit Bein oder Fuß wieder auf. Vorbeiflanierende Urlauber blieben stehen und bewunderten sein Ballgeschick. Ein paar Rentner in kurzärmligen, kleinkarierten Hemden klatschten oder gaben fachmännische Kommentare ab. »Asamoah«, murmelten sie und zogen Vergleiche zum schwarzen Fußballspieler Hans Sarpei.

Ja, ich war wahnsinnig stolz auf meinen einzigen Sohn. Aber es brannte mir etwas anderes auf der Seele.

»Ich muss wirklich dringend nach Brasilien. Es ist wichtig für mich.«

»Dann flieg halt.«

»Wirst du auch ganz bestimmt zur Schule gehen?«

»Mama! Können wir jetzt endlich das Thema wechseln!«

Ich seufzte und ließ die Schultern sinken. Ich konnte und wollte Benni nicht die Wahrheit sagen. Warum ich ausgerechnet jetzt so dringend dieses Paradies verlassen musste. Um nach São Paulo zu fliegen. Morgen.

Ich war verrückt! Komplett wahnsinnig! Nur um vielleicht Tony zu finden? Der ja längst tot war? Aber was, wenn er doch noch lebte? Wenn es stimmte, was Raymond sagte?

Eine Gänsehaut überzog meine Unterarme. Nachdenklich musterte ich die kleinen, weiß gestrichenen Häuser mit den sandfarbenen Fensterläden, die sich eng aneinanderschmiegten. Die Strandcafés, in denen ich mir morgens nach meinen langen Strandläufen mit unserem übermütig in den Wellen tobenden Zwergschnauzer Max meine zwei café con leche gönnte. Die bunten Geschäfte, vor denen preiswerte, luftige Kleider im warmen Wind flatterten, als würden sie einen zum Tanzen auffordern. Die schlendernden Touristen, die alle Zeit der Welt hatten. Ich dachte an meine spanischen Freunde, die ich inzwischen gefunden hatte. An meine Bar, das »Pepe loco.«

Hier gehörte ich hin.

Hier ging Benni zur Schule und hatte Freunde. Er sprach inzwischen besser Spanisch als ich. Mein deutscher Akzent war ihm so peinlich, dass er immer das Weite suchte, wenn ich mit Einheimischen sprach.

Da war ich schmerzfrei. So wie damals, als ich einfach Englisch gesprochen hatte.

Mit Tony.

Ich schluckte.

Nicht drüber nachdenken. Verschieben wir es doch auf morgen. Schon morgen würde ich vielleicht bei ihm sein. Nicht nur in Gedanken, sondern ganz real. Wenn Tony noch lebte, war der ganze Albtraum der letzten Wochen vielleicht gar nicht passiert?

2

Sechs Wochen zuvor

Torremolinos, Spanien, März 2005

»Tony, fahr vorsichtig, ich liebe dich!«

»Baby, es war wunderschön mit dir. Du bist meine absolute Traumfrau.«

»Ich freu mich so, wenn wir Benni nach den Osterferien abholen! Er wird Augen machen, wenn er seinen wirklichen Vater endlich kennenlernt!«

»Alles wird gut, Baby. Heute Nachmittag bin ich zurück, und dann helfe ich dir in der Bar.«

An diesem Morgen war ich wunschlos glücklich, im siebten Himmel, als ich meiner großen Liebe Tony nachwinkte. Er fuhr mit seinem Jaguar-Cabrio nach Málaga, wo er als Ingenieur arbeitete. Ich zog meinen Morgenmantel enger um die Schultern, denn zu dieser frühen Stunde war es noch frisch. Ich spürte ihn noch in mir, seine Hände auf mir, seine Küsse, hörte seine heiser geflüsterten Worte: »Call my name, Baby, call my name!«

Hoffentlich rast er nicht wieder so schnell. Ich hätte ihn heute Nacht schlafen lassen müssen!, dachte ich ein wenig schuldbewusst.

Ich duschte, zog mich an und machte meinen morgendlichen Strandspaziergang mit Max. Die Sonne ging gerade auf, und die Wellen spiegelten das grandiose Naturschauspiel in Zartrosa bis Blutrot.

Überwältigt blieb ich stehen und atmete tief durch. Gott, war ich verliebt!

»Max, so kann es immer bleiben. Nie hätte ich gedacht, dass ich noch mal so glücklich werde!«

Max wedelte mit dem Schwanz und wollte, dass ich ihm ein Stöckchen warf. Mein Glücksrausch interessierte ihn wenig.

»Jetzt müssen wir nur noch Benni zurückkriegen!« Ich kraulte meinen kleinen Hund zwischen den Ohren. Meine Lippen wurden schmal. »Dass die mir meinen Sohn wegnehmen wollen, Max! Meine eigenen Eltern! Und meine eigene Schwester! Haben meinen Jungen einfach in Höxter in der Gesamtschule angemeldet, nur weil er sich hier im Winter gelangweilt hat! Kindesentführung ist das!«

Max hechelte erwartungsvoll. Er hopste rückwärts, fixierte mit seinen schwarzen Knopfaugen das Stöckchen und kläffte ungeduldig: Rede nicht, Frau. Wirf!

Voller Wut auf meine Eltern und meine Schwester Tanja warf ich das Stöckchen ins Meer. Max sauste mit wehenden Ohren hinterher, warf sich in die Fluten und kämpfte knurrend mit den Wellen. Die Lektion, dass man Salzwasser nicht trinken kann, hatte er inzwischen gelernt.

Er warf mir das nasse Stöckchen vor die Füße, aber als ich mich danach bückte, kaute er besitzergreifend darauf herum. Dabei sah er mich herausfordernd an.

»Aber jetzt wo der nasskalte Winter vorbei ist, wird Benni bestimmt zurückwollen«, teilte ich dem Hund meine Hoffnungen mit. »Der Junge wird Augen machen, wenn er Tony sieht!« Jetzt strahlte ich wieder übers ganze Gesicht. »Sein Vater ist wieder da! Den er noch nie kennengelernt hat! Jetzt wird alles gut, Max.«

Glücklich und zufrieden trabten wir weiter, mein kleiner Hund und ich.

Später fuhr ich in meine Bar und stellte die Sonnenschirme auf die Promenade. Die ersten Gäste strömten bereits herbei. Am Strand spielten ein paar Jungs Fußball. Wie schade, dass Benni jetzt nicht hier war! Er saß im verregneten Höxter. Selber schuld!

»Wie immer café con leche?«, begrüßte ich eine Gruppe Deutscher, die hier jeden Tag saßen und Karten spielten.

»Kann auch ruhig schon ein Bier sein, Rita!«

»Für mich wie immer vino tinto. Bring was von diesen Knabbernüssen, bitte.«

»Gibt es schon Tapas?«

»Marta kommt später mit ihren selbst gemachten. Jetzt kann ich euch nur Oliven anbieten.«

Lachend und plaudernd bediente ich meine Stammgäste.

»Rita, bist du verliebt?«

»Und wie!« Schwungvoll ließ ich mich zu meinen Rentnern auf die Bank fallen.

»In das Leben! Ihr etwa nicht?«

»Doch«, beteuerten sie laut. »Nur so jung sein wie du müsste man noch mal!«

»Man müsste noch mal zwanzig sein«, pflichteten ihnen ein paar ältere Frauen bei, und ich lachte: »Mädels, ich bin fünfunddreißig!«

Plötzlich sah ich aus dem Augenwinkel den baumlangen Schwarzen Raymond, der an seinem Auto lehnte und mit dem Schlüssel spielte. Sein komischer Kompagnon Friday war leider auch dabei. Was wollten die denn jetzt schon hier? Normalerweise kam Raymond nachts in meine Bar und gab seine berühmten Whiskey-Runden aus.

Spontan drehte ich mich weg. Auf Raymond und seine Bagage hatte ich echt noch keine Lust.

»Café con leche?« Ich schob dem einheimischen Gast seine Tasse hin. Die Spanier liebten es auch und gerade am helllichten Tag, drinnen zu sitzen und auf den Fernseher zu starren, während die Deutschen grundsätzlich draußen in der Sonne saßen. In diesem Moment klingelte das Telefon.

»Dígame?«, schnarrte ich auf Spanisch hinein.

Es war ein Mann von einem Polizeirevier in Málaga. Mir wurde ganz mulmig, als dieser Typ fragte, ob ich Rita sei und etwas von einem accidente erzählte.

»Ja. Ich bin Rita.«

Der Mann ratterte in machinengewehrschnellem Amtsspanisch weiter, und mir wurden die Knie weich, als ich den Namen Tony Kwabena heraushörte.

