Die Söhne des Herrn Budiwoj: Historischer Roman - August Sperl - E-Book

Die Söhne des Herrn Budiwoj: Historischer Roman E-Book

August Sperl

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Beschreibung

Dieses eBook: "Die Söhne des Herrn Budiwoj: Historischer Roman" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Aus dem Buch: "Der Alte unter der Linde stand auf: "Zawisch, die Axt!" rief er über den Hof. Ein vergnügtes Lächeln flog über das blühende Antlitz des Knaben, sorgfältig lehnte er die Art an die Mauer und zog sein Holzschwert aus dem Gürtel. ›Der Racker!‹ murmelte der Alte, setzte sich wieder und schaute gespannt auf das Kampfspiel." August Sperl (1862-1926) war ein deutscher Archivar, Historiker und Schriftsteller.

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August Sperl

Die Söhne des Herrn Budiwoj: Historischer Roman

e-artnow, 2017 Kontakt [email protected]
ISBN 978-80-273-0164-5

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch
Frau Berchta
Jahreswende
Totenfeier
Zweites Buch
Herbst 1276
Diemut
Der Kanzler
Die Marchfeld-Schlacht
Drittes Buch
Im goldenen Prag
Zawisch an seinen Bruder Witigo
Unter der Erde
Hoffnungslos?
Auf Burg Grätz
Viertes Buch
Frühjahr 1283
Ein Frauenherz
Hubald
Drahomir
Fünftes Buch
Im Gewitter
Im Königfrieden
Freunde in der Not
Der römische König
Erlöst
Nachwort
Anmerkungen

Erstes Buch

Inhaltsverzeichnis

Frau Berchta

Inhaltsverzeichnis

Am blauen Himmel zogen weiße Wölklein, und im Sonnenscheine lag die Krummenau.

Hoch über Palas und Ringmauern der massigen Burg ragte der schlanke Bergfried empor in die heiße Luft, und der vergoldete Knauf seines Wächterhäusleins funkelte in den Strahlen der Sonne.

Gleich einem mächtigen Walle standen in der Runde hochgetürmt die böhmischen Hügel und Berge und waren bedeckt mit dunkeln Tannenforsten und mit lichten Laubwäldern und waren besäumt mit gelben Kornfeldern; tief unten im Tale aber glitzerte die braune, vielgekrümmte Moldau, von den mittägigen Hügeln herab zog sich das helle Band des uralten Saumpfades hinein zwischen die Hütten der Krummenau, heran unter die schroffen Felsen – und von den schroffen, grauen Felsen schaute die Herrenburg frank und frei hinaus über Hütten und Strom, über Saumpfad und Steige hinauf und hinüber zu den gelben Kornfeldern, zu den strohgedeckten Meierhöfen, zu den dunkeln und lichten Wäldern ringsumher. –

Aus der niederen Türe des Wächterhäusleins, das wie ein Bienenkorb auf der Plattform des Bergfrieds stand, kam gebückt ein alter Mann. Langsam ging er auf dem schmalen Wege zwischen Steinbrüstung und Holzwand, hielt seine faltige Hand über die Augen und spähte nach allen vier Enden des Himmels. Die Stille des heißen Nachmittags lastete auf der Landschaft, verschlafen zwitscherten die Vögel unter den Dächern, leise nur drang das Rauschen der Moldau herauf, leise nur knarrten die Bretter unter den Tritten des Greises.

Er war auf seinem Gange wieder an die Türe des Häusleins gekommen, blieb nun stehen und lauschte. Dann stemmte er die Arme auf die niedere Brüstung und sah hinunter in die gähnende Tiefe. Menschenleer dehnte sich der weite Hof der Vorburg, und weißblendend leuchtete der Sandboden rings um die junge Linde, deren Düfte die Luft erfüllten bis hinauf zur Plattform des Bergfrieds.

Der alte Mann tat einen starken Atemzug, wandte das Haupt und rief durch die offene Türe: »Alle Wetter, Turmwartl, hängt die Axt an der Wand?« – »Weg ist sie, Herr Marschalk; war aber noch heut' mittag vorhanden,« kam die Antwort zurück.

Da brummte der Alte unverständliches Zeug in seinen weißen Bart, trat an die Falltüre, hob ihre schweren Bohlen und stieg langsam und bedächtig in den schwarzen Schlund hinab.

Fernher aus dem Tale klang jetzt vielstimmiges Jauchzen und Schreien.

Nach einer Weile tauchte der Alte aus der Türe hervor, die in der halben Höhe des Turmes hinaus auf die Freistiege führte, und bedächtig klomm er Schritt um Schritt rückwärts die Stufen hinunter, ging schräg über den Hof, spähte in das tiefe, finstere Tor, wandte sich und ging zur Steinbank unter die Linde.

Eiliges Trappeln kam näher und näher, kurze, gebieterische Rufe erschollen aus der Tiefe.

In sich zusammengesunken saß der Greis unter der Linde, die Hände hatte er auf die Kniee gestemmt, das Haupt gesenkt, und unablässig beobachteten seine Augen den Torweg.

Aus dem Dunkel sprangen Knaben in das Licht, erst einzelne, dann eine dichtgedrängte Schar. Ihre Gesichter glühten, Holzschilde trugen sie über dem Rücken, Holzschwerter in der Hand. Aufmerksam sah der Mann von der Steinbank herüber. In einem Haufen standen die Knaben und spähten zurück in das Tor.

»Wo ist Ulrich?« rief eine befehlende Stimme, und ein schlankgewachsener Knabe trat in die Helle hervor.

Eine Bewegung ging durch die Rotte.

»Wo ist Ulrich?« rief der Knabe zum zweitenmal, nahm die Lederkappe vom Haupte und fuhr hastig durch seine goldblonden Locken.

»Hab' ich mir's doch gedacht,« murmelte der Alte, »da hält der Racker die Axt! Das Donnerwetter ...«

»Er ist nicht bei uns,« antwortete einer aus dem Haufen.

»Wo steckt der Feigling?«

»Da bin ich ja schon,« kam eine Stimme aus der Tiefe, und langsam schob sich ein dicker Knabe heran und warf einen schiefen Blick auf den andern, den Schlanken.

»Stelle dich ein!« herrschte ihn der Führer an. »Sie kommen!« fügte er rasch hinzu und befahl mit Würde: »Du, Witigo nimmst zwanzig und besetzest die Zugbrücke oben. Ich halte mit den zehn andern den Torweg da. Wer will bei mir bleiben?«

»Ich! Ich! Ich!«

»Nur zehn kann ich brauchen,« sagte der Knabe, griff in den drängenden Haufen und stellte seine Schar zusammen.

»Jetzt kehret euch!« rief er.

»Und was soll ich sonst noch tun, Zawisch?« fragte Witigo.

»Nur an der Brücke halten, während ich hier kämpfe!«

»Und wenn sie dich bezwingen?«

»Dann sieh auf mich: wart', ich gebe dir ein Zeichen« – »ich kniee nieder, wenn du weiter kämpfen sollst,« setzte er nach kurzem Besinnen hinzu. »Eile aber, sie kommen!«

Der Alte unter der Linde stand auf: »Zawisch, die Axt!« rief er über den Hof. Ein vergnügtes Lächeln flog über das blühende Antlitz des Knaben, sorgfältig lehnte er die Art an die Mauer und zog sein Holzschwert aus dem Gürtel. ›Der Racker!‹ murmelte der Alte, setzte sich wieder und schaute gespannt auf das Kampfspiel.

»Was tust du bei mir?« rief Zawisch und trat vor den Knaben, der zuletzt gekommen war. »Du sollst mit Witigo gehen!«

»Eia, ich möchte bei dir kämpfen,« antwortete der Dicke.

Wieder tönten viele Stimmen aus dem Tore. Rasch stellten sich die Zwölfe quer über den Weg, hart aneinander, spreizten die Beine, hielten die Schilde vor, zückten die hölzernen Schwerter, und Zawisch in ihrer Mitte rief: »Hera, her! Hera her!«

Jauchzend brach der feindliche Haufen aus der Tiefe, von hüben und drüben prasselten die Schläge auf die Schilde und Helme und Kappen. Übermächtig drückten die Feinde hervor, immer wilder fielen die Hiebe, immer weiter schwankten die Zwölfe zurück.

»Hera her! Hera her!« rief Zawisch wutbebend und stürmte vor. Da strauchelte er und schlug zu Boden. Schreiend stürzten sich die Feinde über ihn. Aus dem Tore drang eine neue Schar, und die Elfe zerstoben.

***

Barhäuptig, mit wirren Haaren, totenbleich stand Zawisch. Seine Hände waren verstrickt, und starke Knaben hielten seine Arme.

»Ich fliehe nicht,« sagte Zawisch, »laßt mich los!«

Die Knaben sahen einander an.

»Mein Wort!« sagte Zawisch und stampfte.

»Laßt ihn!« gebot einer. »Er hat sein Wort gegeben, das hält er immer.«

»Ich dächt' es auch!« sagte Zawisch verächtlich und reckte grimmig die gefesselten Hände geradeaus.

