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Das FBI stößt auf mehr als 47 grausam zugerichtete Mädchenleichen, die alle das Blut ein und derselben Frau an sich haben. Als eine Spezialeinheit auf der Spur eines Drogenkartells über einen Tempel im mexikanischen Dschungel stolpert, finden Sie dort die Quelle der Blutmale: ein vierjähriges Mädchen. Es wurde aus einem amerikanischen Waisenhaus entführt und wird nun von der Familie des Mannes, der sie gerettet hat, liebevoll aufgenommen. Es stellt sich bald heraus, dass es weltweit noch mehr Opfer gab — viel mehr. Der Tempel in Mexiko war nicht der einzige, die Anhängerschaft ist groß ... Die Hintermänner der Sekte sind noch immer auf freiem Fuß und verzweifelt auf der Suche nach ihrer heiligen Bluthexe …
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Seitenzahl: 401
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Lina George
Die Sekte der Bluthexe
Copyright: © 2016 Lina George
Umschlag & Satz: Erik Kinting / www.buchlektorat.net
Titelbild: © Wisky (fotolia.com)
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
1. Kapitel: Familie Gordon
Niclas stand am Zaun des Kinderheimes und suchte nach dem kleinen Mädchen, das er noch am Vortag hier gesehen hatte. Weit hinter sich hörte er seine Mutter rufen. Er wäre sehr gern noch geblieben. »Gut dann komme ich morgen wieder.« Er lief los und rannte nach Hause.
»Niclas, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht dort spielen sollst?«
»Ganz oft, Mooom … aber das kleine Mädchen ist immer so traurig.«
»Niclas bitte, man kümmert sich bestimmt gut um die Kinder dort im Heim. Du weißt nicht, was sie Schlimmes mitgemacht hat.«
»Aber Mom, sie sitzt immer allein in irgendeiner Ecke auf dem Hof. Keiner kümmert sich um sie. Immer allein und traurig. Ich möchte doch nur mit ihr spielen und sie mal lachen sehen. Wenn sie Schlimmes erlebt hat, dann muss ich ihr erst recht helfen.« Die Stimme des Jungen überschlägt sich fast. »Mooom! Kann Dad ihr nicht helfen und mal mit den Leuten im Heim reden?«
»Es ist gut jetzt, Niclas, wir werden da nicht viel helfen können. Der Staat kümmert sich um solche Kinder, die keine Eltern mehr haben und ganz allein sind. Jetzt geh dir die Hände waschen. Dad kommt gleich heim und dann essen wir.«
Ihr Sohn stand vor ihr und schien weiterhin nicht von dem Thema lassen zu wollen. Sie wusste genau, dass sie eben sehr unsensibel war, doch in diesem Moment war sie einfach überfordert. Nancy hatte sich zwar mit diesem Thema täglich beruflich auseinanderzusetzen, denn sie arbeitete mit sozial benachteiligten Kindern und versuchte, ihnen ein normales Leben und Verhaltensregeln beizubringen, aber jetzt gerade konnte und wollte sie es Niclas nicht erklären, dafür war das Thema zu komplex.
Mit Nachdruck ermahnt sie ihn nochmals: »Geh dir die Hände waschen und hol bitte Claire und Richard zum Essen.«
»Ja, mach ich!«
Niclas stolperte mit seinen kleinen Beinchen durchs Haus und rief seine Geschwister zum Abendessen.
Kurz darauf kam auch Vater Robert nach Hause, wie immer stand er einen kurzen Moment vor der Tür und lauschte dem Treiben im Inneren des Hauses. Er schloss mit einem Lächeln auf den Lippen die Tür auf und trat ein. Da kam auch schon Claire, umarmte ihren Vater, gab ihm einen Kuss und rannte in die Küche, um ihrer Mutter zu helfen.
Richard kam langsam die Treppe herunter, mit Niclas auf dem Rücken. »Hi Dad!«
Er ließ den Kleinen herunter und Niclas hüpfte seinem Vater in die Arme.
»Ups, mein Kleiner, du wirst mir langsam zu schwer.« Er setzte den Jungen ab. »Nancy? Ich habe Hunger und die Rasselbande hier auch. Was gibt es denn Leckeres?«
Nancy hatte gerade die Kartoffeln auf den Tisch gestellt, da nahm Robert sie in die Arme und gab ihr einen sanften Kuss.
»Guten Abend, Misses Gordon«
»Dir auch, Robert. Kommt jetzt bitte alle zu Tisch. Es gibt Hackbraten.«
»Hm … Hackbraten, lecker.«
Ruckzuck saßen alle am Tisch; es wurde gegessen, geplaudert und gelacht. Robert erkundigt sich bei den Kindern nach der Schule und bei Nancy über ihren Tag bei ihrem Bruder Bob in der kirchlichen Einrichtung.
Sie saßen auch nach dem Essen noch zusammen und hörten jedem Einzelnen zu. Das war ein wichtiger Bestandteil dieser Familie, das Zuhören. Für die Eltern war s ein Abschnitt des Tages, an dem sie ihre Kinder noch etwas besser kennenlernten, und die Kinder lernen dadurch ein besseres Miteinander.
Nach einer Weile hob Nancy die Runde auf, es war Zeit für den erst fünfjährigen Niclas ins Bett zu gehen. Claire verzog sich ebenfalls auf ihr Zimmer. Auch Richard wollte nach oben gehen, doch sein Vater hielt ihn auf.
»Richard, bleib bitte noch.«
»Ja, was ist, Dad?«
»Mr. Harding rief mich heute an. Ich würde gern mit dir reden, mein Großer.«
Richard schaute seinen Vater an mit großen Augen.
»Er sagte mir, dass du in seiner Werkstatt anfangen willst.«
»Dad, schon wieder dieses Thema!«
»Ja, mein Sohn, du bist ein intelligenter Bursche. Ich dachte, du machst ein Praktikum bei mir im Krankenhaus. An Autos und Motorrädern kannst du in deiner Freizeit herumschrauben.«
»Daaad, das ist nichts für mich. Ich interessiere mich einfach nicht für Medizin. So ein langes Studium … das Geld könnt ihr euch sparen. Einen Motor auseinandernehmen, das kann ich und das will ich. Ich schraube nun mal lieber an Motoren herum und nicht an Menschen.«
»Das ist Verschwendung deiner Intelligenz, mein Sohn.«
»Grandpa und du, Ihr seid Ärzte. Das ist wunderbar, aber ich finde nicht, dass ich zum Arzt geboren bin«
Richard sprang von seinem Stuhl auf und verließ wütend den Raum. Sein Vater saß da und biss sich auf die Unterlippe.
Nancy kam aus der Küche. Mit einem sanften aber tadelnden Blick schaut sie ihren Mann an. »Robert, was soll das jetzt … setz ihn doch nicht so unter Druck. Wenn die Medizin nichts für ihn ist, kannst du ihn nicht zwingen.
»Ich weiß aber, dass er die notwendige Intelligenz besitzt. Ich gebe nicht auf. Er hat das Köpfchen und das Zeug dazu. Ich weiß es einfach.« Es klang fast trotzig.
