Die seltsamste aller Zahlen - Elaine Feeney - E-Book

Die seltsamste aller Zahlen E-Book

Elaine Feeney

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Beschreibung

Jamie O'Neill liebt die Farbe Rot. Außerdem liebt er hohe Bäume, Muster, Regen, der mit dem Wind kommt, die Krümmung vieler Gegenstände, Bücher mit Schutzumschlägen, Katzen, Flüsse und Edgar Allan Poe. Im Alter von 13 Jahren gibt es zwei Dinge, die er sich im Leben besonders wünscht: den Bau einer Perpetuum Mobile-Maschine und die Verbindung zu seiner Mutter Noelle, die starb, als er geboren wurde. In seiner Vorstellung sind diese Dinge eng miteinander verbunden. Und an seiner neuen Schule, wo alles verwirrend und überwältigend ist, findet er zwei Menschen, die ihm vielleicht helfen können. »Die seltsamste aller Zahlen« ist die Geschichte eines Jungen und seiner Mission, die das Leben seiner Lehrer, Tess und Tadhg, verändert und eine Gemeinschaft zusammenführt. Mit Zärtlichkeit und Verve geschrieben, geht es um Liebe, Familie und Verbundenheit, die Kraft der Fantasie und darum, dass wir unsere größten Abenteuer nie allein erleben.

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Seitenzahl: 365

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Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem TitelHow to Build a Boat bei Harvill Secker, einem Imprint von Vintage.

Vintage ist ein Teil der Penguin Random House Group, London.

Die Arbeit der Übersetzerin am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert.

Dieser Roman wurde mit Unterstützung von

Literature Ireland veröffentlicht.

Poe, Edgar Allan: Der Rabe. Gedichte und Essays, übersetzt von Arno Schmidt, Hans Wollschläger, Friedrich Polacovics und Ursula Wernicke, Zürich, Haffmanns, 1994.

© Elaine Feeney

Deutsche Erstausgabe

© 2024 für die deutschsprachige Ausgabe

HarperCollins in der

Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Covergestaltung von buxdesign, München | Ruth Botzenhardt

Coverabbildung von Angelo Cerantola / Arcangel

E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783749907694

www.harpercollins.de

MOTTO

Manchmal befinde ich mich in einem endlosen Wald und weiß nicht, wohin ich unterwegs bin. Doch dann erreiche ich irgendwie einen Hügel, von wo ich alles viel klarer sehen kann. Und das ist dann ziemlich aufregend.

Maryam Mirzakhani

PROLOG

Jamie sagte: Wenn ich erwachsen bin, werde ich so groß sein wie diese Bäume, und dann krabbelte er schnell wie ein Salamander den Stamm hinauf. Er war schon beim ersten Ast, als Eoin sagte: Whoa, Jamie, Vorsicht, und den Jungen wieder herunterhob.

Eoin, sagte Jamie, wusstest du, dass man aus Baumharz Pfeilspitzen macht, die sind so hart dass sie dich direkt durchbohren?

Nein, das wusste ich nicht, sagte Eoin.

Jamie nickte heftig, zog dann seine feuchte Nase am Ärmel seines roten Anoraks entlang und sagte: Wusstest du, dass Bäume sich in alles verwandeln können?

Hohe Bäume liebte Jamie derzeit besonders: Die Gemeine Kiefer wuchs schnell, überdauerte Jahrhunderte und bot roten Eichhörnchen ein Zuhause. Jamie liebte die Farbe Rot. Außerdem liebte er Muster, Bücher mit Schutzumschlägen, Katzen, Regen mit Wind, die Krümmung von Objekten, Edgar Allan Poe und Flüsse.

Jamie hasste sonnige Tage, aber der rote Himmel, der sich heute hinter den Bäumen abzeichnete, war ein guter Vorbote für einen drohenden Schauer. Er mochte es, wenn ihm der Regen ins Gesicht schlug und langsam in die Kleidungsschichten eindrang, bis alles nass und schwer an ihm hing. Der Winter war Jamies Lieblingsjahreszeit, November sein Lieblingsmonat, denn der November war berechenbar: Nichts geschah, außer dass sich eine schwere Dunkelheit wie eine Gewichtsdecke über den Ort legte, und der Schlagregen war absolut gnadenlos. Der Winter war kahl und unbeschwert, die Blätter verschwanden von den riesigen Eichen, und der Fluss Brú, ein unspektakulärer Fluss, der an grauen Tagen grau dahinfloss und an sonnigen blau, wurde an Nebeltagen so weiß, dass man das gegenüberliegende Ufer nicht mehr sehen konnte, nur noch endlosen, unwirtlichen Raum.

Der weiße Nebel begeisterte Jamie, denn so mussten unendlich viele Gespenster aussehen

(dabei glaubte er nicht an Gespenster)

Unendlichkeit begeisterte ihn (an Unendlichkeit glaubte er) und grausame Dinge erfüllten ihn mit Grauen, ließen Warnungen in den Windungen seines so geschäftigen Gehirns aufblitzen.

Schon bald kamen Jamie und Eoin an dem steinernen Kragbogen des Eishauses vorbei. Das gewölbte Erddach war von Grasbüscheln und Vogelknöterich überwuchert. Hier schlug die Biegung des Flusses eine Schneise in den Himmel, bis hierher kam Jamie gerne, weil es nicht mehr weit war bis zur Mündung. Und obwohl er noch nie in einem Boot gesessen und die Energie des Wassers unter sich gespürt hatte, wollte er plötzlich nichts sehnlicher.

Sie beobachteten einen Mann, der in einem Currach, einem Fellboot, vorbeifuhr und ihnen zuwinkte. Jamie überlegte, ob das Boot eher einer schwarzen Schnecke oder einem kopfstehenden Seeungeheuer ähnelte. Er beschloss, dass es dem Piratenhut am nächsten kam, den er letztes Jahr zur Feier von Terrys sechstem Geburtstag hatte tragen müssen, kurz nachdem Terry nach Emory gezogen war. Das dünne Gummi des Huts hatte Jamie in die Haut unterm Kinn gezwickt, bis es dort brannte. Er war schreiend in den Garten gerannt und hatte sich schweigend in die hinterste Ecke gekauert, wo er den rumpelnden Betonmischern nachsah, die zu neuen Grundstücken rollten, bis Eoin zu seiner Rettung kam. Zu seiner und zur Rettung der Geburtstagsfeier. Terrys Mam hatte gesagt: Es tut mir so leid, und verzweifelt versucht, Jamie zu umarmen, sein Gesicht fest an sich gepresst.

Er fuhr auf dem Absatz seiner Gummistiefel herum und sagte: Können wir morgen wiederkommen und im Fluss baden, Eoin? Wenn wir weit rausschwimmen, sagte er und fuchtelte mit den Armen, schaffen wir es vielleicht bis nach Amerika. Ich ziehe auch Schwimmflügel an … Dann packte er Eoin plötzlich bei der hinteren Jeanstasche: Pass auf, Eoin, deine Schnürsenkel sind offen, und dachte sofort an die Kinder in der Schule, die sagten, deine Senkel sind auf, dabei hieß es doch offen.