»Hera her! Hera her!« rief der Führer der Feinde und schwang sein Holzschwert gegen die Zugbrücke hin.

Aufmerksam ließ der Knabe Zawisch den Blick umherschweifen; dann warf er sich mit einmal auf die Kniee und hob bittend die Hände empor.

Ein Lachen ging durch den Haufen.

»Was gibt's?« fragte der Führer und wandte sich um.

»Er kniet und bettelt!« rief einer aus der Schar.

»Er kniet, er kniet!« rief der Führer und tanzte auf einem Beine.

»Hütet euch, das heißt etwas!« sagte Ulrich und kam eilig hinter dem Torflügel hervor. »Es heißt, daß euch die da droben standhalten sollen«, vollendete er und schielte auf Zawisch.

Der wurde dunkelrot im Antlitze, erhob sich langsam, zerrte krampfhaft an den Stricken, streifte sie im Augenblicke von den Gelenken, stürzte sich mit einem wilden Schrei auf den großen, starken Knaben, warf ihn zu Boden, kniete aus seine Brust und würgte ihn.

Lautlos standen die Knaben ringsumher und getrauten sich nicht heran.

»Hund! Verräter! Jetzt weiß ich's, du hast mir das Bein gestellt!« knirschte Zawisch, und die Augen des andern traten aus den Höhlen hervor.

Da beugte sich von rückwärts über den Knieenden eine hohe Gestalt, mit unwiderstehlichem Griffe wurden die zuckenden Hände von der Kehle des andern gerissen, und zwei Arme schlangen sich fest um Zawisch.

Schnaubend rang sich Zawisch empor und schaute in das Antlitz des Alten. Der trat zurück und ließ ihn frei.

»Wie könnt Ihr – Ihr,« keuchte Zawisch und ballte die Faust, »– den Sohn des Budiwoj – ?«

»Reiten und Fechten, Stechen und Ringen habe ich dir gelehrt, Knabe,« zürnte der Greis und sah dem Herrensohne fest in die Augen, »aber sage niemand, ich hätte dir auch das Würgen gelehrt – – oder –,« vollendete er finster, »gelehrt, wie man unehrfürchtig redet mit Greisen!«

Zawisch hatte die Faust geöffnet und schaute zu Boden. Altmarschalk Pilgram aber kehrte sich ab, trat zur Mauer und nahm die Streitaxt. –

»Zawisch, hieher!« rief eine helle Frauenstimme über den Hof. Die Knaben und Knechte und Mägde, die sich um den Greis und den Herrensohn angesammelt hatten, gingen auseinander.

»Hieher, Zawisch, hieher zu deiner Mutter!«

Langsam wandte sich Zawisch und schritt mit gesenktem Haupte auf die gebietende Frau zu, die von der Linde herankam.

***

»Was gibt's?« sagte sie scharf und stellte sich fest vor Zawisch hin.

»Ich habe den Ulrich gewürgt,« stieß dieser hervor.

»Warum?«

Zawisch schwieg und schaute geradeaus, an der Mutter vorüber in die Luft.

»Weil er ihn verraten hat,« sagte Witigo und trat neben den Bruder.

»Weil er mich die andern nicht hat anführen lassen,« sagte jetzt Ulrich mit weinerlicher Stimme und wischte den Staub von den Kleidern, »deshalb habe ich denen da seine List gesagt.«

Zawisch streifte ihn mit einem Blicke und schaute wieder geradeaus.

»Komm!« sagte die Mutter und nahm den großen Knaben an der Hand. »Komm!« sagte sie dringend, als er trotzig stehen blieb.

»Mutter,« flüsterte Zawisch, »laßt meine Hand los, die Knechte sehen's, ich komme!«

»Die Knechte haben alles gesehen,« sprach die Mutter. »So komm!« setzte sie hinzu und ließ die Hand frei.

Mutter und Sohn gingen quer über den Hof, der Zugbrücke zu; die Knaben und Knechte und Mägde zerstreuten sich langsam hierhin und dorthin. –

Da trat aus dem dunkeln Tore ein hochgewachsener Mann. Unter der Last eines Tragkorbes kam er mit gesenktem Haupte, wie einer, der sinnt, mit weiten Schritten herein in das blendende Licht; der Sand knirschte unter seinen Schuhen, der Stachel seines wuchtigen Stabes klang auf den Steinen.

Frau Berchta ging langsamer, blieb stehen und rief: »Was willst du, Mann?« Der Alte sah auf, zog den Hut und antwortete: »Habe Kramsachen, Herrin, Gewandstoffe und Bänder, Messer, Scheeren und vieles andere.«

»Wir brauchen nichts,« sagte Frau Berchta kurz.

»Hört mich dennoch an!« bat der Krämer und kam näher. »Ich habe lange nichts verkauft, bin weiten Weg gegangen. Seid nicht hart, Herrin! Ich habe viel Nutzen in meinem Korbe, für Männer, Weiber und Kinder. Und es wird euch nicht gereuen, wenn Ihr erst hineingesehen habt.« Dabei fuhr er mit dem Rücken der braunen Hand über die glühende Stirne und sah aus tiefliegenden, schwarzen Augen auf die Herrin.

Frau Berchta besann sich; dann sagte sie: »Nun, so komm! – Du aber, Zawisch, setzest dich auf die Bank unter der Linde, bis ich dich rufe, und sprichst mit niemand, nicht mit Knecht, nicht mit Reiter, nicht mit den Knaben! Hörst du's? Versprichst du's?«

»Ja, ich verspreche es,« sagte der Knabe düster und schritt zur Steinbank.

»Wird er's wohl halten?« fragte der Krämer, der unverwandt auf den Knaben gesehen hatte.

Da maß ihn Frau Berchta: »Höre, du verwunderst mich, Landfahrer!«

»Verzeiht,« sagte der Mann, »ich wollte Euch nicht erzürnen. Der Knabe gefällt mir.«

Noch einmal sah Frau Berchta auf den Fremden, und ein flüchtiges Lächeln erhellte ihr ernstes Antlitz. »Mir gerade jetzt ganz und gar nicht,« sagte sie. »Aber komm,« fuhr sie freundlicher fort, sah noch einmal, beinahe verstohlen, in die dunkeln Augen, die so bezwingend auf sie herabblickten, und setzte zögernd hinzu: »Was wäre wohl ein Knabe wert, der nur unter meinen Augen Gehorsam hielte? Mein Sohn wird mit keinem sprechen; denn was er zusagt, das hält er« – »wenn du's gerade wissen mußt,« vollendete sie fast zornig, wandte sich und sagte kurz: »Jetzt aber komm!« – ?

Auf der Bank sah der Knabe und kaute an einem Lindenblatte. Er hatte sich weit zurückgelehnt an den Stamm des Baumes, seine Arme stemmte er auf den Steinsitz, trotzig schaute er an seinen Beinen hinunter, sein Kinn hatte sich in das Wams gebohrt.

Hinter der Herrin ging mit schweren Schritten der Fremdling, und sein Stachelstock erklang.

***

Auf dem großen Eichentische in der Gesindestube hatte der Fahrende seinen Kram ausgebreitet, und rings um ihn standen gedrängt die Mägde und Gürtelmägde der Burg. Neben den Alten hatte sich Frau Berchta gesetzt.

»Oh, oh, schaut, Leut', Leut', die War', die War'!« sagte eine rotbackige Stallmagd und klappte eine blitzende Scheere auf und zu.

»So tragen sie's also jetzt in Passau?« fragte eine zierliche Gürtelmagd und hielt prüfend einen bunten Stoff in der Hand. »Was kostet das Tüchlein?«

»Eia, du hoffärtige Dirn!« sagte Frau Berchta. »Was brauchst du schon wieder ein Tüchlein?« – »Ist noch dazu leichtes Zeug,« setzte sie hinzu und rieb den Stoff zwischen Daumen und Zeigefinger.

Das Mädchen wurde rot und sagte leise: »Blau wollt's halt der Rudilo, wenn die Herrin nichts dagegen hätt', und hat mir auch zwölf Pfennige gegeben.«

»Zwölf Pfennige? O du meine Güte!« rief Frau Berchta.

»Ist's haltbar?« sagte sie nach einer Weile zum Krämer.

»Es ist gut, Herrin; acht Pfennige kostet's.«

»Zu teuer!«

»Nicht zu teuer; ich habe noch nie jemand übervorteilt,« erwiderte der Händler. »Ich nehme nur so viel, als ich zum Leben brauche, von der Ware.«

»Das sagen sie alle,« meinte schnaufend und keuchend eine andere, die nebenan mit hochrotem Gesichte auf einem Schemel saß und neue Riemlein in ihre Schuhe zog.

»Mag sein,« antwortete der Krämer ruhig, »ich aber sag' es und tue es auch. Oder weißt du anderes von mir?«

»Schweige du, Gudrun, mit deiner spitzigen Zunge!« fuhr Frau Berchta dazwischen. »So gib ihr das Tüchlein!« sagte sie zum Krämer.