»Robert, er ist vierzehn Jahre alt. Es wird sich noch so viel ändern … Jetzt will er seinen Sport machen und an Autos schrauben, sich mit Freunden treffen und den Mädchen schöne Augen machen. Wer weiß, was in zwei Jahren ist. Gib ihm Zeit. Vielleicht wird er uns irgendwann überraschen. Und wenn nicht, dann müssen wir damit leben. Es ist ganz allein seine Entscheidung.«
Robert nahm sich eine Zigarre aus seinem Kästchen und ging auf die Terrasse. Dort setzte er sich gemütlich in einen der Sessel und zündete sie an. Eine am Tag beziehungsweise Abend – dieser Moment war für ihn ganz allein und er genoss ihn.
Währenddessen räumte Nancy die Küche fertig auf, legte noch die Sachen für den nächsten Tag zurecht und deckte den Tisch für das Frühstück.
Als sie fertig war ging sie hinaus auf die Terrasse und setzte sich zu ihrem Mann. Die Ruhe genießen … daran hielten die beiden schon seit ihrer Eheschließung vor 16 Jahren fest, wenn Robert keine Spät- oder Nachtschicht hatte.
Sie redeten noch eine Weile miteinander und schließlich meinte Nancy: »Bevor wir zu Bett gehen, würde ich gern noch über etwas mit dir reden. Es geht um Niclas und ein kleines Mädchen aus dem Kinderheim.«
»Ich habe schon ein wenig davon gehört, aber du weißt sicher mehr. Worum geht es genau?«
»Seit Wochen läuft er jeden Tag rüber zum Heim. Da gibt es ein kleines Mädchen, das er immer wieder besuchen will. Mal sieht er sie, dann ist sie wieder tagelang verschwunden und wenn sie dann wieder da ist, geht es ihr sehr schlecht. Ich denke, das Kind ist krank!«
»Nancy, Liebes, dann wäre sie nicht mit den anderen zusammen. Sie ist vielleicht neu im Heim und hat noch mit dem Verlust der Familie zu kämpfen. Aber es ist doch schön, dass unser Kleiner eine Freundin hat.«
»Ja, aber er bringt sich da voll ein. Er hat mich heute gefragt, ob du ihr nicht helfen kannst.«
»Weißt du was? Ich rede mal mit ihm und werde ihm erklären, dass das Leben in einem Kinderheim anders ist, als in einer Familie, einverstanden?«
»Ja. Haben wir nicht fantastische Kinder?«
»Jepp, Mommy, das stimmt. Die sind schon toll, die drei. Das mit unserem Großen bekommen wir auch noch in den Griff.«
Seine Frau warf ihm einen tadelnden Blick zu.
Er legte den Arm und sie und sagte: »Mrs. Gordon, darf ich bitten?«
»Was? Du willst jetzt tanzen?! Was ist denn in dich gefahren?«
»Hm … die Romantik, Nancy«, flüsterte er in ihr Ohr.
Nancy lächelte, sie machten ein paar Drehungen auf der Terrasse und gingen eng umschlungen in ihr Schlafzimmer.
Am nächsten Morgen saßen sie alle gemeinsam am Frühstückstisch. Es gab kleine Neckereien zwischen den Geschwistern, die Nancy mit viel Ruhe und Geduld schlichtete. Robert las die Morgenzeitung und ließ sich nicht stören.
Ein kurzer Blick auf die Uhr: Claire und Richard mussten sich fertigmachen, sie waren immer die Ersten, die das Haus verließen. Richard zog seine Schuhe an und Claire ging zum zweiten Mal ins Bad.
»Claire, komm schon, wir müssen los … bist hübsch genug!«
Sie riefen ihren Eltern noch einen Gruß zu, dann fiel die Tür ins Schloss.
Nancy atmete kurz durch und räumte den Tisch ab. Wenige Minuten später nahm Robert seine Tasche und die Autoschlüssel, streichelte den Kopf von Niclas, gab Nancy einen zärtlichen Kuss und machte sich auf den Weg zur Klinik.
Nancy und Niclas verließen als Letzte das Haus und gingen zusammen zum Kindergarten der kirchlichen Gemeinde von Bob.
Dort arbeitet Nancy stundenweise im Sozialbereich, in der Kirche oder im Kindergarten. Bob hieß mit vollem Namen Robert Lighter, wurde aber von allen nur Bob genannt. Er war Pfarrer und ein Mensch mit einem großen Herzen, viel Liebe und Güte für seine Mitmenschen.
Nach der Arbeit holte Nancy Niclas wieder ab und auf dem Heimweg gingen Sie noch einkaufen.
Zu Hause angekommen kümmerte sich Nancy erstmal um den Haushalt, aber Niclas wollte sofort raus zum Spielen. Nancy gab ihm die üblichen Ermahnungen mit auf den Weg und ließ ihn ziehen.
Immer das Gleiche, dachte Niclas nur und lief los.
»Niclas, nicht wieder zum Kinderheim, du bleibst in der Nähe«, rief sie ihm noch hinterher.
»Ja, Mom«, rief er, schon auf dem Weg nach draußen.
Schnell erreichte er das kleine Wäldchen, das auf dem Weg zum Kinderheim lag. Es führte ein Trampelpfad hindurch und nach wenigen Minuten war er am Zaun und wollte das kleine Mädchen mit den grünen Augen und den dunklen Haaren suchen. Heute jedoch war der Hof des Heims noch leer.
2. Kapitel: Das kleine blasse Mädchen
Erst nach einer halben Stunde kamen die Kinder raus. Sie teilten sich in Gruppen auf: die Älteren blieben für sich in einer Ecke des Gartens und die anderen vertrieben sich die Zeit mit Spielen, Laufen und Herumturnen auf dem Spielplatz. Die Betreuer saßen auf einer Bank neben dem Eingang. Alles sah friedlich aus; Kinder, die spielten und lachten.
Niemand bemerkte die Kleine, die immer allein war und mit der keiner spielte. Sie saß oft auf dem großen Stein in der Sonne, völlig zurückgezogen von den anderen, tollte nie mit den Kindern herum. Das Mädchen wirkte völlig vereinsamt.
Sie ging auch heute wieder zu dem großen Stein und setzte sich. Niclas schlich am Zaun entlang. Er versuchte zu pfeifen, doch es kam nur eine Art Fauchen dabei raus. Aber sie hatte es gehört und drehte sich zu ihm um.
»Hast du auf mich gewartet?«, fragte Niclas.
Sie nickte nur kurz.
»Komm an den Zaun, ich darf doch nicht rein.«
Die Kleine erhob sich. Als von dem Stein krabbelte sah er, dass sie sehr dünn war und ihre Kleidung zu groß. Die Ärmel des Pullovers hingen über ihre Hände; die Sachen waren sehr alt und verschlissen. Sie kam sehr langsam auf ihn zu.
Niclas versucht ihre Hand zu erreichen, aber sie zog sie erschrocken weg.
»Du musst keine Angst haben, ich werde dir nichts tun. Wo warst du so lange? Ich war jeden Tag hier und habe gewartet.«
Sie schaute ihn an und sagte kein Wort, zuckte nur mit den Schultern.
»Kannst du nicht sprechen? Wie ist dein Name?«
Sie senkte den Blick und schüttelt nur den Kopf.
»Und dein Name?«
Die Kleine presste die Lippen zusammen und zuckte wieder nur mit den Schultern.
Es war ein einseitiges Gespräch, doch Niclas gab nicht auf: »Hast du keinen Namen?«
Ein kurzes Nicken war die Antwort.