Danke, sagte Eoin, und jetzt pssst, sonst weckst du den Fluss, dann legte er sich den Zeigefinger an die Lippen und spürte eine plötzliche Enge in der Brust. Er machte seine Jacke auf und ging in die Knie, um sich den Schuh zuzubinden.

Jamie sagte: Flüsse schlafen nicht, der Fluss Brú jedenfalls nicht, und dann schürzte er die Lippen und wiederholte Brú. Er mochte, wie das Wort vibrierte. Er tritt manchmal über die Ufer, wusstest du das? Meine Lehrerin hat gesagt, dann richtet er beträchtlichen Schaden an. Und wusstest du, dass Brú vernichten bedeutet?, sagte Jamie und schlug die Handballen zusammen. Wusstest du das? Meine Lehrerin hat gesagt, dass es das bedeutet, und dass das gut ist, weil Flüsse wichtig sind, aber auch ziemlich schlimm sein können, denn wenn sie stark sind, er rieb seine Nase noch mal über den Ärmel, vernichten sie Fische und Felsen und Schiffe, und das ist nicht gut, gar nicht gut, wenn alle und alles verschlungen wird. Er betrachtete den Fluss und sagte: Oder vernichtet.

Eoin war abgelenkt von dem Druck auf seiner Brust.

Ich habe Brú im irischenglischenglischirischen Wörterbuch nachgeschlagen, und es bedeutet außerdem Herberge, sagte Jamie, blieb abrupt stehen und rupfte sich an den Wimpern, die ihm ins Auge stachen. Wir waren noch nie in einer Herberge, Eoin.

Jamie hielt Eoin jederzeit lange Vorträge zu jedem beliebigen Thema, aber für ein so mitteilsames Kind zeigte er, so seine Lehrerin, wenig Interesse daran, sich über einen längeren Zeitraum inmitten Gleichaltriger aufzuhalten. Sie sagte außerdem, wenn Jamie etwas mitzuteilen hatte, sei es ihm wichtig, dass er sofort, in diesem Moment, und sehr schnell sprach. Obwohl Eoin argumentierte, alle Kinder würden sich so verhalten, wurden monatliche Ziele gesetzt: Zuhören. Sprechaufforderung abwarten. Beziehungen zu Mitschülern aufbauen und aufrechterhalten. Allerdings war Jamie oft von etwas gefesselt und überwältigt, und in seinem Leben gab es so einige Ereignisse, die zwar schön und spontan waren, aber auch einfach sehr fordernd.

Eoin sagte: Wir waren nie in einer Herberge, weil dort viele Leute auf kleinstem Raum zusammengepfercht sind. Das würde dir nicht gefallen.

Wie kannst du das wissen, wenn ich doch nie in einer war?, antwortete Jamie.

Gute Frage. Ich war mal in einer, sagte Eoin. Und sie sind normalerweise brechend voll.

Ist das wie früher, als du klein warst und mit vielen anderen Jungen zusammen im Internat?

Ja, sagte Eoin, genau wie in den Schlafsälen im Internat. Viel zu laut für einen eifrigen Jungen wie dich, der seinen Schlaf braucht. Außerdem zeltest du doch so gern? Wie wäre es, wenn wir morgen ins Schwimmbad gehen?

Aber obwohl er Regen liebte, hasste Jamie das Wasser im öffentlichen Schwimmbad.

Als Jamie mit drei das Sprechen anfing, nachdem er bis dahin fast keinen Laut von sich gegeben hatte, redete er in ganzen, komplizierten Sätzen und zitierte fast nur Gedichte, überwiegend die von Edgar Allan Poe. Er hatte Poe in der Bücherei gefunden, angezogen von dem Vogel auf dem blutroten Cover. Jamie liebte die Bücherei, das Summen der Leuchtröhren, den roten Teppich, das gelbe Plastikmobiliar. Es war warm und roch nach Füßen. Er verschlang Bücher, weshalb seine Großmutter Marie jede Woche mit ihm in die Bücherei ging und danach noch auf einen Tee ins Hotel am Square, wo es Kekse gab, die in Plastikfolie mit Schottenkaro eingeschweißt waren. Marie griff lieber zu Büchern mit Frauen vorne drauf, und manchmal waren Männer dabei, die Krawatten über den ansonsten hemdlosen Oberkörpern trugen, und Jamie verstand nicht, wie sie in einer Woche so viel lesen und trotzdem noch jedes Haus in Emory putzen konnte. Auf dem Nachhauseweg sang er mitunter: Ob ein Sturm Dich ließ hierher, trostlos, doch ganz ohne Bangen, in dies öde Land gelangen, in dies Haus von Graun umfangen – bis Marie Poe verbannte.

Am Tag von Jamies Geburt eilte Marie ins Christ’s College, um ihrem Sohn mitzuteilen, dass bei seiner Freundin vorzeitige Wehen eingesetzt hatten. Es war ungewöhnlich sonnig für Februar, und Eoin langweilte sich in der letzten Lateinstunde vor der Abschlussklausur. Das ganze Frühjahr schon hörte er aus allen Richtungen: Oh, du machst ja bald deinen Abschluss.

Was sich für Noelle Doyle und Eoin O’Neill als unwahr erweisen sollte.

Auf Wunsch der Schulleitung, die darauf pochte, dass schwangere Schülerinnen nicht am Unterricht teilnahmen, um keine falschen Signale zu senden, hatte Noelle ihre Abschlussprüfungen verschieben müssen. Ihre vielversprechende Schwimmkarriere musste ebenso pausieren.

Als Marie gegen die Tür des Klassenzimmers trommelte, nahm Eoin die Beine in die Hand, ließ aber seine Schultasche und seine Brotdose mit Hähnchensandwiches stehen. Er kehrte nicht zurück. Denn in der Hektik nach der Geburt stieg Noelle Doyles Blutdruck. Maschinen piepsten, und das Baby, eingewickelt wie eine warme Schweineschulter, wurde Eoin in die Hände gedrückt und Noelle auf die Intensivstation gebracht, wo sie fünfundfünfzig Minuten später, umgeben von ihrer großen Familie, starb. Blind vor Wut stürmte ihre Familie zur Tür heraus und schrie Eoin an, der das Baby fest an sich presste. Eine von Noelles Schwestern, die mit den Korkenzieherlocken, spuckte ihn an und stürzte sich dann mit einer Mischung aus Faustschlag und Umarmung auf ihn, ein nicht unüblicher Ausdruck der Trauer, bis Wachleute die beiden trennten, und er hielt noch immer das Baby, als sie alle ohne einen Blick zurück das Krankenhaus verließen und ihnen so entging, dass Jamie O’Neill unter der winzigen Mütze eine Menge rostbraunes Haar und eine gerunzelte Stirn hatte, genau wie seine Mutter.