»Conoce usted a Tony Kwabena? Ihre Nummer war in seinem Handy eingespeichert, unter ›Baby‹.«

»Was ist mit Tony?« Ich fasste mir an die Stirn, auf der kalter Schweiß stand. »Tony hatte einen Unfall? Wie … Wie geht es ihm? Kann ich ihn sehen?«

»Lo siento mucho. Está lastimosamente muerto.«

Tony. Tot. Leider.

Der Spanier an der Theke konnte mich gerade noch auffangen, als ich zusammenbrach.

Plötzlich spritzte Kaffee über die Bar, Tassen klirrten, ein schriller Schrei gellte durch den Raum. War ich das, die so schrie? Mehrere hilfreiche Hände versuchten, mich zu stützen, aber ich schlug nach ihnen.

»Sagt, dass das nicht wahr ist«, schrie ich verzweifelt. »Sagt, dass das ein Irrtum ist! Tony kann nicht tot sein! Tony kommt gleich wieder!«

Ich schrie und schluchzte mir die Seele aus dem Leib: »Tony! Tony, komm zurück, ich liebe dich! Du hast es mir heute Morgen versprochen!«

Betroffen und verstört umringten mich meine Gäste. Mehrere Frauen tätschelten mir die Hand, jemand flößte mir Whiskey ein: »Beruhige dich, Rita. Du musst dich beruhigen!«

Unaufhaltsam wimmerte ich wie ein waidwundes Tier und rief immer wieder Tonys Namen.

»Call my name, Baby, call my name …«

Irgendwo zwischen den bestürzten Gesichtern, die ich nur als verzerrte Fratzen wahrnahm, glaubte ich, auch Raymond zu erkennen. War er gestern auch hier gewesen, als ich mit Tony in der Bar getanzt hatte? Zu sinnlicher Soul Music, eng aneinandergeschmiegt? Als wir uns geküsst und gestreichelt hatten, bevor wir …

Hatte Raymond etwas mit dem Unfall zu tun? Ich war kurz davor, wahnsinnig zu werden.

Draußen ertönte das spanische Tatütata. Ein Wagen hielt auf der Promenade, zwei Polizisten betraten das Lokal.

Ich hockte innerlich wie tot in einer Ecke, vor mir ein zweiter Whiskey, und starrte ins Leere.

»Der Unfall hat sich in den frühen Morgenstunden ereignet, auf der Autobahn in Höhe von Arroyo de la Miel. Der Jaguar ist offenbar von der Fahrbahn abgekommen und einen der steilen Abhänge hinuntergestürzt. Er hat sich mehrfach überschlagen und ist achtzig Meter tiefer auf eine Felsplatte geknallt. Auf der Straße konnten keinerlei Bremsspuren gefunden werden. Señor Kwabena war auf der Stelle tot.«

Ich holte tief Luft und schrie wie ein angeschossenes Tier: »NOOOOOOOO! Tony ist nicht TOOOOOOOOT! Noch heute Morgen hat er mir geschworen, dass er mich immer lieben wird! Er kommt gleich zurück. Ihr müsst euch irren! Das muss eine Verwechslung sein. Nicht mein Tony!«

Jemand füllte mein Glas zum dritten Mal und führte es mir an die Lippen:

»Trink!«

Es dauerte nicht lange, bis der Whiskey seine Wirkung tat. Ich fühlte mich wie in einem schlechten Film, als der spanische Polizist weiterschnarrte:

»Die Kollegen haben einen Führerschein und einen Personalausweis gefunden, beide ausgestellt auf einen Tony Kwabena Okoruego, wohnhaft in Accra, Ghana. Außerdem ein funktionsfähiges Handy. Gleich unter drei verschiedenen Nummern stand »Baby« ganz oben auf der Anrufliste, sodass wir auf Sie gekommen sind.«

Ich starrte stumm vor mich hin und malte mit den Whiskey- und Kaffeeresten Muster auf der Tischplatte.

»Tony ist nicht tot«, wiederholte ich stur. »Er kommt gleich. Er hat es mir versprochen.« Zitternd griff ich nach meinem Whiskey.

»Alkohol wurde nicht im Blut festgestellt, trotzdem müssen wir davon ausgehen, dass er mit überhöhter Geschwindigkeit gefahren ist und durch den Wind oder eine andere Ursache die Kontrolle über den Wagen verloren hat. Ob es Fremdeinwirkungen gegeben hat, können wir leider nicht mehr feststellen, da die Fahrzeugteile bis zu fünfhundert Meter weit verstreut liegen.«

Fremdeinwirkung!, dröhnte es in meinem Kopf. Aber wer sollte, bitte schön, Tonys Wagen manipulieren? Und warum?

»Immer wieder habe ich ihn angefleht, langsamer zu fahren, sogar heute Morgen noch!«, schrie ich verzweifelt. Meine Faust krachte auf den Tisch, dass das Glas wackelte.

»Ich wusste gar nicht, dass ihr euch so nahegestanden seid, Rita«, murmelte John, der fliegende Händler, der auf der Strandpromenade gefakte Handtaschen, Sonnenbrillen und Uhren verkaufte. Er war ein guter Freund von mir und gleich herbeigeeilt. Dass er auch jetzt nicht das Weite suchte, obwohl Polizei da war, sprach für seine Loyalität.

»Ich dachte immer, du bist mit Raymond Ngorongo zusammen!«

Ja, das dachten leider viele.

»Tony und ich waren ein Paar! Wir hatten sogar schon ein Haus gefunden und eingerichtet, weil wir Benni zurückholen wollten … Tony ist Bennis leiblicher Vater!«

Schon wieder schüttelte mich ein Weinkrampf, und jemand flößte mir meinen vierten Whiskey ein. John bat die Polizisten, mich erst mal in Ruhe zu lassen. »Sie steht unter Schock, Männer, merkt ihr das denn nicht?«

Willenlos ließ ich mich von John in meinem Auto nach Hause fahren.

Das Bett, zu dem John mich führte, war noch immer zerwühlt von unserer heißen Liebesnacht. Tonys T-Shirt lag noch zwischen den Laken! Ich presste es an mich, inhalierte seinen Duft und weinte, bis ich keine Tränen mehr hatte.

Irgendwann nahm ich drei Schlaftabletten und fiel in einen komatösen Schlaf, der drei Tage und drei Nächte dauerte.

Als ich wieder aufwachte, saß Raymond an meinem Bett. In seiner Not hatte John ihn wohl angerufen und gebeten zu kommen, schließlich hatte er mich jahrelang mit Raymond gesehen und geglaubt, wir wären ein Paar.

»Baby, es tut mir so leid …«

»Nenn mich nicht ›Baby‹!«, kreischte ich hysterisch und brach schon wieder in Tränen aus.

»Sorry, Rita. Kommt nicht wieder vor. John hat mir alles erzählt, I’m so sorry! Ich wusste nicht, dass er dir so viel bedeutet hat …«

»Er ist Bennis Vater!«, brüllte ich ihn an. »Er war immer meine große Liebe, du warst doch nur eine Notlösung, hau ab, lass mich in Ruhe!« Raymond zuckte zurück.

»Beruhige dich doch, Rita! Scheiße, es tut mir leid …«

»Nach vierzehn Jahren ist er wieder aufgetaucht, hat seinen Sohn noch nie gesehen, und jetzt soll er tot sein? Das GIBT’S doch gar nicht, da ist doch was faul! DU SCHWEIN, was hast du damit zu tun?!«

Ich weinte und schluchzte, und Raymond packte meine Handgelenke und zischte, dass er gar nicht wisse, wovon ich rede. Dann flößte er mir etwas ein, und wieder fiel ich in einen erlösenden Schlaf.

Am nächsten Morgen hielt Raymond mir ein Tablett mit Essen und einem starken Kaffee unter die Nase: »Du musst essen, Babe … Rita. Und sei es nur Benni zuliebe.«

»Benni hat mich doch auch verlassen«, schrie ich in blinder Verzweiflung und schlug auf das Kopfkissen ein. »Alle Menschen, die ich liebe, haben mich verlassen! Warum, Raymond? Was stimmt bloß nicht mit mir?« Inzwischen war ich doch froh, dass Raymond sich um mich kümmerte. Immerhin war ich auch mal in ihn verknallt gewesen, vor lauter Einsamkeit. Doch Raymond hatte meine anfängliche Liebe nicht erwidert und war mir immer wieder aus dem Weg gegangen. Er war nur nett zu mir gewesen, wenn er mich brauchte.

