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Jahre nachdem Richard Gordon mit seiner Sondereinheit die Salazere-Familie und ihren Bluthexen-Kult zur Strecke gebracht hat, lässt das letzte flüchtige Familienmitglied die Sekte in den Wäldern Kanadas wieder aufleben. Bei seinen Ermittlungen kommt Richard einer Clique in die Quere, die die Sekte für ihre eigenen Interessen nutzt und sich durch seine Einmischung bedroht fühlt. Es gibt nur eine einzige Zeugin, die ihnen noch gefährlich werden kann. Als Richard der Wahrheit über die verschwundenen Mädchen in Kanada zu nahe kommt, geraten er und seine gesamte Familie in Gefahr, denn die Mitglieder des Mörderklubs besetzen alle Schaltstellen des Justizapparates …
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Seitenzahl: 434
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Lina George
Copyright: © 2016 Lina George
Umschlag & Satz: Erik Kinting / www.buchlektorat.net
Titelbild: © zuzannabw (fotolia.com)
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Geburtstag
Es war der achte Geburtstag, der kleinen Josefine. Obwohl sie aus reichem Hause stammte, waren viele Kinder, aus allen Bevölkerungsschichten der Stadt, an ihrem Ehrentag dabei. In dem großen Anwesen trieben sich heute Freunde und Klassenkameraden von ihr herum. Sie liefen durch das gesamte Areal und genossen den Tag. Die Angestellten hatten alle Hände voll zu tun, um Herr der Lage zu werden. In jeder Ecke lauerten Kinder, die fröhlich ihre kleinen Späße trieben.
Die große Haupthalle war zu einem riesigen Speisesaal umfunktioniert worden, dort standen viele Tische, gedeckt für eine ganze Schule voller Kinder. Doch so viel Mühe man sich auch gab, die Kinder waren nicht auf ihren Plätzen zu halten; sie wollten toben und spielen. Für diese Gelegenheiten hatte der Hausherr selbst gesorgt: Draußen auf dem Hof stand ein Karussell mit bunten Pferden, das hatte sich seine Tochter gewünscht. Eine riesengroße Hüpfburg und viele andere Spielmöglichkeiten wurden von lustigen Clowns betreut, damit sich niemand verletzte. Im Pool waren kleine batteriebetriebene Spielzeugboote, die Kinder konnten damit um die Wette fahren und es wurden allerlei Wettspiele angeboten. Es war ein Jahrmarkt nur für Kinder, denn sie standen heute im Mittelpunkt.
Josefine konnte mit Recht behaupten, dass sie die besten Eltern der Welt hatte. Heute fühlte sie sich wie eine Prinzessin, es war ihr schönster Tag.
Unter den Bäumen, längs der Einfahrt, standen lange Tische, auf dem einen lagen haufenweise Süßigkeiten, auf dem nächsten standen verschiedene Getränke bereit. Animateure beschäftigten die Gäste von Josefine. Es wurden Denkspiele veranstaltet, wobei die Kinder Preise gewinnen konnten. Der Lautstärkepegel war den ganzen Tag weit oben.
Es wurde jedes Jahr schwerer, den Geburtstag seiner Tochter auszurichten, aber für sein einziges Kind tat er es gern. Es ging nicht ums Geld, sondern um den Spaß, den sie hatte. Das Glück seiner Tochter ging ihm über alles.
Paul Dumont war Eigentümer einer Reihe von Brauereien in ganz Kanada. Sein Großvater hatte als französischer Auswanderer den Grundstein für das Vermögen der Dumonts gelegt. Paul hatte alles geerbt, da er der einzige Sohn der Familie war, seine Schwester Lisa war nach einem Selbstmordversuch im Alter von vierzehn Jahren gestorben.
Paul wusste nicht mehr viel davon, er konnte sich nur daran erinnern, dass seine Mutter zu dieser Zeit sehr viel trank. Er war damals vier Jahre alt. Später hatte er von einer Angestellten gehört, dass seine Schwester vergewaltigt wurde und mit der Situation nicht zurechtkam. Der Großvater hatte sie verurteilt, weil sie zu aufreizend gekleidet herumlief. Sie hätte die Sache angeblich selbst provoziert. Noch heute erinnerte Paul sich, dass sein Großvater ein sehr strenger alter Mann war. Er hatte seine Frau und seine Tochter fast in den Wahnsinn getrieben. Das war auch an den Enkelkindern nicht spurlos vorbeigegangen. Damals hatte Paul sich geschworen, wenn er selbst einmal Kinder hätte, würde er alles dafür tun, dass sie nicht wegen der Eltern oder Großeltern weinten, und wenn, dann Freudentränen oder Tränen der Liebe.
Heute war er selbst Vater und seine Tochter wurde nun schon acht Jahre alt. Wie schnell doch die Zeit verging; es war noch gar nicht so lange her, dass er sie nach der Geburt im Arm gehalten hatte und sie laut schrie. Er hatte sie nicht beruhigen können, sie wurde erst still, als sie in den Armen ihrer Mutter lag. Dieses Bild hatte er noch vor Augen. Er liebte dieses Baby und er liebt sie immer mehr, erst recht in diesem Alter.
Dass irgendwann ein junger Mann kommen, ihm das Liebste, das er hatte, wegnehmen und behaupten würde, dass er sie liebe, wollte er sich nicht vorstellen – Josefine würde immer sein Ein und Alles sein.
Gern hätte er noch ein weiteres Kind gehabt, doch die Natur erlaubte es ihnen nicht mehr.
Aus seinen Gedanken gerissen schreckte er hoch, als es an der Tür klopfte.
»Daddy, das ist die schönste Geburtstagsparty, die es jemals gab«, rief seine Tochter beim Hereinkommen.
»Danke. Bitte, mein Kleines, es ist mir wichtig, dass du deinen Spaß hast. Du hast doch Spaß?«
»Ja, Daddy, und wie. Kommst du mit runter? Das Feuerwerk wird gleich losgehen. Mommy ist auch schon unten. Wir warten nur noch auf dich. Daddy … komm schon.«
»Ich komme sofort, ich will nur noch einmal ins Bad.«
Seine Tochter lief aus dem Zimmer und er hörte sie rufen: »Beeil dich, bitte.«
Paul musste angesichts des Temperaments seiner Tochter lächeln und dachte bei sich: Sie hätte eigentlich ein Junge werden müssen, so wild wie sie ist.
Das Feuerwerk begann erst, als Paul Dumont bei den Gästen eintraf. Es war ein wunderschönes Spiel aus Feuer und bunten Lichtern. Die Eltern der Kinder, die schon da waren, um sie abzuholen, waren auch begeistert.
Es war nicht leicht, alle Kinder einzusammeln. Sie hüpften wie Flöhe durcheinander und waren nicht zu fassen, die meisten von ihnen waren schon seit dem Morgen auf dem Anwesen. Doch langsam wurde es ruhiger im Haus und das Personal konnte anfangen, in das Chaos wieder Ordnung zu bringen. Myra Dumont half beim Aufräumen. Die Familie Dumont war zwar reich, aber sich nicht zu schade, auch mal mit anzupacken. Es war für alle ein aufregender Tag und für einen Februartag wunderbar warm.
Völlig fertig und müde fiel Josefine in ihr Bett. Heute verzichtete sie auch gerne auf die gute Nachtgeschichte. Sie kuschelte sich in ihre Kissen und murmelte noch: »Gute Nacht, Mommy und Daddy, schlaft schön.« Ihre Augen fielen zu und ein leises regelmäßigen Atmen war zu hören.
Ihre Eltern standen überglücklich am Bett ihrer Tochter. Beide gaben ihr noch einen Kuss und verließen leise das Zimmer.