»Aber das gibt es nicht – jeder hat einen Namen. Wie hat deine Mom dich gerufen?«
Sie schaute ihn fragend an. Ihr Blick hatte den Ausdruck von Leid und Qual. Das Herz des kleinen Niclas krampfte sich zusammen. Mit seinen fünf Jahren stand er vor einem für ihn unlösbaren Problem.
Im Zaun war eine Lücke, durch die sie hindurchpasste. Niclas half ihr nun durchzukriechen. »Keine Angst, es sieht uns niemand. Ich habe mich umgeschaut, von den Betreuern ist weit und breit keine Spur zu sehen.«
Er nahm ihre Hand und zog sie etwas weg vom Zaun, in Richtung des kleinen Wäldchens. Sie war sehr angespannt, denn sie wusste, dass sie das nicht durfte.
Im Wäldchen war ein kleiner Bach, dort lag ein umgestürzter Baum; darauf setzen sich die beiden. Niclas hatte Kekse und Limonade mit. Sie griff gleich zu und roch erst einmal daran, dann ließ sie es sich so richtig gut schmecken.
»Die hat meine Mom gebacken.«
Niclas fiel auf, dass sie immer die gleichen Sachen trug. »Geben sie dir keine frischen Sachen? Die die du anhast sind schmutzig.«
Sie schüttelt wieder nur mit dem Kopf.
Keiner der Betreuer hatte bemerkt, dass sie fehlte, und so schlich sie auch unbemerkt zurück auf den Hof, nachdem Niclas mit ihr zurück zum Zaun gegangen war.
Von nun an trafen sie sich fast jeden Tag und die Kleine konnte sogar manchmal lächeln.
***
Einige Wochen vergingen. Niclas und Anne, so nannte er seine kleine Freundin inzwischen, waren unzertrennlich. Sie spielten heimlich in dem kleinen Wäldchen und achteten sehr darauf, dass sie niemand entdeckte. Er war auch immer pünktlich zu Hause und war sicher, dass seine Mutter nichts bemerkte.
Aber irgendwann kam Anne wieder nicht. Niclas wartete lange Zeit vergeblich auf sie – er konnte ja nicht wissen, was sie wieder mit ihr gemacht hatten … diese bösen Männer, die immer nachts kamen.
Das Gebäude des Heimes war schon sehr alt, so wie die Einrichtung, doch es genügte den gesetzlichen Maßstäben. Alle Kontrollen der Fürsorge und des Jugendamtes waren immer zufriedenstellend. Das war auch ganz im Sinne von Mrs. Holder, der Heimleiterin. Seit fünf Jahren führte sie das Kinderheim; es war abgelegen, ruhig und nur wenige Privathäuser befanden sich in der unmittelbaren Umgebung. Im Heim waren 128 Kinder untergebracht. Es wirkte alles, als sei es perfekt. Für die Ämter war alles in Ordnung und den Kindern ging es anscheinend gut.
Am Gebäude mussten dringend Reparaturen ausgeführt werden, jedoch war dafür von der Stadt kein Geld zu bekommen, so mussten die Reparaturen vom Hausmeister ausgeführt werden, mit Unterstützung wohlwollender Firmen aus der Umgebung.
Die Kinder waren auf drei Etagen aufgeteilt: die 14 – 17-Jährigen waren im oberen Bereich, die 6 – 13-Jährigen in der mittleren Etage und die Kleinen unten im Parterre untergebracht. Die Betreuer arbeiteten in drei Schichten, sodass immer jemand anwesend war.
Mrs. Holder wohnte in einem Seitenteil des Gebäudes. Sie ließ alles so erscheinen, als sei es in Ordnung doch oft trieben dunkle Gestalten nachts ihr Unwesen im Heim. Sie brachten nichts Gutes, sondern zerstören Leben.
Von alldem wusste Niclas nichts, der immer noch am Zaun stand und auf Anne wartete. Er hatte ihr den Namen Anne gegeben, weil sie darauf reagierte. Wahrscheinlich gefiel ihr der Name am besten. Er hat ihr viele Namen genannt, aber es hatte einige Zeit gedauert, den richtigen zu finden.
Er wartet sehr lange in dem Gebüsch, in dem er sich immer versteckte und wo auch die Lücke im Zaun war. Ein Betreuer hatte ihn vor Wochen einmal gesehen und weggeschickt. Er drohte ihm damit, mit ihm zu seinen Eltern zu gehen.
Traurig musste Niclas erkennen, dass Anne heute nicht kommen würde. Er machte sich auf den Heimweg.
Richard wollte gerade zu Mr. Harding in die Werkstatt. Er sah seinen kleinen Bruder in der Auffahrt des Hauses und merkte, dass dieser sehr bedrückt war. »Was hast du denn, Niclas?«
Sein kleiner Bruder schaute ihn an. Er schien zu überlegen, ob er sich ihm anvertrauen sollte. »Sag es nicht Mom, bitte! Ich war wieder beim Heim, obwohl sie es mir verboten hat. Da ist ein Mädchen, weißt du, wir spielen immer zusammen. Aber sie kann nicht sprechen. Ich denke, sie ist sehr krank.«
Richard ließ seinen jüngeren Bruder ausreden und hörte ihm aufmerksam zu.
»Sie scheint wirklich sehr krank zu sein. Manchmal sehe ich sie mehrere Tage und Wochen hintereinander und dann ist sie tagelang verschwunden. Wenn ich sie dann wiedersehe ist sie schwach, noch blasser und kann nicht mehr richtig laufen.«
»Das geht schon seit Wochen so und du gehst immer da hin? Und was willst du tun? Du kannst ihr nicht helfen, außer ihr Freund zu sein. Niclas … versprich mir, keine Dummheiten zu machen. Die Leute im Heim werden schon dafür sorgen, dass ein Arzt sie sich ansieht.«
»Gibt es denn im Heim einen Arzt?«
»Ja sicher«
»Okay.«
Richard erhob sich und stupste seinen Bruder an der Nase. »Geh rein, ich muss jetzt los.«
Er drehte sich um und verließ die Einfahrt.
Niclas betrat das Haus und suchte seine Mutter, er fand sie im Garten, sie hängte die Wäsche auf. Schweigend trat er zu ihr und reichte ihr aus dem Korb die nächsten Wäschestücke.
Nancy merkte, dass mit ihrem Jüngsten etwas nicht stimmte. Sie wartet, dass er von selbst etwas sagte, doch der Junge schwieg.
Am Abend wollte sie nochmals mit ihrem Mann darüber sprechen, allerdings kam unerwarteter Besuch von Grandma und Bob, die sie einfach nur mal wieder besuchen wollten.
Es war ein schöner Abend, sie sahen sich so selten. Ihre Mutter lebte noch allein in einer eigenen Wohnung, trotz ihres Alters von bald 70 Jahren. Nancy hätte sie gern in ihrer Nähe, doch sie weigerte sich, sie wollte ihren Kindern auf keinen Fall zur Belastung werden.
***
Anne hatte sich in den letzten Tagen gut erholt. Jeden Tag wartete sie auf Niclas und seinen Proviant. Er erklärte ihr, dass er jetzt einige Tage nicht kommen konnte, da seine Mutter es ihm verboten habe. Doch heute saßen die beiden Kinder wieder gemeinsam auf dem umgefallenen Baum und ließen sich Kekse und Limonade schmecken. Anne genoss die Zeit mit Niclas, dem einzigen Menschen auf der Welt, der ihr Gutes tat.