Raymond zündete eine Zigarette an und steckte sie mir in den Mund.

Eine vertraute Geste, die mich früher elektrisiert hätte. Bevor ich Tony wiedergefunden hatte, natürlich.

»Pssst, Rita! Ich weiß, dass das schlimm für dich ist, aber Benni ist dein Kind! Er hat dich nicht verlassen! Du musst dich nur durchsetzen, du bist seine Mutter! Wir holen ihn zurück, du brauchst ihn jetzt!«

Entschlossen griff Raymond zum Telefon, und kurz darauf hörte ich, wie er mit meiner Schwester Tanja sprach.

Danach redete er mit Benni. Er erklärte ihm, dass ich mit einem Nervenzusammenbruch im Bett lag und mich umbringen würde, wenn er nicht zurückkam.

Na super!

Ich lag noch immer kraftlos im Bett und schaffte es nicht, mit meinem Sohn zu telefonieren.

Er war einfach nicht mehr aus den Weihnachtsferien bei seinen Großeltern und seiner Tante in Deutschland zurückgekommen. Mit der laschen Begründung, hier in Spanien wäre es langweilig, außerdem hätte ich ohnehin nie Zeit für ihn, weil ich immer nur in der Bar arbeiten würde. Nach vier gemeinsamen Jahren in Spanien! Nur weil der Winter diesmal kalt und verregnet gewesen war und er nicht draußen Fußball spielen konnte!

Schluchzend drehte ich mich auf den Bauch und vergrub mein Gesicht im Kopfkissen, das immer noch nach Tony roch. Nach wie vor sah ich Tonys vertrautes Gesicht über mir und hörte, wie er mir ewige Liebe schwor. Ich sah seine dunklen Augen ganz dicht vor mir wie in unserer letzten leidenschaftlichen Liebesnacht. Fast glaubte ich seine Schweißtropfen zu schmecken, aber es waren nur meine eigenen Tränen. Ich spürte seine zärtlichen Hände, seine muskulösen Arme, die mich hielten, als ich mit ihm in den siebten Himmel flog …

»Call my name, Baby, call my name …«

Tony! Geliebter Tony! Komm zurück! Sei am Leben! Ich flehe dich an! Weinend umklammerte ich sein Kopfkissen, als Raymond vom Telefonieren zurückkehrte.

»Benni kommt zurück«, sagte er. »Noch diese Woche.«

3

Vier Wochen später

Torremolinos, Spanien, 5. Mai 2005

Es war der fünfte Fünfte Zweitausendfünf. Ein Glückstag? Benni war wieder da! Alles war wie früher, wenn nicht die Sache mit Tony passiert wäre, die mir keine Ruhe ließ. Er war möglicherweise doch noch am Leben! Dieses Fitzelchen Hoffnung hatte sich mir eingebrannt und ließ mich keinen klaren Gedanken mehr fassen.

»Willst du nicht mitkommen nach São Paulo?« Ich nahm all meinen Mut zusammen und biss mir in die Fäuste vor Anspannung. »Benni. Ich brauche dich!«

»Nö. Was soll ich denn da?« Benni dribbelte unentwegt weiter. »Erst willst du, dass ich nach Spanien zurückkomme, und jetzt soll ich auf einmal nach Brasilien!«

»Benni, es würde mir wahnsinnig viel bedeuten!«

»Ich denke, ich soll hier wieder in die Schule gehen, damit ich den Anschluss bekomme?«

Passend zum Datum hatte mein Sprössling nach seiner Rückkehr erst mal eine Fünf geschrieben. Na super! Meine Eltern würden ihn glatt wieder zurückholen.

Benni wechselte ins Spanische.

»No tengo ganas, Mama! São Paulo es aburrido! Voll langweilig! No conozco a nadie! Außerdem findet hier nächste Woche das Fußballturnier gegen die Jugend von Málaga statt. Ich kann froh sein, dass die mich sofort wieder aufgestellt haben! Meinst du, ich flieg jetzt mal eben nach Brasilien, nur weil du dazu Bock hast?«

Ich zog die Schultern hoch und rieb mir die fröstelnden Arme. »Naturalmente no, mi tesoro.«

Ich war so unendlich glücklich, dass mein geliebter Sohn wieder da war. Ausgerechnet dem unzuverlässigen Raymond war gelungen, was mir seit Weihnachten nicht gelungen war: ihn zurückzuholen. Allerdings mit der fürchterlichen Drohung, dass ich mich sonst umbringen würde. Das hätte ich meinem Benni niemals angetan. Aber der Zweck heiligt manchmal die Mittel … Ich hatte ihn wieder, meinen geliebten Schatz! Ich seufzte und ließ die Schultern sinken. Okay. Ich würde also ohne Benni fliegen. Morgen. In ein ungewisses Abenteuer. Auf eine völlig verrückte Mission. Es war ein Strohhalm, an den ich mich klammerte. Eine winzige Chance, die ich unbedingt nutzen musste. Denn wenn stimmte, was Raymond behauptete, war Tony in eine Rauschgiftsache verwickelt gewesen und hatte seinen Tod vortäuschen müssen. Er hatte dringend Geld gebraucht, für ein todkrankes Familienmitglied. Raymond wusste davon, weil Tony Friday dafür hatte einspannen wollen. Ausgerechnet diesen zwielichtigen Kerl?!

Wie grauenvoll! Andererseits: Gab es vielleicht doch noch eine Zukunft für uns? Lebte mein Geliebter? Wo war er die vierzehn langen Jahre gewesen, in denen er mich mit unserem Sohn alleingelassen hatte? Was wusste ich wirklich von ihm? Vielleicht hatte er wirklich untertauchen müssen und versteckte sich jetzt in São Paulo? Aber wieso ausgerechnet dort? Vielleicht war er in Not und brauchte mich?

Raymond hatte gesagt, dass ich dort Tonys Bruder treffen würde. Der würde mich dann zu meinem Liebsten führen. Mein Herz machte einen Sprung. Dann hätte mein Albtraum ein Ende! Ich würde alles für Tony tun. Alles! Ich musste die Wahrheit wissen. Ich musste einfach.

»Okay, Benni. Ich fliege allein. Pass einfach gut auf dich auf, ja? Es ist ja nur für wenige Tage.«

Endlich sah mich Benni versöhnlich mit seinen großen, dunklen Augen an.

»Hauptsache, du heulst nicht mehr, Mama. Und willst dich nicht mehr umbringen.«

»Ich versprech’s. Du bist ja jetzt wieder da.«

Vorsichtshalber hatte ich Benni kein Sterbenswörtchen vom Auftauchen seines leiblichen Vaters erzählt. Wenn Tony noch lebte, würde alles gut werden. Ansonsten musste ich allein mit dem erneuten und diesmal endgültigen Verlust meiner großen Liebe fertigwerden.

»Benni? Ich bin bald wieder da, versprochen.«

»Können wir jetzt endlich was essen gehen?«

»Zuerst müssen wir Max in die Tierpension bringen.«

Meinen halbwüchsigen Sohn konnte ich, wenn auch widerwillig, bei Raymond lassen, schließlich kannte Benni ihn seit Jahren, hatte hier in Spanien eine Art Ersatzvater in ihm gefunden.

Aber nicht meinen heiß geliebten, knopfäugigen Zwergschnauzer: Raymond hatte schon mal aus Wut nach Max getreten. Für ihn, den Nigerianer, waren Hunde keine Haustiere, er mochte sie nicht.

Dabei liebte ich Max wie ein zweites Kind. Auch dieser kleine, treue Lebensgefährte war auf mich angewiesen und brauchte mich. Hoffentlich tat ich das Richtige. Mit meiner spontanen Art hatte ich mich schon in so manche Katastrophe hineinmanövriert. Aber auch Unglaubliches geschafft. Ich war schon immer aufgeschlossener gewesen als andere Frauen. Wagemutiger. Verrückter. Ausgeflippter. Mit meinen gerade mal hundertsiebenundfünfzig Zentimetern, meiner mädchenhaften Figur und meinen langen, blonden Haaren sah ich viel jünger aus, als ich eigentlich war. Und war nach wie vor das abenteuerlustige, liebebedürftige, lebenshungrige Mädchen, das sich niemals in eine Schublade stecken lassen will. Schon mit achtzehn hatte ich unserer Kleinstadtsiedlung so schnell wie möglich entfliehen wollen. Ich wollte allen zeigen, was in mir steckte. Ich war schon als Gymnasiastin eine trotzige Rebellin, die sich nicht unterbuttern ließ. Ich trug ausgeflippte Klamotten und tanzte in jeder Hinsicht aus der Reihe, nur um nicht zu diesen Spießern zu gehören, aus denen sich meine Familie zusammensetzte.

