Die Siliziuminsel - Qiufan Chen - E-Book

Die Siliziuminsel E-Book

Qiufan Chen

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Beschreibung

Auf der Siliziuminsel im Südwesten Chinas wird der Elektronikschrott der ganzen Welt recycelt. Inmitten von giftigen Dämpfen und verseuchter Hardware suchen die Müllmenschen nach Verwertbarem. Als eines Tages eine amerikanische Firma die Siliziuminsel modernisieren will, wird das labile Gleichgewicht zwischen den chinesischen Behörden, mächtigen Mafiaclans und internationaler Machtpolitik gestört. Arme und Reiche, Chinesen und Ausländer finden sich in einem Krieg um die letzte Ressource der nahen Zukunft wieder – den Menschen.

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Das Buch

Auf der Siliziuminsel im Südwesten Chinas wird der Elektronikschrott der ganzen Welt recycelt. Inmitten von giftigen Dämpfen und verseuchter Hardware suchen die Müllmenschen nach Verwertbarem. Als eines Tages eine amerikanische Firma die Siliziuminsel modernisieren will, wird das labile Gleichgewicht zwischen den chinesischen Behörden, mächtigen Mafiaclans und internationaler Machtpolitik gestört. Arme und Reiche, Chinesen und Ausländer finden sich in einem Krieg um die letzte Ressource der nahen Zukunft wieder – den Menschen.

»Qiufan Chen hat ein Meisterwerk der Zukunftsliteratur geschrieben!« Cixin Liu

Der Autor

Qiufan Chen stammt aus Shantou in der chinesischen Provinz Guangdong. Er hat bereits über dreißig Kurzgeschichten auf Chinesisch und auf Englisch veröffentlicht. Sein Debütroman Die Siliziuminsel erschien 2013 auf Chinesisch und wurde von Ken Liu, dem Übersetzer Cixin Lius, ins Englische übertragen. Qiufan Chen wurde mit dem Taiwan Dragon Fantasy Award, dem Galaxy Award sowie dem chinesischen Nebula Award ausgezeichnet.

Mehr über Qiufan Chen und sein Werk auf:

QIUFAN CHEN

DIE

SILIZIUM-

INSEL

Roman

Aus dem Chinesischen

von Marc Hermann

WeILHELM HEYNE VERLAG

MÜNCHEN

Das Original ist 2013 unter dem Titel (Huang chao) bei

Changjiang Wenyi Press und 2019 in überarbeiteter Form auf Englisch

unter dem Titel The Waste Tide bei TOR, New York, erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstausgabe 10/2019

Redaktion: Catherine Beck

Copyright © 2019 by Stanley Chen Qiufan

Copyright © dieser Ausgabe und der Übersetzung

by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: Das Illustrat, München,

unter Verwendung von Motiven von Shutterstock

Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach

ISBN: 978-3-641-22182-9V001

diezukunft.de

Inhalt

Prolog

Erster Teil:

Stiller Wirbel

Zweiter Teil:

Schillernde Woge

Dritter Teil:

Wilder Sturm

Epilog

Nachwort

Anmerkungen

Danksagung

DIE SILIZIUMINSEL

Prolog

Wolken jagten im Südosten dahin wie fliehende Pferde. Der Taifun Saola braute sich zusammen. Noch wütete er dreihundert Kilometer entfernt auf dem Meer, doch er näherte sich Hongkong so flink wie sein Namensgeber.

Vor Sug-Yi Chiu Hos geistigem Auge blitzte ein Bild jenes anmutigen Pflanzenfressers auf, der nun nur noch in Fotodateien und ausgestopften Museumsstücken weiterlebte.

Der Name »Saola« – wissenschaftlicher Name: »Pseudoryx nghetinhensis« – kommt aus dem Vietnamesischen. Nach den ersten Schädelfunden mussten die Wissenschaftler achtzehn Jahre warten, bis Bauern berichteten, sie hätten ein lebendes Tier gesichtet. Fünf Jahre später war die Art ausgestorben.

Das Gesicht der Saola war von weißen Streifen bedeckt. Ihre langen, geraden Hörner, die in spiralförmigen Windungen leicht nach hinten wuchsen, trugen ihr den Spitznamen »Asiatisches Einhorn« ein. Unter allen damals lebenden Säugetieren besaß keines so große Duftdrüsen wie die Saola, was einen wesentlichen Grund für ihren Untergang darstellte. In den Legenden von Vietnam und Laos galt sie als ein Symbol für Glück und langes Leben. Nun klang das nur noch wie ein schlechter Witz.

Scheiße, ist das kalt! Sug-Yi klammerte sich mit einer Hand an die Seitenreling des kleinen Schnellboots, während sie mit der anderen Hand ihren GoreTex-Anorak straffer zog. Das Hongkonger Observatorium hatte Signal Nummer Acht ausgegeben: Das bedeutete eine Windgeschwindigkeit zwischen 63 und 117 Stundenkilometern auf Meereshöhe, wobei einzelne Böen auch über 180 Stundenkilometer erreichen konnten.

Da habe ich mir ja einen schönen Tag ausgesucht.

Die Coltsfoot Blossom pflügte in großen Sprüngen durch die wogende Gischt und näherte sich dem 8000-TEU-Frachter Long Prosperity. Das Frachtschiff hatte von New Jersey aus den Pazifik überquert und nahm gerade Kurs auf den Containerhafen von Kwai Chung in Hongkong, wo seine Ladung gelöscht und an Häfen des chinesischen Festlands weiterverschifft werden würde.

Der Steuermann gestikulierte, und Sug-Yi nickte ihm zu. Ihr Gesicht war vom stürmischen Wind leichenblass. Wie die Daten auf ihrer Schutzbrille anzeigten, hatte ihr Zielobjekt seine Geschwindigkeit auf zehn Knoten verlangsamt. Das Containerschiff befolgte damit die Bestimmungen der Hafenbehörde, die darauf abzielten, den Schadstoffausschuss der einlaufenden Schiffe zu senken und die Beeinträchtigung der kleineren Schiffe durch das Kielwasser zu verringern.

Jetzt ist der Moment zum Handeln da. Sug-Yi schwenkte die Hand, um ihre Crew wachzurütteln.

Die Coltsfoot Blossom beschleunigte und schwenkte auf den Kurs der Long Prosperity ein, bis sie mit derselben Geschwindigkeit neben ihr herfuhr. An der Seite des gewaltigen, von Samsung Heavy Industries erbauten Containerschiffs mit seinen 334,8 Metern Länge und 45,8 Metern Breite wirkte das leichte Schnellboot so winzig wie ein Schiffshalterfisch, der sich am Bauch eines Riesenhais festgesaugt hat.

»Schnell!« Das Dröhnen der Motoren dämpfte Sug-Yis Stimme zu einem kläglichen Fiepen.

Die magnetische Strickleiter schoss hervor wie ein Spinnennetz. Ihr oberes Ende haftete nun fest an einer Stelle zwei Meter unterhalb der Steuerbordreling der Long Prosperity, während ihr unteres Ende mit dem Schnellboot verbunden blieb, um eine größere Stabilität zu gewährleisten. Ein Mitglied des Sturmtrupps in voller Kampfmontur begann mit athletischen Bewegungen an der Leiter hinaufzuklettern. Er baumelte mit dem Rücken zur See von der Unterseite der Leiter herunter, damit er die Haken, die an seinen Schuhsohlen befestigt waren, einsetzen konnte und nicht schwindlig wurde vom Anblick des wogenden Meers.

So gut er auch trainiert war, unter dem Ansturm von Wind und Wellen wirkte er wie ein verletztes Insekt, das sich in einem Spinngewebe verfangen hatte. Er schwankte beängstigend heftig. Die fünfundzwanzig Meter, die vor ihm lagen, mochten kurz aussehen, aber sie würden sehr lang werden.

Beeil dich! Schneller! Sug-Yi versuchte zu verbergen, wie beunruhigt sie war. Die Coltsfoot Blossom war so wendig und hatte ihren Kurs so abrupt geändert, dass sie die Besatzung der Long Prosperity überrumpelt hatte, doch dieses Überraschungsmoment würde nicht lange vorhalten. Obendrein würden die Wogen noch höher schlagen und das Manöver noch gefährlicher machen, sobald die Schiffe das seichte Wasser des Hafenbeckens erreichten.

»Hast du auch alles im Kasten?«, fragte sie das Mädchen neben ihr, das nervös nickte, wobei die Miniaturkamera an ihrem Ohr auf und ab wippte. Es war ihr erster Einsatz. Sug-Yi bedeutete ihr mit einer Geste, die Kamera fester ans Ohr zu stecken.

The show must go on.

Sie lachte auf. Wann hatte sie angefangen, diese Gesinnung nicht länger zu verabscheuen, sondern selbst zu praktizieren? Was sie tat, folgte dem Prinzip der »gewaltfreien direkten Aktionen« von Greenpeace: sich auf Schienen legen, um Züge aufzuhalten, Wahrzeichen erklettern, Walfänger kapern, Atommüll abfangen … Die Aktionen wurden von Mal zu Mal radikaler, und sie stellten die Geduld von Regierungen und Konzernen immer wieder auf die Probe. Zwar geriet ihre Organisation dadurch zusehends in Verruf, aber gleichzeitig lenkte sie damit die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf diverse Umweltprobleme und trug sogar dazu bei, umweltfreundlichere Gesetze und Verordnungen auf den Weg zu bringen.

Das ist doch Grund genug, oder?

Ihr fiel die Rede wieder ein, die ihr Mentor Dr. Guo Qide, der Gründer von Coltsfoot Blossom, auf der Begrüßungsfeier für die neuen Mitglieder gehalten hatte. Die Lichter waren erloschen, und auf der großen Leinwand war ein Gemälde erschienen: ein Dreimaster, der inmitten von turmhohen Wogen jeden Moment zu kentern drohte. Von panischem Entsetzen gepackte Menschen ergriffen auf Rettungsbooten die Flucht, andere waren an Bord zurückgeblieben und kämpften verzweifelt um ihr Überleben. Die tosende schwarze Flut und die weiße Gischt bildeten einen eindrucksvollen Kontrast, der den Betrachter gefangen nahm.