An einem Silvesterabend saß Eoin bei Jamie auf dem Sofa. Er schaltete den Fernseher auf stumm und schaute sich ein kurzes Video von Noelle bei einem Schwimmwettbewerb an. Es hatte Hunderte kurzer Videos gegeben. Noelle lachend nach der Schule. Noelle im Wald. Noelle bis auf die Knochen durchnässt bei einem Picknick. Noelle vorm Kino, wie sie Grimassen schnitt. Noelle an Halloween, geschminkt wie ein Dalmatiner mit einer schwarz-weißen Perücke. Aber nach einem seltenen Männerabend mit dem Fußballklub hatte Eoin wütend und einsam und betrunken in seinem kleinen, dunklen Wohnzimmer alle Daten von seinem Handy gelöscht. Danach hatte er das Handy auf den Laminatboden des kleinen Reihenhauses gelegt und mit der Hacke darauf getreten. Danach hatte er sich übergeben. Danach war er eingeschlafen, und als er am nächsten Morgen wieder zu sich kam, rastlos auf und ab gegangen völlig verzweifelt, mit trockenem Mund und dröhnenden Kopfschmerzen, außerdem schweißnass und überwältigt von dem drängenden Wunsch zu verschwinden. Doch dann war Jamie aufgewacht, nach unten gekommen und hatte angefangen, so viele Fragen zu stellen, dass Eoin nichts anderes übrig blieb, als sich zusammenzureißen und sich um die Belange eines kleinen Jungen zu kümmern. In den Folgejahren spielte Eoin jedes gelöschte Video Abend für Abend in Gedanken ab, bevor er verdrossen einschlief, bis die Clips so verschwommen und blass waren, dass Eoin Noelles Gesicht nicht mehr ausmachen konnte, und obwohl er versuchte, es (neu) zusammenzusetzen:

Lächeln, rotes Haar, Augen, sommersprossige Nase, breite Schultern verschwanden immer mehr Teile von ihr, bis es schlussendlich unmöglich war, sie zu einem Ganzen zu fügen.

Das Video von dem Schwimmwettbewerb hatte nur überdauert, weil es auf der Webseite der Schule hochgeladen worden war.

Jamie, dem die Veränderung auf dem Gesicht seines Vaters nicht entgangen war, griff zu dessen Handy, um sich selbst ein Bild zu machen. Und so begegnete er, während 2013 anbrach, das Jahr, in dem er sieben werden würde, zum ersten Mal seiner Mutter, den ganzen zwei Minuten und acht Sekunden, die von ihr noch existierten.

Noelle wärmt sich am Beckenrand auf, lässt die Arme kreisen und dehnt die Schultern nach hinten, setzt sich die dunkle Schwimmbrille auf das breite Gesicht, verstaut das Haar unter der roten Badekappe, zieht sich den roten Badeanzug von den Beinen, zieht sich erneut den roten Badeanzug von den Beinen, hüpft dreimal auf den Fußballen und schleudert schließlich den Kopf von rechts nach links. Die Zuschauertribüne ist bis unters Dach gefüllt, überwiegend von Menschen in Schuluniform, die Noelles Namen brüllen, als hinge ihr Leben an diesem einen kurzen, bizarren Moment, und dann springt sie ins Wasser und bewegt sich so schnell wie ein Roter Admiral am Sommerhimmel.

Jamie schaut es sich jeden Tag an, und kurz bevor es endet, gerade, als sie die Faust in die Luft reckt, stoppt er das Video, dann startet er es wieder, und sie dreht sich zu Jamie und lächelt.

Eoin sagte: Lauf vorsichtig, Jamie, nicht zu schnell.

Die Kindheit des Jungen hatte Eoin verwirrt. Seine eigenen Erfahrungen jener Zeit boten nur eine grobe Blaupause, weshalb Marie schon bald auch für ihn Bücher aus der Bücherei mitbrachte, aber nichts fühlte sich richtig an. Das einzige Buch, das einigermaßen sinnvoll erschien, war Liebe und Eigenständigkeit von Alfie Kohn. Schon die Zusammenfassung war ansprechend: Sie sind Vater oder Mutter, arrangieren Sie sich damit, lieben Sie bedingungslos. Kein Sternchensystem. Keine unsinnigen Belohnungen. Die hohen Bäume schienen sich um ihn zu schließen, und Eoin hatte das plötzliche Bedürfnis, den Wald zu verlassen, weil sich ihm Gedanken über drohende Katastrophen aufdrängten – wie es seine Gewohnheit war, weshalb er sich besonders große Mühe gab, Jamie vom Unglück abzuschirmen, wodurch er ihn unglücklicherweise automatisch von der ganzen Welt abschirmte.

Sie folgten dem vergilbenden Weg

schneller jetzt

der Junge hüpfte voraus und umarmte sehr fest einen Baum, was Eoin Gelegenheit gab, wieder zu Atem zu kommen.

Jamie sagte: Eoin, im Durchschnitt brechen sich Jungen weniger Knochen, als du meinst.

Ich bezweifle, dass das eine belastbare, statistische Aussage ist, Jamie, erwiderte Eoin. Lassen wir es also lieber nicht darauf ankommen.

Ich bezweifle die Aussagekraft von Statistiken per se, sagte Jamie.

Per se?

Ja, Latein, an und für sich, eigentlich, nicht diese Fakten per se sind wichtig. Aber es könnte ja schön sein, auf einen Baum zu klettern und sich einen Überblick über Emory zu verschaffen, schließlich ist es ein Mysterium, was du sonst immer sagst …

Was denn?, fragte Eoin.

Die Jungen verlieren ihr Leben auf sonderbare und unvorhersehbare Art und Weise.

Eoin sagte: Wieder so ein Spruch. Aber zumindest etwas zutreffender.

Jamie suchte in Eoins Gesicht nach Hinweisen. Dies war ein abschließender Satz. Das hatte er früh über die Menschen gelernt: Manchmal hörten sie einfach auf zu sprechen.

Schon bald war Jamie groß und genauso dreieckig geworden wie seine Mutter, mit ungewöhnlich breiten Schultern für einen so jungen Teenager. Ihm war nicht mehr danach, in den Fluss zu springen oder auf Bäume zu klettern. Sein Verstand wollte andere Orte entdecken. Sie gingen nicht mehr so häufig in den Wald, weil es immer schwieriger wurde, Jamie von den Bildschirmen oder dem großen Whiteboard in seinem Zimmer loszueisen, wo er die Zusammenhänge zwischen den vielen Dingen ausarbeitete, die der Tag ihm präsentiert hatte, sei es nun Erfreuliches oder Problematisches.

Eine gemeinsame Angewohnheit, die sich zur Sucht mauserte, blieb jedoch – Filme bis spät in die Nacht schauen. Und in den Nächten, in denen Eoin einschläft, hebt Jamie den Arm seines Vaters an, entkommt so seiner Umklammerung und breitet dann eine alte Decke über ihn, bevor er nach oben ins Bett schleicht.

1

Jamies Schuluniform hing an seiner Zimmertür, und an der Plastikhülle war ein kleiner Zettel befestigt, auf dem stand: Zur Abholung: Jamie O’Neill. Kostenlos. Viel Glück, Jamie x

Jedes seiner Kleidungsstücke wurde vor dem ersten Tragen gewaschen.