Also trampte ich 1988 trotzig allein nach Köln zum Karneval, um endlich den Mief der Provinz abzustreifen. Und traf Tony. In einer Altstadtkneipe. Noch am selben Abend versackten wir in einer Soul-Disco und verliebten uns unsterblich ineinander.

So verschreckte ich bereits als achtzehnjährige Schülerin meine Familie im westfälischen Höxter mit einem Schwarzen. Man hatte meinen Eltern zugetragen, dass ich mich mit einem »baumlangen Neger herumtrieb«. Das war für Elfriede und Horst, Hausfrau und Beamter im mittleren Dienst, eine schreckliche Schande. Sie trauten sich gar nicht mehr zum Kurkonzert nach Bad Driburg! Sie waren fest davon überzeugt, dass ich sie damit nur demütigen wollte. Einmal war ich schon sitzen geblieben, und jetzt auch noch das! Meine Mutter beschimpfte mich sogar als »Schlampe«, »Flittchen« und »Negerhure«.

Meine Eltern gaben Tony keine Chance und wollten ihn nicht mal kennenlernen. Was mich dazu brachte, ein Jahr vor dem Abitur die Schule zu schmeißen, um mit meinem geliebten Tony in Köln zusammenzuziehen.

Er zog sein Studium durch, und ich jobbte. Schließlich wurde ich von Tony schwanger. Tony, der gerade mitten in den Prüfungen steckte, war hin- und hergerissen. Er wollte und musste doch als Ingenieur zurück nach Ghana! Seine Eltern und der Rest seiner Großfamilie hatten ihr letztes Geld zusammengekratzt, um ihm das Studium zu finanzieren. Ich flehte ihn an, mich mitzunehmen. Ich wollte mit ihm und unserem Kind in Ghana leben und nie wieder nach Höxter zurückkehren. Er legte mir stattdessen nahe, das Abitur zu machen, zu studieren, erst mal an mich zu denken, ich sei doch noch so jung!

Ein Mischlingskind würde keine Chance haben, in die Gesellschaft integriert zu werden – weder in Höxter noch in Ghana. Es würde nie irgendwo hingehören. Ich sollte den bitteren Schritt wagen, mich von ihm und unserem Kind zu trennen, auch wenn es noch so wehtat. Hier und heute würde ich das noch nicht verstehen. Aber eines Tages würde ich ihm dankbar dafür sein, dass er mir die Freiheit wiedergegeben hatte. Er schwor mir ewige Liebe, gab mir all seine Ersparnisse: Ich sollte Benni abtreiben. Ich heulte mir die Augen aus und klammerte mich an ihn. Doch eines Morgens war er verschwunden.

»Mama?«, holte mich mein Sohn ins Hier und Jetzt zurück.

»Ja?«

»Wir sind da. Hier ist die Hundepension.«

»Oh. Natürlich. Klar. Ich war mit meinen Gedanken …«

»In Brasilien? Bei deinem Lover?«

Errötend setzte ich den Blinker und bog in den Schotterweg ein, der durch Olivenhaine führte. Benni drückte Max an sich und vergrub das Gesicht in seinem kuscheligen Fell. Benni wusste nur, dass jemand gestorben war, den ich sehr gemocht hatte. Den ich von früher kannte. Mehr nicht.

»Hier sind wir, alter Knabe. Das sieht mir nach einem prächtigen Hundehotel aus«, versuchte Benni seinen tierischen Gefährten zu überzeugen. Max stieß fiepende Laute aus, bei denen man nicht wusste, ob es ein freudiges Quietschen oder ein ahnungsvolles Wimmern war.

Hinter eisernen Gitterzäunen trotteten Vierbeiner in der Hitze hin und her. Im Schatten lagen mehrere Zwinger, in denen Hunde aller Größen und Rassen vor sich hin dösten. Manchen entrang sich heiseres Bellen, als sie uns gewahr wurden, andere ignorierten uns stoisch.

Benni ließ Max auf den heißen Sandboden plumpsen und machte ihm das Tierheim schmackhaft, indem er ihm spielerisch ein paar Steinchen wegkickte. Artig und ahnungslos hoppelte Max mit wehenden Ohren hinterher.

Mir wollte das Herz brechen. Die beiden liebsten Wesen dieser Welt wollte ich morgen verlassen. Mich schon wieder von Benni trennen. Mit unbekanntem Ziel.

»Schau, Dicker, jede Menge Kumpels warten hier auf dich!«

Max ging in Deckung, als zwei Riesenkaliber bellend an den Zaun kamen. Im tiefsten Bass, während Max seine Begrüßung im zweiten Sopran anstimmte.

»So hab ich mich am ersten Tag in der Gesamtschule Höxter auch gefühlt, Alter.« Benni ging in die Hocke und streichelte den kleinen Hund, der halb ängstlich, halb freudig mit dem Stummelschwanz wedelte, als wollte er seinen Artgenossen Entwarnung geben. Ich bin’s nur, Leute. Der harmlose, verspielte Max.

Die Betreiberin kam uns laut palavernd und gestenreich entgegen und hieß unseren kleinen Liebling mit heiserer Stimme im Reich der Zwinger willkommen.

Da begriff Max, dass wir ihn verraten hatten. Ohne sich noch einmal zu uns umzudrehen, ließ er sich von Señora Perro wegführen. Sein Stummelschwanz war stolz erhoben, als wollte er uns den Stinkefinger zeigen.

»Ist doch nur für eine Woche, Max«, rief ich ihm mit brüchiger Stimme nach.

»Komm Mama, jetzt heul hier bloß nicht los.« Benni legte den Arm um mich und schob mich Richtung Auto. »Ich sterbe vor Hunger.«

Dann fuhren wir endlich nach El Palo, wo ich ihn in seinem Lieblingsrestaurant auf eine Riesenportion Crêpes einlud.

»Jetzt sag mal ehrlich, Mama.« Benni nahm einen Riesenhappen von seinem hauchdünnen, dick bestrichenen Pfannkuchen, und Nutella tropfte ihm aufs Kinn. Ich musste mich schwer beherrschen, es ihm nicht abzutupfen.

»Was willst du wirklich in Brasilien?«

»Ich … ähm … Es könnte sein, also, ich hab eine Nachricht erhalten, da ist jemand, mit dem ich mich treffen möchte.«

Benni sah mich abwartend an und schmatzte genüsslich. »Geht es also wieder los mit deinen Männergeschichten.«

»Was denn für Männergeschichten?!«, regte ich mich auf. Vor lauter Aufregung und Schmerz um meinen Verrat an Max hatte ich keinerlei Appetit. Deshalb nippte ich nur an meiner Cola light.

»Na ja, erst Raymond, dann dieser geheimnisvolle Typ, von dem du mir am Telefon vorgeschwärmt hast und den ich unbedingt kennenlernen soll, dann wieder Raymond, aber der geht dir auf den Zeiger … Wer ist es denn diesmal?«

»Es ist nichts, was spruchreif wäre«, zog ich mich hastig aus der Affäre. »Wenn es was zu berichten gibt, erfährst du es als Erster.«

»Mama, mir egal«, quoll es schokoladig aus dem Mund meines Sohnes. »Du bist erwachsen und musst wissen, was du tust. Nur, so, wie du in letzter Zeit geheult hast wegen diesem verschwundenen Typen, sollst du nicht wieder in ein Loch fallen, wenn es mit diesem Kerl in Brasilien auch nix wird.«

»Ich verspreche dir, dass ich nicht traurig sein werde.«

»Also, wenn du mich anrufst, heulst du nicht und willst dich auch nicht umbringen?«

Zugegeben. Bei unseren letzten Telefonaten hatte ich wirklich NUR geheult. Dass meine eigenen Eltern und meine Schwester mir meinen Jungen weggenommen hatten, den einzigen Menschen, den ich auf dieser Welt hatte, darüber war ich immer noch nicht hinweg.

»Versprochen.« Ich nickte tapfer. Mein Herz raste. »Bitte lass immer dein Handy an. Nicht vergessen!«

»Ja, ja.«

»Hast du dein Ladegerät?«

»Sí. No soy un bebé, Mama.«

»Vergiss nicht, dein Handy immer bei dir zu tragen.«

»Gulp.« Benni spülte mit einem großen Schluck Cola nach.