»Sie war so aufgedreht heute, mit allen und jedem wollte sie reden und spielen. Sie war die perfekte kleine Gastgeberin.«
»Hast du mitbekommen, wie sie dem dicklichen Jungen geholfen hat, etwas vom Kuchen abzubekommen? Ich fand das so niedlich; sie hat sich mit einem größeren Jungen angelegt und ihm erklärt, dass man auf die Kleinen Rücksicht nehmen sollte.«
»Ja, sie stand da, mit erhobenem Zeigefinger, und tadelte ihn. Sie wird so schnell groß – es dauert nicht mehr lange, dann ist sie ein Teenager. Bewahre Gott …«
»Wieso?«
»Mit ihrem Temperament und den Partys, die sie dann veranstaltet, werden wir wohl nicht mehr mithalten können.
« Myra umarmt ihren Mann und beide gingen zu Bett, denn diesen Tag würden auch sie nicht so schnell vergessen.
***
Am Montag in der Schule war die Party Hauptthema bei allen. Josefine war äußerst zufrieden; sie war beliebt bei ihren Mitschülern, ohne dabei überheblich zu sein. Viele der Kinder hatten mit ihren Handys Fotos gemacht und in den Pausen wurden die Bilder ausgetauscht und analysiert.
Die Familie Dumont, war in der kleinen Stadt sozial sehr engagiert. Paul finanzierte allerlei Projekte und Myra war für die Armen in der Stadt da. Sie organisiert die Suppenküche und sorgte dafür, dass die Supermärkte und die Lebensmittelindustrie regelmäßig spendeten, jedoch fand man die beiden auch auf dem Golfplatz. Sie gaben Dinner-Partys für die obere Schicht der Stadt; die Familie war in der ganzen Gegend geachtet und beliebt.
Josefine war auf dem Weg von der Schule nach Hause. Sie ging durch die kleine dunkle Gasse, das war der kürzeste Weg zum Anwesen. Sie war heute etwas spät dran und nahm deshalb diesen Weg, obwohl sie sich dort immer ein wenig fürchtet. Sie hatte dort immer das Gefühl, jemand würde sie beobachten. Doch sie sagte sich: Ich bin doch schon groß und habe flinke Beine.
Wenig später war sie zu Hause angekommen, die Köchin nahm sie in Empfang, da Josefines Eltern noch unterwegs waren. Sie waren in eine der Brauereien gefahren, weil dort eine Anlage neu gestartet werden musste.
Josefine war enttäuscht und fragte, wann sie zurück seien. Laura antwortete: »Dein Daddy muss später noch eine Rede halten und deine Mommy hat dabei mit dem Catering zu tun, aber sie werden sicher bald wieder hier sein.«
Doch Josefines Eltern mussten die Nacht über außer Haus bleiben. Alle Angestellten im Haus passten auf Josefine auf. Laura, die Köchin war ihre liebste Gesellschaft, sie erzählte immer so schöne Geschichten von früher, als sie noch jung war. Josefine hörte sehr genau zu und half ihr dabei beim Herrichten des Essens.
Lionel, der Butler, war ein richtiger Engländer, wie man ihn sich so vorstellt, mit einem eleganten Anzug und einer stocksteifen Haltung. Immer ruhig und gelassen, erledigte er seine Aufgaben im Haus. Paul Dumont sagte immer, dass er ihn geerbt hatte, von seinem Vater.
Ihre Großeltern kannte Josefine leider nicht mehr, sie waren vor ihrer Geburt verstorben. Ihr Vater erzählte oft von ihnen, dass sie stolz auf ihr Enkelkind wären, weil sie so ein liebes Kind sei. Was sie nicht wusste war, dass ihr Vater gern alles ein wenig ausschmückte. Das klang viel besser als die Geschichte mit dem gestrengen Großvater.
»Lionel?«
»Ja, kleine Madame?«
»Wann kommen meine Eltern wieder zurück?«
»Ich nehme an morgen früh. Sie lassen dich doch nicht zu lange alleine.«
»Dann sind sie vielleicht schon da, wenn ich aufwache!«
»Kommt darauf an, wann du aufwachst.«
Sie lachte und lief weg, durch den langen Gang im oberen Geschoss; dort hingen viele Bilder ihrer Vorfahren an den Wänden, eine richtige Galerie. Sehr oft hatte Myra Dumont schon versucht, ihrer Tochter zu erklären, wer das alles war, doch immer wieder vergaß sie die Namen der Ahnen auf den Bildern. Es war auch zu schwierig, diese alten Menschen auseinanderzuhalten. Auf der einen Seite hingen die Bilder der Familie Dumont und auf der anderen die Familienmitglieder von Myra, die auch eine beachtliche Anzahl von Verwandten hatte. Leider war auch von dieser Seite der Familie niemand mehr da. Das war Josefine jetzt aber auch egal, die hingen morgen ja auch noch da.
Sie lief weiter bis zur Treppe und rannte nach oben, dort war nur noch der Dachboden, hier spielte sie gerne – so viele alte Möbel, Kisten und Truhen mit lauter interessanten Sachen von früher. Hier konnte sie sich stundenlang aufhalten. Heute wollte sie sich die kleine Truhe in der Ecke anschauen. Das Schloss war alt, sehr alt. Es würde ganz leicht sein, es aufzubrechen. Mit einem Buttermesser, dass sie in der Küche stibitzt hatte, war die Sache schnell erledigt. Sie öffnet die Truhe ganz langsam, denn sie erwartet so etwas wie einen Piratenschatz oder die Krone einer Prinzessin. Jedoch lagen nur alte Briefe und Bilder darin.
Josefine vernahm ein Geräusch und versteckte sich schnell hinter einer alten Schneiderpuppe, die in einer Ecke stand. Lionel kam die Treppe herauf, schaute sich um und ging wieder. Sie hörte, wie er die Tür schloss.
In ihrem Versteck hatte sie noch eine Kiste gefunden; diese war unverschlossen und Josefine schaute hinein. Darin lagen sehr alte Kleider und Gürtel mit verzierten Schnallen. Vorsichtig nahm sie eines der Kleider heraus und staunte sehr. Sie hielt es vor sich und stellte fest, dass es ihre Größe sein musste.
Schnell fand sie die passende Schnalle mit Gürtel. Sie zog ihr T-Shirt aus und schlüpfte in das Kleid. Es roch alles sehr muffig, doch schmutzig sah es nicht aus. Der große Spiegel unter dem Fenster war mit einem Tuch verhängt. Sie zog es weg und sah, wie schön das Kleid war. Sie drehte sich und fand, dass es ihr gut passte.
Wer diese Kleider wohl genäht hat, und, für wen sie gedacht waren?
Josefine zog es wieder aus und legte es zurück. Sie wollte mit ihrer Mutter reden, um Antworten auf ihre Fragen zu bekommen. Die kleine Truhe, mit den Briefen und Fotos, fiel ihr wieder ein. Sie öffnete sie abermals, nahm einen Stapel Briefe und sah in einen hinein. Erstaunt las sie den Namen ihrer Mutter.
Liebe Myra.
Heute regnet es wieder, ich kann nicht raus. Die Vögel singen nicht. Ich vermisse das Zwitschern.
Dr. Phil will, dass ich dir schreibe, jeden Tag, damit du siehst, dass es mir gut geht. Ich weiß nur nicht, was ich dir jeden Tag schreiben soll, hier im Painhouse geschieht nicht besonders viel, worüber man berichten kann. Alles, was ich möchte, ist hier rauszukommen, am liebsten möchte ich in der freien Natur leben, unter freiem Himmel schlafen und keine Mauern mehr sehen.
Man hat mir gesagt, dass du ein Baby bekommst und du und dein Mann sehr glücklich seid. Ich freue mich für euch beide. Bitte, liebe Schwester, vergiss aber nicht deinen Bruder. Auch ich habe dich lieb.