»Dieses Gemälde namens ›Der Brand der Kent‹ hat der französische Maler Jean Antoine Théodore Gudin im Jahr 1827 geschaffen«, erklärte Dr. Guo mit einer Stimme von hypnotischer Kraft. »Die Welt, in der wir leben, ist dieses Schiff im Angesicht des Untergangs. Manche haben sich schon auf die Rettungsboote geflüchtet, andere bleiben wie betäubt an ihrem Platz. Unsere Rolle hier bei Coltsfoot Blossom ist es, die Gongs und Trommeln zu schlagen, den Clown und den Feuerschlucker zu spielen, um auf alle erdenklichen Arten die öffentliche Aufmerksamkeit zu erregen. Wir müssen den Leuten klarmachen: Nicht mehr lange, und das Schiff kentert, aber die Schuldigen wollen sich im Stillen aus dem Staub machen. Wenn wir unser Schicksal nicht mit ihrem verbinden, müssen wir am Ende die Zeche zahlen.«

Gellendes Geschrei riss Sug-Yi aus ihren Erinnerungen. Als sie aufblickte, sah sie, dass mehrere Besatzungsmitglieder der Long Prosperity an der Schiffsseite aufgetaucht waren und nun versuchten, die magnetische Auflage der Strickleiter abzulösen. Doch weil der Schiffsrumpf dazu konstruiert war, die Fläche des Frachtdecks so groß wie möglich zu halten, wölbte er sich an seinem oberen Rand stark nach außen. Um auch nur in die Nähe der Leiter zu gelangen, mussten sich die Männer weit über die Reling beugen. Nach einigen zaghaften Versuchen im stürmischen Wind gaben sie auf.

Ihr Gegner kletterte nur noch schneller die Leiter hinauf. Ihn trennten bloß noch zehn Meter vom Deck.

Ein weißer Wasserstrahl schoss von oben auf ihn herab. Die Leiter begann zu schwingen wie eine Schaukel. Überrumpelt von diesem Angriff, ließ der Mann die Stricke los und stürzte der wogenden Flut entgegen.

Mit weit aufgerissenen Augen, die Hand vor den Mund geschlagen, verfolgte Sug-Yi seinen Sturz. Das Mädchen mit der Kamera stieß einen Schrei aus.

Dann aber endete der Sturz des Mannes, und er blieb kopfüber an der Leiter hängen. Die Haken an seinen Schuhsohlen hatten ihn in letzter Sekunde gerettet. Mit einem kräftigen Schwung wippte er hoch, packte die Strickleiter und kletterte von Neuem empor.

»Gut gemacht!«, platzte es aus Sug-Yi heraus.

Die Crew des Containerschiffs bespritzte den Mann weiter aus ihrem Hochdruckschlauch, als wäre er eine lodernde Feuerzunge, die sich die Strickleiter hinauffraß. Die größte Bedrohung für ihn stellte nicht die Wucht des aufschlagenden Wassers dar, sondern die Gefahr, dass er keine Luft mehr bekam, wenn das Wasser in Mund und Nase eindrang. Doch der Mann hatte sich rechtzeitig gegen diese Gefahr gewappnet und sein Visier heruntergeklappt. Mühsam, aber unerschrocken setzte er seinen Aufstieg fort. Noch acht Meter, sieben Meter …

Ein Lächeln trat auf Sug-Yis Gesicht. Sie sah sich selbst, wie sie sich vor Jahren, noch blutjung, von Kopf bis Fuß mit dem Duftstoff der Saola eingerieben und allen zugehaltenen Nasen und bösen Blicken zum Trotz in Busse und U-Bahnen, auf Passagierschiffe und in Supermärkte gedrängt hatte. »Auch das beste Parfum«, so hatte sie unverdrossen jedem erklärt, der ihr über den Weg lief, »verwandelt sich in einen unerträglichen Gestank, wenn man dafür eine Art ausrottet.«

»Ist es das wert?«, hatten unzählige Leute sie gefragt. Und sie hatte unzählige Male geantwortet: »Ja, das ist es.« Auch wenn die ganze Welt sie für eine Querulantin hielt, die bloß süchtig nach Aufmerksamkeit war – solange sie selbst an ihre Mission glaubte, genügte das.

Die Crew der Long Prosperity hörte auf, ihren Angreifer mit dem Wasserwerfer zu attackieren. Anscheinend waren sie auf eine neue Taktik verfallen.

»Sie ändern ihren Kurs!«, schrie der Steuermann.

Sug-Yi las die Daten von ihrer Schutzbrille: Die Long Prosperity drehte auf die Coltsfoot Blossom zu und beschleunigte gleichzeitig auf zwölf Knoten. Auf diese Weise wollte das Containerschiff die feindliche Front durchbrechen, ohne die Aufmerksamkeit der Hafenbehörde zu erregen. Unter dem Kielwasser des Frachters schwankte das Schnellboot deutlich heftiger als zuvor. Die Strickleiter wand sich in der Luft wie eine Schlange, und der Mann, der an ihr hing, wirbelte an den Stricken umher.

»Fahrt aufnehmen! Kurs anpassen!«, kommandierte Sug-Yi.

Der Mann an der Strickleiter versuchte weiterzuklettern. Um seinen Körperschwerpunkt zu verlagern und die Leiter in einem stabilen Gleichgewicht zu halten, vollführte er heftige Verrenkungen wie ein erfahrener Yogi, der bei Sturm auf einem Seil tanzt. Noch fünf Meter, vier …

Du hast es gleich geschafft. Mit angehaltenem Atem zählte Sug-Yi im Stillen die Meter.

Als Nächstes würde ihr Mitstreiter mit Saugnäpfen vom oberen Ende der Strickleiter an Bord klettern müssen, wo er sich dem Zugriff der Crew entziehen und wie Houdini an einen Container ketten musste. Im Idealfall würde er vorher noch die Flagge von Coltsfoot Blossom irgendwo, wo sie ins Auge stach, gehisst haben. Dann würde er warten, bis die Medien und die Vertreter der Umweltschutzbehörde eintrafen. Gemäß dem Präzedenzfall von Kingsnorth würde die Aktion von Coltsfoot Blossom nicht für illegal erklärt werden, solange die Organisation eine »rechtmäßige Entschuldigung« dafür vorbringen konnte. Ob am Ende alles gut ausgehen würde, hing allein davon ab, wie zuverlässig ihre Informationen waren: nämlich dass die Container, die in New Jersey in Bord gekommen und für die Siliziuminsel bestimmt waren, die »Teufelsgabe« enthielten – Giftmüll, der so stark verseucht war, dass er eine Umweltkatastrophe auslösen konnte.

Es war ein ehrgeiziger Plan, aber den schwierigsten Teil hatten sie fast hinter sich gebracht.

Zwei Meter, ein Meter … Endlich hatte der Mann das Ende der Leiter erreicht. Aber statt sich die Handschuhe mit den Saugnäpfen überzuziehen, setzte er sein ganzes Gewicht ein, um an den Stricken hin und her zu schwingen wie ein Pendel.

»Was macht er denn da?«, fragte Sug-Yi wütend.

»Thomas … liebt Parkour«, murmelte das Mädchen mit der Kamera, ohne ihre Aufnahme zu unterbrechen.

So heißt er also: Thomas. In diesen Tagen schlossen sich so viele enthusiastische und talentierte junge Leute ihrer Organisation an, dass Sug-Yi unmöglich noch jeden mit Namen kennen konnte. Jung sein ist eine gute Sache. Jedenfalls meistens.

Während Thomas weiter an der Strickleiter pendelte, überschlug er im Stillen angespannt die Entfernung und den Winkel. Am höchsten Punkt seiner Pendelbewegung würde er die Leiter loslassen und springen. Dabei würde er seinen Körper um neunzig Grad drehen, damit er die Reling packen konnte – eine Aktion, die höchste Anforderungen an seine Muskelkraft, seine Geschmeidigkeit und seine mentale Stärke stellte.

»Thomas! Warte!«, schrie Sug-Yi. »Spring nicht!«

Zu spät. Sie sah, wie der kräftige, wohlproportionierte Körper durch die Luft sprang. Für einen Moment schien er im Wind zu erstarren, ehe er mit einer gemächlichen, anmutigen Bewegung eine Vierteldrehung beschrieb und seine Hände mit einem hellen Klirren gegen die Reling schlugen, sodass das Metallgeländer leise erzitterte. Nun musste er nur noch Bauch und Arme anspannen und sich hochziehen, und die artistische Einlage wäre perfekt.

Sug-Yi war schon drauf und dran, ihm für seine furchtlose Vorführung zu applaudieren.

Vielleicht lag es am Wind oder an einer kleinen Wasserlache auf der Reling, jedenfalls schnitt in diesem Moment ein metallisches Schabgeräusch durch die Luft, und Thomas’ Hände glitten vom Geländer ab. Er fiel unwiederbringlich in die Tiefe. In seiner Panik packte er mit einer Hand die hin und her schwingende Leiter, doch die Wucht seines Sturzes schleuderte ihn gegen den Schiffsrumpf. Mit einem lauten Klirren zersplitterte sein Visier, sein Hals knickte weg und ließ Kopf und Rumpf in einem eigenartigen Winkel zurück. Seine Hände lösten sich, und er fiel weiter. Das Bild, wie sein verdrehter Körper lautlos in die wogende Flut eintauchte, brannte sich tief in Sug-Yis Gedächtnis ein.