»Zeige uns doch auch deine Ringlein und Kettlein!« bat eine andere.

»Hab' ich nicht; kein Ringlein und kein Kettlein im ganzen Korbe,« erwiderte der Krämer kurz.

»Eia, die hat doch jeder Krämer?« fragte das blonde Mägdlein verwundert.

Aufmerksam sah Frau Berchta auf den Mann.

Der legte bedächtig den blauen Stoff zusammen und band eine gelbe Borte darum, zählte prüfend die Heller, die aus dem Beutelein der Zofe in seine Hand gewandert waren, und sagte dann langsam: »Kettlein und Ringlein hab' ich noch niemals verkauft, Kettlein und Ringlein nimmt der Teufel, so oft er ein eitles Weib betören will – warum sollte ich dazu helfen und Kettlein und Ringlein tragen ihm zuliebe über Berg und Tal? – Und Ihr, Herrin, Ihr habt mir noch nichts abgekauft,« wandte er sich zu Frau Berchta, die ihn nachdenklich betrachtete. »Ich glaube, auch für Euch hätte ich Nutzen in meinem Korbe.«

»Ist mir nicht zumute zum Kaufen, Mann,« sagte Frau Berchta.

Der Alte bückte sich, nahm aus dem Korbe ein Holzkästchen und sah prüfend über die Schar der Mägde. »Herrin, laßt Euch noch einmal bitten, ich habe großen Nutzen für Euch.«

»So weise mir's!«

»Ich wollt's Euch gerne weisen, aber nur Euch allein.«

»So komm mit mir!« sagte sie und stand auf.

Noch einmal warf der Mann seinen Blick über die schwatzende, prüfende, lachende Schar der Mägde, trat einen Schritt vor und berührte den Scheitel einer kleinen, blonden Dirne, sah sie an und sagte: »Du wirst achthaben auf den Kram eines armen Mannes!« wandte sich und ging mit seinem Kästlein Frau Berchta nach.

»Sie sind alle ehrlich,« sagte diese draußen, »aber die kleine Hilda ist die festeste. Wie hast du das gewußt?«

»Das kenne ich, Herrin,« sagte er. »Das muß ich kennen,« setzte er kurz hinzu.

»Bist du ein Krämer?« fragte Frau Berchta plötzlich, als sie mitten auf der Stiege waren, und hielt inne.

»Freilich, Herrin,« versetzte der Fremdling und lächelte.

»So?« sagte Frau Berchta, schritt weiter, öffnete eine Türe, trat in ein dunkles Gemach, ging rasch hindurch, öffnete einen Holzladen, daß das Licht hereinflutete, winkte den Mann von der Schwelle heran und setzte sich in die Nische des Fensters.

»Was ich sonst noch bin, Herrin, laßt beiseite!« fuhr er fort. »Ich bin ein Krämer – aber was ich Euch geben will, das prüfet!«

»Und was willst du mir geben?«

»Ich habe einen köstlichen Edelstein, den sollt Ihr kaufen.«

»Wie, Krämer, so trägst du also doch Schmucksachen in deinem Korbe?«

»Den höchsten Ehrenschmuck, Herrin. Einen Edelstein, der nicht aus der Erde gegraben ist, einen Edelstein, durch den man Gott schauen kann. Hier, sehet selber zu!«

Wieder betrachtete die Herrin sinnend das Antlitz des Fahrenden; diesmal fast scheu, so wie man in die Helligkeit schaut aus dem Dunkeln. Und willig schlug sie das Büchlein auf, das er ihr dargereicht hatte.

»Evangelium, das heißt gute Kundschaft.« – »Evangelium, das kenne ich – aber daß es gute Kundschaft heißt, habe ich nicht gewußt,« setzte sie nachdenklich bei.

»Der da ist und der da war und der da sein wird, segne Euch!« sagte der Fremdling feierlich.

»Ich weiß nicht, ob ich das lesen darf,« meinte Frau Berchta.

Da nahm er ihr das Buch aus der Hand, griff rasch in die Blätter und hielt ihr's wieder hin. Frau Berchta las die Stelle, auf der sein Finger ruhte: »Forschet im heiligen Buche: ihr glaubt, daß Seligkeit darin steht, und wahrlich, es ist das Zeugnis von mir.«

»Leset!« sagte der Krämer. »Ihr habt einen wilden Knaben zu einem verlässigen Menschen erzogen; Ihr werdet auch zu erkennen vermögen, ob hier Wahrheit geschrieben ist oder Lüge.«

»Ich bin ein armes, einsames Weib,« sagte Frau Berchta; »mein Herr ist im Kriege, Vater und Mutter muß ich den Knaben sein, und die Burg ist groß; vor den Leuten muß ich als die Herrin dastehen – – und ich möchte oft vergehen in einsamer Angst. – – Doch warum sage ich dir das alles? Es will mich dünken, als brauchtest du und keiner zu wissen, was mich bedrückt.«

Sie stand auf und blickte scheu zu dem Krämer hinunter. Mit gekreuzten Armen stand der wundersame Mensch vor ihr und sagte kurz: »Wenn der Bauer säen will, so reißt er den Acker auf, und wenn uns Gott sein Himmelreich zu schenken vorhat, so ängstigt er zuvor unser Herz. Stehet fest und übet Gewalt mit Liebe; denn wisset, Herrin, um den Knaben mit den mächtiggroßen Augen, der da drunten auf der Steinbank Euer harrt, wird einst der Teufel kämpfen mit Gott. Ihr aber seid seine Mutter und vermöget nichts mit der Härte, nie und nimmermehr, aber vieles durch Liebe. Stehet fest und übet durch die Liebe die größte Gewalt, und dies heilige Buch helfe Euch. Forschet, und Ihr werdet Gott sehen und werdet ihn sprechen hören!«

Damit hob er segnend die Hand und ging aus der Kemenate und ging hinunter in die Gesindestube, strich die Heller ein für die Bänder und Schuhe und Scheeren, packte seinen Korb, ging mit langen Schritten über den sonnigen Hof, vorüber an der Linde und an dem trotzigen Knaben, und verschwand im dunkeln Tore. –

In der Fensternische saß Frau Berchta; sie hatte das Haupt in die eine Hand gestützt, während der Zeigefinger der andern langsam von Wort zu Wort, von einer zierlich geschriebenen Zeile zur andern wanderte und ihre Lippen sich leise bewegten.

Da klang der Stock des Fahrenden auf dem Hofe unter ihrem Fenster. Sie schrak empor, barg das Buch in einer Truhe und ging eilig die Treppe hinunter. Eine Magd sprang hinter dem Fahrenden her und rief in die Torhalle hinein: »Krämer, du hast dein Geld vergessen! Kehr um, die Herrin will dir's zahlen!«

»Grüße deine Frau!« sprach dieser und hob den Fuß zum Gehen. »Wenn ich wiederum des Weges komme, so will ich abrechnen.«

***

Dämmerig war es in Frau Berchtas Kemenate. Wieder saß sie in der Fensternische, und auf dem Bärenfelle vor ihren Füßen spielte ein Knäblein. Zum offenen Laden herein strömte der Lindenduft, aus dem Hofe tönte Murmeln und Lachen. An der Türe des Gemaches stand Zawisch mit gesenktem Haupte.

»Tritt näher, Kind!« sagte Frau Berchta und legte das Büchlein auf das Gesimse. »So, nimm den Schemel und setze dich zu mir!«

Zawisch saß und schaute vor sich hin.

»Zawisch!«

Der Knabe hob den Kopf, sah fest auf die Mutter, und kein Zug bewegte sich in seinem Antlitze.

»Zawisch, höre mich! Du hast Böses getan. Bist du dir dessen bewußt?«

Der Knabe schwieg und schlug die Augen nieder.

»So sprich doch!« brauste Frau Berchta auf, daß das Knäblein zu ihren Füßen erschreckt emporsah und mit offenem Mündlein bald auf die Mutter bald auf den Bruder blickte.

Der Knabe saß mit geballten Fäusten auf dem Schemel. Erregt und forschend sah Frau Berchta zu ihm nieder. Ungeduldig wandte sie das Haupt und sah hinauf zum abendlichen Himmel. Achtlos spielte ihre Linke mit dem Buche.

»Wird's bald?« fuhr sie heftig herum, und das Buch fiel zu Boden. Der Knabe bückte sich über das Brüderlein, legte der Mutter das Buch in den Schoß und schlug dabei die Augen auf.

Frau Berchta erhob sich, trat vorsichtig neben dem Knäblein herab von der Fensterbühne, preßte das Buch mit beiden Händen an die Brust und schritt schwer atmend durch den Raum.

»Zawisch!« sie legte plötzlich dem Knaben die weiche Hand aufs Haupt. »Zawisch,« sagte sie fast bittend, »willst du mich so sehr betrüben? Willst du nicht antworten?«

»Ja, Mutter!« rang es sich zwischen den schmalen Lippen heraus.