Rocco
Josefine saß eine Weile da und wunderte sich, dass sie noch nie etwas von einem Mann namens Rocco gehört hatte. Ein Bild von ihm hing auch nicht in der Ahnengalerie. Aber dieser Mann kannte ihre Mommy.
Das muss ich unbedingt herausfinden.
Sie legte den Brief wieder in die Truhe und schloss den Deckel. Dieser Rocco ging ihr nicht mehr aus dem Kopf. Er nannte ihre Mutter Schwester, das hieß, dass sie einen Onkel hatte. Das musste noch vor ihrer Geburt gewesen sein, denn Rocco schrieb, dass ihre Mutter noch schwanger war. Vor acht Jahren hatte sie diesen Brief erhalten? Was war mit diesem Rocco? Warum kannte sie ihn nicht? Fragen über Fragen.
Sie hörte Laura rufen. Es war wohl Zeit zum Essen. Sie lief die Treppen hinunter und schlich sich heimlich an Laura an. Diese reagiert wie immer: Sie erschrak ein wenig und beide lachten. Josefine und die Angestellten aßen gemeinsam am großen Tisch in der Küche. Sie aß gern hier mit den anderen. Es war nicht so steif wie bei ihren Eltern am Tisch. Ihr Vater bestand immer darauf, dass beim Essen Ruhe herrschte und auch keine Musik aus dem Radio zu hören war. Hier in der Küche wurde während des Essens erzählt und gelacht, das Radio lief und Lionel war auch etwas lockerer – allerdings nur beim Essen; nach dem Essen war er dann wieder der alte Lionel.
Er räusperte sich. »Es wird Zeit für das Kind, zu Bett zu gehen.«
Das genau war der Satz, den Josefine nicht gern hörte, doch alle Ausreden nutzten nichts, der Butler blieb hart. Amelie, das Zimmermädchen brachte sie nach oben. Josefine wünschte allen in der Küche noch eine gute Nacht und folgte ihr brav.
»Hast du schon alles fertig, für die Schule morgen?«
»Ja, alles erledigt.« Sie war mit ihren Gedanken nicht bei der Sache und fühlte sich erwischt, als Amelie sie ansprach.
»Du hörst mir überhaupt nicht zu, Josefine.«
»Doch, doch, ich habe alles vorbereitet für die Schule und meine Hausaufgaben sind auch erledigt, Lionel hat sie sich angesehen. Du kannst ihn fragen.«
Amelie lächelte und bereitete das Bett für das Mädchen vor. »Aber irgendetwas beschäftigt dich …«
Josefine überlegte kurz, ob sie sich ihr anvertrauen sollte, und meinte dann nur: »Alles in Ordnung, Amelie. Ich vermisse nur meine Eltern.« Diese kleine Lüge würde ihr bestimmt niemand übel nehmen.
***
Josefines Eltern kamen früh morgens nach Hause, kurz bevor sie in die Schule musste. Sie flog ihnen regelrecht entgegen.
»Meine Güte, hast du uns so sehr vermisst?«
»Jaaaaaa. Ich schlafe immer sehr schlecht, wenn ihr nicht da seid.«
»Wir waren doch nicht lange weg, Kleines«, erwiderte ihr Vater.
»Doch, viel zu lange. Kann ich nicht das nächste Mal mitkommen, bitte?«
»Mitten in der Schulzeit? Das kommt gar nicht infrage, die Schule ist wichtig, mein Kind. Du bist gesund und du solltest stolz sein, in die Schule gehen zu dürfen.«
Gelangweilt und trotzig antwortet sie ihrer Mutter: »Ja Mommy, früher konnten nicht alle Kinder in die Schule gehen, ich weiß.«
Der Schulbus fuhr vor und Laura kam mit dem Schulrucksack. Josefine verabschiedete sich von allen und bekam von ihren Eltern noch einen dicken Kuss, dann stieg sie in den Bus ein. Ihre Eltern standen noch so lange vor dem Haus, bis der Bus nicht mehr zu sehen war.
Den ganzen Tag über ging Josefine der Brief nicht aus dem Kopf. Sie würde zu gern wissen, wer dieser Rocco war, vermutlich ihr Onkel, von dem sie noch nie gehört hatte! Sie hatte kaum die nötige Konzentration dem Unterricht zu folgen und war heute viel ruhiger als sonst. Auch in den Pausen grübelte sie und fragte ihre beste Freundin, ob sie einen Onkel hätte.
Dana fragte, wieso sie das wissen wollte.
Josefine erzählte ihr von dem Brief und dass sie immer daran denken musste.
»Du musst nachschauen, ob da noch mehr ist. Ich meine Briefe und vielleicht Bilder. Oder frag einfach deine Mom.«
»Nein, es muss ein Geheimnis sein, denn sonst wüsste ich doch davon. Er würde uns besuchen kommen und ich würde ihn schon ewig kennen.«
»Stimmt, du hast recht. Aber vielleicht lebt er nicht mehr?«
»Hm, er schrieb, dass er in einem Painhouse ist und keine Mauern mehr sehen möchte.«
»Dann ist er vielleicht im Gefängnis. Er ist vielleicht ein Verbrecher und die Familie schämt sich für ihn.«
»Nein, das glaube ich nicht. Er schreibt von einem Dr. Phil. Der immer mit ihm reden will und der ihn behandelt.«
»Weißt du was? Du musst einfach weitersuchen. Dir bleibt nichts anderes übrig.«
»Ja, du hast recht, ich werde weiter ermitteln. Vielleicht finde ich eine Adresse, dann schreibe ich ihm einen Brief und erfahre mehr von ihm.«
Nach der Schule gingen die beiden gemeinsam nach Hause. Dana musste schließlich einen anderen Weg nehmen, da standen die beiden noch etwas beieinander, redeten und scherzten, bis sie sich voneinander verabschiedeten.
Wie immer hatten sie sich verplappert und die Zeit war knapp, das hieß, Josefine musste wieder durch die kleine Gasse gehen. Sie wollte diesen Weg schnell hinter sich lassen, aber in der Eile stolperte sie. Ihr Rucksack war verrutscht und sie blieb kurz stehen, um ihn zurechtzuziehen, da sah sie in einem Fenster ein Gesicht; es verschwand sogleich wieder, doch der Moment hatte gereicht. Dieses Gesicht brannte sich bei Josefine ein. Es war kein Gesicht – es war eine hässliche Fratze. Ein kurzer Aufschrei war alles, was sie herausbekam. Sie starrte noch immer auf das Fenster. So schnell sie konnte, rannte sie los und war nach kurzer Zeit aus der Gasse raus. Danach ging sie langsamer weiter.
Nie wieder gehe ich da durch.
Am Nachmittag wollte sie wieder auf den Dachboden, um nach den anderen Briefen zu sehen, doch die kleine Truhe war verschwunden. Sie suchte in allen Ecken, fand sie aber nicht mehr. Es gab jedoch so viel anderes zu entdecken und sie vergaß die Briefe für den Rest des Nachmittags.
Am Abend wurde sie von ihrem Vater zu Bett gebracht und er las ihr aus ihrem Lieblingsbuch vor.
»Daddy? Hat Laura heute den Dachboden aufgeräumt?«
»Wieso interessiert dich das, mein Kind?«
»Ach, nur so.«
»Soweit ich weiß, nicht. Lionel war heute oben und hat etwas vom Boden geholt. Sorgst du dich um die Gespenster, die da wohnen?« Lächelnd deckte er Josefine zu und küsste sie auf die Stirn.
»Ach Daddy, es gibt doch keine Gespenster.« Sie lächelte ihren Vater an und wünschte ihm eine gute Nacht.
Josefine dreht sich auf die Seite und schlief schon kurz darauf ein.