»Mama, eines will ich dir noch sagen.«

»Ja?« Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel und schaute meinen Sohn an, der Tony in diesem Moment wie aus dem Gesicht geschnitten war.

»Te quiero, Mama. Ich hab dich lieb.«

Verlegen ließ er sich von mir in den Arm nehmen und schielte über meine Schulter, ob auch ja niemand diese durchgeknallte kleine Frau bemerkte, die ihm nun auch noch leise schluchzend einen feuchten Kuss auf die Wange drückte. Peinlich berührt wischte er sie mit dem Handrücken ab.

»Mama. Ist gut jetzt.«

»Ich bin ein bisschen durch den Wind.«

»Mama, wann bist du nicht durch den Wind?« Benni grinste gequält. »Können wir jetzt zu Raymond fahren?«

»Natürlich. Wie du meinst, mein Großer.«

Als wir vor dem Haus angekommen waren, das einmal mir gehört hatte, konnte ich mich nicht mehr beherrschen.

»Würdest du nicht doch mir zuliebe bei Raúl und Marta …« Ich zeigte auf das Nachbarhaus, in dem er seine halbe Kindheit verbracht hatte.

Benni winkte nur ab und verschwand.

Ich sollte ihn fünf lange Jahre nicht wiedersehen.

4

São Paulo, Brasilien, 7. Mai 2005

Nach über vierzehn Stunden Flug landete der vollgestopfte Flieger nach brasilianischer Zeit frühmorgens in Guarulhos. Mein Mund war ausgetrocknet, und meine Glieder fühlten sich so steif an, als hätte mich jemand in einen Sack gesteckt und durchgeprügelt. Ich nahm mir ein Taxi und bat den Taxifahrer auf Spanisch, mich in ein möglichst günstiges Hotel in der Nähe der Avenida Paulista zu bringen. Portugiesisch konnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht. Ich ahnte ja nicht, wie bald und wie schnell ich diese dem Spanischen ähnliche Sprache lernen sollte.

São Paulo, diese Riesenmetropole mit den Hochhaustürmen und schmucklosen Betonklötzen, erwachte gerade aus einer nicht gerade erholsamen und stillen Nacht. Die Avenida Paulista zeichnete sich am Horizont ab wie eine schwarze Schnur. Ich wusste, dass sie auf einem lang gestreckten Hügelzug lag. Schon nach kurzer Zeit standen wir im Stau. Hier war Brasilien alles andere als leidenschaftlich oder romantisch, und leider war es auch nicht besonders warm.

Benni hätte nach kurzer Zeit genervt gefragt: »Wann kommt endlich das Meer?«

Ach, mein Großer!, dachte ich wehmütig. Hoffentlich geht es dir gut. Bei dir ist es jetzt schon später Nachmittag. Sitzt du bei Raymond am Tisch und isst zu Abend? Wahrscheinlich lümmelst du eher auf der Couch rum und mampfst Pizza, während du in die Glotze starrst.

Der Taxifahrer, an dessen Rückspiegel eine Heiligenfigur baumelte, trommelte nervös und leise fluchend aufs Lenkrad. Rasch kontrollierte ich mein Handy, vielleicht hatte Benni sich ja schon gemeldet? Natürlich nicht. Welcher Dreizehnjährige telefoniert seiner Mutter hinterher? Ich probierte es selbst. Nichts. Es klingelte durch. Fehlanzeige. Die Mailbox ging dran.

»Tesoro, ich bin gut angekommen«, krächzte ich müde.»Bitte melde dich oder lass wenigstens dein Handy an, damit ich dich erreichen kann. Ich versuch’s wieder. Grüß Raymond, er soll nett zu dir sein. Hoffentlich überlässt Friday dir dein altes Zimmer.«

Seufzend lehnte ich mich im Fond des nach Diesel stinkenden Wagens zurück.

Ich war übermüdet und hungrig, aber vor lauter Aufregung über das, was mich hier vielleicht erwartete, konnte ich weder schlafen noch essen. Wenn Tony wirklich noch am Leben war – was hatte er ausgefressen? Warum hatte er fliehen müssen? Das war alles so merkwürdig und dubios! Noch nie zuvor hatte Tony was mit Drogen zu tun gehabt. Was für eine hanebüchene Geschichte hatte mir Raymond da eigentlich aufgetischt? Wie blind war ich eigentlich? Raymond konnte mir viel erzählen! Der hatte doch selbst mit Drogen zu tun!

Erst vor Kurzem war ich ihm auf die Schliche gekommen. Raymond arbeitete nämlich nicht ausschließlich auf dem Schrottplatz, um Autos zu reparieren und Ersatzteile nach Nigeria zu schicken, wo er angeblich einen regen Handel betrieb. Er schmuggelte auch andere Sachen über die Grenze. Wenn er von einer seiner wochenlangen Reisen zurückkam, roch er immer so süßlich, hatte gelbe Augen und war irgendwie anders als sonst. Dann herrschte in meinem Haus ein Kommen und Gehen von angeblichen Freunden, die auch immer einen reichlich bekifften Eindruck machten. Besonders dieser Friday, der angeblich sein Cousin war. Das passte mir gar nicht, und ich hatte Raymond immer wieder Vorhaltungen deswegen gemacht, schon allein wegen Benni. War es ein Fehler, Benni wieder dorthin zurückzuschicken? Aber mein dickköpfiger Sohn wollte einfach in seine vertraute Umgebung zurück, und das war nun mal unser ehemaliges Haus! In das erst Raymond und dann später Friday eingezogen waren! Bis Tony gekommen war und ein neues Leben mit mir anfangen wollte.

Ich biss mir auf die Lippen und lehnte meine Stirn an das verschmierte Autofenster. Draußen ragten die Fernsehantennen und Satellitenschüsseln wie kahle Bäume in den versmogten Himmel, als wollten sie diesen Betonschluchten entfliehen, und ich sehnte mich auf einmal heftig nach Benni, Max und unserem sonnigen Paradies in Torremolinos zurück. Nach unserer neuen Wohnung. Nach Ruhe und Behaglichkeit. Ich Riesen-Hornochse! Was machte ich eigentlich hier? Welcher sinnlosen Hoffnung war ich nur gefolgt? Raymond hatte mir gesagt, ich solle in ein Hotel in der Innenstadt einchecken und auf einen Anruf warten. Im Laufe der nächsten Tage würde sich jemand aus Tonys Umfeld bei mir melden. Sein Bruder.

Komisch. Tony hatte mir nie erzählt, dass er einen Bruder hatte! Was wusste ich eigentlich von ihm?

Nach gut einer Stunde hatten wir die Innenstadt erreicht. Hupkonzerte und ständiges Stop-and-Go hatten die Fahrt nicht gerade erholsam gemacht. Der Chauffeur hielt vor einem unspektakulär aussehenden grauen Klotz und wuchtete meinen Koffer auf den Bürgersteig.

»Das ist ein Mittelklassehotel, in dem viele europäische Touristen absteigen. Hier wird Englisch gesprochen.«

»Danke.« Dabei hatte ich mir mit meinem Spanisch doch so Mühe gegeben! Müde rollte ich meinen Koffer in die schlichte Lobby und buchte ein Zimmer für eine Woche. An der Rezeption lagen Konzertankündigungen für eine bunte Salsa-Show aus, was mein Herz wieder ein wenig höherschlagen ließ. Ich würde mich jetzt ein bisschen ausruhen und dann das Beste aus meiner Woche hier machen. Bloß nicht in Selbstmitleid versinken – stattdessen die Situation bei den Hörnern packen. Wer wusste schon, was ich hier noch Spannendes erleben würde!

Das Zimmer roch muffig. Ein schwerer dunkelgrüner Brokatüberwurf bedeckte ein durchgelegenes Doppelbett, und als ich meinen Koffer darauf fallen ließ, stob mir eine Staubwolke entgegen. Die Fenster waren vergittert und ließen sich nur einen Spaltbreit öffnen. Als Benzingestank und ohrenbetäubender Lärm hereindrangen, schloss ich sie gleich wieder. Die schweren Vorhänge und das dazugehörige Rollo aus schwarzem Lederimitat hüllten die Bude in völlige Dunkelheit, und nur das Brummen der Klimaanlage kündete davon, dass man noch nicht tot im Sarg lag.

Mein Versuch, ein bisschen zu schlafen, scheiterte. Die Klimaanlage setzte eine Weile aus, während meine Gedanken in die jüngste Vergangenheit abdrifteten. Mir brach der Schweiß aus. Uff, ich musste hier raus. Ich würde sonst noch verrückt.