Unterhemd. Unterhose. Rot. Gut. Socken. Rot. Erste Socke. Zweite. Dr. Seuss. Katze. Hut. Ringelstrumpfhose. Moment. Erst mal Maryam Mirzakhani anstellen. Moment. Nachdenken … Erst mal nachdenken, Jamie … Wenn du aufdrehst, lach erst mal über dich selbst, weil du »aufdrehst« für dich verwendest, als wärst du ein Gerät. Hör doch, wie es klingt. Aufdrehen, aufsehen, aufstehen. Cool, reimt sich. Gut. Lieblingsfarbe? Rot. Aber Katzen auch. Die Fellfarben von denen. Alle. Auch die orangenen. Die haarlosen. Hose. Gut. Gut. Schöne Bügelfalte. Gut. Gürtel. Eng. Enger. Neues Loch, nicht so gut. Eoin hat darauf bestanden, es mit der Gabel zu machen. Verzweiflungslevel mit Eoin: Zehn. Atmen. Hemd. Weiß. Gut. Krawatte. Rot. Furchtbar. Ich hasse Grünes Ei mit Speck … Speck … Ich hasse es. Mach dein Bett. Ich HASSE es … Steh auf. Schau in den Himmel. Steh auf, stell die Füße auf den Boden, wie Eoin immer sagt. Tagesrhythmus. Erde dich. Gut. Steh auf. Beinhaare. Zähle sie. Mach das zuerst, erde dich. Körper im Raum. Sing nicht. Oh, sing doch. Steh schon auf. Alles muss durch zwei teilbar sein. Alles. Oder durch drei. Muss eine gerade Zahl sein oder eine Drei. Guter Mann. Zieh nicht die roten Socken an, brich nicht gleich am ersten Tag die Schulordnung. Ach, könnte ich … könnte ich … könnte ich mich doch nur beim Management beschweren, dort sagen, dass ich nicht zur Schule will … Wo ist denn der Sinn?

Jamie ging den Tag in Gedanken durch, und während die Regengeräusche aus der Sensorikmaschine, die Eoin bei Argos für ihn gekauft hatte, sein Zimmer erfüllten, während die Wände sich erst rosa und dann immer roter färbten und ihm das Gefühl gaben, in einer Lavalampe zu schweben,

wünschte er, der Tag

ein Montag

sogar ein gerades Datum

sechsundzwanzig

jedoch in einem Jahr mit ungerader Zahl

neunzehn

und mit einem ungeraden Alter, vielleicht dem ungeradesten und schicksalsträchtigsten Alter aller

dreizehn

wünschte er,

der Tag verliefe nach Plan.

Weil er um drei Uhr nachmittags geboren wurde, war drei seine Glückszahl, weshalb er dreimal Guten Morgen flüsterte, sich dann streckte und die Hand am Bein entlanggleiten ließ, um die Haare zu zählen, die dazugekommen waren: Fünf. Sechs. Sieben. Sieben.

Eine ungerade Zahl war kein Grund zum Feiern (außer es handelte sich um eine Drei)

also

tastete er sich an einer warmen, violetten Vene entlang, nahm eins der Haare zwischen Daumen und Zeigefinger und riss es sich aus dem Körper – einem Körper, der gefährlich war wie ein Vulkan, wie der Kīlauea in Hawaii, ein Körper, der ausbrach. Er stand auf, kletterte die Leiter hinunter, die Arme hinter sich gestreckt wie ein Turner kurz vorm Abschwung. Dann ließ er die Hand über die Bücher gleiten, die säuberlich auf dem unteren Bett gestapelt lagen.

Als er frisch in die Grundschule gekommen war, bekam er eine Menge Geburtstagseinladungen – dank höflich im Hintergrund agierender Eltern, doch schnell bewegte sich die Zahl nur noch im einstelligen Bereich. Im zweiten Schuljahr brachte er gar keine farbenfrohen Einladungen mit Affen oder Clowns und geschwungener Schrift in variierender Farbgebung mehr mit, abgesehen von der des Neuzugangs Terry – und die sollte sich nur als weiteres Desaster entpuppen. Etwa zu diesem Zeitpunkt wurde die untere Etage von Jamies Etagenbett, einst für potenzielle Übernachtungsgäste gedacht, zu Jamies Bibliothek Bedeutender Bücher herabgesetzt / aufgewertet. Die Bücher lagen wie Schildkröten auf der nicht bezogenen Matratze, auf den makellosen Schutzumschlägen klebten sorgfältig geschriebene Zettel: Datum und Ort der Veröffentlichung. Datum des Lesebeginns. Datum des Leseendes, erste Reaktion, und das Wichtigste – Jamie O’Neills Sternebewertungssystem.

Das Sternebewertungssystem war gnadenlos, und von allen ausliegenden Büchern hat nur eins fünf handgezeichnete Jamie-O’Neill-Sterne bekommen: Sämtliche Erzählungen und Gedichte von Edgar Allan Poe.

Von seinem Fenster aus begutachtete er den Morgenhimmel über den identischen Dächern. Maries Wagen stand nicht mehr vorm Nachbarhaus, und Jamie starrte in den rot glühenden Himmel;

Schlechtwetterbot.

Schlechtwetterbot.

Abendrot

Gutwetterbot.

Jamie schaltete den Computer ein, setzte sich im Schlafanzug davor und zupfte sich die verbliebenen Haare vom warmen Bein. Beinhaare verwirrten ihn. Augenbrauen fingen Schweißtropfen auf, und Marie hatte ihm erklärt, dass Schamhaare vor Infektionen schützten, aber wieso ihm Beinhaare wuchsen, wollte ihm nicht einleuchten. Sie waren ein ähnliches Ärgernis wie die Haare auf seiner Oberlippe.

Maryam Mirzakhanis Vorlesung Dynamics Moduli Spaces of Curves öffnete sich auf YouTube. Da war sie schon, lächelnd. Diese Kreide ist super, sagte sie, und Jamie erwiderte das Lächeln der Frau mit den kurzen Haaren und dem grünen Pullover, bei der er sich sicher fühlte, wenn sie an die Tafel schrieb und so inspiriert vom Fluss definierter Bündel sprach, während sie wunderschöne Formen zeichnete. Sie war die erste Frau, die je die Fields-Medaille bekommen hatte, eine Mathematikerin, die Schriftstellerin sein wollte und die, wenn sie arbeitete, so sagte ihre Tochter, aussah, als würde sie malen.

Am Whiteboard in Jamies Zimmer befanden sich Listen und ausführliche Zeichnungen von Bäumen und Bienen, außerdem Räder in den wildesten Formen, alle mit Schwarz schattiert, das den Namen »Quecksilber« trug … und eine winzig geschriebene Liste über Folgendes:

Perpetuum mobile – Designentwürfe (im Ordner unterm Tisch), Baupläne (noch zu vervollständigen). Möglicherweise zurückzustufen auf Fortbewegungsmittel, das einer äußeren Initialeinwirkung bedarf, um sich in Bewegung zu setzen

Riemannsche Flächen

Noelle schwimmt: kinetische Energie erzeugt durch Schwimmer*in??

Billardtische: Nie endende Bewegung der Kugeln. (Taschen meiden? Taschen verstopfen. Tisch ohne Taschen entwerfen?)