***
Einige Tage waren vergangen und Josefine wachte durch laute Stimmen im Haus auf. Neugierig schlich sie sich aus ihrem Zimmer und sah, dass alle beschäftigt waren. Laura stand da mit der Aktentasche für ihren Vater und Lionel kam mit ihm aus dem Büro. Ihr Vater nahm Laura die Tasche ab und wollte schon aus dem Haus.
»Was ist denn los?«
Paul Dumont dreht sich um und kam schnell auf seine Tochter zu. »Guten Morgen, mein Liebes. Sei nicht böse, doch ich muss dringend weg. Es gab ein Feuer in einer unserer Brauereien. Sei lieb und hab einen schönen Tag.«
Schon war er draußen und fuhr schnell davon.
Myra Dumont stand hinter ihrer Tochter und sagte: »Was machst du denn schon hier, Josefine?«
»Guten Morgen, Mommy. Es war so laut im Haus, ich bin davon wach geworden.«
»Dann komm, mein Kleines, wir gehen nach oben ins Bad.«
Wenig später saßen sie am Tisch und genossen das Frühstück. Lionel kam und verwies auf die Uhrzeit.
Josefine hüpfte vom Stuhl und rannte in die Halle. Dort wartete schon Laura mit dem Rucksack. Ihre Mutter stand in der Tür und gab ihr noch einen Kuss auf den Weg.
Josefine rief allen noch einen schönen Tag zu und drehte sich noch mal kurz um. »Mommy? War das Feuer schlimm?«
»Nein, mein Kind. Dein Vater wird das alles wieder hinbekommen.«
Beruhigt stieg Josefine in den Schulbus ein.
Der Tag in der Schule wollte nicht vergehen, sie musste immer wieder an das Feuer denken und sprach in der großen Pause mit Dana darüber.
Endlich war die Schule zu Ende. Heute wollte sie schnell nach Hause. »Dana, sei nicht böse, dass wir heute nicht zusammen gehen. Ich muss mich beeilen.«
»Ich verstehe, du willst genau wissen, was geschehen ist. Dann lauf, wir sehen uns morgen.«
»Danke dir, bis morgen.«
Josefine flitzte los und dachte, wenn sie die kurze Strecke nehmen würde, dann wäre sie schneller zu Hause. Sie bog ohne Bedenken in die Gasse ein und verscheuchte die Angst aus ihrem Kopf. Sie sah den Warenaufsteller zu spät und rannte ihn um. Schnell bückte sie sich, um die Sachen wieder aufzuheben. Plötzlich legte ihr jemand die Hand auf die Schulter.
Langsam sah sie nach oben und schaute in das Gesicht, das sie vor Kurzem im Fenster gesehen hatte.
»Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich sehe dich oft hier durch die Gasse gehen.«
Josefine stand da und konnte sich nicht rühren. Sie starrte den Mann immer noch mit offenem Mund an. Es dauerte noch einen Moment, bis sie sich fasste und ihr Blick sich erhellte. Sie fand auch ihre Stimme wieder und stammelte: »Entschuldigung. Ich habe mich erschrocken.«
»Ist schon gut, das geht allen Menschen so, wenn sie mich das erste Mal sehen. Ich wollte nur fragen, ob ich dir vielleicht helfen kann.«
»Nein, es geht schon. Ich räume das hier schnell wieder auf und dann gehe ich weiter.«
Die Frau aus dem Geschäft war herausgekommen und sah den großen Mann verächtlich an. Sie nahm den Warenaufsteller und brachte ihn hinein.
Josefine entschuldigte sich und schwor ihr, dass es keine Absicht war.
»Schon gut, es ist ja nichts kaputtgegangen.«
Josefine schaute ihr hinterher und wunderte sich über die Frau. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass der große Mann noch immer dastand.
Sie drehte sich zu ihm um: »Entschuldigung? Darf ich sie fragen, wie das mit ihrem Gesicht passiert ist?«
Er versuchte zu lächeln und es sah eigenartig aus. »Du kommst gleich auf den Punkt. Nun, ich bin so auf die Welt gekommen. Es wurde aber von Jahr zu Jahr schlimmer.«
Sie wies auf sein Gesicht und fragte. »Tut das weh?«
Er lächelte wieder und meinte: »Nein, es schmerzt nur, wenn die Menschen mich blöd ansehen und mir dumme Fragen stellen.«
Josefine schaute ertappt zu Boden. Er legte seine Finger unter ihr Kinn, hob ganz langsam ihren Kopf an und sagte: »Keine Angst, kleine Josefine, das war ein Scherz.« Seine Stimme klang sehr warmherzig und passte so gar nicht zu diesem riesenhaften Mann.
Erstaunt sah sie ihn an und wollte wissen, woher er ihren Namen kannte.
»Mein Name ist Rocco van der Kraft.«
Da war der Name – Rocco. Josefine machte einen Schritt zurück und sah erschrocken zu ihm auf.
»Deine Mutter ist meine kleine Schwester und du bist meine Nichte.«
»Ich habe einen Onkel? Wow, das ist klasse. Vor einigen Tagen habe ich eine Kiste mit Briefen gefunden. Aber ich traute mich nicht, meine Eltern zu fragen, wer dieser Rocco aus dem Brief ist. Nun stehst du vor mir und jetzt weiß ich es. Ich dachte, du bist tot oder im Gefängnis.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus, dann machte sie einen Satz und fiel ihm in die Arme.
Völlig erstaunt legte er seine Hand auf ihre Schulter und sagte: »Langsam, Kind. Wenn uns jemand sieht, gibt es Ärger.«
»Warum? Du bist doch verwandt mit mir, wir dürfen uns umarmen.«
»Das wissen die Leute doch nicht, kleine Lady.«
»Oh … ja, das stimmt.« Sie stellte sich in die Mitte der Gasse und rief, so laut sie konnte: »Hallo, ihr Leute, das ist mein Onkel Rocco und ich werde jetzt öfter hier sein.«
Das war Rocco etwas zu viel auf einmal und er trat in den Eingang des Ladens. Er war aber dennoch stolz auf seine Nichte, die keine Hemmungen hatte, das Monster zu umarmen. Sie stellte sich zu ihm unter das Vordach des Eingangs. »Kommst du uns mal besuchen? Wie lange bist du schon hier?«
Sie sah, dass Rocco traurig wurde.
»Ich lebe schon sehr lange hier, aber die Familie will nichts von mir wissen.«
»Ach Quatsch, du kommst einfach vorbei und besuchst uns, Mommy wird nichts dagegen haben.«
»Nein, nein, lass mal, sie wollen mich bestimmt nicht sehen.«
»Bitte, du gehörst doch zu unserer Familie, Onkel Rocco.«
Es klang so gut, was sie da sagte, doch er wiegelte ab: »Nein. Bitte lass das.«
»Gut, wenn du nicht zu uns kommst, dann besuche ich dich eben nach der Schule, ja?«
Mit feuchten Augen sah er sie an und meinte: »Jetzt lauf, du musst gehen, sonst suchen sie dich noch.«
Sie verabschiedete sich und lief nach Hause. Von nun an hatte sie keine Angst mehr, durch die kleine Gasse zu gehen. Sie wusste ja jetzt, dass ihr dort nichts passieren konnte. Ihr Onkel wohnte dort und er würde ihr helfen, wenn es notwendig war.
***
Seit Wochen ging Josefine schon gleich nach der Schule zu Rocco. Der Mann, der immer sehr zurückgezogen lebte, blühte durch das Mädchen regelrecht auf. Sie erzählte ihren Eltern immer, dass sie bei Dana war und mit ihr gemeinsam die Schulaufgaben macht. Sie hoffte, dass diese Lüge nicht herauskam, denn dann würde sie mächtigen Ärger bekommen. Rocco ging jetzt auch tagsüber aus dem Haus und die Leute starrten ihn wie immer an. Oft wurde er auch als Monster beschimpft, doch es griff ihn nicht mehr so an wie früher. Er ging einkaufen und erledigte vieles nun am hellen Tag, was er früher immer erst in der Dämmerung getan hatte. Seine kleine Wohnung hielt er sauber und für Josefine war immer etwas zum Naschen da. Zusammen erledigten sie die Hausaufgaben und sie spürte, dass es ihm große Freude machte, Zeit mit ihr zu verbringen.