Das Kameramädchen war vor Entsetzen wie gelähmt, doch die Kamera an ihrem Ohr hatte den gesamten Vorfall mitsamt den Schreien und Schluchzern, die ihn begleiteten, lückenlos aufgezeichnet. Ihr Video würde später immer wieder in den Medien und auf allen möglichen großen Webseiten zu sehen sein. Spötter nannten es »die neue Rekrutierungskampagne von Coltsfoot Blossom«, und der Slogan dieser Kampagne sei: »Jung sein heißt nicht dumm sein.«

Sug-Yi hatte die Szene wie betäubt mitverfolgt. Sie gab keinen Befehl, den Leichnam zu bergen, sie rührte sich nicht, und ihr Gesicht war ausdruckslos.

Ist es das wirklich wert? Sie wusste nicht, ob sie das Thomas fragte oder sich selbst.

Die Long Prosperity beschleunigte weiter und drehte sich zum Schnellboot. Sug-Yis Steuermann, der keine neuen Kommandos erhalten hatte, konnte nicht mehr rechtzeitig ausweichen. Der Frachter krachte gegen das Boot und hob es an der Seite in die Höhe. Das sich verbiegende Metall knirschte dumpf. Die Crew der Coltsfoot Blossom klammerte sich an alles, was gerade in Griffweite war, um nicht vom kippenden Deck ins Wasser geschleudert zu werden. Die eisigen Meeresfluten schossen mit schäumender Gischt und wirbelnden Strudeln ins Bootsinnere.

Nun würde das Boot wirklich kentern.

Erster Teil

STILLER WIRBEL

Das Basler Übereinkommen über die Kontrolle der grenzüberschreitenden Verbringung gefährlicher Abfälle und ihrer Entsorgung vom 22. März 1989, auch bekannt als Basler Konvention, ist ein internationales Umweltabkommen, das ein umweltgerechtes Abfallmanagement eingeführt hat und die Kontrolle der grenzüberschreitenden Transporte gefährlicher Abfälle regelt.

In Kraft getreten ist die Vereinbarung am 5. Mai 1992. Mittlerweile sind 186 Staaten der Vereinbarung beigetreten.

Die USA, der größte Produzent von Elektronikschrott, sind das einzige hochentwickelte Land, das eine Ratifizierung bislang verweigert hat.

Wikipedia-Eintrag zum »Basler Übereinkommen«

1

Das feine, handgefertigte hölzerne Modell einer Dschunke, das in der Mitte der Glasvitrine stand, glänzte von dem rotbraunen Lack, der ihm eine altertümliche Aura verleihen sollte. Auf die übliche holografische Szenerie ringsum hatte man verzichtet; stattdessen bildete eine handgemalte Karte der Siliziuminsel mitsamt der sie umgebenden See die Kulisse. Der Kartograf hatte sich augenscheinlich nach Kräften bemüht, die landschaftliche Schönheit der Insel heraufzubeschwören.

»Dies ist das Symbol der Siliziuminsel. Es steht für eine reiche Ernte, Wohlstand und Harmonie …«

Scott Brandle war in den Anblick des Schiffsmodells versunken und schenkte den Erklärungen des Führers kaum Aufmerksamkeit. Die Farbe und die Maserung der Dschunke, vor allem aber ihre Segel, die sich im Wind zu blähen schienen, erinnerten ihn an die gedämpften Krabben, die man auf dem Bankett am Vorabend serviert hatte. Er war kein Vegetarier und auch kein glühender Anhänger des World Wide Fund For Nature, doch die dritte Schere, die ihm vom Teller entgegengeragt war, und der kunstvoll dekorierte Panzer hatten seinen Argwohn geweckt. Der Gedanke, dass die angebliche »Wildkrabbe« mit dem Extraglied womöglich aus einer nahen Meeresfarm stammte, hatte ihm den Appetit verdorben, und so hatte er den chinesischen Beamten nur dabei zugesehen, wie sie sich die Bäuche vollschlugen.

»Herr Scott, was möchten Sie morgen sehen?«, hatte ihn Direktor Lin Yiyu sichtlich beschwipst im hiesigen Dialekt gefragt. Scotts Assistent Chen Kaizong alias Caesar Chen hatte die Frage wortgetreu gedolmetscht, ohne die falsche Anrede zu korrigieren.

»Ich möchte die Siliziuminsel sehen«, erwiderte Scott. Er hatte einige Gläser Schnaps getrunken, war aber noch vergleichsweise nüchtern. Das Attribut »wahre« hatte er sich verkniffen.

»Großartig!« Das Gesicht rot vom Schnaps, drehte sich der Direktor zu den anderen Beamten und machte eine Bemerkung, die dröhnendes Gelächter auslöste. Kaizong dolmetschte nicht sofort. Erst nach einer Weile erklärte er: »Der Herr Direktor meint, er wird Ihren Wunsch gern erfüllen.«

Beinahe zwei Stunden hatten sie heute bereits im überklimatisierten Historischen Museum der Siliziuminsel verbracht, und ein Ende war noch nicht in Sicht. Um den Besuchern die über tausendjährige Geschichte der Insel – sie reichte zurück bis ins neunte Jahrhundert – nahezubringen, hatte der Führer, der Englisch mit starkem Akzent sprach, sie durch eine lange Reihe heller, blitzblanker Hallen geführt, vorbei an klassischen literarischen Zeugnissen, amtlichen Schreiben, restaurierten Fotos, Replikaten von Gebrauchsgegenständen, Szenen aus dem Alltagsleben, die mit Plastikfiguren nachgestellt waren, und pseudohistorischen Dokumentarfilmen. Doch die Ausstellung verfehlte offenkundig ihr Ziel, nämlich den Besuchern den Wandel von einer Zeit des Reisanbaus und der Fischerei über die Industrialisierung bis hin zum Informationszeitalter vor Augen zu führen. Scott konnte in all den Ausstellungsräumen nichts als Ansammlungen trostloser Relikte erkennen, begleitet von mechanisch heruntergeleierten Erläuterungen. Die einschläfernde Wirkung war ähnlich groß wie die einer Kasernenhofbelehrung.

Chen Kaizong dagegen hörte mit großem Interesse zu, als wäre er und nicht Scott der Besucher aus der Fremde. Seit er diesen Flecken Erde betreten hatte, war seine vorherige Gleichgültigkeit, die bei einem jungen Mann von einundzwanzig Jahren etwas Altkluges hatte, wie weggefegt und hatte, wie Scott bemerkt hatte,einem Stolz und einer Neugier Platz gemacht, die besser zu seinem Alter passten.

»Einzigartig … Unglaublich …« Von Zeit zu Zeit ließ Scott mit ausdrucksloser Miene ein Wort des Lobs fallen wie ein Roboter.

Lin Yiyu nickte wiederholt und mit sichtlichem Behagen, doch das Lächeln auf seinem Gesicht war so starr wie das der Plastikfiguren. Er trug dasselbe in den Hosenbund gesteckte gestreifte Hemd wie gestern. Anders als die anderen Beamten hatte er sich eine schmale Taille bewahrt; was ihm an Stattlichkeit fehlte, macht er durch den Eindruck größerer Tüchtigkeit wett. Neben Scott, der fast einen Meter neunzig groß war, wirkte er schmächtig wie ein Stock. Doch er war imstande, seinen Gast wortlos leiden zu lassen wie einen Stummen, der bittere Kräuter schlucken muss.

Er lässt sich nicht in die Karten blicken, ging es Scott durch den Kopf. Jetzt begriff er erst, was sich hinter Lins Worten vom Vorabend verbarg. Bevor er nach China geflogen war, hatte er eigens einen Reiseführer – China für Dummies – gelesen, der mit der folgenden Binsenweisheit aufwartete: »Die Chinesen sagen selten, was sie denken.« Dahinter hatte er als Kommentar geschrieben: »Die Amerikaner auch.«

Vielleicht waren die Teilnehmer am gestrigen Willkommensbankett von höherer Stelle abkommandiert worden – von den wirklichen Entscheidungsträgern hatte sich jedenfalls keiner blicken lassen. Zumindest gemessen an der Zahl der geleerten Schnapsgläser hatten die Beamten ihr Soll gestern mehr als erfüllt. Doch Direktor Lins verbale Ausweichmanöver legten den Schluss nahe, dass Scotts Reise für Wealth Recycle Co. alles andere als glatt verlaufen würde.

Die Schlüsselfiguren der drei großen Clans der Insel würden hinter den Kulissen bleiben. Alles, was Scott vernünftigerweise erhoffen durfte, war, dass man ihn durch einige Modellfabriken und -straßenviertel führte, die die Lokalverwaltung sorgfältig hergerichtet hatte, ihm ein paar leckere Dim Sum zu kosten gab und ihn dann wieder, beladen mit einem Haufen Souvenirs, in ein Flugzeug nach San Francisco setzte.

Aber hatte seine Firma nicht genau aus diesem Grund ihn und niemanden sonst hierher geschickt? Ein Lächeln milderte seine kantigen Züge. Den Unfall in Ahmedabad einmal ausgenommen, hatte er, ob in Ghana oder auf den Philippinen, noch nie versagt. Und die Siliziuminsel würde keine Ausnahme bilden.

»Sagen Sie ihm, dass wir am Nachmittag nach Xialong fahren.« Scott beugte sich zu seinem Assistenten, um ihn zu instruieren. »Machen Sie es ihm klar.«

Er spitzte die Lippen und setzte ein gelassenes Lächeln auf, während er sich umblickte. Kaizong wusste, dass sein Chef Ernst machte, und begann unverzüglich mit dem Direktor zu sprechen.