Vor längerer Zeit hatten Richard und Niclas einmal zwei Steine bemalt, die sie bei einem Strandspaziergang fanden. Es waren zwei gleiche Steine mit einem Loch an der oberen Seite. Niclas malte den Grundton in Blau und Grün je Stein. Richard gab den beiden Steinen dann ein Gesicht: einer der Steine lächelte und der andere war traurig. Durch die Löcher zog Niclas ein Band und so entstand ein Armband für seine Mutter. Sie freute sich sehr über das Geschenk zu ihrem Geburtstag. Seitdem hingen die beiden Steine am Kühlschrank und jeden Tag konnte Nancy sie sehen. Getragen hatte sie sie jedoch noch nie, sondern Niclas erklärt, dass sie Angst habe sie zu verlieren. Der Junge war mit dieser Auskunft zufrieden.
Niclas hatte heute einen der Steine mit einem neuen Band bei sich und wartete auf Anne, aber umsonst – sie kam an diesem und auch an den nächsten Tagen nicht. Doch der Junge war jeden Tag da und wartete. Er konnte ja nicht wissen, dass die bösen Männer in der Nacht wieder da gewesen waren; die dunklen Gestalten, die Anne so viel Angst machen.
Mrs. Holder empfing Señor Salazere, den Arzt und den Fahrer. Sie hatte vorher den Betreuern noch die Anweisung gegeben, nochmals die Etagen zu kontrollieren, die Kinder zu zählen und dann das gesamte Gebäude für die Nacht zu sichern. Es war schon öfter vorgekommen, dass einige der Schutzbefohlenen einfach ausrissen, weil sie es nicht gewohnt waren, sich an gewisse Regeln zu halten. Ein geordnetes Leben war für manche schwer.
Die meisten der Ausreißer kamen von der Straße, sie lebten dort ohne Regeln und dem Zwang ihrer Familien, vor denen sie geflohen waren. Viele der Kinder und Jugendlichen wurden von der Polizei aufgegriffen, weil sie auf der Straße lebten. Die meisten, die Probleme im Elternhaus hatten, machten keine korrekten Angaben, um nicht gefunden zu werden. Sehr viele waren auch aus anderen Bundesstaaten, das gaben sie jedoch nicht an. Auf der Straße gab es eigene Gesetze, man musste täglich kämpfen, um zu überleben.
Der Anteil der Waisenkinder im Heim war da schon geringer. Der Staat versucht allen Kindern ein Heim zu geben, Sicherheit, Bildung und gesundheitliche Betreuung.
Unter diesem Deckmantel agierten Mrs. Holder und ihre Besucher, deren Anwesenheit im Heim keiner mitbekommen hatte.
Als Sam Winter, der diensthabende Betreuer dieser Nacht, seinen Rundgang beendet hatte, ging er in den Aufenthaltsraum, wo die anderen beiden Kollegen waren. Das Radio lief in einer angenehmen Lautstärke, sie unterhielten sich und erledigten ihre schriftlichen Protokolle.
Mit großer Vorsicht gingen Mrs. Holder und die beiden Männer in den Gebäudeteil, der nur als Lager- und Abstellraum genutzt wurde. Im hinteren Teil war noch eine Tür, den Schlüssel hatte nur Mrs. Holder; sie öffnete.
Der schwach beleuchtete Raum war leer, bis auf ein Bett in der Mitte. Auf dem Bett lag ein breites großes Brett, daran waren an allen vier Ecken Lederbänder befestigt. An einer Wand im Raum stand eine Lampe, wie aus einem Operationssaal. Der Arzt stellte die Lampe neben das Bett, daneben das kleine Tischchen, das auch an der Wand stand. Er fing an, medizinische Instrumente auszupacken und legte diese auf den Tisch: einen Schlauch zum Abbinden, eine Spritze und Kanülen in verschiedenen Stärken. Er zog sich Gummihandschuhe an und sah fragend zu Mrs. Holder.
»Sie wird gleich hier sein.«
Der Arzt wollte gerade zur Tür gehen, um nachzusehen, als man schwere Schritte vor der Tür hörte. Señor Salazere öffnete. Ein großer Latino stand vor der Tür, mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm. Ihr Mund war mit einem breiten Streifen Klebeband verschlossen. Ihre Arme hielt er sehr fest, sie konnte sich nicht wehren, jedoch strampelte die Kleine und versuchte, trotz der Ausweglosigkeit ihrer Situation, zu entkommen. Er legte das Mädchen aufs Bett und sie fesselten ihre Arme und Beine mit den Lederbändern. Ihre Gegenwehr war sehr stark und sie bekam einen Arm wieder frei, da schlug Salazere dem Kind mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie wimmerte und weinte, doch es half nichts. Ihr linker Arm wurde zusätzlich mit einer Metallschiene fixiert.
Der Arzt stach ihr eine dicke Nadel in den Arm und ihr Blut lief in einen Beutel, der unten am Bett hing. Sie standen schweigend um das Bett herum.
Es dauerte nicht lange, da wurde Anne wieder schlecht und ihr kleiner Körper bäumte sich auf. In ihrem Kopf war nur noch ein Rauschen und Brummen, dann wurde sie ohnmächtig.
Der Arzt entfernte die Kanüle, der Raum wurde aufgeräumt und alle Spuren beseitigt.
Señor Salazere legte den Beutel mit dem Blut in seinen kleinen Koffer. »Sie sagten am Telefon etwas von neuer Ware«, meinte er zu Mrs. Holder.
»Ja, Señor Salazere, ich habe drei Stück.«
»Bisher haben Sie mich nicht enttäuscht. Ihre Ware war immer sehr gut«
»Gehen wir in mein Büro, da sind wir ungestört.«
Währenddessen kümmert sich eine Vertraute von Mrs. Holder um die kleine Anne. Das Mädchen war noch immer ohnmächtig. Sie schlug ihr öfters ins Gesicht, um sie aufzuwecken, danach flößte sie ihr viel Flüssigkeit ein. Sie ging dabei nicht gerade zärtlich mit ihr um. Der Arzt hatte ihr noch eine Spritze gegeben, irgendwelche Vitamine.
Nachdem sie Anne die Flüssigkeit verabreicht hatte, verließ sie den Raum, schloss ab und brachte den Schlüssel ihrer Chefin.
Sie klopfte kurz an die Tür des Büros und trat ein.
Der Latino und der Arzt standen, während Señor Salazere vor dem Schreibtisch in einem bequemen Sessel Platz genommen hatte.
»Eva?«
»Der Schlüssel, Mrs. Holder.« Sie legte ihn auf den Schreibtisch.
»Ist alles in Ordnung?«
»Ja, sie war wach und schläft jetzt.«
»Gut, wir kümmern uns später um das Balg.«
Eva blieb im Raum und die Heimleiterin öffnete den Umschlag, der vor ihr auf dem Tisch gelegen hatte.
»Ich habe hier drei hübsche Mädchen für Sie, Señor. Eine Siebzehnjährige und zwei Sechzehnjährige. Keiner wird sie vermissen, sie haben wie alle bei den privaten Daten gelogen, es wird keine Probleme geben und wenn, sind sie wie alle andern aus dem Heim abgehauen.«
Der Mexikaner schaut sich die Bilder genau an und war sichtlich begeistert. »Das ist wieder wirklich sehr gute Ware. Ich bin nichts anderes von ihnen gewöhnt. Meine Auftraggeber werden sehr zufrieden sein.« Er reichte ihr einen dicken Umschlag.