Sie mochte ihren Onkel sehr, mit der Zeit verband die beiden eine innige tiefe Freundschaft.
»Onkel Rocco, darf ich dich etwas fragen?«
»Ja, Kleines.«
»Warum wollen meine Eltern dich nicht bei sich haben? Du bist doch der Bruder meiner Mom. Ich habe auf dem Dachboden diese Truhe mit Briefen von dir gefunden. Entschuldige bitte, ich habe einen gelesen. Da stand, dass du unter dem freien Himmel schlafen möchtest und ein Dr. Phil von dir will, dass du meiner Mom schreibst. Und dass du keine Mauern mehr sehen möchtest. Als ich wieder auf dem Boden war, war die Truhe weg. Ich wollte noch mehr über dich erfahren.«
Er atmete tief ein und schien zu überlegen, ob er ihr antworten sollte. »Josefine, ich bin behindert, das siehst du ja. Deine Mutter war früher auch anders, sie war eine gute Schwester. Dann kam ich in diese Klinik. Ich war viele Jahre dort eingesperrt und hatte nur meine Schwester. Unsere Mutter war ja nicht mehr da. Sie hat mich oft besucht, doch als du unterwegs warst, hat sie sich immer mehr zurückgezogen. Ich habe früher, mal etwas … getan, das hängt mir heute noch an und deine Mutter hat Angst, dass ich dir etwas antun könnte.« Josefine saß da und lauschte der Geschichte.
Er sah, dass es hinter ihre Stirn arbeitete. »Ich habe einen Menschen getötet. Ein junger Mann, der in meiner Nachbarschaft wohnte, hatte seine Freundin immer geschlagen und angeschrien. Ich habe das alles mitbekommen und wollte ihr nur helfen. Er hatte getrunken und sie wieder einmal angeschrien und nahm einen Stock, hob den Arm und wollte auf sie einschlagen. Ich lief rüber und versuchte ihn daran zu hindern, er schlug auf mich ein, schrie mich an, drehte sich um und ging wieder auf sie los, da habe ich ihn gestoßen und er fiel nach vorne … mit dem Kopf auf den Ofen in der Küche. Er war sofort tot. Es war ein Unfall, aber niemand hat mir geglaubt. Alles Reden half nichts, so habe ich dann nur noch geschwiegen. Nicht einmal der Anwalt, den sie mir zur Seite stellten, hat mir geglaubt. Sie stützten sich auf die Aussage des Mädchens und die hatte erzählt, dass ich ihn absichtlich getötet hätte, weil ich verliebt in sie gewesen sei. Das Mädchen hat gelogen und ich bin ins Gefängnis und danach in die Klinik gekommen.«
»Du hast ihr doch nur helfen wollen. Warum hat sie denn gelogen? Das verstehe ich nicht. Sie ist schuld, dass du jetzt so allein bist. Keine Angst, Onkel Rocco, jetzt bin ich ja da.«
»Die Menschen halten mich wegen meines Aussehens nun mal für ein Monster.«
»Die Menschen kennen dich nicht, aber ich sehe dich richtig, denn ich habe dich lieb, Onkel Rocco. Du hast zwar kein schönes Gesicht, aber dein Herz ist groß und gut.«
Einige Tränen liefen über Roccos Gesicht. Er nahm Josefine in seine Arme und flüsterte ihr ins Ohr: »Danke, Kleines, du bist ein ganz besonderer Mensch. Jetzt musst du aber nach Hause. Es ist schon spät … die Zeit mit dir vergeht immer so schnell.« Josefine strich mit zwei Fingern seine Tränen weg und gab ihm einen leichten Kuss auf die Wange. Sie verabschiedeten sich und sie lief nach Hause.
***
Endlich waren Ferien und die Eltern flogen mit Josefine in die Karibik. In diesem Urlaub lernte Josefine schwimmen und schnorcheln. Ihr Vater nahm sie überall mit hin und zeigte ihr die Schönheiten der Inseln. Er genoss die Zeit mit seiner Tochter. Sie lernte im Hafen von einem alten Fischer einige Seemannsknoten und zeigte sie am Abend ihrer Mutter. Die Eltern staunten, wie schnell ihr Kind alles begriff und es auch anwenden konnte.
Trotz der vielen Abenteuer, die Josefine erlebte, dachte sie fast täglich an Rocco; was er wohl gerade machte und ob er sie auch vermissen würde. Nach den Ferien wollte sie gleich zu ihm gehen und ihm alles erzählen. Sie würde ihm die Bilder zeigen, die sie in diesem Urlaub gemacht hatten. Er sollte einfach nur an ihrem Leben teilhaben und wissen, dass er von nun an nicht mehr alleine war.
Wieder zu Hause angekommen, wollte Josefine gleich am nächsten Morgen zu ihrem Onkel Rocco zu gehen. Sie steckte die Bilder und Postkarten von der Insel in ihren Rucksack.
Gerade schob sie ihr Fahrrad aus dem Schuppen, da rief ihre Mutter: »Josefine? Wo willst du denn hin?«
»Zu Dana. Ich versprach ihr, dass ich nach dem Urlaub gleich bei ihr vorbeikomme.«
»Nein, du bleibst erst einmal hier. Ich werde Danas Mutter anrufen und fragen, ob sie zu Hause sind. Außerdem fährst du mir nicht eine so lange Strecke alleine mit dem Rad.«
»Aber Mommy …«
»Komm bitte rein. Wir müssen in einer halben Stunde losfahren. Es gibt ein Sommerfest in der Brauerei und du kommst mit. Deine Sachen liegen schon auf deinem Bett. Zieh dich bitte um.«
Das Sommerfest war schon lange geplant und gleichzeitig würde eine neue Abfüllanlage eingeweiht werden. Es wurden sehr viele Gäste erwartet sowie die gesamte Belegschaft und deren Familien.
Josefine schob widerwillig ihr Fahrrad wieder in den Schuppen und ging in ihr Zimmer. In einem unbeobachteten Moment griff sie zum Telefon und wählte Roccos Handynummer. Sie sprach kurz mit ihm und ging dann nach draußen, wo ihre Eltern schon ungeduldig warteten.
»Josefine, kommst du endlich? Es nutzt dir nichts, wenn du noch langsamer machst.«
»Ja, Mom. Ich habe aber keine Lust auf dieses Fest.«
»Komm jetzt, Kind, wir sind spät dran. Es werden schon alle auf uns warten. Immerhin ist dein Vater der Chef und ohne ihn wird nicht gefeiert. Wir wollen doch gemeinsam mit der Belegschaft feiern und du gehörst nun mal dazu.«
Sie fuhren bis auf das Gelände, der Brauerei. Josefine sah viele Kinder, die vergnügt auf einem Karussell fuhren, und auch die Hüpfburgen war wieder da. Josefine sah ihre Klassenkameraden und ging zu ihnen. Freudig wurde sie begrüßt; sie ging mit den anderen mit und sie tobten und tollten herum bis zum späten Nachmittag.
Ihr Vater hatte eine Rede gehalten und nach der Einweihung wurden noch die besten Mitarbeiter ausgezeichnet. Die Stimmung war sehr ausgelassen. Ihre Mutter war damit beschäftigt, den Kuchenstand zu begutachten, denn die Frauen buken alle noch selbst. Es wurde immer ein Preis für den besten Kuchen vergeben, danach wurde das Kuchenbuffet eröffnet.