»Du hast knechtisch gehandelt! Bist du dir dessen bewußt?«

Das Haupt des Knaben fuhr in den Nacken zurück. »Weil ich den Verräter geworfen habe?«

»Nein, weil du den Geworfenen gewürgt hast,« sagte Frau Berchta.

Zawisch erwiderte kein Wort.

»Warum hast du das getan?« fragte Frau Berchta.

»Weil ich ihn hasse,« kam es langsam von den Lippen des Knaben.

»Wir dürfen keinen Menschen hassen,« sagte die Mutter.

»Die Feinde!« entgegnete Zawisch.

»Nein, auch diese nicht.«

»Warum ist denn der Vater ins Feld gezogen und warum hat er zwanzig mit eigener Hand niedergehauen an der March?« fragte Zawisch langsam.

Frau Berchta schwieg. Dann sagte sie kurz: »Das sind andere Feinde.« – »Warum hassest du den Ulrich?« setzte sie rasch hinzu.

»Weil er ein Feigling ist und ein Verräter, Mutter,« antwortete Zawisch und erhob sich.

Mutter und Sohn standen voreinander.

»Zawisch!« Frau Berchta legte die Rechte auf des Knaben Schulter.

»Mutter?«

»Der Neuhauser hat uns seinen Sohn gebracht, ehe er in den Krieg zog. Und wenn dir nun heute Pilgram nicht in die Arme gefallen wäre – was meinst du, wie hätte ich da einst vor den Vetter treten müssen? ›Dein Sohn hat meinen Sohn im Kinderspiel verraten, und da hat mein Sohn deinen Sohn erwürgt.‹ So hätte ich sagen müssen. Wie meinst du, Zawisch?«

Zawisch blickte zu Boden. Das Brüderlein war herzugekrochen, spielte mit den Schuhen des Knaben, schlug mit den dicken Händchen auf das Leder, lallte und jauchzte, und als niemand zu ihm sah, begann es zu weinen.

»Armer, herziger Wok!« sagte Frau Berchta, bückte sich, hob das Knäblein empor und setzte sich wieder ins Fenster.

»Zawisch!« sie deutete auf den Stuhl, und der Knabe ließ sich nieder. Tiefe Dämmerung herrschte in der Kemenate. Lachen tönte draußen. Die Frau liebkoste das Kind, warf einen Blick hinaus auf die Linde, deren Wipfel umflossen war vom Lichtschimmer des verglimmenden Abends, und auf den weiten Hof. Dann lehnte sie sich zurück, und während das Kindlein ernsthaft spielte mit der Spange ihres Gewandes, sagte sie, fast als spräche sie zu sich selbst: »Ich habe böse Zeit und trage schwere Sorgen. Wenn ich mich zur Ruhe lege, so denke ich an den Vater, möchte wissen, wo der jetzt sein Haupt hinlegt; wenn ich aufstehe, so sind meine Gedanken bei ihm, möchte wissen, ob er Rasttag hat oder reiten muß; wenn ich den Wächter blasen höre, schrecke ich heimlich zusammen, fürchte mich vor böser Botschaft; und wenn tagelang, wochenlang alles so still ist, dann fürchte ich mich wieder und sorge mich um den Vater.«

»Atta, Atta!« lallte das Knäblein und hob das Köpflein.

Der große Knabe saß regungslos, Frau Berchta küßte das Kind und fuhr fort: »Drei Monate ist's nun her; da sind wir beim Morgengrauen in dieser Stube gestanden, Herr Budiwoj im Reisekleide, ich, du, Zawisch, Witigo und der kleine Wok. Den hatte der Vater auf den Arm genommen. Er sprach den Reisesegen und küßte uns. Dann wandte er sich zu seinem ältesten Sohne. – Zawisch!« Frau Berchta richtete sich empor. »Zawisch, was hat der Vater damals gesagt?«

Zawisch murmelte: »Sei mein guter Sohn, ehre die Mutter, hilf ihr nach Kräften und ...« Der Knabe stockte.

»Nun?«

»Und – wenn – ich – falle, so wachse zu ihrer Stütze heran!« vollendete Zawisch.

»Atta, Atta, Atta, Atta!« jubelte Wok.

***

Frau Berchta setzte das Kind zu Boden, Zawisch erhob sich. Dunkel war es im Gemache. Über den Hof her tönte ein Glöcklein, das Lachen und Schwätzen verstummte. Eine tiefe Frauenstimme begann den Gruß des Engels:

»Gegrüßt seist Du, Maria! Du bist voll der Gnade, Der Herr ist mit Dir.«

Und es klang

»Du bist gebenedeit unter den Weibern, Und gebenedeit ist die Frucht Deines Leibes, Jesus Christus!«

im Chore von Knechten und Mägden und Kindern aus dem Burghofe zum Himmel empor, an dem die ersten Sterne funkelten.

Die Mutter hatte sich bekreuzigt und sprach leise die Antwort mit dem Chore; auch der Knabe stand mit erhobenen Händen und murmelte. Und die Stimmen der Frau und des Herrensohnes mischten sich in das Abendgebet der Leute auf dem Hofe. – – –

»Gute Nacht, Zawisch; die heilige Jungfrau soll dich behüten!« sagte Frau Berchta mit ihrer klaren Stimme und reichte dem Sohne die Hand. Der bückte sich tief, drückte einen Kuß auf diese schmale, weiche Hand, flüsterte »Gute Nacht, Frau Mutter!« und ging aus der Kemenate.

***

Um die Mitte der Nacht war es. Frau Berchta erwachte, hob sich empor auf ihrem Lager und lauschte. Hastig warf sie das Kleid über und ging leise an die Türe. Wieder lauschte sie vorgebeugt, dann öffnete sie vorsichtig den Schieber und spähte hinein in die Kammer der Knaben. Das Öllicht an der Wand knisterte, tiefe Atemzüge waren aus den Ecken zu vernehmen.

»Ulrich, so höre doch!«

Ein unwilliges Gestöhne antwortete.

»Ulrich, tut's noch weh?« fragte Zawisch mit zögernder Stimme.

Wieder antwortete das Gestöhne, und das Lager knarrte.

»Ulrich, es ist mir leid,« fuhr der Knabe fort – »von Herzen leid,« setzte er fast drohend hinzu. »Aber du mußt reden!« vollendete er.

»Du kommst auch nur, weil du mußt von der Muhme wegen,« grollte es aus den Kissen, und wieder knarrte die Bettstatt.

»Warum ich komme, kümmert dich nicht,« brauste der andere mit verhaltener Stimme auf. »Ich will freiwillig – von wegen meiner Mutter,« fuhr er ruhiger fort; »niemand hat mir's geheißen. – – Aber verzeih mir den Jähzorn.«

»Du hast mir die güldene Spange zerbrochen mit deinem Würgen,« klang es keifend zurück.

»Ich werde dir die meinige geben,« sagte Zawisch kurz.

»Die meinige war kostbarer; gib mir den kleinen Dolch dazu!«

»Den hat mir der Vater geschenkt, wie er fortging,« sagte Zawisch zögernd.

»Und mir der meinige die Spange,« klagte Ulrich.

»So nimm den Dolch!« sagte Zawisch, wandte sich und ging auf den Zehen zu seinem Lager zurück. Als er aber in der Dunkelheit vorüberkam, hörte ihn Frau Berchta murmeln: »Er ist doch ein Hund!«

***

Des andern Morgens stand der Turmwart auf dem Bergfried vor seinem Häuslein und ließ Holzeimer und Handkorb am langen Stricke in den Burghof herab. Die Magd Gudrun kam, tat Brot und Fleisch in den Korb und füllte den Eimer. Obenauf aber in den Korb legte sie einen Strauß von Lindenblüten, blauen Glocken und roten Nelken.

»Hub!« rief sie, stemmte die Arme in die Hüften und schaute in die Höhe. Der kleine, verwachsene Alte zog zuerst den tropfenden Eimer empor und dann den Korb. Kaum aber hatte er diesen über die Brustwehr gehoben, da beugte er sich hernieder und rief: »Gudrun, wer schenkt mir den Buschen?«

»Ich!« schrie die Magd und lachte.

»Du sicher nicht!« klang es von der Höhe.

»Warum nicht?« kam's trotzig von unten herauf.

»Hängst mir jetzt seit zehn Jahren den Korb ans Seil, einen Büschen aber hab' ich noch niemals darinnen gefunden. Denk nur, wie da etwa der Rasso eifern möcht'!«

Da stampfte die Magd auf den Boden und murmelte: »Schrei noch mehr!« Und zornig rief sie zurück: »Hast recht, Turmwartl, von mir kriegst auch ganz und gewiß nie keinen Buschen. Aber daß du's nur weißt, der Jungherr Zawisch hat ihn mir gegeben.«

»Der Jungherr?«

»Ganz und gewiß. Und weißt, was er dazu gesagt hat?«

»Was?« fragte der Alte und beugte sich tief herab.