Mrs. Holder legte ihn ungeöffnet in den Schreibtisch und verschloss die Schublade.
»So, dann werden wir sie holen. Eva schauen sie bitte nach, ob die Betreuer im Aufenthaltsraum sind. Ich möchte nicht, dass sie uns stören.«
Eva ging und gab nach wenigen Minuten Entwarnung.
Alle gingen in die obere Etage.
Jorge, der große Latino, ging auf ein Zeichen seines Bosses in das Zimmer der beiden Sechzehnjährigen, das Mrs. Holder ihm gezeigt hatte. Der Arzt hatte schon drei Spritzen vorbereitet. Es gelang ihnen problemlos die beiden Mädchen zu betäuben. Jetzt fehlte nur noch die Dritte.
Mrs. Holder gab Salazere ein Zeichen und ging voraus in das Zimmer. »Jacky, Jacky«, rief sie leise. »Komm raus, schnell.«
»Was? Ist etwas passiert?«
»Komm, beeil dich.«
Jacky stand auf. Schlaftrunken taumelte sie aus dem Raum, sie sah Eva draußen und dann spürte sie nur noch einen Stich im Nacken und sackte zusammen.
Jorge fesselte ihre Hände auf dem Rücken und trug das Mädchen zu einem hinter dem Heim geparkten Transporter. Der Fahrer half ihm das Mädchen ins Auto zu legen. Danach holten sie die anderen beiden.
»Ich danke ihnen Mrs. Holder, es ist mir immer eine große Freude, Geschäfte mit ihnen zu machen.«
»Ebenfalls.«
Salazere und seine Männer stiegen in den Transport und fuhren davon.
»So, das wäre erledigt.« Die Heimleiterin spielte mit ihrem Schlüsselbund und sagte zu Eva: »Jetzt, schaffen wir das Balg ins Zimmer und dann werden wir die Polizei rufen; uns sind ja wieder drei Mädchen verschwunden. Das ist sooo tragisch, sie haben es doch gut hier. Verstehst du das, Eva?«
»Nein, ganz und gar nicht, Mrs. Holder.«
***
Anne lag immer noch tief schlafend und gefesselt auf diesem alten Bett. Die beiden Frauen brachten sie in das kleine spärlich eingerichtete Zimmer, in dem sie hier im Heim lebte.
All das wiederholte sich Monat für Monat.
Die Heimleiterin spielte ihre Rolle perfekt, sie gab den Anschein, als sei sie gerade durch das Haus gegangen und habe das Fehlen, der drei Mädchen entdeckt. Erbost setzte sie eine grimmige Mine auf und ging in den Aufenthaltsraum, wo sie auf Sam Winter und die anderen traf: »Meine Herrschaften, wann haben Sie den letzten Kontrollgang gemacht? Es fehlen drei Mädchen: Jacky, Lindsay und Cora.«
»Wie bitte? Ich war vor ungefähr fünfzehn Minuten noch oben und ich bin durch alle Zimmer gegangen. Sie waren alle da«, erwiderte Sam Winter.
»Nun, dann haben sie wohl schon auf ihren Rundgang gewartet und sie getäuscht. Wir müssen die Polizei verständigen. Sie kennen das ja. Vielleicht findet man sie dieses Mal.«
Sie drehte sich um und ging in ihr Büro, um zu telefonieren. Ihr erstes Anliegen galt jedoch dem Umschlag in ihrem Schreibtisch.
Sie zählte die Dollarnoten mit einem Lächeln auf den Lippen, war zufrieden und schloss das Geld im Tresor ein.
Sie setzte sich auf die Couch in ihrem Büro, legte die Beine hoch, in der einen Hand einen Drink und in der anderen das Telefon. Genüsslich nahm sie einen Schluck und wählte die Nummer der hiesigen Polizeistation.
»Ja, Sergeant Griffith, bitte!« Sie bemühte sich aufgeregt zu erscheinen.
Der Polizist kam ans Telefon.
»Sergeant, es ist etwas Schreckliches geschehen! Es sind wieder drei Mädchen verschwunden! Einfach verschwunden, obwohl kurz vorher noch kontrolliert wurde!«
Griffith setzte seinen Vorgesetzten in Kenntnis. Danach fuhr er zum Kinderheim. Währenddessen wurden sämtliche verfügbaren Einheiten verständigt, denn nach verschwundenen Kindern wurde immer besonders intensiv gesucht.
Am Heim angekommen ging der Sergeant direkt zu Mrs. Holder.
»Lief alles glatt?«, fragte er die Heimleiterin.
»Natürlich«, erwiderte diese, mit ihrem Drink in der Hand. »Dein Geld liegt auf dem Tisch. Du weißt, was du zu tun hast.«
»Wie immer die Ermittlungen etwas blockieren. Kein Problem. Das sind wieder drei, die für immer verschwunden bleiben.«
Sie grinste über das ganze Gesicht und war mit sich selbst zufrieden. Er deutete ihr an, dass er jetzt seiner Arbeit nachginge und ließ sie allein.
Sie lag wohlgefällig auf der Couch und genoss ihren Drink. Ihre Gedanken waren nur bei dem Geld das sie damit verdiente, die Kinder interessierten sie überhaupt nicht. Aber es war eine verdammt gute Geschäftsidee, die sie da vor Jahren hatte. Es gab sowieso zu viele Mädchen auf der Welt. Man sah ja, was aus ihnen wurde: kleine Schlampen, die schon mit 15 Männer verführten. Kein Wunder, dass die Männer da schwach wurden und immer mal etwas Neues haben wollten. Die Auswahl war groß.
Die Suche nach den drei Mädchen verlief nach zwei Tagen im Sande, es wurde keine Spur von ihnen gefunden. Die Reifenspuren hinter dem Haus waren vorsorglich von Sergeant Griffith beseitigt worden. Was von den Ermittlern niemand wusste war, dass die Mädchen schon längst den Bundesstaat verlassen hatten. Sie waren direkt zu einer geheimen Landebahn gebracht worden, wo eine Maschine wartete. Sie flogen von dort aus in den Tod.
***
Es vergingen einige Tage, bis Niclas seine Freundin wiedersah. Auch dieses Mal war sie wieder sehr krank. Alles, was der Junge versuchte, schlug fehl, er brachte sie nicht dazu zu lächeln oder zu sprechen. Das Geschenk gab er ihr trotzdem, den kleinen lächelnden Stein. Sie band ihn um ihr Fußgelenk. Niclas fand das eine gute Idee und tat das Gleiche mit dem anderen Stein, den er mitgebracht hatte. Er hatte das Gefühl, dass die Zeit, die sie miteinander verbrachten, sehr schön für sie war. Darum tat er alles was ihr gefiel, um ihr ein Lächeln ins Gesicht zu zaubern.
Anne fühlte sich wohl bei Niclas, er war ihr einziger Freund.
Zu Hause war alles normal und Niclas konnte jeden Tag zu Anne gehen. Nancy beobachtete es zwar genau, sie wusste auch, dass die beiden immer in dem Wäldchen spielten, aber es beruhigte sie, denn so wusste sie wo Niclas war. Sie liefen ja nicht weg.
***
So vergingen drei Wochen. Anne fühlte sich von Tag zu Tag etwas besser.