Unterschiedliche Rottöne – Jamierot (in Anlehnung an Yves Kleins Blau und Vantablack)

Shakespearesche Schimpfwörter (Liste täglich ergänzen)

Tannenzapfen als Indikatoren für Regen (mehr auf die Fensterbank legen. Marie welche geben)

Gallwespen und Gemeine Eichengallwespen

Pubertät und Vulkane und Haare

Dreidimensionale Puzzle (als Nächstes: Eiffelturm)

Wohin geht die Energie eines toten Menschen? Energie nachbilden …

Fußnote:

Farben und die Originalität von Farbentwicklung umfasst, ist aber nicht beschränkt auf, die Schnittmenge zwischen Kunst, Design, Wissenschaft, Natur und Physik

Im Nebenzimmer war Eoin rastlos nach einer Nacht, in der er sich so lange im Bett gewälzt hatte, bis das Laken sich gelöst hatte und zu Boden gerutscht war. Die kratzigen Fasern der nackten Matratze hatten seine Haut gereizt. Wie oft er in der Nacht zum Handy gegriffen und es wieder weggelegt hatte, ließ sich unmöglich nachvollziehen, dabei war er so gut geworden im Mitzählen: Sein ganzes Leben bestand mittlerweile nur noch aus Messwerten und Zeitabschnitten. Und obwohl er sich längst an eine gewisse Sonntagnachtitis gewöhnt hatte, war dies doch etwas anderes. Jamie kam auf die weiterführende Schule, und in Eoins Kopf drehten sich Erinnerungen an den Jungen in den unterschiedlichsten Lebensphasen. Stundenlang versuchte er, sich an den Tag zu erinnern, an dem Jamie den ersten Zahn verloren oder den ersten Schritt getan hatte. Er dachte an die Tage, an denen der Junge nicht aufhören wollte zu plappern, und die vielen Male, als er selbst nicht zugehört hatte oder gereizt gewesen war. Dieses Bedauern, gepaart mit der wachsenden Aufregung, hatte ihn wachgehalten, bis er sich auf eine Erinnerung an Jamie festlegen konnte, als dieser an einem Juniabend draußen im Garten gesessen, eine Kette aus Gänseblümchen gemacht und dann einer Streunerkatze um den dürren Hals gehängt hatte.

Jamie! Mein Junge … Alles okay?, fragte Eoin und steckte den Kopf ins Zimmer seines Sohnes. Hab gehört, dass sich hier was regt. Wieso bist du schon wach?

Der graue Stoff der Schuluniform knäulte sich am Boden. Der übergroße Blazer mit dem Schulmotto gehörte in eine andere Zeit. Eoin wollte ihn zurückbringen, sagen, dass es sich um ein Missverständnis handelte. Er zog die Nadel aus der Plastikhülle und nahm den Zettel ab.

Jamie sagte: Ja, Eoin, alles okay.

Großer Tag, was?, sagte Eoin und faltete den pinken Zettel von der Wäscherei in der Mitte. Er bereute seine Worte. Das Schlimmste passierte, wenn sich Druck aufbaute. Geburtstage, Weihnachten, ein Ausflug – alles, was mit einem Countdown einherging.

Eoin?, sagte Jamie.

Ja?

Ich habe über den Schulweg nachgedacht.

Sollen wir den Wagen nehmen?, sagte Eoin. Können wir.

Nein, sagte Jamie, aber die Straßen gehen mir durch den Kopf, und Marie ist schon unterwegs zum Putzen.

Wolltest du dich von ihr verabschieden?

Nein, sie hat gestern Viel Glück, Jamie gesagt … Jamie erstarrte.

Eoin rieb sich erneut die Augen. Du kommst schon klar, versprochen.

Das kannst du nicht versprechen, Eoin.

Vielleicht sollen wir doch einfach den Wagen nehmen? Ich kann dich absetzen.

Nein, sagte Jamie.

Na gut, sagte Eoin.

Eoin?

Ja?

Ich bin froh, dass keine Mädchen an der Schule sind.

Eoin lachte und sagte: Diese Aussage wirst du noch bereuen.

Werde ich nicht, sagte Jamie.

Was guckst du da?, sagte Eoin.

Ich will herausfinden, ob Mirzakhani mir helfen kann, die Gesetze der Oberflächengeodynamik auf meine Maschine zu übertragen und meine Maschine zu bauen und –

Ich dachte, du wolltest damit aufhören, sagte Eoin.

Nein, du wolltest, dass ich damit aufhöre. Wenn ich es schaffe, dieselbe Geschwindigkeit im Schwimmbad zu erreichen, mit der Noelle … unterwegs war … dann kann ich versuchen, ihren Energieausstoß zu replizieren. Oder wenn es mir gelingt, eine Maschine zu bauen, die sich ununterbrochen mit derselben Geschwindigkeit bewegt, dann kann ich vielleicht …

Dann kannst du vielleicht was?

Jamie unterbrach sich erneut, packte sich selbst an den Kopf und umklammerte fest ein Haarbüschel. Eoin löste die Hand von seinem Haar und malte mit dem Zeigefinger einen Kreis auf die Handfläche des Jungen. Sie kommt nicht zurück, Jamie. Weder Mathe noch Maschinen werden daran je etwas ändern.

Jamie riss seine Hand weg, hämmerte auf die Leertaste, und sofort bewegte sich Mirzakhani wieder und malte eine Art Lotusblüte. Dann lächelte sie. Jamie stoppte das Video erneut und brüllte: Natürlich kommt sie nicht zurück, Eoin. Ich bin doch nicht dumm. Das ist nicht irrational.

Ich weiß, dass das nicht irrational ist, ich möchte bloß nicht, dass du dir Hoffnungen machst.

Hoffnungen?, sagte Jamie.

Was immer du dir machst, mit dem Perpetuum mobile, deiner Mam. Energie. Eoin gähnte und drückte den kleinen Ball, zu dem er den Wäschereizettel zusammengepresst hatte.

Jamie schlug ein drittes Mal auf die Leertaste, und Mirzakhani sprach weiter.

Gut, mach ruhig weiter so, aber Jamie, verdammt noch mal, du wirst sie nicht kennenlernen. Das Blut sackte Eoin in die Beine, das Zimmer fing an, sich zu drehen. Ich weiß, dass sie dir fehlt, sagte er dann, sanfter.

Wie soll mir jemand fehlen, den ich nie kennengelernt habe?, sagte Jamie.

Die Trauer unterschied sich für diese beiden Menschen so grundlegend. In dem einen wütete eine erbitterte Wut, von der er sich nie hatte erholen können, der andere spürte, dass etwas fehlte, dass da ein Vakuum war, an dessen Stelle eine Mutter hätte sein sollen, und er war wild entschlossen, es zu füllen.

Eoin wechselte das Thema. Jamie, ein Perpetuum mobile widerspricht dem ersten und zweiten Gesetz der Thermodynamik.

Da bin ich deiner Meinung. Aber es ist möglich, eine Maschine zu bauen, die nie stoppt. Auch wenn es wahrscheinlich unwahrscheinlich ist, eine zu bauen, die ohne jegliche weitere Energiezufuhr auskommt.

Eoin entspannte sich. Dies war das erste Mal, dass Jamie dieses Zugeständnis machte.

Aber vielleicht eben durch atmosphärischen Druck. Oder eine natürliche Energiequelle? Jamie kratzte an einem Stich auf seinem Handrücken. Er fing an zu bluten.

Vielleicht, aber heute geht es darum, Freunde zu finden, und du hast schon genug um die Ohren.