»Wirf ihm das Kraut hinein – hat er gesagt – das soll er fressen, wenn's Heu geworden ist,« schrie die Magd, »du alter Aufpasser, du!«

Lachend strich der Bucklige das borstige Kinn und rief herunter: »Bist wohl die Nacht über selbst auf frischem Heu gelegen, und ist dir nicht richtig im Kopf? Ich sehe Glocken und Nelken und Lindenblüh, und wenn die vom Jungherrn kommen, dann hat er das nicht gesagt, du Gudrun! Und die Blumen, die schenkt er auch nicht dem alten Turmwartl – –«

»Schmeckst's doch?« lachte die Dirne. »Dem Altmarschalk sollst ihn geben, den Buschen, und sollst ihm sagen, der Jungherr wird heut nach dem Essen kommen zu ihm.«

Lachend steckte der Wächter die Nase zwischen Nelken und Lindenblüten, hob die Falltüre und stieg hinab zu dem, der ihm am nächsten wohnte, und brachte ihm Fleisch und Brot und den Buschen von Zawisch, dem Sohne der Herrin, Frau Berchta.

Jahreswende

Inhaltsverzeichnis

Der Tag ging zur Rüste und mit ihm das Jahr. Westwärts über den Bergen flammte die letzte Abendröte, graue Schatten legten sich über die weißen Berghalden und über die schneeschweren Wälder, im dunkeln Tale dampfte die Moldau und rauschte aus dem alten Jahre hinüber in das neue, und ihr Dampf mischte sich in den Herdrauch, der aus den Hütten emporstieg und eilend verschwand in der Frostluft des Abends.

Es ging ein Summen durch die Welt, man wußte nicht, von wannen es kam, es ging ein Knistern durch die Welt, als ob ein unsichtbares, großmächtiges Pergamentblatt sich wenden wollte, es ging ein Rauschen durch die Lande, als ob jetzt erst das Laub fiele von hunderttausend Bäumen, es war den Leuten zu Mute, als hielte die Erde den Atem an – denn das neue Jahr rang sich empor aus dem Schoße der Zeit.

***

Nacht war's; aus den Ladenritzen der letzten Hütte weit draußen am Waldstrome, wo der alte, einäugige Floßknecht wohnte, da blinkte Lichtschein auf die Straße, und gleichwie draußen, so funkelten Lichter in jeglichem Hause der ganzen Krummenau und funkelten droben auf der Feste des Herrn Budiwoj in Stuben und Kemenaten, und in einem Lichtmeere schwamm sein mächtiger Palassaal.

Im Häuslein am dampfenden Flusse qualmte ein Talglicht, droben auf der Burg des gebietenden Landherrn brannten starke Wachskerzen. Im Häuslein am Flusse waren Holzwand und Balkendecke schwarzglänzend vom Herdrauche; im Palassaale droben hingen an den hohen Wänden kostbare Tücher, glänzten die prächtigen Waffen, schaukelten sich unter den bemalten Balken der Decke die Bälge von Adlern und Falken und drehten sich leise an ihren Schnüren, als schwebten sie noch mit ausgebreiteten Fittichen im blauen Äther über den waldgrünen Bergen. Im Häuslein am Flusse knisterte gelbes Stroh auf sandbestreuter Diele, im Palassaale des Herrn lagen schwere Fußteppiche. Am Talglichte des Armen stand ein Knäblein und schneuzte den Docht, über die Teppiche des Herrn eilten reichgekleidete Diener.

Aber das Stroh in der Hütte und die Teppiche im Saale waren gebreitet für das gleiche neue Jahr, damit es seinen Einzug darüber hielte, und die Kerzen mußten brennen allüberall im Tale und auf dem Felsen – dann fuhren die bösen Geister eilend gleich dem Rauche über die Dächer in der grausigen Nacht, und die guten kehrten ein fürs junge Jahr und hielten Rast, bis daß auch dieses alt würde, bis daß es auch zur Rüste ginge. –

Von den Ställen der Vorburg her bewegte sich ein feierlicher Zug über den schneebedeckten Hof: Herr Budiwoj hielt Umgang mit der Räucherpfanne. Die Wacholderbeeren qualmten auf den Kohlen, und wohlriechende Wolken stiegen aus der Pfanne empor. Hinter dem Hausherrn aber schritt singend der Burgkaplan, schritten Kinder und Knechte und Mägde und sangen ihm Antwort.

Am Himmel funkelten die Sterne, und der Mond schaute herab auf Bergfried und Tal. Gleich einer dunkeln Schlange kroch der Zug hinein in das hallende Tor, kam heraus auf den schneeglitzernden Hof unter die kahle Linde und wand sich über die Zugbrücke hinein in das steinerne, hochgiebelige Haus. Und von Kammer zu Kammer, von Stube zu Stube sang der Pfaffe und sangen die Leute, und Herr Budiwoj, der Sohn des Herrn Zawisch, schwenkte die Räucherpfanne.

So flohen unter Segenssprüchen und Gesängen die unreinen Geister aus Kammern und Kemenaten, und das neue Jahr hielt mit Ehren seinen Einzug in der Herrenburg.

***

Im Palassaale stand Frau Berchta. Sie trug den kleinen Wok auf dem Arme und sah prüfend über die gedeckten Tische, über die Kannen und Krüge und Becher, über die roten Äpfel, die hochgetürmt auf großen Platten lagen, und über die langen, gelben Stollen. Dann neigte sie das Haupt, schaute sinnend vor sich hin und begann mit leiser Stimme zu erzählen, als vermöchte das Kind ihr Raunen zu verstehen: »Auf goldigem Wägelein ist's gekommen, Wok, durch die Luft her; zwei Rößlein haben das Wägelein gezogen, die waren weiß wie Milch, glänzend wie der Schnee – ich hab's gehört, die Rößlein haben miteinander geredet – ein Glöcklein hat geklungen – – und auf einmal sind die Äpfel auf den Tischen gestanden.« – –

Die Lichter funkelten, die Teppiche leuchteten, die Wänglein des Knaben glichen den roten Äpfeln aus den Tischen.

Bald lauter, bald leiser tönte der Gesang der Leute in den stillen Saal, und in den Augen der Herrin blinkten Tränen. Sie küßte Wok und stellte ihn auf den Teppich.

Der Zug kam über die Stiege empor, die hohe Türe ward geöffnet. Herr Budiwoj trat mit dem Burgpfaffen über die Schwelle in den Lichterglanz; blauer Rauch stieg aus der Pfanne zum Gebälke empor, singend drängten Kinder und Mannen, Knechte und Mägde in den Saal.

Im Halbkreise ordnete sich das Gefolge, Zawisch und Witigo stellten sich Frau Berchta zur Rechten und Linken. Wok versteckte den Lockenkopf im Gewande der Mutter.

Herr Budiwoj trat nahe heran, schwang die Pfanne, daß der Rauch sein Weib, seine Söhne und ihn selbst einhüllte, und murmelte den Segen für das ganze Jahr. Wieder sang der Kleriker, die Kinder und das Gesinde antworteten.

Der Hausherr aber ging zum offenen Kamine und schüttelte die qualmenden Kohlen ins lohende Feuer, kehrte zurück zu seinem Weibe und geleitete sie zu den erhöhten Sitzen unter den Fahnen an der Wand. Aufs neue ordnete sich das Gefolge nach Alter und Ansehen, damit es vorüberzöge an Herrn Budiwoj und Frau Berchta.

Da kam eilenden Schrittes von der Türe heran ein Kämmerer. Der trat vor den Herrn und die Herrin, beugte hastig das Knie und sprach leise zu ihnen empor.

Frau Berchta faltete die Hände, und Tränen schossen über ihre Wangen hernieder. Herr Budiwoj aber fuhr mit der Hand über seine Augen, winkte dem Kämmerer ab, erhob sich und sprach mit stockender Stimme:

»Ihr Kinder, Leute! Es ist bitteres Weh über unser Geschlecht gekommen. Ein Bote ist eingeritten in mein Haus, und wir müssen das frohe Fest beschließen mit Tränen. Graf Wok von Rosenberg ist tot – er ist seinen Wunden erlegen! – – –

»Gehet in Ruhe auseinander und vergeßt nicht, zu beten für seine arme Seele! – – –

»Was euch an Speise und Trank gebührt, das soll euch in den Kammern gereicht werden. Laßt aber die Brosamen nicht fallen unter den Tisch, sondern kehret sie zusammen und bewahret sie auf, damit man sie vergrabe unter der Linde, wie Recht ist. Hier im Saale lösche man die Kerzen aus, alle bis auf die eine, die brennen muß in dieser Nacht. Gott aber sei uns gnädig, Großen und Kleinen, heute und im ganzen neuen Jahre!«

***

Die starken Mauern des Bergfrieds umschlossen ein kleines, trauliches Gemach. Das hatte eine gewölbte Decke und war gepflastert mit Ziegelsteinen, auf den Ziegelsteinen aber lagen dicke Strohmatten.

In diesem traulichen Gemache saß am selbigen Abende Pilgram, der Altmarschalk auf Burg Krummenau, ferne von den Menschen, und schnitzte Pfeile nach seiner Gewohnheit und sann nach seiner Gewohnheit.