Das Museum war allzu hell und sauber – genau wie die schöngefärbte Geschichte, die es zur Schau stellte: die Fassade der Siliziuminsel, die die Einheimischen allen Fremden zeigten, erfüllt von einem scheinheiligen, seichten Glauben an die Technik. In diesem Gebäude gab es kein Basler Übereinkommen, kein Dioxin oder Furan, keinen sauren Nebel, kein Wasser, dessen Bleigehalt den Grenzwert um das 2400-fache überschritt, keinen Boden, dessen Chromgehalt um das 1338-fache über dem kritischen Wert der amerikanischen Umweltschutzbehörde lag, und erst recht keine Menschen, die von diesem Wasser trinken und auf diesem Boden leben mussten.

»Alle Geschichte ist gegenwärtig.«Dieser Satz war ihm aus dem Bewerbungsgespräch mit Chen Kaizong in Erinnerung geblieben.

Scott schüttelte den Kopf, während die Stimmen von Lin und Kaizong anschwollen. Beide bemühten sich, eine freundliche Fassade zu wahren, gaben aber in der Sache nicht nach. Hätte der Direktor Hochchinesisch geredet, hätte Scott vielleicht mithilfe einer Übersetzungssoftware direkt mit ihm kommunizieren können, aber Lin sprach den alten Inseldialekt, der acht und nicht vier Töne umfasste und auch sonst denkbar komplizierten Ausspracheregeln gehorchte. Deshalb war Scott auf die besonderen Fähigkeiten seines Assistenten angewiesen. Kaizongs Sprachkenntnisse waren der Hauptgrund gewesen, warum die Firma ihn nach seinem Studium der Geschichte an der Boston University eingestellt hatte.

Scotts Blick fiel auf ein Gruppenfoto, und er versuchte angestrengt, anhand der Unterlagen, die er vor der Reise durchgesehen hatte, irgendein Gesicht zu identifizieren. Hier, in dieser Lowspeed-Internetzone, hatte er keinen Zugang zu auswärtigen Datenquellen, und die gelblichen Gesichter der Chinesen sahen für ihn alle gleich aus. »Sagen Sie ihm: Wenn er Einwände dagegen hat, sorgen wir dafür, dass Minister Guo direkt mit ihm spricht.«

Guo Qidao war Chef des Umweltministeriums der Provinz und galt als aussichtsreicher Kandidat für den Posten des Vizeministers im nationalen Umweltministerium. Höchstwahrscheinlich waren die Unternehmen, die in die engere Auswahl für das ausgeschriebene Projekt gekommen waren, auf seinen Wink hin ausgesucht worden.

Der Fuchs macht sich die Macht des Tigers zunutze – ein weiterer Kniff aus dem Reiseführer für Dummies.

Der Disput verstummte. Nun, da Lin klein beigab, wirkte er noch mickriger. Er rieb sich die Hände, als bereitete ihm das angedrohte Machtwort durch den Minister weniger Sorgen als die Unmöglichkeit, die ihm zugedachte Aufgabe zu Ende zu bringen. Doch Scott ließ ihm keine andere Wahl. Lin rang sich ein Lächeln ab, räusperte sich und marschierte ohne ein weiteres Wort auf den Ausgang zu.

»Jetzt gehen wir erst mal was essen.« Kaizong verzog den Mund zu einem Siegerlächeln, wie man es von einem Elitestudenten der amerikanischen Ostküste erwartete.

Hoffentlich tischen sie uns nicht wieder irgendwelche obskuren Gerichte wie »Wildhummer« auf, schoss es Scott durch den Kopf, während er an dem Dschunkenmodell vorbeiging. Doch gleichzeitig freute er sich, dass er endlich aus diesem Museum herauskam, das so eiskalt und verlogen war. Vielleicht war dies die einzige Verbindung zwischen dieser Müllinsel und dem Schiffsmodell: ein Wortspiel.

Er setzte den Mundschutz von 3M auf und trat durch den weißen Nebel aus kondensiertem Dampf, der am Ausgang waberte, hinaus in das feuchte, grelle Licht der Tropensonne.

Anstelle von Schnaps gab es diesmal Bier zu trinken, doch das beruhigte Scott nicht. Die Hygienestandards in diesem Restaurant machten einen noch schlechteren Eindruck als am Vorabend. In ihrem Separee, das den Namen »Kiefer-Suite« trug, summte die alte Klimaanlage so laut vor sich hin wie ein aufgescheuchtes Wespennest, ohne dass sie den eigentümlichen Gestank in der Luft beseitigt hätte. An der Wand prangte ein großer gelber Wasserfleck wie eine Terra incognita auf einer vergilbten Karte. Wenigstens waren der Tisch und die Stühle überraschend sauber, doch vielleicht lag das auch nur an dem dunklen Holz, das gezielt den Schmutz kaschieren sollte.

Das Essen wurde bald serviert. Kaizong war ganz aus dem Häuschen und stellte seinem Chef jedes Gericht mit Namen, Zutaten und Zubereitung vor. Zu seiner eigenen Verwunderung konnte er sich noch daran erinnern, wie jedes Gericht schmeckte, obwohl er seine Heimat mit sieben Jahren verlassen hatte. Es war, als hätte er nicht nur den Pazifischen Ozean überquert, sondern auch eine zeitliche Kluft von mehr als einem Dutzend Jahren.

Scott hatte keinen Appetit, vor allem nachdem er erfahren hatte, wie man die Entenleber, Schweinelunge, Ochsenzunge, die Gänseinnereien und all die anderen tierischen Organe zubereitet hatte. Er entschied sich für Reisbrei und Suppe – das schienen ihm die beiden Optionen zu sein, die noch das geringste Schwermetallrisiko beinhalteten. Er unterdrückte den Impuls, sein Reise-Testkit hervorzuholen. Aufgrund der beschränkten Übertragungsrate konnte man sich in dieser Zone in keine verschlüsselten Datenbanken einloggen und folglich auch nicht die Zusammensetzung von Nahrung, Luft, Wasser und Boden und die damit verbundenen Risiken abklären. Augmented-Reality-Technologie konnte man erst recht nicht benutzen.

Lin schien ihm seine Sorgen anzusehen. Er zeigte auf die Elektro-Dreiräder, die draußen auf der Straße Wasser transportierten. »Dieses Restaurant gehört dem Luo-Clan. Sogar das Wasser schaffen sie aus Huang her, das ist ein Dorf neun Kilometer weit weg.«

Der Luo-Clan kontrollierte achtzig Prozent der Nobelrestaurants und -vergnügungsstätten der Insel. Seine wirtschaftliche Macht beruhte darauf, dass er über die größte Ansammlung von Werkstätten zur Verwertung von Elektronikschrott auf der Insel verfügte. Eine dieser Siedlungen in Xialong wollten sie an diesem Nachmittag besichtigen. Die Macht des Luo-Clans war so groß, dass er sich unter sämtlichen Abfallcontainern, die über den Hafen von Kwai Tsing in Hongkong nach Festlandchina kamen, die beste Ware herauspicken konnte. Den Rest teilten die anderen beiden Clans unter sich auf. Der Luo-Clan war der lebende Beweis für den Matthäus-Effekt: Er hatte die anderen Clans in der Hand, und seine Macht reichte bis in die Lokalpolitik.

Als Scott hinter die verborgene Bedeutung von Lins Worten zu kommen versuchte, fiel ihm prompt eine weitere chinesische Weisheit ein: Wer von einem anderen gegessen hat, dem wird der Mund sanft. Wer von einem anderen genommen hat, dem wird die Hand weich.

Diese chinesischen Spruchweisheiten gingen ihm allmählich auf die Nerven. Es war, als müsste er beständig irgendetwas entschlüsseln, aber der Kodierungsschlüssel änderte sich je nach Kontext stets aufs Neue. Er entschloss sich zu schweigen.

»Na, kommen Sie, trinken wir!« Das war immer noch die wirksamste Methode, ein verlegenes Schweigen zu durchbrechen. Der Direktor hielt sein schaumiges Bier in die Höhe.

Nach drei Runden war Lins Gesicht wieder einmal puterrot. Doch Scott war vom letzten Mal gewarnt und wachsamer denn je. Auch wenn die Chinesen ein ähnliches Sprichwort wie »In vino veritas« hatten – auf Lin schien es nicht zuzutreffen.

»Herr Scott, bitte nehmen Sie es mir nicht übel, aber darf ich offen zu Ihnen sein?« Lin klopfte seinem Gast auf die Schulter und blies ihm seine säuerliche Fahne ins Gesicht. »Ich will Ihnen und Ihrer Untersuchung durchaus keine Steine in den Weg legen, ich habe meine eigenen Probleme. Ich hoffe nur, Sie hören auf einen guten Rat: Dieses Projekt wird scheitern. Sie verlassen diese Insel besser möglichst schnell.«

Nachdem Kaizong Lins Worte gedolmetscht hatte, bemerkte er, wie ein Anflug von Missmut über das Gesicht seines Chefs huschte.

»Ich verstehe Sie vollkommen: Wir dienen unterschiedlichen Herren. Aber ich gebe Ihnen auch einen Rat: Dieses Projekt bringt für uns alle nur Vorteile. Wir können über alles reden. Wenn wir Erfolg haben, wird das ein Modellprojekt für ganz Südostchina und ein bedeutender Schritt für Chinas nationale Recycling-Strategie sein, und das wird auch Ihr Verdienst sein.«

»Ha!« Mit einem spöttischen Auflachen leerte Lin sein Glas. »Wie interessant! Erst schmeißt ihr Amerikaner euren Müll vor eine fremde Haustür, und kurz darauf dreht ihr euch noch mal um und sagt: ›Wir helfen euch beim Saubermachen. Das ist alles nur zu eurem Besten.‹ Herr Scott, was soll denn das für eine nationale Strategie sein?«

Die Schärfe, mit der Lin sprach, überraschte Scott. Anscheinend war der Mann doch nicht so ein mediokrer Bürokrat, wie er geglaubt hatte. Scott legte sich seine Antwort mit Bedacht zurecht und bemühte sich dabei, so aufrichtig wie möglich zu erscheinen.