Nein und ja, sagte Jamie ausdruckslos.

Eoin erwiderte: Du weißt, dass Energie nicht erzeugt oder vernichtet werden kann, nur umgewandelt. Ein Perpetuum mobile müsste ohne energetischen Input laufen. Ich will einfach nicht, dass du dir zu große Hoffnungen machst.

Ja, Eoin, und ein isoliertes System steuert geradewegs ins Chaos. Ich mache mir nie Hoffnungen.

Jamie verstand das doch. Er wollte es bloß nicht verstehen. Noelle hatte nicht aufgehört, sich fortzubewegen, seit er sie auf dem Bildschirm angetroffen hatte. Sie befand sich in permanenter, wenn auch eingeschränkter Bewegung.

Ich lass dich mal allein, sagte Eoin und schloss behutsam die Tür zum Zimmer seines Sohnes. Hab dich lieb.

Jamie sagte: Ja. Ja, hast du.

Jamie wandte sich wieder seinem Computer zu. Er war wie gebannt von den weißen Kreidekreisen, durch die Mirzakhani gerade Linien zog. Sie hatte brillante gemeingültige Muster in Dingen entdeckt, die Jamie aufregend fand, und ihn tröstete die Vorstellung, dass dynamische Systeme genauso willkürlich funktionierten wie das menschliche Herz, das mal schlug und mal nicht. Doch für den Moment entzog sich dem Jungen das Verständnis, wie die Theorien praktisch angewandt und wie sie für sein Mobile genutzt werden könnten.

An diesem beliebigen Montag, wenige Augenblicke vor seinem ersten Tag an der weiterführenden Schule,

weiß Jamie O’Neill:

dass die Zahl der Leberenzyme seiner Mutter anstieg und ein komplexes System in ihrem jungen Körper in den so kostbaren und verheerenden Minuten überhitzte, nachdem sie ihn auf die Welt gebracht hatte – was erst nach Einsetzen der Wehen durch Proteinurie festgestellt wurde

und das weiß er aufgrund eigener Recherchen –

dass ihr Urin einen hohen Proteingehalt aufgewiesen haben musste. Möglicherweise hatte sie auch eine niedrige Thrombozytenzahl gehabt. Und schlimme Schmerzen.

Dass ihr deshalb wahrscheinlich Infusionen gegeben wurden, und zwar mit Labetalol und Magnesiumsulfat (MgSo4)

um ihren Blutdruck zu senken

doch da versagten ihre Organe schon,

angefangen bei ihren Nieren.

Endend mit ihrem Gehirn.

Was Jamie nicht weiß, ist, was Noelle Doyles erste Gedanken waren, als sie ihn sah, und wie lange sie ihn gehalten hat. Ob sie ihn überhaupt gehalten hat. Und seine vielleicht drängendste Frage: Was ging ihr in diesen Minuten durch den Kopf?

Er beabsichtigt zu / möchte beweisen, dass die Wahrscheinlichkeit von Verbindungen zwischen all seinen Lebensereignissen und der Energie, von der er so besessen ist,

(und der M-Theorie, dem Perpetuum mobile und der Unendlichkeit),

bedeuten,

dass es eine überdurchschnittliche Wahrscheinlichkeit gibt, dass ein komplexes Netz aus Querverbindungen zwischen all jenen besteht, die ihn je geliebt haben, und all jenen, die ihn noch lieben werden,

und dass er das Bindeglied ist,

und dass die Energie all jener, die er noch nicht kennengelernt hat, den Planeten umkreist, selbst die Energie all der Unbekannten, die ihm in seinem Leben noch begegnen werden,

und dass aufgrund der Erdkrümmung manche Lebenswege originäre Geodäten schaffen können, und dass jeder Jamielebensweg aller Wahrscheinlichkeit nach viele zufällige Ereignisse verbinden könnte,

gleichzeitig aber

trieb den Jungen eine immense Todesangst, die dazu führte, dass er jeden Tag bis ins kleinste Detail vorausplante und nichts dem Zufall überließ, denn ein Elternteil zu verlieren war tragisch, beide zu verlieren wäre fahrlässig.

Es war 6:30 Uhr.

Sogar nach London hätte es Jamie O’Neill noch pünktlich zum Unterricht geschafft, da sollten die genau zweitausendachthundertsechzehn Schritte bis zum Christ’s College doch keine Herausforderung darstellen.

2

Nervös?, fragte Paul Mahon seine Frau heiser. Tess stand am Fenster und suchte den Fluss. Sieht wieder gut aus heute, sagte sie und ließ den Blick über die hohen Bäume streifen, während sich Federwolken zwischen den grünen Wipfeln hindurchschoben.

Paul sagte: Es soll bald umschlagen.

Klar, sagte sie leise.

Sicher, dass alles in Ordnung ist?

Ja, sagte Tess.

Zerbrich dir nicht den Kopf, der erste Schultag eines neuen Schuljahres macht dich doch immer nervös, Tessy.

Das ist nur die Anspannung, sagte Tess und erschauderte. Dann rieb sie sich schnell mit den Händen über die Arme. Die Herbstluft trug schon ordentlich Kälte in sich. Auf der Telefonleitung unterhalb ihres Fensters saß eine dicke Krähe neben einer weiteren. Das Kabel bog sich unter ihrem Gewicht.

Tess hatte schon seit Monaten Panik. Panik beim Aufwachen. Panik vorm Einschlafen. Sie machte den Brandy für ihr Herzrasen, das Bier für ihre Erschöpfung, das Xanax für ihre geistige Abwesenheit verantwortlich. Außerdem machte sie die Umstellung ihrer Antidepressiva panisch. Über den Sommer hatte sie nicht auf ihre Ernährung geachtet, hatte sich immer wieder phasenweise mit Süßkram vollgestopft und es dann ohne jede Motivation oder Struktur mit dem Intervallfasten versucht. Das meiste schob sie auf die Injektionen, das ständige Auf und Ab; im einen Moment in Tränen ausbrechen, im nächsten von aberwitzigen Glücksgefühlen überwältigt werden. Es war ein verstörendes Auf und Ab. Ist mir egal, es ist mir halt nicht vergönnt, denn was dir vergönnt ist, wird dir nicht vorenthalten, und dann, überwiegend, wer verdient schon ein Kind? In dieser Weltlage

bis nur noch ein Gedanke dominierte

wer wollte schon ein Kind in diese Welt setzen?

Völlig normal, sagte Paul, setzte sich auf und lehnte den Kopf an das Kopfteil des Bettes. Dein Problem, Tessy, ist … und das habe ich irgendwo gelesen …

Paul Mahon ließ selten eine Gelegenheit aus, jemanden auf etwas aufmerksam zu machen, das ihm gerade aufgefallen war, ein Einwurf, den er nur zu gern mit Erkenntnissen aus einem Buch untermauerte, das er mal gelesen hatte, an dessen Titel er sich aber nie erinnern konnte.

Dein Problem ist, sagte er, dass du am ersten Schultag immer so bist, schlimmer als die Schüler. Und dann, sagte er und schnipste mit den Fingern, ist alles wieder gut. Er verschränkte die sommersprossigen Arme. Schon heute Abend bist du wieder voll drin. Du steigerst dich da zu sehr rein, Tessy – das sind doch nur Kinder.