Lustig prasselte das Feuer im Kamine unter dem hohen, dicken Mantel, der aus der Mauer heraussprang und wunderlich anzuschauen war wie ein halber Bienenkorb.

Da knarrte draußen die hölzerne Freitreppe, leichte Schritte und schwere Schritte kamen über den kleinen Vorplatz, die Türe öffnete sich, ein Blondkopf lugte herein, und eine helle Stimme fragte: »Darf ich Euch besuchen?«

»Eia, Zawisch?« kam die Antwort zurück, und der Greis stand auf und hielt dem Knaben lächelnd die Hand entgegen. »Immer, immer!« sagte er. »Aber mir dünkt, du solltest heute in der heiligen Nacht anderswo sein als beim alten Pilgram im Bergfried?«

Mit seinen großen, hellen Augen sah der Herrensohn in die freundlichen Augen des Greises. »Die Mutter schickt den Rasso mit den Äpfeln, und mir hat der Vater eine Botschaft an Euch aufgetragen.«

»Gott segne deine Mutter!« sagte Pilgram und nahm dem Knechte den Korb ab. »Und was hast du mir zu bestellen?«

Zawisch winkte mit der Hand, und hinter dem Knechte schloß sich die Türe. »Trauerbotschaft ist ins Haus gekommen – unser Oheim Wok ist heute gestorben.«

Da ließ Pilgram die Arme sinken, reckte das weiße Haupt vorwärts, als hätte er nicht richtig verstanden, und rief stoßweise: »Herr – Wok! – Das überfällt mich!«

»Zur Vesperzeit ist er entschlafen,« sagte Zawisch. »Gerade ist der Bote eingeritten.«

Da wandte sich der alte Mann, trat an das Kruzifix in der Ecke, sank auf die Kniee und schlug das Kreuz, und murmelnd klang seine Fürbitte durch das Gemach.

***

»Setze dich!« sagte Pilgram, warf Scheiter in den Kamin und ließ sich dem Jungherrn gegenüber in seinen Armstuhl nieder.

Lange saßen sie und schwiegen. Endlich hob der Greis die Augenlider und fragte: »Wann wird sein Leib nach Hohenfurt getragen?«

»Auf den Erchtag ist die Sippe geladen,« sagte Zawisch.

Und wieder schwiegen die beiden. – –

»Jahreswende!« begann Pilgram und stützte das Haupt in die Hand. »So schreiben wir Zwölfhundert und einundsechzig – seit einer Stunde! Jahreswende! – – Solch ein Jahr hat ein seltsam schnelles Wachstum. Erst liegt's da wie ein Kindlein, hat ein Angesicht, glatt und klein, Augen man weiß nicht, sind sie blau oder braun oder schwarz. Hernach reckt es sich und spreitet sich und zieht vorwärts als ein Mann und reißt den Menschen mit sich fort auf ungewisse Bahnen. Mit der Sonne steigt's empor, eilt vorwärts durch heiße Tage und wendet sich mit ihr zum Niedergange – ehe du's wahrnimmst, ist es alt geworden und grau und kalt und streckt sich zum Sterben – – und neben ihm hebt sich wieder ein Kindlein empor, und mit dem Kindlein ziehen wir weiter und tragen auf unsern Schultern, was uns das alte Jahr auferlegt hat, hinein ins neue. – – – Und so geht's fort und fort, immer fort, bis wir selber alt und grau und müde werden und uns zur Abfahrt rüsten. – – Weißt du noch, wie Herr Wok in die Krummenau eingeritten ist am ersten Tag im neuen Jahre? Weißt du noch, wie dann im Lenze das Kriegsgeschrei durchs Land gegangen ist? Weißt du noch, wie der Vater zur Sommerzeit ausgezogen ist? Weißt du noch, wie er wieder heimgekommen ist im Herbste? – Siehe, gleich dem Jahre schreitet das Leben dahin von seinem Aufgange bis zu seinem Niedergange, ist jung und wird alt, hat Frost und hat Hitze, hat Saatzeit und hat Erntezeit, hat lichte Tage und hat düstere Tage, hat finstere Nächte und hat helle Nächte. Über Berg und Tal gehen seine Wege, fragt dich keiner, ob dich da die Steine stoßen, ob du dort verweilen möchtest. Fort mußt du über die Berge und durch die Täler. Aber fürchte dich nicht in engen, finsteren Tälern, alles vergeht! – – Es war ein Reiter, der ritt unter vielen Fährlichkeiten durch das Gebirge und kam endlich um die Abendzeit hinaus ins freie Land, wandte sein Roß und schaute zurück. Was sah der Reiter? Verschwunden waren die Täler, und auf den Gipfeln ruhte der Sonnenschein. Das ist das Leben, Knabe! Ehe du dich's versiehst, liegt's hinter dir. – Wohl dem Reiter, der noch eine Weile reiten darf im Abendsonnenscheine, im freien Lande. Und das war dem Grafen Wok beschieden. Er ist im Sonnenscheine heimgegangen. Der Held hat ausgekämpft, der Tod hat ihn bezwungen. Aber die Bergwand hinter ihm glüht rosenrot. Wohl ihm, wohl ihm!«

Keinen Blick wandte Zawisch von den Augen des Greises, von dem mächtigen Barte, der ihm bis auf den Gürtel herabwallte, und von den Lippen, die sich leise bewegten.

In der dunkeln Fensternische saß ein Rabe auf der Stange; der sträubte die Federn, flog hinab auf die Strohmatten des Fußbodens und schritt umher. Pilgram aber nahm das Messer vom Tische, nahm ein neues Stück Holz, wog es in der Hand und begann zu schnitzen.

»Ja, Ehre genießt Herr Wok,« fuhr er nach einer Weile fort, »Ehre, wo nur immer einer deutsch redet in Böhmen. Solange König Ottokar leben wird, solange wird er dankbar dessen gedenken, der ihm treu war von Anfang und« – fügte er langsam bei – »der ihm allezeit ein Muster hätte sein können in der ritterlichen Ehrbarkeit. Solange die Berge in der Steiermark stehen, wird man den Landhauptmann nicht vergessen, der mit Kraft und Milde als ein Herr regierte an Stelle seines Königs. Solange die Ungarn an ihren Lagerfeuern erzählen von Krieg und Not, werden sie reden vom Grafen Wok und vom Landherrn Budiwoj, den Helden, die mit verdeckten Rossen unter sie gefahren sind wie Löwen in die Hammelherde. Solange die Mönche von Hohenfurt Wälder roden und mit dem Pfluge über den Waldgrund ziehen, das Volk lehren und in den heiligen Schriften forschen, werden sie den Grafen Wok nicht aus dem Herzen verlieren, der ihnen mit deinem Vater die Heimat gebaut hat. – Das größte aber von allen seinen Werken, das hat er in der Stille geschaffen, Zawisch: deiner ganzen Sippe hat er das Beste geschenkt, was ein weiser Herr seinen Blutsfreunden erringen kann. Das wirst du erst erkennen, wenn du einmal selber hineingewachsen sein wirst. Vordem saßet ihr da und dort, ihr Witigonen vom uralten Stamme der Rose, da und dort im Lande, von Ranariedel und Falkenstein bis nach Skalitz und Neuhaus, wohlgesinnet gegeneinander, aber unverbunden, keiner dem andern verpflichtet. Da ist er gekommen, der Mann mit dem freundlichen Herzen und mit dem unwiderstehlichen Willen, und hat euch stark gemacht, hat euch die Einung geschaffen mit Eid und Handschlag, geheim und doch offenkundig, seltsam für alle anzusehen, die da leben im Lande Böhmen, Österreich und in Steier und draußen im Reiche. Freilich hat er die Liebe nicht erst geschaffen, die in eurer Sippe von Wittinghausen her, von den drei Brüdern her, wohl auch noch viel weiter her so heimisch ist; die hat er vorgefunden. Aber in das gute Land hat er euch die Einung gepflanzt! – Und ich sage dir, Knabe, das ist sein größtes Werk; in dieser Einung seid ihr die Mächtigsten im weiten Böhmen.« – ? »Gut nur ist's,« setzte er gedankenvoll hinzu, »daß die Witigonen nicht nur stark, sondern auch treu sind!« – – ? ?