»Die Zeiten haben sich geändert. Die Recyclingwirtschaft ist eine prosperierende Industrie mit einem Umsatz von ein paar Hundert Milliarden Dollar, mehr noch: Von ihr hängt das Schicksal der globalen Fertigungsindustrie ab. Die Siliziuminsel genießt auf diesem Feld den Vorteil des Erstanbieters. Den nötigen Wandel einzuleiten ist für Sie hier viel leichter als in unseren hochentwickelten Staaten. Sie müssen nicht mit irgendwelchen politischen oder juristischen Hürden kämpfen. Was Sie brauchen, sind Technologie und ein modernes Management, um die Effizienz zu erhöhen und die Umweltverschmutzung zu verringern. Im Moment sind Südostasien und Westafrika noch die Hotspots, in die die Unternehmen scharenweise ihr Geld pumpen, um sich ihr Stück vom Kuchen zu sichern. Aber ich kann Ihnen garantieren: Wealth Recycle bietet die besten Konditionen, und jeder, der uns geholfen hat, wird von uns reichlich belohnt.«

Scott legte besonderen Nachdruck auf das Wort »belohnt«, dabei tauchten die Gesichter der philippinischen Beamten, die ein Schmiergeld für sich eingefordert hatten, vor seinem geistigen Auge auf.

Lin hatte nicht damit gerechnet, dass der Amerikaner so unverblümt daherreden würde, ohne die üblichen geheuchelten Höflichkeitsfloskeln und hohlen Phrasen. Er setzte sein Glas ab und erwiderte: »Wenn Sie schon einmal so offen zu mir sind, will ich Ihnen auch reinen Wein einschenken. Geld ist nicht das Problem, sondern Vertrauen. Wir Einheimischen trauen nicht einmal den Chinesen von auswärts, von Amerikanern ganz zu schweigen.«

»Kein Amerikaner ist wie der andere. Das ist genau wie mit den Chinesen. Ich sehe Ihnen an, dass Sie nicht wie die anderen sind.« Scott griff auf einen Trick zurück, der nirgends auf der Welt seine Wirkung verfehlte.

Lin starrte ihn mit seinen blutunterlaufenen gelblichen Augen an. Es war schwer zu sagen, ob er betrunken war oder nicht. Endlich erwiderte er mit einem verächtlichen Schnauben: »Sie irren sich, Scott. Wir Chinesen sind alle gleich. Ich bilde da keine Ausnahme.«

Scott war überrascht, dass Lin ihn nur mit Namen angeredet hatte. Noch mehr jedoch erstaunten ihn die nachfolgenden Fragen.

»Haben Sie Kinder? In welchem Ort sind Sie geboren?«

Scott besaß eine begrenzte, aber nicht unbeträchtliche Erfahrung im Umgang mit Chinesen: Die meisten redeten über die internationale Lage und Politik, manche kamen direkt auf das Geschäft zu sprechen und einige wenige auf Religion und Hobbys, doch niemand hatte ihm gegenüber je seine Familie erwähnt oder ihn gar nach seiner eigenen gefragt. In seinen Augen waren die Chinesen geborene Diplomaten: Um das Wohl der Welt und das Schicksal der einfachen Menschen gaben sie sich besorgt, doch über die Rolle, die sie selbst in ihrem Privatleben spielten – ob als Vater oder Sohn, Ehemann oder Bruder –, hüllten sie sich in Schweigen.

»Ich habe zwei Töchter. Die eine ist sieben, die andere dreizehn.« Scott nahm sein Portemonnaie hervor und zeigte Lin ein abgegriffenes Foto. »Das Foto ist schon ziemlich alt. Ich hätte es längst gegen ein aktuelleres tauschen sollen. Mein Heimatort ist eine kleine Stadt in Texas. Jetzt hat sie etwas von einer Geisterstadt, aber zu ihren Glanzzeiten war sie ziemlich hübsch. Haben Sie mal die Texas Chainsaw Massacre-Filme gesehen? Es ist ein bisschen wie dort, nur nicht so grauenhaft.« Er lachte, und Kaizong stimmte ein.

Mit einem Kopfschütteln gab Lin das Foto an seinen Besitzer zurück. »Wenn sie erwachsen sind, werden sie bestimmt richtige Schönheiten sein. Ich habe bloß einen Sohn. Er wird in diesem Jahr dreizehn und geht auf die Mittelschule.«

Er schwieg. Scott nickte, um ihn zum Weiterreden zu animieren – er wusste nicht, was er sonst hätte sagen sollen.

»Die größte Hoffnung, die wir hier auf der Insel haben, ist, dass unsere Kinder einmal von hier fortgehen können – je weiter, desto besser. Wir sind alt, und einen alten Baum verpflanzt man nicht mehr, aber die jungen Leute sind anders. Sie sind wie ein unbeschriebenes Blatt, sie sind für alles offen. Diese Insel ist nicht mehr zu retten. Die Luft, das Wasser, der Boden und die Menschen, alles ist schon zu lange im Müll versunken. Manchmal können wir gar nicht mehr unterscheiden, was Müll ist und was nicht. Wir leben vom Müll. So versuchen wir uns durchs Leben zu schlagen und reich zu werden, aber je mehr Geld wir verdienen, desto schlimmer steht es um unsere Umwelt. Es ist, als hätten wir einen Strick um den Hals und würden daran ziehen. Und je mehr wir daran ziehen, desto weniger Luft bekommen wir, aber wenn wir loslassen, fallen wir in einen bodenlosen Abgrund und ertrinken.«

Kaizong war bei diesen Worten zusehends erregt geworden. Statt sofort zu dolmetschen, wollte er erst mit Lin im lokalen Dialekt diskutieren, doch Lin schüttelte nur den Kopf.

»Genau deshalb sind wir hier«, erwiderte Scott. »Meine Eltern waren genau wie Sie: Sie wollten unbedingt, dass ich von zu Hausefortgehe in eine große Stadt. Aber als ich dann wirklich auf eigenen Beinen stand, habe ich begriffen, dass man sich seiner Verantwortung nicht entziehen kann: Sie lastet einem immer auf den Schultern. Man kann sich von ihr abwenden und so tun, als würde man sie nicht sehen, aber man kann ihr auch ins Gesicht blicken und versuchen, die Dinge zu ändern. Alles hängt davon ab, was für ein Mensch man sein will.«

Was für ein Haufen Klischees! Damit könnte ich in einem Hollywood-Film auftreten. Scott erhoffte sich keine große Unterstützung von Lin, doch wenn er ihn sich hier und jetzt nicht zum Feind machen würde, wäre das, als hätte er einen Freund gewonnen.

»Es ist zu schwer.« Lin schüttelte immer noch den Kopf. »Ich habe Ihr Angebot und Ihren Vorschlag gründlich gelesen. Von der technischen Seite verstehe ich nichts, dazu kann ich nichts sagen, aber ich weiß, dass Wealth Recycle im umweltgerechten Recycling führend ist und dass Ihr Plan zur Umweltsanierung wirklich attraktiv ist. Das einzige Problem ist: Die mehreren Tausend Werkstätten auf der Insel müssten schließen, und der gesamte Schrott, der hier ankommt, würde von Ihnen sortiert, demontiert und verarbeitet werden. Sie wissen, was das für sie bedeutet.«

Scott verstand, wen der Direktor mit »sie« meinte. Die drei großen Clans – Luo, Lin und Chen – hatten das Geschäft mit dem Recycling von Elektronikschrott auf der Siliziuminsel fast völlig monopolisiert. Dabei ging es um Millionen Tonnen, die jedes Jahr verarbeitet wurden, mit einem Produktionswert in Milliardenhöhe. Die Neuverteilung der Gewinne, die mit der Neuordnung einer so großen Industrie einherginge, würde mit harten Bandagen geführt werden und nicht ohne blutige Opfer ablaufen.

»Unser Plan wird Zehntausende von umweltfreundlichen, komplett sozialversicherten Arbeitsplätzen schaffen. Unsere hochentwickelte Recycling-Technologie wird die Verluste bei der manuellen Demontage und Verarbeitung beträchtlich senken und den derzeitigen Produktionswert um mindestens dreißig Prozent erhöhen. Aber das Wichtigste ist: Wir werden einen Sonderfonds einrichten, um eine umfassende Umweltsanierung der Siliziuminsel zu ermöglichen. Wir werden Ihre Heimat wieder so schön machen, wie sie einmal gewesen ist. Der Himmel wird wieder blau sein, das Wasser klar, die Berge grün.«

Das war fast wortwörtlich das Fazit der Firmenofferte. Kaizong zollte dem Gedächtnis seines Chefs im Stillen seine Bewunderung, zumal Scott hier auf seine Augmented-Reality-Technologie verzichten musste.

»Ich weiß das alles.« Lin schien auf einmal wieder vollkommen nüchtern. Er bestellte eine Tasse starken Tee. »Aber das ist den Leuten egal. Den Einheimischen ist es egal – sie wollen nur so viel Geld wie möglich aus der Insel herausschlagen. Und den Arbeitern von auswärts ist es auch egal – sie wollen nur so schnell wie möglich genug Geld zusammensparen, damit sie in ihre Heimat zurückkehren und einen kleinen Tante-Emma-Laden aufmachen oder ein Haus bauen und heiraten können. Jeder hasst diese Insel, und niemand schert sich um ihre Zukunft. Alle wollen bloß weg von hier und diesen Abschnitt ihres Lebens aus ihrem Gedächtnis ausradieren, genau wie den Müll.«

»Aber der Regierung sollte es nicht egal sein!«, platzte es aus Scott heraus.