Es war ein wunderschöner Tag, mit viel Sonnenschein und einer Menge Unterhaltung. Es spielte eine Live-Band, ein Fotograf lief herum und machte Bilder, die örtliche Presse war auch eingeladen. Die Kinder tobten auf der Wiese neben der Brauerei, die Eltern sowie die Gäste saßen auf den Bänken im Hof. Unmengen von Kaffee und Kuchen wurden verteilt. Paul Dumont war sehr stolz auf diesen gelungenen Tag. Für ihn zu arbeiten hieß, gute Sozialleistungen zu bekommen und ein gutes Einkommen zu haben. Die Jobs bei ihm waren sehr beliebt.
Plötzlich schrie ein Mädchen; sie kam aus dem Unterholz des Waldes gelaufen: »Ein Monster, ein Monster.« Sie zeigte auf den Wald, direkt hinter der Brauerei. Einig Leute gingen nachsehen, doch sie fanden nichts und niemanden. Sie beruhigten das Kind und meinten, dass es sich geirrt hatte. Doch Josefine hatte eine merkwürdige Ahnung. Sie hatte ihrem Onkel bei dem Telefongespräch verraten, wo sie heute sein würde. Sie schlich sich heimlich davon und fand an dem Bach, der durch den Wald floss, ihren Onkel in einem Gebüsch. Er versteckte sich dort, weil dieses Mädchen ihn gesehen hatte und gleich um Hilfe schrie.
Sie ging zu ihm und sprach ihn an.
»Onkel Rocco, es ist gut. Komm raus, ich bin doch bei dir. Hab keine Angst. Mommy ist auch hier, vielleicht können wir heute mit ihr reden, dass du zu uns kommen kannst. Bitte, dir tut niemand etwas.«
Er kam heraus und sah nicht besonders glücklich aus. Sie nahm seine Hand und wollte ihn mit auf das Gelände der Brauerei nehmen, da hörte sie plötzlich die Stimme ihre Mutter hinter sich und ahnte schon am Tonfall, dass es nichts Gutes bedeutete.
»Josefine, komm bitte sofort her zu mir.«
»Aber Mommy, er tut mir nichts. Er ist doch dein Bruder und er hat dich genauso lieb wie du mich.«
Sie nahm Josefine an ihre Seite und sah ihren Bruder böse an. »Ich dachte, du bist in der Klinik. Bist du geflohen?«
»Schon lange nicht mehr, liebe Schwester. Nein, ich bin nicht geflohen, ich wurde entlassen. Die Papiere habe ich hier bei mir.«
»Ich möchte, dass du mein Kind in Ruhe lässt, ansonsten sorge ich dafür, dass du wieder zurück in die Klinik kommst. Hast du mich verstanden?«
»Ja, Myra.«
»Aber Mommy! Ich möchte, dass er uns besuchen kommt!«
»Das wird nie geschehen.«
Rocco drehte sich um und verließ die beiden. Traurig und mit hängenden Schultern lief er den kleinen Pfad entlang zur Straße, dort war die Haltestelle für den Bus.
»Und du, junge Dame, hast mir jetzt einiges zu erklären.«
»Nein, ich habe nichts gemacht, Mom. Warum bist du böse auf Onkel Rocco? Du glaubst ihm auch nicht! Er hat mir immer wieder erzählt, wie gern er dich hat. Als ihr noch zu Hause wart und eure Mutter noch lebte, da warst du anders zu ihm. Er ist einfach nur traurig.«
Ihre Mutter stand vor ihr und zögerte für einen kurzen Moment, doch dann nahm sie Josefine bei der Hand und sagte: »Du, dein Vater und ich, wir werden reden. Heute Abend«
»Ja, Mom.« Sie ließ sich von ihrer Mutter mitziehen.
Traurig saß sie bei ihren Eltern und dachte, dass sie heute Abend ihren Onkel wieder verlieren würde. Sie verstand ihre Mutter einfach nicht.
Am Abend fand das Gespräch statt und ihre Eltern waren das erste Mal richtig böse auf sie. Sie musste ihre Fragen beantworten und erklärte, dass sie die Briefe gefunden hatte und sie durch Zufall ihren Onkel kennenlernte.
»Warum darf Onkel Rocco uns nicht besuchen?«
»Josefine, dein Onkel ist anders als wir und die Menschen haben Angst vor ihm.«
»Daddy, ich weiß, dass er anders ist, aber er ist ein sehr lieber Mensch. Wir machen immer meine Schulaufgaben zusammen. Er liest mir vor und wir haben auch schon zusammen gekocht. Onkel Rocco lacht sehr gern.«
»Das heißt, du warst schon bei ihm in der Wohnung? Josefine! Das möchte ich nicht noch einmal erleben, dass du zu ihm gehst. Er ist gefährlich«, schrie ihr Vater.
Mit Tränen in den Augen antwortete sie trotzig: »Davon habe ich aber nichts gemerkt, Daddy. Ich glaube ihm, er hat niemals jemandem etwas getan.«
Myras Herz schlug ihr bis zum Hals. Angst beherrschte sie und ihre Gesten.
Josefine sah, dass ihre Mutter sehr aufgeregt war, und wollte sie besänftigen.: »Er ist nicht gefährlich. Er ist sehr sanftmütig und aufmerksam. Mommy?«
»Was meinst du mit aufmerksam? Was hat er mit dir angestellt? Hat er … Sachen mit dir gemacht?«
Josefine sah ihre Mutter fragend an. »Was denkt ihr denn von ihm? Er ist mein Onkel und er ist einfach nur ein lieber netter Mensch und nichts weiter. Ich habe ihn lieb und wir sind auch Freunde. Er hat mich niemals geschlagen und irgendetwas anderes getan. Was meinst du überhaupt damit?«
»Wir meinen, dass er dich zu etwas gezwungen hat, was du nicht willst.«
»Nein, ich sagte doch schon, er macht mit mir die Hausaufgaben und liest mir vor. Wir spielen auch mal Karten oder puzzeln zusammen, das macht er sehr gern. Er hat an den Wänden ganz viele Puzzles hängen, die er aufgeklebt hat. Das ist sehr viel Arbeit, so ein ganz Großes aufzukleben. Rocco hat viel Geduld. Wenn ich mal etwas nicht weiß, erklärt er es mir so oft, bis ich es begriffen habe.«
»Das ist sehr schön, mein Kind, aber du gehst da nie mehr hin. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, junge Dame.«
Ihre Eltern beharrten darauf, dass Josefine nicht mehr zu Rocco durfte. Sie musste es versprechen.
»Das ist ungerecht, er ist mein Onkel.«
Sie stampfte mit dem Fuß auf und bekam dafür Zimmerarrest. Traurig saß sie auf ihrem Bett und verstand die ganze Situation nicht.
Josefine wurde von nun an von der Schule abgeholt und nach Hause gefahren. Aber Rocco und sie hatten noch eine Möglichkeit Zeit miteinander zu verbringen, und das waren ihre Handys. Sie telefonierten oft, natürlich heimlich; das Haus war groß und Josefine fand immer eine Ecke, in der sie alleine war. Sie erzählte ihm dann, wie es in der Schule war und dass sie gerne wieder bei ihm wäre, doch dass es ihr strikt verboten wurde.
Schon wenige Tage später war niemand mehr böse auf Josefine. Trotzdem verstand sie nicht, warum Rocco nicht bei ihr sein durfte, es war so viel Platz im Haus. Er war doch ein Mitglied dieser Familie und außerdem allein. Es wäre schön, wenn er bei ihnen wohnen würde, dann könnte sie mit ihm lernen, wenn ihre Eltern unterwegs waren. Sie konnte nicht verstehen, dass die Erwachsenen die Welt anders sahen. Eine Behinderung, wie sie bei ihrem Onkel vorlag, wurde nicht so einfach akzeptiert. Kinderaugen sahen das anders, weil sie eher mit dem Herzen sahen. Leider dauerte es noch sehr lange, bis sie erwachsen sein würde. Aber ihren Onkel würde sie nicht vergessen. Sie hofft, dass er für immer ihr großer guter Freund blieb.