»Es ist jetzt böse Zeit auf Erden, und weiß niemand, wie das hinausgehen wird. Das Unterste ist zu oberst gekehrt, und was ehedem fest war, ist locker geworden. Vor alters hat jeder wissen können, wo er steht und wer er ist. Aber heutzutage schätzet sich jeder höher ein als er in Wahrheit ist, und es kommt so zu Gedränge und Geschiebe allenthalben. Allerorts entstehen Neid, Haß, Krieg, Jammer und Trübsal. – Und was ist schuld daran? Siehe, mein Sohn, alles, was auf Erden zu Recht bestehet, ist dreigeteilt, wie die Erde selber, die da ist Land, Wasser und Luft. Denke selber nach: Der Baum greift mit seinem Wurzelwerke in den Boden, strebt in die Höhe mit seinem Stamme und trägt an seinen Zweigen Blüten und Früchte. Im Haupte empfängt und hegt der Mensch seine Gedanken, in seinem Leibe werden seine Säfte bereitet, auf den Beinen geht er und bleibt er, wo er will. Gründet einer den eigenen Herd, so soll er nach Gottes Gebot und Menschenrecht der Schirmherr sein im Hause, sein Weib soll ihm dienen, und um die beiden her sollen in die Höhe wachsen die Kindlein. Und gleichwie der Baum blüht im Lenze, Früchte trägt im Herbst und ruhet im Winter, so teilt sich dem, der ein ehrbar Leben führt, der Tag in Arbeit, in Feiern und in Schlafen. Also ist, wenn du genau zusiehst, alles, was auf Erden zu Recht besteht, dreigeteilt, wie sich auch der allmächtige Gott in drei Personen läßt anrufen von der Christenheit, ehren und lieben. – Und siehe, Zawisch, es ist auch von Anfang an die Menschheit geteilt gewesen in drei Stände. Die Stände waren gut voneinander geschieden und doch enge miteinander verbunden; keiner hat ohne die zwei andern sein können, und hat's jeder Mensch genau gewußt ohne alle Irrung, in welchen er gehört. Und die drei Stände hat unser Herrgott selber geschaffen, hat sie Herren, Bauern und Knechte geheißen und seine Freude an ihnen gehabt, denke ich mir in meinem Sinne.«

»Ich meine doch,« unterbrach ihn Zawisch und schaute fragend aus den großen Augen – »darf ich's sagen? – Gottvater hat den Adam erschaffen und nicht die Stände.«

Der Greis legte Messer und Holz nieder, lehnte sich zurück und ließ die Wellen seines Bartes durch die Finger gleiten.

»Ganz recht, mein Sohn,« sagte er und lächelte, »Gottvater hat den Adam geschaffen, und der war nackend, und es ist ein wahres Wort, wenn sie auf den Heerstraßen singen:

Als Adam hackte Und Eva spann – Wer kannte da Bauer – Und Edelmann?

»Aber Gottvater hat denn doch, sollte ich meinen, den Adam und sein Weib fürs Paradies geschaffen von Anfang und hat zugewartet, ob sie wohl gehorsam dahinleben möchten und nicht Verbotenes treiben hinter seinem Rücken. Hernachmals aber haben sie ihn betrogen und angelogen, und er hat sie vertreiben müssen aus der Lustbarkeit auf die Erde; denn so wie ich's vom Paradiese weiß, kann man's gar nicht eigentlich ein irdisches Land nennen – auf die Erde sind die Menschen hernachmals erst gekommen. Und nun höre weiter: Auf der Erde wurden die Stände geschaffen.«

»Davon steht nichts in den heiligen Geschichten,« sagte Zawisch zweifelnd.

»In den heiligen Geschichten, wie sie die Pfaffheit erzählt, steht nur das, was die Menschen nicht wissen können,« sagte der Greis eifrig. »Was jeder wissen kann, das braucht ja gar nicht drinnen zu stehen. Und jeder kann sehen, mit eigenen Augen, daß die drei Stände Gottvater geschaffen hat; denn ihre Ordnung ist gut durch und durch. Aber wir wissen sogar noch, wie's zugegangen ist. Einer hat's dem andern erzählt, und so ist's heruntergekommen auf unsere Tage. Willst du's hören?«

»Erzählet mir's!« bat Zawisch.

Bedächtig griff der Greis zum Messer und schnitzte weiter an dem Holze.

»Vor uralten Zeiten war ein großes Sterben im ganzen Lande, und die Menschen gingen elend zu Grunde bis auf einen Mann und seine drei Töchter. Die lebten allein, und alles, was sie sahen, gehörte ihnen. Aber sie hatten keine Freude daran, weil sie so einsam wohnen mußten. Da kam einmal Gottvater auf der Wanderung über die Gebirge gegangen, setzte sich auf einen hohen Stein und schaute über Wald und Heide. Und er rief seinen Raben und sandte ihn hinaus, beauftragte ihn und sprach: ›Fliege und komm wieder und sage mir alles an von den Menschen!‹ Der flog geschwind wie der Blitz, kehrte wieder und erzählte Gottvater, daß nur noch vier Menschen vorhanden seien und daß sie unfroh dahin lebten, einsam und verlassen. Da saß Gottvater lange und sann, und vor ihm lag der Wolf, der ihn geleitet auf allen seinen Wegen. – Und Gottvater beugte sich zu Boden und formte mit seinen eigenen Händen drei Erdenkloße, legte sie nebeneinander und drückte in jeden eine Grube. Darauf nahm er sein Schwert und ritzte sich Stirne, Brust und Fußsohle, und dreifach sickerte Blut aus seinem heiligen Leibe hervor. Da netzte er den Finger mit dem Blute, das ihm aus der Stirne rann, und bildete den ersten Erdenkloß, netzte den Finger mit dem Blute seiner Brust und bildete den zweiten Kloß, netzte den Finger mit dem Blute seiner Fußsohle und formte den dritten Kloß. Währenddem fing der Rabe Streit an mit dem Wolfe, flatterte um seinen Kopf, schrie und schlug mit den Flügeln, stieß herab und hackte ihm ein Auge aus. Aufschnaubte der Wolf, sprang in großen Sätzen umher und schleuderte sein heißes Blut auf den Erdboden – und auf jeden der drei Kloße fiel ein Tropfen. Gottvater sah das nicht; sinnend stand er da, und vor ihm wuchsen drei Jünglinge empor. Gottvater segnete sie, wandte sich, bemerkte den Schaden und fuhr dem heulenden Tiere mit der Hand über die Wunde, heilte das ausgelaufene Auge und hob sich in die Wolken. – Die drei Jünglinge aber machten sich auf, stiegen vom Gebirge herab und traten unter das Dach des einzigen Mannes, der übergeblieben war aus dem großen Sterben. Der nahm sie auf und bewirtete sie. Nach dem Mahle aber heischten sie seine Töchter zur Ehe. Und der Alte gab sie ihnen, und einem jeden diente sein Weib. Am Morgen des neunten Tages aber fand man die drei Jünglinge tot auf ihren Lagerstätten. Da klagten die Weiber, begruben sie und häuften Hügel über ihren Leibern. – Als die Zeit um war, gebaren sie ihrem Vater Enkelsöhne: die älteste brachte Drillinge zur Welt, die zweite Zwillinge, die jüngste nur einen Knaben. Und die Drillinge wuchsen heran, langarmig, großhändig, krummnackig. Die Zwillinge wurden starkknochig, breitschulterig, steifnackig. Der Jüngsten Sohn aber wuchs und ward ein Jüngling, schlank und hochgebaut, stahlsehnig und stolznackig, goldgelbes Haar wallte um sein Haupt, blaue Augen blitzten unter seiner mächtigen Stirne hervor, ein Meister ward er im Waffenhandwerke, er allein verstand es, die wilden Rosse zu bändigen. Und sein Großvater nannte ihn Edeling, und seine Vettern, die Bauern, waren ihm untertan, und die anderen, die Knechte, gehorchten den beiden. Bauern und Knechte bestellten das Land, Edelings Kraft und Klugheit aber schirmte Bauern und Knechte. – Und als sie zu ihren Jahren kamen, holten sie sich Weiber aus fremden Ländern und begründeten das Volk. – Siehe, so sind aus drei Schwestern die Herren, die Bauern und die Knechte entsprossen und von ihnen her versippet für immer. Von ihren Vätern aber tragen die einen das Blut aus dem Haupte Gottvaters, die andern das Blut aus seiner Brust, und wieder die andern das Blut aus seiner Fußsohle in sich – nahe verwandt und dennoch stark verschieden untereinander. Aber in allen Dreien, in Herren, Bauern und Knechten, ist auch noch ein Tropfen von dem bösen Wolfsblute vorhanden – – das können wir täglich an uns und andern erfahren. – Herren, Bauern und Knechte werden gute Wege gehen, wenn sie nebeneinander leben; wehe aber der Zeit, wo all ihr Blut zusammenfließt in eine böse Mischung! Und es will mich dünken, als ob wir in solcher Zeit lebten.«

»Und doch singt Herr Walter von der Vogelweide

In gleicher Weise wachsen wir: Wer könnte noch den Herrn vom Knechte unterscheiden, Wenn beide ihren Leib entkleiden!«

sagte Zawisch nachdenklich. »Wer hat also recht, die alte Geschichte oder Herr Walter?«

»Herr Walter irrt,« sagte der Greis und bohrte Löchlein in den Pfeilschaft. »Die Leiber sind verschieden, und das Blut ist verschieden, ist ja doch auch das Denken verschieden!« – – »Siehe,« fuhr er fort, »an all dem Wirrsal ist die Abenteuerei schuld. Zu was Ende haben unsere Väter und Vorväter immer müssen über das Meer fahren in die fremde Heidenschaft? Zu was Ende, frage ich!«

»Hat nicht die Heidenschaft das Grab unseres Herrn und Heilands verunehret?« warf Zawisch ein.