Dr. Drummond war auch einige Male da und sah sie sich an. Er war zufrieden mit ihr. Der alte Arzt, der schon lange in Rente war, betreut das Heim, um noch etwas zu tun zu haben. Immer nur zu Hause und allein, das war nichts für den Mediziner, besonders jetzt, da seine Frau gestorben war, war er froh mal aus dem Haus zu kommen. In einer Klinik würde man den 83-Jährigen nicht mehr nehmen, doch im Kinderheim war er hochwillkommen, besonders weil er nicht mehr so gut sah. So konnte Mrs. Holder immer sagen, dass sie einen erfahrenen Arzt für das Heim hatte und sich auf seine Diagnosen berufen, obwohl der alte Drummond nie genau wusste, welches Kind er gerade vor sich hatte. Der arme alte Mann hatte von den furchtbaren Geschehnissen im Heim keine Ahnung. Es war sehr gekonnt, wie Mrs. Holder dieses Heim leitete.
3. Kapitel: Besuch bei Familie Gordon
Die bösen Männer waren wieder da, dieses Mal verschwanden zwei kleine Jungen, die erst in den letzten Tagen im Heim aufgenommen wurden. Die Polizei war da, aber es war immer das Gleiche: keines der verschwundenen Kinder kam jemals zurück.
Der Alltag im Heim ging weiter. Die Mitarbeiter, denen etwas merkwürdig vorkam, wurden immer rasch abgefertigt. Im Fall von Anne sagte man ihnen, dass sie eine Blutanämie hätte, deshalb Blut bekäme und sich so ausgrenzen würden. Niemand würde sie jemals adoptieren wollen, weil sie so krank sei.
Das Personal war schwach besetzt und die meisten hatten keine medizinische Ausbildung. Alle wollten nur ihren verhältnismäßig gut bezahlten Job behalten und hinterfragten nichts.
Niclas wartete jeden Tag auf Anne, nach vier Tagen saß sie dann wieder auf ihrem Stein und sah sehr krank aus. Als sie Niclas entdeckte, schlich sie sich zu ihm.
»Wo warst du die letzten Tage?«
Sie sah ihn nur mit großen traurigen Augen an. Er konnte die Angst und die Qualen in ihren Augen sehen. Doch was sollte er als unternehmen? Wie konnte er ihr helfen?
»Bist du krank?«
Ein kurzes Nicken musste ihm als Antwort reichen.
Kurz entschlossen nahm er ihre Hand und zog sie mit sich. Dieses Mal führte er sie durch den kleinen Wald bis zu sich nach Hause.
Zu Hause war alles ruhig.
Sie hörten Geräusche aus dem Keller. Anne zuckte zurück und wollte weglaufen, aber Niclas beruhigte sie: »Nein, das ist meine Mom. Sie ist im Keller und macht die Wäsche.«
Er schob sie in die Küche und setzte sie an den großen Familientisch.
Schon ging die Tür auf und Nancy stand hinter ihnen. Du hast Besuch mitgebracht, Niclas? Wer ist deine kleine Freundin?«
»Das ist Anne. Sie ist aus dem Heim.«
Nancy schaut ernster. »Weiß irgendjemand Bescheid, dass sie hier ist?«
»Nein, Mom.«
»Niclas, das gibt bestimmt Ärger.«
»Mom, bitte! Ich möchte, dass Dad sie sich mal anschaut. Anne ist krank. Sie kommt dann immer tagelang nicht raus.«
»Was? Heißt das das du jeden Tag dort beim Heim bist?«
»Jaaa.«
»Na wenigsten bist du ehrlich.«
»Wieso Mommy?«
»Ach mein Junge, Dad und ich wissen schon lange, was du nachmittags machst.«
»Ihr habt nichts gesagt, weil …?«
»Wir dir vertrauen, mein Sohn.«
Unsicher schaut der Junge seine Mutter an.
Die ganze Zeit saß Anne ängstlich auf dem Stuhl und erwartete jeden Moment mächtigen Ärger. Doch die Frau vor ihr schaute sie freundlich an und ihre Gesichtszüge waren weich und nett.
»Habt ihr Hunger?«
Niclas sah Anne an und antwortete dann für beide: »Ja, ganz großen Hunger.«
»Na, dann geht euch mal die Hände waschen. Es gibt gleich was für euch.«
Nancy zauberte in kürzester Zeit einen leckeren Pudding mit Früchten für die beiden, dazu gab es Kekse.
Während die beiden Kinder es sich schmecken ließen, kamen Claire und Richard aus der Schule heim.
»Hm! Es riecht hier so lecker. Gibt es auch was für mich?«, fragte Richard.
Claire verzichtete aufgrund einer Diät auf die Kalorienbombe. Man musste mit 13 schon mächtig auf seine Figur achten, fand sie. Nur stand sie damit in ihrer Familie alleine da.
Richard bekam einen großen Teller Pudding und setzte sich an den Tisch zu den beiden Kleinen. »Schmeckt es euch?«
Niclas nickte nur kurz und schmatzte weiter.
Anne sah Richard die ganze Zeit an und ließ ihre Augen nicht von ihm. Nancy stand am Herd und beobachtete die drei lächelnd.
Da fiel Anne der Löffel aus der Hand, direkt unter den Tisch. Erschreckt fing sie an zu weinen. Sie kroch unter den Tisch und wollte sich verstecken.
Nancy und Richard sahen sich entsetzt an. Er beugte sich unter den Tisch und wollt Anne helfen den Löffel aufzuheben, doch was er sah erschreckte ihn. Langsam versucht er unter den Tisch zu kriechen, denn da kauerte Anne und zitterte vor Angst.
Niclas sah von oben herunter und sagte: »Anne, ist doch okay, das passiert doch mal. Komm wieder rauf.«
Doch Anne rührte sich nicht. Sie zitterte nur und schluchzte dabei. Richard wollte die Kleine vorsichtig hochnehmen, aber sie schrie sofort auf. Er reicht ihr die Hand und versuchte, sie mit Worten zu beruhigen.
Endlich kam sie unter dem Tisch hervor.
Nancy beugte sich zu Anne runter: »Du musst keine Angst haben, mein Kleines. Dir tut niemand was.«
Sie strich ihr dabei sanft über die Haare.
»Richard, ich möchte, dass du und Niclas, rausgeht.«
Fragend sah Richard seine Mutter an.
»Geht«, sagte sie eindringlich.
Die beiden wollten die Küche verlassen, doch da riss Anne sich von Nancys Hand los und rannte in die Arme von Richard.
»Hier will wohl jemand, dass ich bleibe!«
Richard schob Niclas nach draußen. In dem Moment ging die Haustür auf und Robert kam nach Hause.
»Hi. Was ist denn hier los?«
»Die haben mich rausgeschickt, aber das ist doch meine Freundin«, jammerte Niclas.
»Wer? Wo?«
»In der Küche. Daddy, bitte schau dir Anne an. Sie ist krank, sie hat Schmerzen. Ich habe sie mitgebracht, weil ich ihr nicht helfen kann. Aber du bestimmt, denn du bist ja schon groß.«
Robert streichelte das Gesicht seines Jüngsten. »Warte bitte hier, oder Claire: Nimm ihn mit zu dir ins Zimmer!«
Claire saß, wie so oft, auf der Treppe und hatte alles mitbekommen. Sie nahm ihren jüngeren Bruder und ging mit ihm nach oben.