Fünf Freunde
»Hey Stan, mach auf. Wir sind es, Sebastian und Manuel.«
»Was wollt ihr schon wieder? Wir haben doch erst letzte Woche bei mir gefeiert.«
Sebastian und Manuel stürmten mit Bier und anderen Getränken in sein Zimmer.
»Lass uns den Nachmittag genießen. Es ist so schönes Wetter und wir sind nur einmal jung.
»Hey Jungs, meine Vermieterin schmeißt mich bald raus, wenn das so weitergeht. Jede Woche schlagt ihr hier auf und dann veranstaltet ihr immer einen mächtigen Radau.«
»Keine Sorge, wir sind ganz still. Was heißt hier Radau und wir? Du feierst doch immer mit«, meinte Manuel und dreht die Anlage voll auf.
Stan sprang auf und drehte sie wieder runter. »Leute, das ist mein Ernst. Die Alte schmeißt mich raus und was mache ich dann? Ich will mein Studium schaffen und eine Wohnung so nahe an der Universität finde ich so schnell nicht wieder. Meine Eltern setzen mir schon die Pistole auf die Brust. Ich stehe völlig unter Druck. Lernen müsste ich auch mal wieder, die Zwischenprüfungen stehen bald an und die Medizin fliegt mir nicht so einfach zu. Noch eines: Ich habe absolut keine Lust, wenn das mit meinem Studium scheitern sollte, als Bäcker mein Geld zu verdienen. Mein Alter lauert schon darauf. Es ist nämlich ein anständiges Handwerk.«
»Wir feiern ein bisschen und dann kannst du lernen. Peter und Michael kommen auch gleich. Dann machen wir Party und vergessen den Stress.«
»Ich bin am Arsch. Mrs. Moliar wird mir die Kündigung höchstpersönlich geben und nicht erst die Post bemühen. Die Frau kann einen Orkan zum Erliegen bringen mit ihren Blicken. Was wird dann aus mir? Ich werde dann wohl in meinem Auto campieren und lernen.«
»Es wird schon nicht so schlimm werden. Bei mir können wir nicht feiern. Meine Eltern würden uns rausschmeißen.«
»Ach ja … und wenn ich obdachlos werde, dann ziehe ich bei dir ein, Manuel.«
»Hey, was diskutiert ihr denn schon wieder? Stan, schau mal, Mrs. Moliar hat einen schönen Strauß Blumen bekommen und sie hat sich sehr über deine Geste gefreut.«
Sie standen am Fenster und sahen, wie ein Bote der Vermieterin Blumen übergab.
»Über meine Geste? Du hast in meinem Namen dem alten Drachen Blumen geschickt? Dankeschön.«
»Bitte, gern geschehen. Jetzt wisch die Bedenken weg und freu dich, dass wir freie Bahn haben.«
Stan zog die Stirn kraus und fügte sich der Übermacht seiner Freunde.
Nach einer halben Stunde waren seine Bedenken bereits vergessen; der Alkohol zeigte Wirkung und die Gedanken an Studium und Vermieterin waren weit weg. Die fünf Freunde saßen beieinander, tranken und redeten über die Dinge, die sie im Alkoholrausch schon angestellt hatten. Ihre Anekdoten waren sehr reichhaltig, doch aus den vielen Dummheiten hatten sie noch immer nichts gelernt.
Spät am Abend rauchten sie noch Gras, die Stimmung war ungebrochen gut. Sie fühlten sich stark und ihre Themen waren nun auf der untersten Stufe. Manuel schwärmte von einer vollbusigen Blondine. Sie war verheiratet und er war schon oft bei ihr, wenn ihr Ehemann seiner Arbeit nachging. Er erzählte von den Dingen, die sie gemeinsam taten. Seine Freunde applaudierten ihm anerkennend.
Jeder von ihnen gab eine Sexaffäre zum Besten und sie amüsierten sich prächtig. Michael erzählte gerade von dem sechzehnjährigen Mädchen, das sich unsterblich in ihn verliebt hatte und ihn verfolgte, da bemerkten sie, dass Stan schon eine ganze Weile schweigend dasaß. Er lächelte zwar, wenn die anderen lachten, doch schien er mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
»Hey, was ist los mit dir Junge. Sind wir dir zu langweilig?«
Er sah langsam auf. »Ich denke auch an junge Mädchen … sehr junge Mädchen. Wart ihr schon mal bei einem Kind erregt? Habt euch vorgestellt, mit ihm Dinge zu tun, die man sonst nur mit erwachsenen Frauen macht? Sich so einen kleinen Körper zu eigen zu machen, mit ihm zu spielen und sich so richtig auszulassen? Das muss der reine Wahnsinn sein. In meinen Träumen habe ich es schon getan und es lässt mich nicht mehr los.«
»Du spinnst. Bist du wahnsinnig? Stan, solche Gedanken solltest du ganz schnell vergessen. Im Studium behandeln wir auch solche Verbrechen, die Täter kommen nicht gut dabei weg. Im Knast sind sie auf der untersten Stufe, die haben kein schönes Leben im Vollzug.«
»Jawohl, Herr Richter, oder gehst du doch lieber zur Staatsanwaltschaft nach dem Studium? Es war doch nur eine Frage, ob es euch schon mal so gegangen ist.«
Michael versuchte, die Streithähne zu besänftigen: »Jungs, bleibt ruhig, es lohnt den Aufwand nicht. Du vergisst die kleinen Mädchen, aber schnellstens, und du Peter lass ab, er ist betrunken.«
Mit dem Feiern war es nun vorbei, das Thema hatte die anderen etwas zermürbt und die Stimmung war dahin. Von ihrem Freund enttäuscht machten sie sich nacheinander auf den Weg.
Stan war zu müde, um noch zu lernen. Ihm war es jetzt auch peinlich, dieses Thema angeschnitten zu haben. Aber er konnte doch nichts für diese Gedanken und Gefühle, die ihn immer wieder heimsuchten, fand er.
***
Stan erwartete am nächsten Morgen eine Standpauke von Mrs. Moliar, doch nichts kam. Sie grüßte höflich und wünschte ihm einen guten Tag. Verwundert grüßte er zurück und fuhr zur Uni. Er konnte lernen und fand in den nächsten Tagen auch reichlich Zeit dafür.
Im Krankenhaus arbeitete er zurzeit in der Pathologie. Er hatte eine Frauenleiche auf dem Tisch – wurde vergewaltigt und ermordet. An ihm und seinem Kollegen lag es nun, herauszufinden, woran sie verstarb. Ihr Chef gab ihnen ein Zeitlimit von zwei Tagen: »Die Polizei will Ergebnisse und ihr beiden werdet sie liefern. Also, die Herren, ans Werk.«
Pathologie war nicht Stans Lieblingsfach, viel lieber behandelte er lebende Patienten, aber er und sein Kollege legten sich ins Zeug, nahmen Proben, untersuchten die Organe und werteten die Labordaten aus. Sie diskutierten und verfassten ihr Ergebnisse gemeinsam und schrieben schließlich den Abschlussbericht. Am Abend des zweiten Tages lag dieser auf dem Schreibtisch des Chefs.
Sie mussten gute Arbeit geleistet haben, denn die Leiche wurde freigegeben und der Bericht der Behörde zugestellt. Ein Lob bekam man von diesem Chef nicht, die Ergebnisse las man dann im Notenspiegel.