»Ja, so hat's geheißen, und so heißt es heute noch, Zawisch. Ich aber sage: der schweifende Sinn und die Herrschgier und vieles andere vorher, und ganz zuletzt erst die Liebe zum Christ hat die Tausende und aber Tausende übers Meer getrieben. Und wer überhaupt noch heimgekommen ist von ihnen, der hat allermeist Hab und Gut verdorben und verstreuet gefunden. Und so ist's, Zawisch, wie ich sage: damals haben sich an die Stelle der Herren die Knechte gesetzt, und daraus hat das Wirrsal seinen Anfang genommen. Knecht aber bleibt Knecht. Da ist kein Unterschied, mag er im Eisenkleide reiten und höfisch einherstolzieren, oder mag er hinter seinem Pfluge stapfen und die Geißel schwingen. Heißen sich edle Dienstherren, heißen sich Landherren – und ihre Väter oder Vorväter haben noch müssen fragen, wenn sie die Magd ihres Herrn zum Weibe nehmen wollten. Waren just eben noch Eigenleute, schlecht und recht – dünken sich jetzt Herren zu sein, und hinter ihnen reiten Gaishirten und Landfahrer und tragen den Schild des Knechtes als Eigenleute und tragen des Knechtes Waffen. Weiß Gott, hie wird das Lied zum Spott. Heute mein, morgen dein, so teilet man die Hufen. Und wieder heißt's im Sprichworte: Von der Bank auf den Schemel gestiegen. – Und es ist wahr, Herrenkinder müssen Knechte werden. Böse Zeit! ? – Und neben Herren und Bauern und Knechten tragen jetzt noch andere ihre Köpfe hoch allenthalben, dünken sich besser zu sein als alle Kreatur, und weiß doch niemand, was sie in Wahrheit sind, Herren oder Bauern oder Knechte: die Burger in den Städten meine ich, die da Handwerk treiben, auf Handelschaft ausgehen, Äcker besitzen und sich verdeckte Rosse halten, von jedem etwas geborgt haben und, wenn man's näher betrachtet, nichts von allem ganz und recht sind. Darum sage ich, es ist böse Zeit auf Erden und wird noch immer böser werden, und die alte Zeit, wo's gut zu leben war, ist vorüber.«

***

»Warum haben denn die Menschen allein so arge Unordnung?« fuhr er heftig fort, stand auf und warf einen starken Klotz in den Kamin. »Warum, frage ich! Schau doch die Vögel an draußen auf den Bergen, im Walde, auf der Heide! Was ein Adler ist von seinem Alten her, das bleibt ein Adler, muß sich nimmer verändern und zum Krähenvogel werden sein Lebtag. Herrenkinder aber werden aus ihren Nestern geworfen, müssen sich die Schwingen stutzen lassen, müssen unterkriechen bei Fremden. – Böse Zeit, böse Zeit!« – – »Wohl dem,« fuhr er freundlich fort und strich den Bart, »wohl dem, der sich zu Falken hat gesellen dürfen im Elende. Das will ich Herrn Witigo, deinem Urahn, wenn ich mich zum Sterben lege, noch danken. – Zawisch – höre! Zawisch, ich will dir eine Geschichte erzählen:

»Weit von hier, dort, wo kahle, starre Berge mit eisigen Spitzen und Hörnern aus den grünen Tälern emporragen, Berge, weißt du, Berge, denen der Wald nur an den Gürtel reicht, lebte zu Kaiser Rotbarts und zu Kaiser Heinrichs Zeiten ein edler Herr, der hatte Land und Leute, der hatte zwei feste Burgen und besaß ein Weib und einen kleinen Sohn – einen Sohn, so alt wie jetzt dein Wok ist, Zawisch. Und es trieb diesen Herrn, daß er sich das Kreuz auf den Mantel heften ließ, Abschied nahm von Weib und Kind und mit Mannen und Knechten hinzog zwischen den Bergen, zum Meere hinabritt und mit den Venediger Schiffen ins heilige Land fuhr. Was es aber war, das ihn aus dem Frieden trieb in die weite Welt, Sehnsucht oder schweifender Sinn oder Sündenlast, ob's reine Fahrt, ob's unreine Fahrt gewesen ist, das weiß ich nicht. Und es erging ihm böse auf dem heißen Sande. Ich glaube, kein einzigesmal zückte er das Schwert hinter Akkers. Krankheit und Not rannten ihn an, und er unterlag in diesem Kampfe. – Zwei Jahre waren verronnen, und als ein siecher, hohlwangiger, verlassener Mann kam der starke Held zurück übers Meer, als ein müder Landfahrer wanderte er aus Welschland herauf, von Tal zu Tal, besaß nichts mehr, als die zerrissenen Kleider auf seinem Leibe; er hätte müssen betteln, wenn er nicht hätte singen können. Und also sang er aus seinem Herzeleide, wanderte und sang und ersang sich sein Brot. Wo er aber auf den Burgen seinen Namen nannte, da lachten Herren und Knechte über den Landfahrer und sagten: ›Die heiße Sonne hinter Akkers hat ihm den Verstand versengt!‹ Aber seine Lieder hörten sie gerne. Unfrohe Lieder, Kreuzfahrerlieder, Lieder, wie Quellen, die zuweilen mitten im Wüstensande kommen und murmeln – und murmeln. – – – Es geht mir eines von seinen Liedern vor allen andern durch den Sinn, Knabe, und das will ich dir gerade heute singen, in der ersten Nacht des neuen Jahres.«

Der Greis erhob sich, nahm die Laute von der Wand, griff leise in ihre Saiten und sang mit gedämpfter Stimme:

In meinen frohen Tagen Hab' ich mit Lust getragen Das Kreuz auf meinem Kleide; Ganz äußerlich mit Zieren, Mit sündigem Stolzieren Auf meinem Kleide Von Samt und Seide, Kreuzfahrer ich!

Jetzund in bösen Tagen Muß ich's im Herzen tragen, Zerrissen ist das Kleide; Von außen drang nach innen Mit bittersüßer Minnen Das Kreuz vom Kleide In schwerem Leide Kreuzfahrer mir.

Wann es mich mehr beglückte, Wo es mich besser schmückte Das wundersame Zeichen? Als es die Leute sahen – Da nachmals ich empfahen Das wundersame Zeichen Ohn' alles Gleichen, Kreuzfahrer ich?

In allen meinen Tagen Will ich mit Freuden tragen Das Kreuz und seine Schmerzen; Will wandern und will schweigen, Will mich in Starkmut neigen, Und will mir nicht verscherzen Das Glück in meinem Herzen – Kreuzfahrer ich!

»So sang er und so wanderte er und kam näher und näher der Heimat. – – – Zu Hause aber – zu Hause – –« Pilgram stockte – – »sein Weib war fortgegangen, und sein Söhnlein wohnte bei einer alten Magd. Und als er eine kurze Weile in der öden Burg gehaust hatte, da kam der andere, sein Feind, mit Reisigen, überzog ihn mit Krieg, berannte seine Feste, brannte sie aus, nahm ihm auch noch sein Land und seine Leute – und der Kreuzfahrer mußte weiterziehen mit seinem Kinde.– – – Über Berg und Tal zog er fort, weit, weit fort, zu Menschen, die nichts wußten von ihm und seinem Unglücke. Dort kaufte er sich um geringen Schmuck, Gold- und Silberspangen, eine Hube und lebte einsam und verlassen als Bauer. Lange Jahre. Er plagte sich von der Frühe bis zum Abend, und von der Frühe bis zum Abend ließ er das Kind nicht von seiner Seite. Wenn er pflügte, saß es am Raine und schaute ihm zu und klatschte in die Händlein, so oft er heranstapfte in der langen Furche, sah ihm traurig nach, wenn er sich wieder entfernte. Eine unsagbare Liebe zum Vater wuchs in dem Knäblein empor, eine Liebe, die hernachmals dem grau gewordenen Manne noch oft in der Erinnerung das Wasser in die Augen trieb. Warum war die Liebe gar so stark? Fühlte der Knabe, daß er des Vaters einziger Trost sei? Kann sein. – – – Am liebsten war's ihm, wenn der Vater sang, und alle seine Lieder lernte er, bevor ihm ihr Sinn klar wurde. Eines aber sang der Vater niemals vor seinem Kinde: er sang's am liebsten in der Nacht, wenn alles schlief. Und gerade diese Weise hörte der Knabe für sein Leben gerne und lauschte auf seinem Lager, so oft es im Garten oder in der Stube erklang:

Hast du ein schweres Leid, Geh hin und sarg es ein Und trag's mit Heimlichkeit Bei dir allein;

Trag's durch den hellen Tag Fein klagelos und still Und frag du nie – warum? Sag nur – Gott will!

Doch in der dunkeln Nacht Erschließ den SchreinUnd laß die Sterne funkeln Bis auf den Grund hinein!