Ich duschte in der Fünfzigerjahre-Badewanne mit nicht gerade appetitlichem Duschvorhang, zog mir frische Klamotten an und ließ mich vom alten, wackligen Aufzug nach unten bringen.

São Paulo, ich komme!

5

São Paulo, Brasilien, 8. Mai 2005

»Das ist ja hier voll die geile Mucke!«

»Wie?«

»Sprichst du Englisch?«

»Português!«

»Okay, ich versuch’s auf Spanisch! DAS IST HIER VOLL DIE GEILE MUCKE! Música grandiosa, me gusta mucho!«

»He, du bist gar nicht zwölf! Von hinten siehst du aus wie ein kleines Mädchen! Ich hab mich schon gewundert, wieso deine Mutter dir erlaubt hat, hier nach Mitternacht so sexy zu tanzen!«

»Hahaha, sehr witzig!«

»Willst du was trinken?«

»Cómo?«

»WILLST DU WAS TRINKEN???«

»Sí por favor!«, übertönte ich begeistert den Lärm dieses Salsa-Clubs, in dem die Post abging.

»Caipirinha!«

»Gut, komm mit, du bist eingeladen!«

Der sympathische Bandleader war verschwitzt von der Bühne gesprungen, mir geradewegs vor die Füße. Er machte gerade Pause. Tätowiert, Rastalocken, muskulöser Oberkörper, Bandana, Piercing – also wieder mal genau mein Typ. Er hatte eine samtweiche Stimme und spielte virtuos Piano und Gitarre. Seine Kumpels versanken ebenso in Ekstase wie er, was wiederum die Tanzenden im zuckenden Licht in Ekstase versetzte. Auch ich hatte mich von den heißen brasilianischen Rhythmen mitreißen lassen, mir die Angst von der Seele getanzt. Der Bandleader hatte mich schon die ganze Zeit wohlwollend gemustert und sich offensichtlich an meinem Anblick erfreut.

»Woher kommst du?«

»Europa! Spanien«, brüllte ich ihm ins Ohr. »Ich lebe seit vier Jahren dort, bin aber eigentlich Deutsche!«

»Du tanzt wahnsinnig gut! Dein Hüftschwung ist der Hammer!«

»Ihr solltet eine Europa-Tournee machen! Eure Musik ist genau das, was die verstaubten Spießer dort brauchen!«

»Echt? Hätten wir eine Chance?«

»Ja! Mein voller Ernst!« Ich konnte gar nicht mehr aufhören, mit den Hüften zu kreisen. Aufgeregt nippte ich an meinem Drink. »Bei uns in Torremolinos gibt es im Sommer einige hochkarätige Diskotheken mit Livemusik. Immer brechend voll, aber beschissene Mucke!«

»Echt?«, freute sich der gut aussehende Bandleader, der sich mir als Jesús vorgestellt hatte.

Er winkte seine Freundin herbei, eine bildschöne glutäugige Latina mit Bauchnabelpiercing, die sich mir strahlend und ohne eine Spur von Eifersucht als Clara vorstellte.

»Hi! Du tanzt toll!«

»Eure Musik ist ja auch Hammer!«

»Willst du uns managen?«

»Ich könnte es versuchen!«

»Sie sagt, sie hat Kontakte zur spanischen Musikszene!«

Nach und nach gesellten sich alle Bandmitglieder zu uns an die Bar. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah! Ihre Freundlichkeit und Gastfreundschaft hüllten, mich ein wie eine warme, weiche Decke. Auf einmal fühlte ich mich in São Paulo gar nicht mehr so fehl am Platz, und meine Ängste und Zweifel wichen einer trügerischen Euphorie.

Sie überhäuften mich mit Komplimenten, und ich spürte, wie mir vor Freude die Wangen glühten.

Nach der Pause, als die Band wieder zu spielen begann und Jesús mit seiner melodischen Stimme traurige Balladen sang, unterhielt ich mich weiter mit Clara. Sie erzählte mir von den bisher recht erfolglosen Bemühungen der Salsa-Band, professionell Fuß zu fassen.

»Ich werde mich sofort nach meiner Rückkehr mit Freunden in Torremolinos in Verbindung setzen«, versprach ich. »Ich kann mir vorstellen, eine tolle Tournee durch alle Urlaubsorte Spaniens für euch zu organisieren.«

Ich sah mich schon als Entdeckerin dieser grandiosen Band eine goldene Nase verdienen. Damit wäre die Zukunft gesichert, auch für meinen heiß geliebten Benni!

Wenn ich die Augen schloss und mir noch dazu vorstellte, wie Tony in dieser Zukunftsvision mit mir zu erotischen Rhythmen tanzte, erfasste mich eine Glückslawine nach der anderen.

Ich hatte Freunde gefunden! Brasilianische Freunde, die an mich glaubten, die mich hübsch und sexy fanden, die mich eingeladen hatten, den Rest der Woche mit ihnen zu verbringen!

Gegen vier Uhr morgens taumelte ich fröhlich summend in meine »dunkle Gruft« zurück.

Ach Rita!, dachte ich, bevor ich die Schuhe abstreifte und auf das Staubwolkenbett fiel. Eines muss man dir lassen: Egal, wo du hinkommst, du machst das Beste draus!

Am nächsten Tag bummelte ich ziemlich verkatert über die Avenida Paulista. Die Straße hatte eindeutig schon bessere Zeiten gesehen, aber es gab immer noch genug Geschäfte, Cafés und Restaurants, in denen man sich die Zeit vertreiben konnte. Ich kaufte Benni ein paar Fußballtrikots mit Namen von brasilianischen Fußballspielern, für die er schwärmte.

Die Band würde ich am Abend wiedersehen, diesmal in einem anderen Club. Ich würde für den Rest der Woche ihr Gast sein, einschließlich Essen und Trinken. Da konnte ich mir doch die eine oder andere sexy Abendklamotte gönnen. Ich kaufte also einige sündhaft kurze Hängerchen sowie hochhackige Stiefelchen im Lederfransenlook, freute mich, dass alles so bezahlbar war, und wartete einfach auf – DEN ANRUF.

Schließlich landete ich in einem Internetcafé, wo ich mein Handy aufladen konnte und einen dringend benötigten doppelten Espresso trank.

Während ich die Fotos von gestern mit der brasilianischen Band hochlud, probierte ich es bei Benni. Bei ihm musste es jetzt Abend sein. Bestimmt saß er bei Raymond vor dem Fernseher oder spielte ein Computerspiel. Bestimmt war alles ganz harmlos. Schließlich hatten wir fast zwei Jahre lang zusammengelebt, Raymond, Benni und ich! Nur dieser dubiose »Cousin« Friday hatte Misstrauen bei mir gesät. Benni, geh ran, geh ran, geh ran. Sag, dass alles gut ist!

Seine Mailbox sprang an. Sollte ich mir wieder den Mund fusselig reden und ihn anflehen zurückzurufen? Wie ich das hasste! Verärgert schlug ich mit der Faust auf den Tisch. Er wusste doch, wie viele Sorgen ich mir um ihn machte! Auch Raymond ging nicht an sein Handy! Scheißkerl!

Entschlossen wählte ich die Festnetznummer von Marta, der Mutter von Raúl.

Sie meldete sich sofort und klang genauso müde und erschöpft wie jede alleinerziehende Mutter eines Dreizehnjährigen, die gerade zwölf Stunden lang Zimmer geputzt und Betten gemacht hat. Marta war Zimmermädchen in einem Hotel und lieferte mir obendrein selbstgemachte Tapas für die Bar.

»Oh, hi, sorry, dass ich dich störe, Marta. Ich bin’s, Rita. Qué tal? Ich will nur kurz wissen, wo Benni ist.«

»Ah, hola Rita, dónde estás?«

Ich konnte unmöglich sagen, dass ich mich in São Paulo herumtrieb. Mit einer Salsa-Band. Und noch einen Kater von zu vielen Caipirinhas hatte. Dass ich nach meinem toten Geliebten suchte.