»Die Regierung hat Wichtigeres zu tun«, erwiderte Lin ruhig, nachdem er einen großen Schluck von seinem Tee genommen hatte. Die Röte war aus seinem Gesicht verschwunden, und er hatte wieder sein Lächeln aufgesetzt, das so klug und höflich und doch so maskenhaft wirkte, als hätte es den aufrichtigen Vater von eben nie gegeben. »Es ist schon spät, und wir müssen noch nach Xialong. Glauben Sie mir, Sie werden nicht lange bleiben.«

Es gibt zwei Siliziuminseln, dachte Scott, während er die Landschaft betrachtete, die gemächlich am Fenster des Land Rovers vorüberglitt.

Als die Regierungsvertreter ihm und den anderen Gästen einen Teil des Stadtgebiets gezeigt hatten, war er nicht nur von dem Verkehrschaos überrascht gewesen, sondern auch von den vielen Luxuslimousinen, die unter unaufhörlichem Gehupe durch die Straßen kurvten: BMW, Mercedes, Bentley, Porsche … Er glaubtesogar, einen rubinroten Maserati gesehen zu haben, der wie selbstverständlich den halben Gehweg in Beschlag nahm. Der junge Besitzer hockte vor einer Garküche an der Straße und verspeiste genüsslich seine gegrillten Meeresfrüchte.

Gemessen am niedrigen Verwaltungsstatus der Halbinsel war die hiesige Stadt erstaunlich wohlhabend. So viele Boutiquen, die sich auf Luxusmarken spezialisiert hatten, hatte Scott sonst nur in den großen Metropolen auf dem Festland gesehen. Die Einwohner bauten sich mit Vorliebe teure Häuser im traditionellen Hiasuanhoun-Stil, den sie freilich mit modischen Elementen aus Europa kombinierten, sodass der gesamte Ort eine verwirrende pseudoexotische Aura besaß. Der Besucher fühlte sich, als wäre er in eine drittklassige Architekturmesse geraten, in der sich mediterrane Einflüsse abrupt mit skandinavischem Minimalismus abwechselten.

Hier also lebten die Neureichen, die Scotts Reiseführer beschrieben hatte: Sie kauften sich aus der ganzen Welt nur das Beste zusammen, um damit die Leere in ihrem Leben zu füllen.

Scott sah keine Fußgänger, die einen Mundschutz trugen. Atemwegsprothesen waren auf der Insel noch nicht verbreitet, das wusste er. Weil der Wind von der übrigen Insel normalerweise nicht in Stadtrichtung wehte, war die Luftqualität hier noch vergleichsweise erträglich. Allerdings lag auch hier beständig ein übler Gestank in der Luft, der das Atmen schwer machte. In einer Gummiverbrennungsanlage auf den Philippinen hatte er einmal einen ähnlichen Geruch erlebt. Danach hatte er eine geschlagene Woche lang unter saurem Aufstoßen gelitten. Doch die Menschen hier schienen sich an den Gestank gewöhnt zu haben.

Der Land Rover kam nur langsam vorwärts. Von Zeit zu Zeit blockierte ein Elektro-Dreirad mit Trinkwasser den Verkehr. Die Fahrer – ausnahmslos Auswärtige, die die unterschiedlichsten Dialekte sprachen – ließen die wütenden Hupkonzerte und Flüche gleichmütig über sich ergehen. Dasselbe Wasser, das im neun Kilometer entfernten Dorf Huang zwei Yuan pro Tonne kostete, konnten sie hier für zwei Yuan pro Vierzig-Liter-Fass verkaufen. Die Einheimischen gaben sich mit solch läppischen Gewinnen nicht ab – dabei hatten sie selbst mit ihren großen Geschäften einen Gutteil des Oberflächenwassers und des seichten Grundwassers der Siliziuminsel ungenießbar gemacht.

»Das ist der Preis der wirtschaftlichen Entwicklung« – diese Phrase, die sie aus dem Fernsehen gelernt hatten, plapperten sie wie aus einem Mund in einem fort nach.

»Da vorn liegt das Dorf«, bemerkte Lin Yiyu, der sich vom Beifahrersitz nach hinten gedreht hatte.

»Mein Gott …«, platzte es aus Kaizong heraus. Scott, der seinem Blick folgte, schürzte die Lippen, sagte aber nichts. Er hatte sich viele Unterlagen zur Insel angesehen, doch das minderte kaum seinen Schock, als er nun, nur durch ein Fenster getrennt, die nackte Wirklichkeit vor Augen hatte.

Unzählige Werkstätten, jede kaum mehr als eine Hütte, säumten dicht an dicht wie Mah-Jongg-Steine die Straßen. Dazwischen waren nur schmale Wege freigelassen, damit die Müllwagen ihre Ladung abliefern konnten. Überall lagen Metallgehäuse, kaputte Displays, Leiterplatten, Plastikteile und Drähte verstreut wie Kothaufen, und dazwischen schwirrten die auswärtigen Arbeiter umher wie Fliegen, durchstöberten den Schrott und warfen alle Teile von Wert in Öfen oder Säurebecken, um sie zu zersetzen und Kupfer und Zinn oder kostbare, seltene Metalle wie Gold oder Platin zu gewinnen. Was übrig blieb, verbrannten sie, oder sie ließen es achtlos liegen und produzierten so noch mehr Müll. Niemand trug irgendwelche Schutzkleidung.

Alles war in einen bleiernen Dunst gehüllt. Der weiße Dampf, der von dem erhitzten Königswasser in den Säurebädern aufstieg, vermischte sich mit der schwarzen Asche von dem PVC, dem Isolierdraht und den Leiterplatten, die ohne Unterlass auf den Feldern und an den Ufern des Flusses brannten. Die Brise, die vom Meer her kam, vermischte die beiden Kontrastfarben zu einem einheitlichen Grau und wehte sie unterschiedslos in die Poren eines jeden Lebewesens.

Scott sah die Menschen, die im Müll lebten – die Einheimischen nannten sie Müllmenschen. Die Frauen wuschen ihre Wäsche mit bloßen Händen im schwarzen Wasser. Der Teppich aus Entengrütze, der darauf schwamm, war von silbernen Seifenblasen gesäumt. Überall spielten Kinder: Sie rannten am schwarzen Ufer entlang, das von Glasfasern und verkohlten Leiterplatten funkelte, sprangen über die glühende Asche der Plastikreste, die auf den Feldern schwelten, und schwammen und plantschten in den dunkelgrünen Teichen, auf denen Polyesterfolien trieben. Anscheinend hatten sie an dieser Welt nicht das Geringste auszusetzen und ließen sich durch nichts die Laune verderben. Die Männer hatten ihre Oberkörper entblößt, um mit ihren minderwertigen künstlichen Körpermembranen zu protzen. Sie nutzten ihre spärliche Freizeit, um sich mit Augmented-Reality-Brillen – billigen Produktfälschungen, nicht den Originalen – auf die Granitdämme der Bewässerungskanäle zu legen, die mit kaputten Displays und Plastikschrott zugemüllt waren. Die alten Kanäle waren vor Jahrhunderten erbaut worden, um die Reisfelder mit Flusswasser zu tränken. Nun schimmerten sie im Glanz des Zerfalls.

»Wir sind da. Wollen Sie immer noch aussteigen?« Lins Ton war spöttisch, als wäre er nur ein unbeteiligter Besucher.

»Man kann kein Tigerjunges fangen, ohne sich in die Höhle des Tigers zu wagen.« Scott versuchte das Sprichwort in halbwegs verständlichem Chinesisch zu zitieren. Dann setzte er seinen Mundschutz auf und öffnete die Wagentür.

Lin schüttelte den Kopf und folgte ihm missmutig.

Heiße, dreckige Luft wogte auf Scott ein, begleitet von einem beißenden Gestank. Seine Maske filterte den Staub und die Schmutzpartikel heraus, doch gegen den Geruch war sie machtlos. Einen Moment lang fühlte er sich wieder an den Stadtrand von Manila vor zwei Jahren zurückversetzt – nur dass der Gestank hier zehnmal so intensiv war. Er versuchte, sich nicht mehr zu rühren, doch der Schweiß quoll ihm trotzdem aus allen Poren und vermischte sich mit den namenlosen chemischen Substanzen in der Luft, ehe er sich auf seiner Haut als zähflüssiger Film ablagerte, der mit seiner Kleidung verwuchs und jeden Schritt mühsam machte.

Vor ihnen erhob sich ein steinerner Torbogen, in den der Name »Xialong« in altertümlicher Kanzleischrift eingraviert war. Normalerweise hätte Scott das Monument näher in Augenschein genommen, um das Alter und die Kunstfertigkeit der Arbeit zu würdigen, doch in diesem Moment kam ihm die Inschrift auf dem Tor zur Hölle in Dantes Göttlicher Komödie in den Sinn:

Per me si va ne la città dolente,

per me si va ne l’etterno dolore,

per me si va tra la perduta gente.

An der Universität hatte Scott Italienisch als Wahlfach belegt, und dabei hatte Dantes Klassiker zur Pflichtlektüre gehört. Eigentlich hatte er geglaubt, seine Halbbildung würde ihm nie mehr im Leben zupasskommen, doch für diesen Ort schienen die Verse wie gemacht. Nur der eindrucksvolle Schluss von Dantes Warnung wollte ihm partout nicht mehr einfallen.

Die Arbeiter hielten inne und blickten neugierig zu den Neuankömmlingen herüber. Die meisten Augen ruhten auf Scott. Obwohl sein Mundschutz das halbe Gesicht verdeckte, hatten seine stattliche Statur, seine blasse Haut und das kurze blonde Haar ihn verraten. Er war zwar beileibe nicht der erste Ausländer, den die Arbeiter zu Gesicht bekamen, doch sie wunderten sich, warum dieser gut gekleidete Fremde ausgerechnet hier auftauchte, als wäre er Jesus von Nazareth, der keine Gluthitze, keine giftigen Schwaden und keine Straßen voller Schmutz gescheut hatte, um zu ihnen durchzudringen.

Dann lächelten sie alle. Ihr Lächeln breitete sich bis zu ihren Mundwinkeln aus wie ein kalter Lufthauch.