Du hast recht, sagte Tess sehr leise. Ja, du hast recht.

Und dann schwieg er. Was Zeichen seiner Zustimmung war.

An Tess’ letztem Arbeitstag am Christ’s College war sie schwanger gewesen.

Noch frisch. Acht Wochen. Sechs Tage. Vier Stunden.

Tess beobachtete die Vögel.

Seit ich dich kenne, machst du dir Sorgen. Im Oktober wirst du völlig platt sein, so platt, dass du dir nicht mal mehr Sorgen machen kannst. Und dann geht es dir wieder gut.

Völlig platt oder wieder gut?, sagte Tess.

Völlig platt, Tessy, so platt, dass zum Sorgenmachen keine Kraft mehr bleibt. Er setzte sich auf und schüttelte zwei Kissen, die er sich hinter die sommersprossigen Schultern steckte.

Eine weiße Feder löste sich und schwebte zu Boden, wo sie zitternd liegen blieb. Dann kam sie zur Ruhe. Ente oder Gans, fragte sich Tess und musste sofort an fettige Braten denken, die in der flachen Schale lagen, in der Pauls Mutter das Weihnachtsessen servierte. Jedes Jahr dieselben Gesichter am Tisch. Jedes Jahr dieselbe hässliche Platte mit den großen Sonnenblumen, die weitervererbt wurde, damit man darauf totes Geflügel servierte.

Sorge für die Jungs, sagte sie für gewöhnlich, Mädchen können für sich selbst sorgen.

Sie küsste Tess unbeholfen zweimal, als wären sie in einem französischen Film und nicht an der irischen Westküste, wo die Leute nie wussten, wie sie einander begrüßen sollten. Es war klar, dass Tess die Servierplatte erben würde. Die ist für dich, sagte Mrs. Mahon, während sie das schwere Teil zum Tisch schleppte, damit du für die Jungs sorgen kannst, wenn ich nicht mehr bin.

Dann applaudierten ihre Söhne.

Der älteste Sohn begann jeden Satz mit also, das ist jetzt nur eine Meinung und monologisierte dann mit solchem Gusto, dass man allen nachsähe, die jedes Wort für bare Münze nähmen. Der jüngere Sohn war ein unausstehlicher Technikfreak, von dem keinerlei Manieren erwartet wurden und der oft bekifft zu den Familienessen erschien. Er ist erschöpft, sagte Mrs. Mahon für gewöhnlich, und nach dem Essen zitierte die betagte, stämmige Frau mit dem penetrant süßen Parfum und roten Gesicht Tess in die Küche, wo sie das Geschirr spülten und abtrockneten und sie ohne Punkt und Komma von Seifenopern, Internetsupermärkten oder dem Zustand des Brooke’s Hotels am Square sprach, das dringend renoviert werden müsste.

Tess hielt den Atem an, bis die Feder ganz still dalag.

Paul lehnte sich seitlich aus dem Bett und tastete mit der flachen Hand über den Parkettboden, bis er seinen Laptop fand, den er sich sofort auf den Bauch knallte. Das Bettlaken formte ein Zelt über seinen angewinkelten Beinen.

Tess schaute in ihren Schrank und stöhnte.

Nimm was in Marineblau, sagte Paul und startete den Computer. Marineblau steht dir.

In Ihrer Ehe, und da können Sie mich gern berichtigen, falls ich falschliege, aber Sie kommen ja nun schon ein paar Wochen, und ich höre Ihnen beiden genau zu, und was bei mir ankommt, ist, dass geteiltes Leid bei Ihnen statt eines halben eher einem doppelten gleicht. Stimmen Sie mir da beide zu? Das müssen wir überwinden, und dazu ist Einsatz von Ihnen beiden vonnöten, Leid muss geteilt werden, Sie müssen füreinander da sein, sich in sich selbst zurückzuziehen hilft da nicht, Tess. Mich interessiert auch Ihre Seite. Paul hat in den letzten Wochen viel angesprochen, in den kommenden Wochen würde ich gern von Ihnen hören, Tess. Mir ist klar, dass Sie unter ganz anderen Umständen aufgewachsen sind als Paul, das haben wir ja bereits festgestellt und wollen das berücksichtigen, aber weil das für Paul schwer nachzuvollziehen ist, müssen wir das genauer erklären. Sie ziehen sich schon wieder zurück, Tess, und Paul, ich glaube, Siemüssen Tessmehr Raum geben, Sie bedrängen sie, dabei hat sie doch auch eigene Ansichten und Meinungen, und die sollten wir, meines Erachtens, hören. Mir ist bewusst, dass Sie gern Probleme lösen, Lösungen anbieten, aber auch Zuhören ist eine Lösung. Ich weiß, dass Sie hier sind, um Ihre Beziehung zu retten. Um zu versuchen, sie zu retten. Nicht wahr? Das ist doch der Grund Ihres Kommens, oder? Aber Sie müssen die richtige Sprache für Tess finden. Vielleicht sollten Sie, und das meine ich durchaus behutsam und mit dem größten Respekt, sich ein bisschen zurücknehmen. Wenn sie sagt, sie fühlt sich erdrückt, sollten wir das ernst nehmen.

Paul war anderer Meinung als die Therapeutin und sah die Sitzungen als Herausforderung: als Gelegenheit, sich und sein Handeln energisch zu verteidigen, und so verteidigte er den Status ihrer Ehe während jeder Sitzung vehement, wiederholte Mal um Mal, wie gut sie es hatten, selbst wenn die Stunde längst abgelaufen war. Einmal verlangte er nach einer direkten Anschlusssitzung, doch die Therapeutin lehnte ab, und Paul wollte nicht verstehen, wieso sie nicht bereit war, ihnen ihre Mittagspause zu opfern. Noch im Treppenhaus des Gewerbeparks protestierte er. Als er den Schlüssel im Zündschloss ihres Hondas gedreht hatte, um von Galway nach Emory zu fahren, hielt er kurz inne, schaute zu Tess und sagte: Mit dieser Frau stimmt was nicht, Tessy, und dann löste er die Handbremse. Wir könnten ihr das eine oder andere zum Thema Ehe beibringen.

Das war ihre letzte Sitzung geblieben.

Tess’ Kindheit war wesentlich herausfordernder gewesen, weshalb Paul vorschlug, sie solle die Dame doch vielleicht mal zu einem Einzelgespräch nutzen, das könnte ihr helfen.

Jetzt stand Tess vorm Spiegel, hob bewusst die Schultern und zog sie nach hinten, weil sie sich eine so krumme Haltung angewöhnt hatte. Dann schraubte sie den Deckel von der kühlenden Gesichtscreme und tupfte sich etwas davon unter die Augen. Während sie langsam einzog, trieb sie ihr die Tränen in die Augen.

Willst du Kaffee?, sagte Tess und zog einen marineblauen Pulli an.

Perfekt, sagte Paul, der auf der Tastatur herumtippte – keine Milch.

Durch Milch wurde er kurzatmig und manchmal aufbrausend.