Nach vier Wochen war Stan mit der Pathologie fertig. Er wurde auf der Neurologie eingesetzt, die Prüfungen rückten immer näher. In einem Jahr wäre er dann Arzt und müsste sich entscheiden, welche Fachrichtung er einschlagen wollte. Im Moment wusste er es noch nicht genau, die Chirurgie würde ihn rasend interessieren, doch es gab viele Bewerber auf eine Stelle.
Sein Vater unterstützte ihn inzwischen sehr, doch er wollte auch, dass sein Sohn in der Stadt blieb, nachdem er erkannt hatte, dass dieser sich im Studium durchbiss. Am Wochenende wollte er mit ihm reden, immerhin war er der Bürgermeister und hatte Einfluss. Die Bäckerei lief auch ohne ihn. Er zeichnet nur noch als Geschäftsführer und es gab nichts, was Daddy nicht für seinen Spross erledigen konnte. Nur lernen musste er und gute Ergebnisse bringen. Bisher hatte Stan seinen Vater nicht enttäuscht.
***
Sebastian und Peter Benton waren Brüder und studierten an der gleichen Fakultät. Sebastian war ein Jahr jünger als sein Bruder und wollte Anwalt werden. Er sollte die Kanzlei seiner Mutter übernehmen, Peter interessierte sich mehr für das Amt eines Richters. Beide studierten Jura und waren auch ohne übermäßige Förderung gut. Sie hatten den Vorteil, dass sie gemeinsam lernen konnten und den Rat ihre Mutter in Anspruch nehmen durften. Ihr Vater war ebenfalls für sie da, sie sollten ihr Handwerk auch können, wenn sie mit dem Studium fertig waren. Benton Senior war wesentlich älter als seine Frau und konnte bei den Jungen nicht mehr so ganz mithalten. Die Eltern hatten sie so erzogen, dass sie die vermittelten Werte bewahrten und eigentlich nicht vom rechten Weg abkamen. Sie sollten ihre Jugend genießen und das Studium dabei nicht vergessen. Bisher hatten die Söhne die Erwartungen voll und ganz erfüllt. Ihre Eltern wussten, dass ihre Söhne gern und viel feierten, doch solange die Zensuren stimmten und sie nichts an der Uni versäumten, ließen sie sie gewähren.
Der Vater war pensionierter Richter und schwer krank, sein Herz machte nicht mehr so mit. Peter und Sebastian liebten ihren Vater sehr, deshalb waren sie sehr bemüht, dass die Familie zusammenhielt. Ihre Mutter wendete schon mal kleine Sorgen von ihrem Mann ab. Der Vater war stolz auf seine beiden Söhne und brachte das oft zum Ausdruck, bei Familienfeiern und auch schon mal bei ehemaligen Kollegen. Es war den Brüdern dann sehr peinlich, wenn ihr Vater sie als Vorzeigestudenten hinstellte. Wenn er gewusst hätte, wie sie sich manches Mal benahmen, hätte er sie nicht so himmelhoch gelobt.
Manuel war der Sohn eines Einwanderers, der es durch seine Tüchtigkeit zu einer eigenen Firma gebracht hatte. Durch intelligente Investitionen hatte es sein Vater zu einem angesehenen Fabrikanten gebracht. Sein Sohn studierte Wirtschaftswesen, damit er das Ganze einmal übernehmen konnte. Er hatte eine einfache aber ordentliche Erziehung genossen. Seine Familie zeigte ihm auch, dass sie mit ihm zufrieden war und er bekam, was er wollte. Nach seiner Ausbildung beim Militär und einigen Kampfeinsätzen als Scharfschütze, kam er mit mehreren Auszeichnungen zurück. Sein Vater war sehr stolz auf seinen Ältesten, da ihn sein jüngster Sohn enttäuscht hatte, als er seiner Familie offenbarte, dass er schwul war und mit einem Mann zusammenlebte.
Nun lag das Hauptaugenmerk auf Manuel. Sein Vater hatte ihn schon protokollarisch als Geschäftsführer eingesetzt, obwohl er noch etwa eineinhalb Jahre Studium vor sich hatte. Er war eben der Kronprinz seiner Eltern. Die Freundschaft zu den Benton-Brüdern fand seine Familie sehr gut. Sie mochten die Jungs, sie gingen schon seit Jahren in Manuels Elternhaus ein und aus und waren immer und jederzeit gern gesehen Gäste. Der Name Benton war in der Stadt bekannt und wer mit dieser Familie verkehrte wurde beachtet.
Michael war der Einzige, der nicht studierte. Er absolviert die Polizeischule und wollte versuchen, im Polizeidienst aufzusteigen. Seit er denken konnte, wollte er Polizist werden. Er war das dritte Kind und wurde von seiner Mutter alleine großgezogen. Seine beiden älteren Geschwister waren schon aus dem Haus und verheiratet. Sie hatten alle einen ordentlichen Beruf gelernt und lagen dem Staat nicht auf der Tasche. Sein Vater war Polizist, aber er war aus dem Polizeidienst entfernt worden, da er bestechlich war. Das Fehlverhalten des Vaters hing der gesamten Familie noch viele Jahre an. Umso verwunderter war Michaels Mutter, als er ihr sagte, dass er Polizist werden wollte.
Michael hatte anfangs auf der Polizeischule in der Ausbildung große Probleme, da die Tat seines Vaters allen bekannt war und er gegen die Vorurteile ankämpfen musste. Nach einiger Zeit hatte er sich aber einen eigenen Namen gemacht und sich den Respekt seiner Kollegen verdient.
Sein Vater ließ damals die Familie im Stich und war aus ihrem Leben komplett verschwunden. Lange Zeit musste die Mutter kämpfen, um das wieder gutzumachen, was der Vater verdorben hatte. Sie erwarb sich auch die Achtung der Mitmenschen und erzog ihre Kinder zu aufrechten Bürgern. Immer hatte sie sehr hart gearbeitet, um sich und ihre drei Kinder durchzubringen. Voller Stolz hatte sie nun zwei Enkelkinder und wartete darauf, dass Michael sie zum dritten Mal zur Großmutter machte. Der ließ sich damit aber noch Zeit.
Sebastian und Peter lebten noch zu Hause und konnten ihre Freunde nicht oft einladen. Ihre Eltern wären entsetzt gewesen von den Partys, die ihre Söhne veranstalten. Bei der letzten wurde der Garten fast zerstört, sie wollten nämlich mitten in der Nacht Fußball spielen und haben, sturzbetrunken, die Blumenbeete mit dem Rasen verwechselt.
Manuel ging es auch so, sein Vater verbot ihm Partys und lockere Mädchen, solange er studierte. Obwohl sein Sohn schon erwachsen war, hatte er noch großen Einfluss auf diesen. Er hätte es gern gesehen, wenn sein Sohn schnell heiraten und ein geregeltes Leben führen würde. Doch Manuel hatte keine Pläne in dieser Hinsicht, jedenfalls nicht im Moment.
Stan und Michael hatten jeder eine eigene Wohnung, deshalb trafen sich die fünf immer gern abwechselnd bei den beiden. Jede Woche feierten sie und fanden, dass das normal sei. Sie kannten sich schon seit den Kindertagen und waren seitdem befreundet. Der Sandkasten war ihr erstes Jagdgebiet. Schon dort hatten sie sich um die Mädchen geprügelt. Sie waren nun Mitte bis Ende zwanzig und hatten bisher immer alles gemeinsam gemacht.
Die fünf jungen Männer waren bereit für das Leben. Sie hatten ihre Abschlüsse bald in der Tasche und freuten sich auf das, was noch kam. Sie blieben in der Stadt, denn nichts und niemand sollte ihre Freundschaft zerstören.
Die Woche über hatten sie kaum Kontakt zueinander, aber an den Wochenenden krachte es mächtig. Ab und zu gingen sie in Klubs und Bars, doch am Monatsende fehlte immer das nötige Kleingeld. Sie trafen sich dann bei Stan oder Michael.