»Seien Sie vorsichtig. Hier gibt es viele Junkies«, flüsterte Lin Kaizong zu. Ohne auf die Übersetzung zu warten, hielt Scott, der vorweggegangen war, plötzlich inne.

Vor ihm auf dem Boden wand sich eine Armprothese. Ob absichtlich oder nicht, ihre Impulsschleife war noch eingeschaltet, und die gewaltsam herausgerissene Batterie in ihrem Innern entlud sich noch immer. Der Strom floss unter der künstlichen Haut zu den synthetischen Nervenenden, die aus dem offenen Stumpf hervorragten, und rief rhythmische Muskelkontraktionen hervor. Die fünf Finger krallten sich unaufhörlich in den Boden und schleiften den verstümmelten Unterarm hinter sich her wie eine riesige fleischfarbene Raupe, bis die Prothese gegen einen weggeworfenen LCD-Bildschirm prallte. Unfähig, sich weiterzubewegen, kratzte sie mit ihren abgebrochenen Fingernägeln ohne Unterlass an der glatten Oberfläche.

Ein kleiner Junge rannte herbei, hob die Prothese auf und setzte sie in einer anderen Richtung zurück auf den Boden. Seine Miene war gänzlich unaufgeregt, so als wäre der künstliche Arm so gewöhnlich wie ein Spielzeugauto. Und so begann das groteske Spielzeug von Neuem seine lange Reise ins Nirgendwo, die erst enden würde, wenn ihm der Strom ausgegangen wäre.

Scott hockte sich vor den Jungen. Ohne ein Anzeichen von Furcht oder Neugier starrte der Junge seinen Mundschutz an. »Wo kann man so eine … Hand sonst noch finden?«, fragte Scott auf Chinesisch. Aus Angst, sein Akzent wäre zu stark, versuchte er seine Frage auch durch Gesten zu vermitteln.

Einen Moment stutzte der Junge, dann zeigte er auf einen Schuppen in der Nähe und lief davon.

Als Scott wieder aufstand, lag in seinen Augen ein so freudiger Glanz, als hätte er gerade einen jahrtausendealten Schatz entdeckt.

Schon von außen sah man, dass der Schuppen menschenleer war. Nur ein Haufen weggeworfener Silikonprodukte lag darin, deren elektronische Komponenten man vollständig entfernt hatte. Die übrig gebliebenen Silikonteile mussten in einem speziellen Verfahren zersetzt werden, um die Monomere und das Silikonöl zu extrahieren. Weil die hiesigen Werkstätten nicht über die notwendige Technologie verfügten, sammelten sie das Silikon hier, damit es von einem darauf spezialisierten Recycler abgeholt wurde.

Als Lin seine Erklärung beendet hatte, fügte er noch hinzu: »Heutzutage wechseln die Reichen ihre Körperteile so beiläufig, wie man früher seine Armbanduhr gewechselt hat. Die weggeworfenen Prothesen landen hier bei uns. Viele sind noch nicht einmal sterilisiert worden und enthalten noch verschmutztes Blut und andere Körperflüssigkeiten, die ein großes Risiko für die Gesundheit unserer Bevölkerung darstellen …« Als wäre ihm plötzlich etwas bewusst geworden, brach er abrupt ab und wechselte das Thema. »Es ist zu schmutzig hier, Herr Scott. Sehen wir uns lieber den Dorfausgang an. Dort liegen die meisten Werkstätten.«

Kaizong spürte, dass der Direktor etwas verheimlichte. Nachdem er Lins Worte für Scott gedolmetscht hatte, äußerte er seinen Verdacht. Doch sein Chef lächelte nur, als wären ihm Lins Manöver gleichgültig, und marschierte ohne ein weiteres Wort auf den Schuppen zu.

Plötzlich schoss ein schwarzer Schatten aus dem Dunkel auf der linken Schuppenseite hervor. Scott hörte einen entsetzten Aufschrei von Lin und fühlte, wie ein fischig stinkendes Etwas auf ihn zustürzte. Er duckte sich rasch zur Seite und schleuderte den Angreifer von sich fort.

Er hörte ein tiefes Knurren, und nun sah er auch, wer ihn attackiert hatte: ein großer Deutscher Schäferhund. Der Hund rollte auf dem Boden, warf sich aber im nächsten Moment schon wieder in Positur für seinen nächsten Angriff.

Scott nahm eine Nahkampfhaltung ein. Sein ganzer Körper spannte sich in Erwartung der nächsten Attacke, während er die grün funkelnden Augen seines Gegners fixierte.

Doch in diesem Moment schien ein lautloses Kommando den Schäferhund zu unterwerfen. Augenblicklich gefügig geworden, trollte er sich mit eingekniffenem Schwanz in den Schatten hinter dem Schuppen.

»Das ist ein gechippter Hund.« Lin hob sein Handy. Der Schreck stand ihm noch ins Gesicht geschrieben, und er keuchte, als wäre er selbst das Opfer der Attacke gewesen.

Um sich vor Dieben zu schützen, hielten sich die Dorfbewohner große Hunde mit implantierten Chips. Die Tiere waren digital konditioniert: Sobald jemand einen festgelegten Bereich betrat, ohne dass er ein Signal auf einem bestimmten Frequenzkanal abgesetzt hatte, gingen sie zum Angriff über und ließen erst von dem Eindringling ab, wenn sie ihn kampfunfähig gemacht hatten. Jedes Dorf verwendete seinen eigenen Frequenzbereich, den es obendrein häufig wechselte, und nur einige wenige Leute hatten Zugang zu allen Frequenzen. Lin war einer von ihnen.

»Diese Hunde haben schon eine ganze Reihe von Leuten totgebissen, darunter einige radikale Umweltaktivisten.« Lin schmunzelte. »Dass Sie so versiert im Nahkampf sind, hätte ich Ihnen gar nicht zugetraut, Herr Scott.«

Scott erwiderte sein Lächeln, während er sich die linke Hand an die Brust hielt. Durch den plötzlichen Schreck war sein Herzrhythmus unregelmäßig geworden, und er wartete darauf, dass die winzige Box, die in seine Brust implantiert war, ihre Wirkung entfaltete.

Kaizong versuchte seine Bestürzung zu verbergen. Ihm war klar, dass Scott eine lange, professionelle Ausbildung absolviert haben musste, um so schnell und effektiv auf den Überraschungsangriff zu reagieren. Anscheinend war sein Chef mehr als ein erfolgreicher Manager. Und vielleicht beabsichtigte er mit seiner Reise auf die Siliziuminsel auch mehr als nur eine simple Projektrecherche.

Scott betrat den Schuppen. Er hockte sich vor den fleischfarbenen Berg, der aus unzähligen Prothesen und künstlichen Organen errichtet war, und begann ihn zu durchsuchen. Ein beißender Geruch nach Desinfektionsmitteln drang ihm in die Nase. Halb durchsichtige Cochlea-Implantate, künstliche Lippen und Glieder, Brust- und Muskelimplantate und übergroße Geschlechtsorgane fielen herunter, bis der ganze Haufen in sich zusammenstürzte. Scott sah ein einziges Zartrosa von trügerischer Gesundheit vor sich. Es war, als wäre er in das Lager von Jack the Ripper geraten. Endlich fand er, wonach er gesucht hatte.

Die Abfolge von Buchstaben und Zahlen – SBT-VBPII32503439 – war gut versteckt in die Innenseite eines harten Prothesenstützteils eingeätzt worden, das wie die Hälfte einer mutierten Muschel aussah. Das Innere des Teils, das mattweiß wie ein Knochen schimmerte, war leer, doch es hatte offensichtlich einmal einige integrierte Schaltkreise enthalten. Scott hielt Lin die seltsame Muschel hin. Schaudernd vor Widerwillen nahm Lin sie entgegen.

»Herr Direktor, darf ich Sie um einen Gefallen bitten?« Scott schlug einen äußerst höflichen Ton an. »Können Sie für mich herausfinden, wer diesen Müll verarbeitet hat?«

»Das ist alles andere als einfach. Wir verfügen hier über keine modernen Verwaltungsverfahren und Datenbanken wie Sie … Das könnte ziemlich viel Zeit in Anspruch nehmen.« Lin betrachtete nachdenklich die Prothese in seiner Hand. Sie sah nicht aus wie etwas, das man an einem menschlichen Körper anbringen konnte – jedenfalls nicht an einem normalen menschlichen Körper. »Was ist denn das überhaupt für ein Ding?«

»Glauben Sie mir: Das wollen Sie gar nicht wissen.«

Scott hörte etwas in seinem Rücken und drehte sich wachsam herum. Einige Arbeiter rannten an dem Schuppen vorbei, ohne anzuhalten.

Lin war in Gedanken noch bei Scotts Bitte. Er nickte. Die Insel war so klein, dass auf Dauer kein Geheimnis vor ihm sicher war – es war nur eine Frage der Zeit.

»Ich werde mein Bestes tun, um den Mann für Sie zu finden, bevor Sie Ihre Recherche hier abgeschlossen haben«, versprach er nachdrücklich.

In diesem Moment sah er, wie noch mehr Leute in dieselbe Richtung wie die Arbeiter zuvor an dem Schuppen vorbeistürzten, auf den Gesichtern eine Mischung aus Erregung und Angst. Er trat einem jungen Mann in den Weg, und weil die Arbeiter hier alle vom Festland kamen und den lokalen Dialekt nicht verstanden, fragte er ihn in ungelenkem Hochchinesisch: »Was ist denn los?«

»Jemand ist eingeklemmt.« Der junge Mann wich ihm aus und rannte weiter.

Lins Gesicht verfinsterte sich, und er lief den Arbeitern hastig hinterher. Scott und Kaizong schlossen sich ihm an. Vor einem Schuppen ein Stück weiter hatte sich eine dichte Menge von ein paar Dutzend Leuten versammelt, die aufgeregt durcheinanderredeten. Lin und seine beiden Gäste bahnten sich einen Weg durch die Menge. Als sie sahen, was geschehen war, holten sie tief Luft.