Robert ging in die Küche. Nancy hatte Anne auf den Tisch gesetzt und ihr den viel zu großen Pullover ausgezogen. Was nun zu sehen war, entsetzte die drei. Anne ließ dabei Richards Hand nicht los. Nancy kämpfte mit den Tränen, während Robert sich den kleinen, unterernährten und geschundene Körper genau ansah. Für ihn stand fest, dass dieses Kind misshandelt wurde.
»Sie muss in die Klinik!«, sagte er mit erstickter Stimme.
So etwas hat er noch nie gesehen. Narben einer Peitsche, Einstiche von Kanülen, an den Armen, Blutergüsse am ganzen Körper – ein Bildnis des Grauens.
Nancy weinte und Richard sah mit tränenverschleiertem Blick auf das kaum vierjährige Kind vor sich. Er würde das niemals in seinem Leben vergessen.
»Nancy, ruf die Polizei. Ich rufe das Heim an, die können sich auf etwas gefasst machen.«
Beide telefonierten aufgeregt.
Währenddessen nahm Richard die Kleine auf den Arm und ging mit ihr ins Wohnzimmer. Auf dem Weg traf er auf Claire und Niclas.
»Claire, holst du mir bitte von Niclas einen Pullover, dieses Drecksding bekommt sie nicht mehr an.«
Nancy brachte noch andere Kleidung und zog Anne die Sachen an. Dabei fiel ihr der bemalte Stein auf, den sie an ihrem linken Fußgelenk trug. Ihr war nicht entgangen, dass Niclas auch so einen am Fußgelenk hatte – nur dass einer der Steine ein trauriges Gesicht hatte und der andere lachte.
Niclas schaute zu Boden. »Entschuldigung, ich habe sie genommen«, sagte Niclas. »Das geht doch in Ordnung, oder? Ich wollte ihr nur eine Freude machen, sie bekommt doch keine Geschenke.«
Richard sah fast flehend seine Mutter an und verteidigte Niklas: »Ich finde die Steine sind jetzt genau da wo sie hingehören: bei zwei tollen Freunden. Das ist das Zeichen ihrer engen Verbindung.«
Nancy nickt nur und lächelte. Sie war sehr stolz auf ihren Sohn.
Es dauerte noch eine Weile, dann trafen fast zeitgleich der Krankenwagen, die Polizei und ein weiteres Fahrzeug ein.
Robert öffnet die Tür. Vor ihm standen Sergeant Griffith, Mrs. Holder, Dr. Drummond und die Sanitäter des Krankenwagens.
Robert Gordon wies seine Kinder an nach oben zu gehen.
Nacheinander betraten die Leute das Haus der Gordons.
Nach dem Mrs. Holder und Dr. Drummond sich vorgestellt hatten, fing die Heimleiterin an, die Familie Gordon mit einem Schwall von Vorwürfen zu bombardieren; das Kind sei erst wenige Wochen im Heim und das wären alles Verletzungen der ehemaligen Familie. »Wir versuchen wirklich alles, dem Kind ein gutes Heim zu geben, doch sie macht nur Probleme.«
»Die Mahle von Kanülen sind aber jüngeren Datums«, erwiderte Robert.
»Sie bekommt aufgrund ihrer schlechte Blutwerte ab und zu eine Blutkonserve. Nicht wahr, Dr. Drummond?«
Der alte Mann stand schon die ganze Zeit etwas abwesend da, als wäre er nicht beteiligt, und stammelte nur, als er angestoßen wurde.
»Ja, ja …«
»Nichts wird mich daran hindern das Kind ins Krankenhaus zu bringen. Ihr Zustand ist sehr ernst und ich denke nicht, dass sie in Ihrem Heim sonderlich gut untergebracht ist.«
»Dr. Gordon! Hier ist ein Beschluss des zuständigen Richters Clemens. Das Kind wird Mrs. Holder und Dr. Drummond übergeben«, sagte Sergeant Griffith nun.
»Verstehen Sie doch, ich mache mir große Sorgen um die Kleine. Sie können doch nicht einfach wegsehen! Es geht hier um ein kleines Kind! Sie hat niemanden, der sie verteidigt.« Robert war fassungslos. Nancy legte ihren Arm um seine Hüfte und flüsterte ihm ins Ohr: »Lass sein Liebling, wir kommen nicht dagegen an.«
Er sah seine Frau an. »Was bin ich für ein Arzt und Vater, wenn ich nicht für dieses Kind eintrete? Ich verliere meinen Glauben an Gerechtigkeit.«
»Robert, an anderer Stelle! Nicht hier und jetzt – wir werden an anderer Stelle für sie kämpfen.«
Die ganze Zeit über saßen die drei Gordon-Kinder unbemerkt auf der Treppe und konnten sehr gut verstehen, was da unten besprochen wurde. Heimlich hatte sich Anne neben Richard auf die Treppe gesetzt und kuschelte sich an den groß gewachsenen Jungen.
Er sah sie an und lächelte, legte seinen Arm um die Kleine und sagt ihr leise: »Ich bin für dich da, sorge dich nicht. Du hast nicht nur einen Freund, auch wir sind deine Freunde, Kleines.«
Sie lehnte ihren kleinen Kopf an die Stelle, wo sein Herz schlug und lauschte. Nach einer kurzen Weile hob sie den Kopf sah mit ihren großen grünen Augen tief in seine – dann nickte sie mit einem ganz kleinen Lächeln. Sie hob ihre zierliche Hand und streichelte sein Gesicht.
Richard hatte einen riesigen Klumpen im Hals. Ihm wurde im Herzen ganz warm. Am liebsten wäre er mit ihr davongelaufen.
Doch dann ging alles sehr schnell, die Sanitäter zogen ab, der Sergeant schnappte sich Anne, deren Augen sich mit Tränen füllten; sie wehrte sich nicht.
Sehr schnell waren sie draußen und fort. Robert stand noch lange da und konnte diese Situation nicht fassen, irgendetwas war hier schief gegangen, aber er konnte nicht genau sagen, was. Wenn er da schon gewusst hätte, was wirklich los war und was alles noch kommen würde, hätte er schon zu diesem Zeitpunkt anders reagiert, doch einem Gerichtsbeschluss und einem Polizisten stellte man sich nicht einfach so entgegen.
4. Kapitel: Das Ausmaß wird größer.
»Sergeant fahren sie, ich will schnell zurück ins Heim.«
Hektisch wurde nach der Ankunft telefoniert. Mrs. Holder bellte auf Spanisch und Englisch in den Apparat. Sie öffnete hastig den Safe und räumte ihn leer. Kurze Zeitspäter traf der Arzt ein, der Anne immer das Blut abnahm. Mit ihm kam auch Jorge, der sich am Computer zu schaffen machte.
»Lösch alles. Ich packe inzwischen die wichtigsten Sachen. Wir haben nur ein paar Stunden.«
Anne war in einen kleinen Raum gebracht und eingeschlossen worden. Im Dunkeln saß sie in einer Ecke und dachte an die Familie, bei der sie einige Stunden gewesen war. Jetzt wusste sie, was eine Mom war. Sie hatte noch nie eine. Ihr kleines Kinderherz fing an sich nach etwas zu sehnen, das es so schnell nicht bekommen sollte. Niclas, ihr Freund, Richard, der große Junge mit den starken Armen, Claire, die hübsche Schwester, Dad, den alle so lieb hatten, und Mom Nancy. Mom.
Sie schlief im Sitzen ein und träumte endlich einmal etwas Schönes.