Tess steckte die Füße in ihre Chucks, ohne die Schnürsenkel aufzumachen – eine Angewohnheit aus Kindertagen –, und dann hielt sie sich am Geländer fest, während sie leise fluchend und etwas wacklig auf den Beinen hinunterging.

Unten ergoss sich Sonnenlicht über die Küche und die Überbleibsel des gestrigen Abendessens, die noch auf der marmornen Kücheninsel verstreut lagen. Orange verkrustete Aluschalen, Röstzwiebeln, Gelber Reis, Hühnerknochen, Ringe vom Rotweinglas, außerdem Bierdosen, so zusammengedrückt, dass sie aussahen wie tote Vögel, türmten sich auf einer leeren Plastiktüte. Würgend pulte Tess trockene Teebeutel aus der Spüle.

Tess hatte sich eingeredet, zu Schulbeginn würde sie wieder schwanger sein. Obwohl sie sich nicht mit Kind vorstellen konnte. Was sie nicht mal hatte können, als die Tests zwei Streifen oder sogar SCHWANGER gezeigt hatten. Und dann hatten sie die Gedanken an die Schule heute Morgen praktisch wie aus dem Hinterhalt überfallen.

Alexa, spiel »Creep« von Radiohead, sagte Tess und spülte die Teller unter laufendem Wasser ab.

»Creep« von Radiohead wird abgespielt …

Alexa, Lautstärke acht …

Tut mir leid, ich habe dich leider nicht verstanden, »Creep« von Radiohead wird abgespielt …

Alexa, Lautstärke acht … Lautst… Alexa … ALEXA … SPIEL »CREEP«, VERDAMMT.

Tut mir leid, tschöööööö.

Verdammt noch mal, Alexa, sagte Tess und trat mit Wucht auf das Pedal des Mülleimers. Sie riss zwei Säcke heraus, einen trockenen mit Recyclingzeug, einen verschwitzten mit Restmüll. Dann ging sie in den Hinterhof, die beiden Tüten stießen gegen die Glastür. Der für die Kippe hinterließ einen Fleck an der Scheibe. Draußen wucherte es in den Ritzen des Terrassenbodens. Paul nutzte keinen Unkrautvernichter – das verbot ihm das Gewissen, weshalb er den gesamten Sommer auf Händen und Knien verbracht und mit einem kleinen Kratzer etwaige Pflanzen gelockert und die längsten aus dem Boden gezogen hatte, an deren Stelle bis zum nächsten Morgen eine neue nachgewachsen war.

Tess hatte den Sommer auf einer Liege verbracht, Bücher gelesen und Bier getrunken. Einen Urlaub hatten sie sich wegen der letzten Runde IVF nicht leisten können, aber diese hatte ihnen drei Embryos eingebracht. Wenige, sehr wenige für eine Frau unter vierzig, hatte Dr. Green gesagt. Zwei waren ihr eingesetzt worden. Tess hatte sie verloren, es folgten wochenlange Blutungen, Schmerzen, Weinkrämpfe im Bett, Weinkrämpfe unter der Dusche, fluchtartiges, tränenreiches Verlassen von Geschäften, wenn dort Babys schrien oder ihr eine Frau mit einem Kinderwagen den Weg abschnitt.

Pauls Spermien waren Überflieger, hatte Dr. Green gesagt, als Tess unkontrolliert weinend zu ihm in die Klinik gekommen war. Ja, ja, ja, so schmerzhaft, hatte Green wiederholt und dann eher beiläufig verkündet, es ist einfach, wie es ist.

Einen Embryo hatten sie noch.

Irgendwo in einem Behälter in der Klinik steckten Fragmente von ihnen beiden. Tess dachte an sie, wenn sie die Eiswürfel aus dem kleinen Tiefkühlfach holte oder Eltern bei dem jährlichen Elternabend sagten, Er ist so schwierig, weil er unser Nachzügler ist, eine Überraschung, ich hatte schon zwei. Zwei sind viel. Drei eine Herausforderung.

Noch ein letzter Versuch.

Nächste Runde, sagten sie in der Klinik, als würde sie einfach nur Bier in der Kneipe nachbestellen.

Tess hatte Paul angeschrien, während sie das Kind verlor: Ich bin fucking unfruchtbar. Paul war so entsetzt gewesen, dass er ein paar Tage zu seinem Bruder gezogen war, um ihr Freiraum zu geben.

Ach, fick dich, hatte sie ihm nachgebrüllt.

Tess gefiel der Freiraum dann allerdings, gefiel sogar das Wort unfruchtbar, obwohl sie es nie im Wartezimmer der Klinik vor den anderen Frauen benutzte. Dort sagte man: Bisher ist es noch nicht passiert oder Wir haben Probleme. Unfruchtbar hatte Sprengkraft, war ein aktives Wort, das ihr von den Lippen platzte. Sie musste an den Sommer denken, den sie mit ihrem ersten Freund in der Wüste verbracht hatte, der unwirtlichen Wüste, den Sommer, in dem ihre Oma Liz, die ihr Leben lang für sie da gewesen war, gestorben war, während Tess in erdrückender Hitze durch ein fremdes Land tapste, im selben Jahr, in dem ihr Vater, Jennings, auf den Straßen in sich selbst verloren ging, dem Jahr, in dem sie so wahnsinnig in Luke verliebt gewesen war, dass sie nie hatte zurückkehren wollen.

Auch an trockenen Orten passiert Gutes. Wüstenkakteen, Wüstenorte, das fruchtbare Vegas war ja nur ein Beispiel. Wenn überhaupt etwas in ihrer Trockenheit wuchs, war das schon Grund zum Feiern.

Oder zumindest beachtenswert.

Aber Vegas ist nicht nur Gewinn. Manche Leute verlassen es auch gebrochen.

Tess Mahon, du hast eine unwirtliche Gebärmutter, hatte sie in der Klinik laut zu sich gesagt. Manche hier hatten unvollständige Zervices, andere Spermien mit wenig Mobilität, mit halben oder ganz ohne Schwänze, manche hatten unvollständige Gründe, und viele, so wie Tess, ließ die Medizin komplett ratlos zurück, weil unklar blieb, weshalb die Welt nicht wollte, dass sie sich fortpflanzten. Das klang selbstgerecht, aber so sah Tess ihre Unfruchtbarkeit eben – als konspirativen Wink der Welt, dass sie und Paul keine Kinder haben sollten. In einem Artikel hatte sie mal gelesen, dass es Frauen gab, die aus psychologischen Gründen kein Kind austragen konnten, und als sie dies zugab, hatte Dr. Green aufgehört, ihr gegenüber von mentaler Erschöpfung zu sprechen. Tess akzeptierte Erschöpfung als vernünftige Erklärung für ihren so abweisenden Körper. Und weil sie ihm zustimmte, sagte Dr. Green, dass Tess Mahon eine extrem außergewöhnliche Patientin sei.

Dabei war sie nicht außergewöhnlich. Sie war einfach distanziert.

Nehmen wir zum Beispiel den Tod ihrer Mutter:

Tess war noch ein Kleinkind gewesen und viel zu jung, um sich an ihre Mutter zu erinnern, aber wenn sie gefragt wurde, sprach sie ohne zu zögern über ihren Tod. Tess wusste, dass ihre Mutter tot war. Sie hatte nie eine Präsenz