»Ich bin gerade bei einem Lieferanten in Madrid und schaffe es heute nicht mehr nach Hause!«

»Ah, no te preocupes. Benni ist mit Raúl auf der feria in Rincón de la Victoria«, kam es krächzend aus dem Mund der Kettenraucherin. »Sie sind mit dem Bus hingefahren.«

Die feria war eine Art Volksfest mit Karussells, Schießbuden und Feuerwerk zu Ehren irgendeines Heiligen. Feria war immer gut, eine Pflichtübung für jeden Dreizehnjährigen im Umkreis von hundert Kilometern. Bei uns war das früher die Kirmes in Höxter gewesen

»Kann Benni eventuell bei euch schlafen?«, fragte ich hoffnungsfroh, den Finger aufs Ohr gepresst, weil es hier im Internetcafé so laut war. Ich schrie die rosa getünchte Wand an. »Ich weiß nicht, ob ich es in den nächsten Tagen nach Hause schaffe!«

»Meinetwegen gern«, schnaufte Marta, die offensichtlich gleichzeitig putzte oder kochte, auf jeden Fall aber dabei rauchte. »Ich hab ihn allerdings noch gar nicht zu Gesicht gekriegt.«

»Marta!«, brüllte ich beunruhigt. »BITTE schnapp ihn dir und zwing ihn, bei dir zu übernachten! Okay?«

»Wie gesagt, wenn er auftaucht, jederzeit! Du weißt doch, wie gern ich ihn hab!«

»Gracias, hasta luego.«

Erleichtert lehnte ich mich zurück. Ich wollte gerade die Señora Perro im Hundeheim anrufen, um mich nach Max zu erkundigen, als die Fotos von der Band aufploppten.

Wow, sie sahen hinreißend aus. Mit meiner kleinen Kamera war es mir gelungen, sie in action einzufangen. Ich hatte auch gleich noch einen kleinen Werbefilm gedreht, den ich ebenfalls ins Internet stellen wollte. Im Organisieren war ich schon immer gut gewesen! So machte diese Reise auf jeden Fall Sinn. Nur ein cooler Bandname fehlte noch – ja, genau, »Salsa Som«, der haute doch rein! In einer Woche würde ich mit einer Menge neuer Erfahrungen nach Hause zurückfliegen. Und nie wieder auf die zweifelhaften Versprechungen eines gewissen Raymond Ngorongo reinfallen. Tony war tot, und damit musste ich leben. Ich war dem Schicksal dankbar, dass es uns noch einmal zusammengeführt hatte. Und dass er noch hatte erfahren dürfen, dass er einen Sohn hatte.

Während ich den kleinen Werbefilm mit Untertiteln versah und auf meine Website stellte, klingelte mein Handy. Benni!, ging es mir sofort durch den Kopf. Endlich!

»Hi, Cowboy«, meldete ich mich. »Cool, dass du anrufst. Was geht ab?«

»Hello, Rita, how are you?«

Oh. Das war eindeutig NICHT Benni. Mein Herz begann augenblicklich zu rasen.

Sollte Tony etwa doch …? Mir schnürte sich die Kehle zu. Der Bruder? Hatte Raymond recht gehabt?

»Hallo, wer ist da?«, krächzte ich zögerlich.

»Rita. Please talk English to me. Where are you? Let’s meet.«

Auf einmal hatte ich Gänsehaut. Die Stimme gehörte definitiv nicht Tony, war aber weich und melodisch mit eindeutig afrikanischem Akzent.

»Who is speaking?« Ich presste das Handy ans Ohr, weil mein Herz so laut schlug, dass ich dagegen anschreien musste.

»Hello, Rita. Don’t worry. Du kennst mich nicht. Aber ich bin der Bruder von jemandem, den du kennst.«

O Gott. Raymond hatte nicht gelogen! Ich klammerte mich an meinen Stuhl, denn bunte Sternchen tanzten vor meinen Augen.

»Hello? Rita?«

»Wo ist Tony?«, quietschte ich schließlich.

»Keep cool, Rita. People are watching you!«

»Wo bist du?« Erschrocken sah ich mich um. Gehörte diese schrille Stimme mir?

Konnte mich mein Anrufer sehen? Stand er hier irgendwo? Mein Kopf ruckte herum wie bei einem verrückt gewordenen Roboter. Ich sprang auf und warf meinen Stuhl um.

»Shut the fuck up!«

Ich presste die Fäuste an die Schläfen und zwang mich, tief durchzuatmen.

»Okay«, presste ich schließlich hervor. »Wo ist er?«

»I’ll take you there!«

Ich schluckte. Es war wahr! Tony lebte! Kalter Schweiß bedeckte meinen Rücken.

»Wann kann ich ihn sehen?«, schrie ich hysterisch.

»Ich ruf dich gleich wieder an.« Klick, aufgelegt.

Fassungslos starrte ich auf mein Handy.

Er war hier! Er war in meiner Nähe!

Zumindest der Anrufer. Tonys Bruder. O Gott, in welchen Schwierigkeiten steckte Tony? Sofort lief der reinste Actionthriller vor meinem inneren Auge ab. Was war wirklich passiert, nachdem er mich an jenem Aprilmorgen verlassen hatte? In welcher Not steckte er? Wie konnte ich ihm helfen? Ich würde alles für ihn tun. Wenn er Geld brauchte – ich würde es besorgen. Ich würde zu ihm halten. Er war der Vater meines Kindes. Und ich hatte ihn immer geliebt. Nur ihn. Erleichtert stellte ich meinen Stuhl wieder auf und wartete, bis mein Herzrasen sich beruhigt hatte. Bis mein Handy wieder klingeln würde. Ich starrte es an wie ein seltenes Insekt.

Dann schaute ich auf mein Facebookprofil. Inzwischen hatten schon mehrere Freunde meinen Beitrag geliked.

»Cool, Rita!«

»Du bist die Größte, Kleine!«

»Du rockst das Showgeschäft!«

»Wer ist der heiße Typ am Schlagzeug?«

Mein Herz wummerte.

Es war passiert. Es war wirklich passiert! Tonys Bruder hatte angerufen! Genau wie Raymond gesagt hatte! Meine Güte, wieso steckten die beiden unter einer Decke? War Tony etwa deshalb in Spanien aufgetaucht? Dabei hatte er mir doch erzählt, er hätte mich zufällig auf Facebook gefunden! Tony war verheiratet gewesen, mit der Frau, die seine Familie vor vielen Jahren für ihn ausgesucht hatte. Aber er hatte mich ebenso wenig vergessen können wie ich ihn! Tony hatte Raymond doch erst über mich kennengelernt! Oder bestand da schon vorher eine Verbindung? Mich fröstelte.

Hatte Tony etwa für Raymond …? Oder war das alles nur eine Verkettung unglaublicher Zufälle? In meinem Kopf drehte sich alles. Aber eines wusste ich sicher: Tony liebte mich! Und ich ihn. Wir gehörten zusammen.

Warum rief der Bruder nicht gleich wieder an? Dieses Warten war unerträglich!

Ich verharrte noch gefühlt zwei Stunden vor dem Bildschirm. Biss mir auf die Unterlippe, knibbelte an meinen Fingernägeln herum, starrte ins Leere. Und begann schließlich einen belanglosen Chat mit meinen Freunden.

Sogar Tanja, meine kleine Schwester, klinkte sich plötzlich ein. Wir hatten seit Jahren kein Wort miteinander gesprochen. Erst recht nicht, seit sie mir meinen Benni nicht mehr aus den Weihnachtsferien zurückgeschickt hatte, die blöde Kuh. Auf einmal war sie da und schickte mir einen Smiley. Ich zögerte lange und schickte ihr schließlich einen mit Sonnenbrille zurück. Sollte sie ruhig neidisch werden!

»Bist du echt in Brasilien?«, schrieb sie.

»Claro.« Grinsender Smiley mit Schweißtropfen auf der Stirn. Die sollte bloß nicht denken, dass sie mich kleingekriegt hatte. SIE war in Höxter mit ihrem Balg. Hing bei unseren Eltern rum und hatte es zu nichts gebracht. ICH war in der großen, weiten Welt und hatte mir meinen Traum erfüllt.

»Liegst du am Strand rum, du faule Nuss?«

»Nee. Business. Zieh gerade ’ne geile Salsa-Band an Land. Siehst du ja. Und du?«

»Bin mit Mama und Charity bei Thorsten und Ilka zum Kaffee. Zum Kotzen langweilig.«

Ich gönnte es ihr von Herzen.

»Wie geht’s ihnen allen so?«

»Nichts Neues. Alle werden nur älter und fetter. Was man von dir nicht gerade behaupten kann, Schwesterherz. Siehst gut aus.«

Ich schluckte. Schwesterherz. Und das von dieser intriganten Verräterin!

Babysitten sollte sie damals. Sonst nichts. Dafür hatte ich sie sogar bezahlt! Und was hatte sie stattdessen getan? Meine eigene Schwester!

Ich biss mir auf die Fäuste. Wollte schon wütend in die Tasten hacken: »Schleich dich nicht wieder in mein Leben ein, Tanja! Nimm mir nie wieder meinen Mann weg! Oder meinen Sohn!«

Aber ich ließ es bleiben.