Nicht lange, und die Tür wurde aufgerissen. Der Arzt kam herein, legte sie auf einen Tisch und Jorge hielt sie fest. Ihr kleiner Arm wurde abgebunden, sie bekam eine Spritze und dann wurde es dunkel um sie herum.
Nach ein paar Stunden wies die Heimleiterin die anderen Betreuer an, sie müsse ein paar Tage verreisen, und übergab die momentane Leitung ihrem Stellvertreter Sam Winter, der ein bisschen verwirrt dreinschaute. Ihm war die Hektik im Haus nicht entgangen, er fügte sich jedoch. »Wie lange sind sie denn fort, Mrs. Holder?«
»Das kann ich jetzt so noch nicht sagen. Ich melde mich rechtzeitig bei ihnen.« Wohl wissend, dass dies nie geschehen würde, verließen die Ratten das sinkende Schiff.
***
Völlig übernächtigt, war Familie Gordon, als der neue Tag begann. Robert grübelte die ganze Nacht. Nancy hatte versucht ihn etwas zu beruhigen, doch diese traurigen Augen und der geschundene Körper der Kleinen gingen auch ihr nicht aus dem Kopf. Doch das Leben ging weiter und so versuchte sie den Tag erst einmal so wie alle Tage beginnen zu lassen: die Kinder wecken, das Frühstück herrichten und ihnen einen guten Start in den Tag bereiten.
Heute war aber alles anders: Claire war schon im Bad, Richard bereits fertig und er hatte sogar Niclas geholfen sich anzuziehen. Er kam mit ihm an der Hand die Treppe herunter, ohne das lustige Lachen und Zanken wie sonst immer. Keine Streitereien … nichts.
Als alle am Tisch saßen und regelrecht appetitlos waren, brach Nancy das Schweigen: »Dad und ich wir werden heute zum Bürgermeister gehen und versuchen, Anne zu helfen.«
»Wir lassen nichts unversucht. Ich sorge dafür, dass man sie besser unterbringt. Vielleicht findet man ja eine nette Pflegefamilie«, ergänzte Robert.
»Mom, ich gehe heute wieder zum Heim. Vielleicht kann sie ja raus.«
»Nein, Niclas heute nicht. Ich möchte, dass du zu Haus bleibst«
»Aber Dad! Anne ist meine Freundin!«
»Nein, Niclas, heute nicht!« Robert wurde sehr laut.
Niclas zuckte zusammen und wusste, dass es sehr ernst war. Sein Dad war noch nie so barsch gewesen.
Richard war in Gedanken versunken. Ihm fiel auf, dass er auf dem Stuhl saß, auf dem Anne gestern gesessen hatte. »Was sie wohl gerade macht? Ob sie auch Frühstück bekommen hat? Diese Mrs. Holder ist kein guter Mensch.«
Nancy ließ das Frühstücksmesser fallen, stand auf und ging nach draußen.
Robert ging ihr hinterher. Sie stand vor der Treppe und weinte. Er nahm sie in die Arme.
»Wir hätten es nicht zulassen dürfen, dass sie mit denen mitgeht.«
»Nancy, wir mussten. Sie hatten einen richterlichen Beschluss.«
»Wo hatte sie den so schnell her? Oder hat sie solche Sachen einfach auf Vorrat bei sich?«
»Keine Ahnung. Komm, Liebes. Die Kinder müssen in die Schule.«
Nancy ging schweigend in Küche zurück. Die Kinder hatten schon den Tisch abgeräumt, sich Brote für die Schule gemacht und waren fertig. Jeder bekam einen Kuss auf die Wange und dann verließen sie das Haus gemeinsam mit ihrem Vater. Nur Niclas und Nancy waren noch da; die beiden machten sich etwas später auf den Weg zu Bob in den kirchlichen Kindergarten.
Bei ihrem Bruder angekommen erzählte Nancy die Geschichte von dem Mädchen, dem Niclas den Namen Anne gegeben hatte.
»Kennt ihr ihren richtigen Namen?«
»Nein, sie spricht nicht. Entweder ist sie stumm oder sie sagt nichts, weil sie es nicht gelernt hat. Du glaubst nicht, wie sie aussah, ihr kleiner Körper war überall blau, voller Striemen, als wäre sie ausgepeitscht worden. Sie ist völlig verwahrlost, und das in einem Kinderheim, das unter staatlicher Aufsicht steht.«
Bob telefonierte daraufhin etwas herum, unter anderem mit dem neuen Polizeichef. Ihm erzählte er von dem richterlichen Schreiben. Dabei kam heraus, dass es überhaupt keinen Richter mit dem Namen Clemens gab.
Nancy ging nun ins Polizeipräsidium und erstattete auf Wunsch des Polizeichefs Anzeige wegen Kindesmisshandlung. Daraufhin konnte dieser die Maschinerie in Gang setzen. Es folgten Ermittlungen, Verhöre und schon nach wenigen Stunden wurde Sergeant Griffith festgenommen. Man fand nun schnell heraus, dass er die Fälle der verschwundenen Kinder verschleppt hatte.
Auch Dr. Drummond wurde zur Befragung abgeholt. Dem alten Mann wurde allerdings sofort von einem Gutachter fortgeschrittene Alterssenilität attestiert, was bezüglich der Heimleitung jedoch für sich sprach.
Im Kinderheim wurde alles auf den Kopf gestellt, die verbliebenen Mitarbeiter vernommen. Sie konnten nur aussagen, was sie wussten, und das war nicht viel. Anne wurde nicht gefunden, genauso wenig wie Mrs. Holder. Eine Überprüfung ihrer Personalien ergab jedoch, dass es eine Celia Holder überhaupt nicht gab.
Für die Presse war das ein gefundenes Fressen, doch von Anne und den anderen Kindern, die aus dem Heim verschwunden waren, gab es nicht die geringste Spur. Es gab keine Unterlagen, die Verbrecher waren gründlich und hatten nichts zurückgelassen.
Eine landesweite Suche nach den vermissten Kindern begann.
Innerhalb weniger Tage kamen von verschiedenen Polizeirevieren aus dem ganzen Land Bilder und Fallakten zur Identifizierung. Sam Winter und seine Kollegen mussten sich sehr viele Fotos von Mädchenleichen ansehen.
Einige Mädchen konnten identifiziert werden, darunter auch Jacky und die beiden 16-Jährigen, die am gleichen Tag verschwunden waren. Man fand ihre Leichen in einem anderen Bundesstaat, brutal vergewaltigt und ermordet. Alle Opfer waren auf die gleiche Art und Weise umgebracht worden.
Ein findiger Gerichtsmediziner fand heraus, dass auf den Körpern der Mädchen eine weitere Spur war, und zwar das Blut einer unbekannten weiblichen Person. Immer wurde das Blut auf dem Oberkörper der Mädchen gefunden. Er konnte feststellen, dass das Blut vor Eintritt des Todes auf die Körper aufgebracht worden war. Auf einigen Leichen fiel ihm auf, dass das Blut mit einem Pinsel aufgetragen wurde, diese Pinselstriche sahen aus wie Symbole. Seine Entdeckung schrieb er in die Berichte.
All diese Fälle aus dem ganzen Land wurden zusammengefasst und das FBI übernahm die Leitung der Ermittlungen. Die unbekannte weibliche Person wurde dringend gesucht, da sie auf mindesten 47 Leichen ihre Spuren hinterlassen hat.