Ein Mann lag blutüberströmt auf dem Boden. Seine Glieder zuckten. Ein kaputter schwarzer Roboterarm hielt ihn mit seinen Zangen an Kopf und Hals umklammert. Zwischen den Zangen quoll aus dem entstellten Gesicht blutiger Schaum hervor. Er schien nicht mehr bei klarem Bewusstsein, und aus seiner Kehle drang ein schwaches Wimmern wie von einem verwundeten Tier. Gleichzeitig wirkte er mit seinen unkontrollierten Zuckungen wie das Produkt eines Montagefehlers, bei dem man einen Roboterkopf auf einen menschlichen Körper aufgesetzt hatte.

»Was ist passiert?«, fragte Lin die umstehende Menge, die lautstark miteinander diskutierte. Soweit er die Antworten verstand, schienen sie darauf hinauszulaufen, dass der Mann in den schraubstockartigen Würgegriff geraten war, nachdem er bei der Demontage versehentlich die Reserverückführkreise aktiviert hatte. Sein Leben stand einfach unter keinem guten Stern, darin waren sich die Leute einig und schüttelten zum Zeichen ihres Mitgefühls die Köpfe.

Unterdessen drängte sich Scott vor und bedeutete Kaizong mit einer Geste, die Schultern des Mannes festzuhalten, damit die Nerven an seiner Halswirbelsäule keinen Schaden nahmen. Dann untersuchte er sorgfältig den Roboterarm: Es handelte sich um das Modell »Spirit Claw III« der amerikanischen Firma Foster Miller, ein Modell mit dem Freiheitsgrad sechs, das nicht mehr produziert wurde, ausgestattet mit integrierten Mikrobatterien, die seine Servomotoren bei Stromausfall dreißig Minuten lang mit Energie versorgen konnten. »Spirit Claw III« war ein Basismodel, das im paramilitärischen Bereich – zur Entschärfung von Sprengkörpern, zur Niederschlagung von Aufruhr und zur Wahrung der öffentlichen Ordnung – breite Anwendung fand.

Du hast Glück und Pech zugleich. Scott wusste nicht mehr weiter. Der Mann hatte Glück, weil die maximale Greifkraft des Roboterarms bei nur 520 Newton lag. Ein Industriemodell hätte seinen Schädel längst zu Brei zerquetscht. Doch gleichzeitig hatte er auch Pech, weil der Arm aus einer gehärteten Speziallegierung gefertigt war, die ihn vor Bombenexplosionen schützte. Gewöhnliche Werkzeuge konnten ihm nichts anhaben.

»Aus dem Weg! Aus dem Weg!«, schrie jemand, und die Menge machte einen Durchgang frei. Zwei Männer, die einen Plasmaschneider auf den Schultern trugen, stürzten herbei. Der eine warf Kaizong einen dankbaren Blick zu, ehe er misstrauisch zu Scott hinüberäugte.

Das bringt nichts, dachte Scott. Ihr macht alles nur noch schlimmer. Dennoch trat er zur Seite, ohne ein Wort zu sagen.

Der Plasmaschneider warf einen blassblauen Lichtbogen. Als das Licht die Zangengelenke des Roboterarms berührte, zischte das Metall auf. Je nachdem, welche Fremdbestandteile verbrannt wurden, wechselte das Licht die Farbe, und die Schnittstelle im Metall färbte sich erst schwarz, dann rot, dann weiß. Die umstehenden Arbeiter fassten wieder Hoffnung. In atemloser Spannung stellten sie sich auf die Zehenspitzen, um das Schauspiel noch besser verfolgen zu können, wagten aber nicht, näher heranzurücken.

Der Mann, der in den Zangen gefangen war, begann auf einmal wie wild zu zappeln, während tief aus seiner Kehle klägliche Schmerzensschreie drangen.

Metall ist ein ausgezeichneter Hitzeleiter. Scott wandte sich ab.

Das Haar des Mannes fing Feuer. An seiner Kopfhaut bildeten sich glitzernde, durchsichtige Bläschen. Bald platzten sie, und Blut sickerte heraus. Die Männer, die den Plasmaschneider bedienten, hielten entsetzt inne und trieben hastig nasse Lappen auf, um die Flammen zu löschen. Weißer Dampf stieg auf, vermischt mit dem Geruch von verbranntem menschlichen Fleisch, und als er sich ringsum verbreitete, hielten manche sich die Nase zu, während andere sich erbrachen.

Mein Gott. Scott wusste: An diesem Punkt gab es nur noch eine Lösung, nämlich sich über die herstellereigene Schnittstelle des »Spirit Claw« mit dessen Modul zur Befehlsverarbeitung zu verbinden und das Kommando zur Abschaltung der Servomotoren zu erteilen. Doch er verfügte weder über die nötigen Werkzeuge, noch wusste er, ob das Modul des Roboterarms überhaupt noch funktionierte. Also blieb ihm nur eines: beten – beten, dass die Batterien sich so schnell wie möglich entluden.

Kaizong bemühte sich, gemeinsam mit einem anderen Mann den Verletzten zu Boden zu drücken. Er spürte, wie die Kräfte des Körpers unter seinen Händen schwanden und sein Widerstand erstarb, so als würde ein unsichtbares Etwas lautlos aus ihm entweichen. Als Kaizong ihn losließ, rührte er sich nicht mehr.

Plötzlich öffneten sich die Roboterzangen mit einem lauten Krachen, das die Menge zusammenzucken ließ, und der zerquetschte Schädel des Mannes sank zu Boden.

Scott musterte die Menge. Auf den Gesichtern der Müllmenschen spiegelten sich unterschiedliche Regungen: Ohnmacht und Betäubung, Entsetzen und Erregung. Er sah den Abscheu von Lin und den Schock von Kaizong. Und er glaubte sich selbst zu sehen: ein bleiches weißes Gesicht inmitten von all den gelben Gesichtern. Doch was für ein Ausdruck auf diesem Gesicht lag, konnte er nicht erkennen – dafür war es zu verschwommen.

Da kam ihm der italienische Vers wieder in den Sinn, den er so lange vergessen hatte:

Lasciate ogne speranza, voi ch’intrate.

Es war der letzte Vers der Inschrift auf dem Tor zur Hölle.

2

Nachdem sein Blick über lauter ebenso farbenprächtige wie langweilige Fotos mit Alltagsszenen und Landschaftsmotiven der Siliziuminsel geglitten war, verweilte Chen Kaizong bei einem Schwarz-Weiß-Bild. Er konnte kaum glauben, dass dieses Foto das Werk eines einheimischen Kindes war.

Das Bild war bei den Recycling-Schuppen aufgenommen worden – also in einer Gegend, vor der die Eltern ihr Kind wiederholt gewarnt haben mussten. Vor einem chaotischen Haufen von Elektronikschrott saß ein Müllmensch, in den Händen eine halbe Prothese. Der Haarschnitt und die Kleidung verrieten nichts über sein Geschlecht. Auf seinem jugendlichen Gesicht lag ein eigenartiger Ausdruck: Er oder sie blickte nicht in die Kamera, sondern, tief in Gedanken versunken, irgendwohin jenseits des Bildausschnitts.

Was für ein ungewöhnlich schönes Bild. Kaizong klappte das Album mit den besten Schülerfotografien zu und ließ den Blick über den Sportplatz wandern.

Die Kinder waren nun schon für volle zwei Stunden dem glühenden Sonnenschein ausgesetzt. Von ihren knallroten Gesichtern troff der Schweiß, und unter ihren zusammengekniffenen Augen zeichneten sich tiefe Schatten ab. Sie wanden sich unaufhörlich wie riesige Würmer, verlagerten ihren Körperschwerpunkt vom einen Bein auf das andere, kratzten sich an der Stirn oder wischten sich den Schweiß ab, doch dabei versuchten sie, ihre Bewegungen so unauffällig wie möglich zu halten, um nicht die Aufmerksamkeit ihrer Lehrer zu erregen.

Auf dem Podium setzte unterdessen der Schuldirektor seine Rede mit unvermindertem Pathos fort und beschwor die strahlende Zukunft herauf, die die Primärerziehung der Siliziuminsel bescheren würde. Zu beiden Seiten des Podiums waren leistungsstarke schrankartige Klimaanlagen aufgestellt. Die kalte Luft, die sie ausstießen, verwandelte sich augenblicklich in weiße Dunstschwaden, die wie Wolken an den Ehrengästen unter den roten Sonnenschirmen vorüberzogen.

Es reicht. Kaizong lehnte sich zu Scott und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Sein Chef hob die Augenbrauen und flüsterte ein paar Worte zur Antwort, woraufhin Kaizong aufstand, zu Lin Yiyu hinübertrat und ihm etwas ins Ohr wisperte. Lin runzelte die Stirn und überlegte einen Moment. Dann schrieb er rasch etwas auf einen Zettel, den er einer neben ihm stehenden Helferin mit der Bitte reichte, ihn dem Schuldirektor zu geben.

Abrupt verstummte der Lautsprecher, und für einen Moment war das Publikum von den Pfeifgeräuschen erlöst, die die allzu erregte Stimme des Sprechers verursacht hatte. Dann beendete der Schuldirektor mit einem überhasteten Resümee seine Rede. Zum Abschied der Ehrengäste brandete allseits stürmischer Beifall auf.

»Mr. Brandle, es ist doch nichts Ernstes?«, fragte der Schuldirektor mit starkem Akzent auf Englisch.

»Es geht mir gut«, antwortete Scott mit einem Lächeln. »Ich habe nur ein wenig Kopfschmerzen, vielleicht wegen der Klimaanlage.«

»Und was ist mit Ihrem Nachmittagsprogramm?«