Mein Zorn war verraucht.

»Was machen unsere Brüder?«

»Thorsten ist in Frührente gegangen, und Karsten säuft sich zu Tode.«

»Und unsere Eltern?«

»Mama schmiert Schnittchen und tut so, als ob alles wunderbar wäre, und Papa sitzt nur noch vor der Glotze und hat Rücken.«

Ich schluckte wieder. Dass ich ausgerechnet in diesem Moment meines Lebens ein Update von meiner Familie bekam!

Viel lieber wäre mir gewesen, dass Tonys Bruder zurückrief. Oder Benni!

»Wie geht’s Charity?«, schrieb ich, um meine Ungeduld zu zügeln.

»Die Maus ist total aufgeregt! Oma bastelt mit ihr was zum Muttertag, und ich darf es nicht sehen :-)«

Ich spielte mit einer Haarsträhne und rechnete nach.

War die Sache mit Thiago und Tanja schon wieder so lange her?

Benni hatte es GEWUSST. Und geschwiegen. Um mir nicht wehzutun. Wie alle in meinem Freundeskreis. Zuerst wollte ich es gar nicht glauben.

Aber neun Monate später glaubte ich es.

Denn Charity hatte die gleiche Hautfarbe wie Benni.

6

São Paulo, Brasilien, 9. Mai 2005

Auch an diesem Abend traf ich mich wieder mit den Leuten von der Salsa-Band. Sie hatten schon eine Menge positive Reaktionen bekommen, was für mich ein wirklicher Lichtblick war. Unter wildem Freudengeheul nahmen sie mich in ihre Mitte und luden mich feudal zum Essen ein.

Obwohl mir der Hals vor Aufregung wie zugeschnürt war, ließ ich mich anstecken von ihrer Lebensfreude. Wieder floss die Caipirinha in Strömen, und irgendwann beschlich mich das Gefühl, ich hätte diesen dubiosen Anruf nur geträumt.

Auch in dieser Nacht kam ich erst gegen vier Uhr früh in meine dunkle Gruft zurück und versuchte zu schlafen, was mir allerdings nicht gelingen wollte.

Ich hatte mich vergeblich um ein besseres Hotelzimmer bemüht, doch ganz São Paulo schien ausgebucht zu sein. Jedenfalls in meiner Preisklasse.

Wütend wälzte ich mich hin und her, kämpfte mit dem Laken, dessen Enden aus mir unerfindlichen Gründen von eifrigen Zimmermädchen unter der Matratze festzementiert worden waren, sodass man sich kaum bewegen konnte.

Die Klimaanlage sprang rumpelnd an. Ich setzte mich auf, machte Licht und wählte Bennis Handynummer. Seit unserem Abschied vor über fünfzig Stunden hatte ich noch kein Lebenszeichen von ihm erhalten.

Nichts. Es klingelt durch. Mailbox. Mistkerl!

»Benni, ich flehe dich an, melde dich! Bitte! Es ist irre wichtig! Ich mach mir wahnsinnige Sorgen und kann nicht schlafen! Ach so, und noch etwas: Ich hab dich lieb.«

Frustriert ließ ich mich wieder aufs Bett fallen und starrte an die Decke.

Der riesige braune Ventilator stand still. So, wie auch ich zum Stillhalten verdammt war!

Marta. Ich wählte ihre Festnetznummer.

»Digame?«

»Sorry, Marta. Ich bin’s, Rita. Ich will nur wissen, wo Benni ist.«

»No tengo ni idea.«

»Marta, du hast mir doch versprochen, dass Benni bei dir pennen kann!«

»Hab ihn nicht zu Gesicht bekommen.«

»Aber er war doch mit Raúl auf der feria in Rincón de la Victoria!«

»Raúl war um zehn wieder da, aber ohne Benni.« Das Herz sprang mir polternd aus der Brust und drohte, unter das Bett zu rollen. Mühsam rang ich nach Luft.

»Und wo ist Benni?«

»Dios mío, woher soll ich das wissen?«

»Marta, ich flehe dich an. Geh rüber und klingel bei Raymond.«

»Du weißt doch, dass ich den Typen nicht ausstehen kann. Dieser Friday ist mir unheimlich.«

»Bitte, Marta, tu es mir zuliebe.«

»Espera.« Der Hörer wurde auf den Tisch geknallt, und Marta zog sich fluchend die Schuhe an.

Ich wartete.

Die Klimaanlage, die lange stillgestanden hatte, als wollte sie nichts verpassen, sprang polternd an, sodass ich zusammenzuckte. Plötzlich wehte ein kalter Wind. Ich verkroch mich unter dem Laken. Verdammt. Das Ding spannte über der Schulter, dass man wahnsinnig werden konnte!

»Hola? Rita?«

»Ja?«

»Er ist nicht da.«

Ich schluckte, sammelte mich.

»Wer ist nicht da?«

»Raymond.«

»Und – Benni?«

»Keine Ahnung. Es macht keiner auf. Und Licht brennt auch keines.«

»Oh Marta … Ich mach mir solche Sorgen …« Mir kamen die Tränen.

»Bist du denn immer noch in Madrid?«

»Marta«, entfuhr es mir. »Ich hab dich angelogen. Ich bin in São Paulo.«

»DAS São Paulo? Brasilien?«

»Sí.« Ich atmete heftig aus. »Lo siento mucho! Ich wollte dich nicht belügen. Aber ich bin jetzt ECHT am anderen Ende der Welt und kann nichts machen! Ich kann nicht mal eben ins Auto steigen und meinen Herrn Sohn suchen wie sonst, wenn er beim Fußballspielen die Zeit vergessen hat.«

»Soll ich die Polizei rufen?«

Ich presste die Lippen zusammen und zermarterte mir den Kopf. Ich hatte Raymond kurz vor meinem Auszug GEDROHT, die Polizei zu holen. Und Friday zu verpfeifen. Im Zorn. Obwohl ich ihn anschließend sofort wieder beschwichtigt hatte. Wie KONNTE ich mein Ein und Alles, das ich gerade erst meinen Eltern und Tanja entrissen hatte, sofort wieder bei anderen lassen?

Aber Raymond war schließlich kein Fremder. Benni hatte darauf bestanden, während meiner Abwesenheit bei ihm zu wohnen. Außerdem war es Raymond gewesen, der Benni zurückgeholt hatte.

»Marta, ich melde mich einfach morgen wieder, okay? Morgen Abend um dieselbe Zeit.«

»Gut, tu das. Und viel Glück bei was immer du da machst, du verrückte Deutsche, du!«

»Rita?«

»Ja …?« Meine Hand zitterte, mein Ohr glühte. Da war er wieder. Der BRUDER. Er sprach Englisch mit mir. Englisch mit diesem mir bekannten ghanaischen Akzent.

»Hast du dich inzwischen beruhigt?«

Ich schluckte. Zählte innerlich bis drei. »Ja. Sorry, dass ich gestern so ausgeflippt bin.«

»Dann können wir uns also treffen?«

»Yes. Sure.«

»Wo bist du gerade?«

»Im Paraíso-Viertel.«

Nach dem Frühstück hatte ich mich ins Gewühl der Megacity gestürzt – alles war besser als wartend herumzusitzen.

»Okay. Dann springst du jetzt in ein Taxi und lässt dich zur Shopping Paulista bringen. Kennst du die Mall?«

»Ja. Da war ich gestern.«

»Weiß ich. Im Internetcafé im Untergeschoss.«

Ich schluckte schwer. Er war also gestern in meiner Nähe gewesen. Hatte mich beobachtet. Musste mich also kennen. Oder zumindest eine Beschreibung von mir haben. Von Tony? Von Raymond? Von Friday? Sie ist ungewöhnlich klein und blond und wirkt mädchenhaft, lässt sich aber nicht die Butter vom Brot nehmen.

Und jetzt? Suchend schaute ich mich um. Niemand schien mich zu beobachten. Dunkelhäutige gab es viele. Menschen mit allen möglichen Hautfarben befanden sich unter den Passanten. Einige schauten mich an. Aber dann auch wieder weg.

»Ich … Ich komme dann jetzt.«

»Wir treffen uns im McDonald’s im Untergeschoss. Sagen wir, in einer Stunde.«

»Okay«, krächzte ich in den Hörer, aber da hatte der Anrufer schon aufgelegt.

Ich schloss die Augen und versuchte, seine mit Tonys Stimme zu vergleichen.

Haben Brüder am Telefon nicht die gleiche Stimme?