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Zwischen den Wiener Bezirken Margareten und Wieden verläuft die Wiener Mauer, ein von der Staatspartei der ÖDR errichteter "Antifaschistischer Schutzwall" nach Vorbild der Berliner Mauer. An ihm werden zwei Schmuggler vom Grenzschutz gestellt. Hauptwachtmeister Peter Landsrait beginnt mit der Aufklärung des Falls. Die politische Großwetterlage erweist sich dabei als ebenso hinderlich wie die Interventionen der allmächtigen Staatspartei.
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Seitenzahl: 285
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Andreas Pittler
Die Spur der Ikonen
Kriminalroman
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2017
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © costadelsol / Fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5324-3
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Beinahe lautlos bog der Ford Taunus vom Mittersteig in die Neugasse ein. Langsam rollte er die große einschüchternde Mauer entlang, an deren Zinnen vereinzelt Suchscheinwerfer angebracht waren, die periodisch gespenstische Lichtkegel auf die andere Straßenseite warfen. Die Fenster auf der Westseite waren allesamt dunkel, jene auf der Ostseite gar nicht erst zu sehen. Auf halber Strecke zur Margaretenstraße hielt der Wagen an.
»Und du bist dir sicher, dass es hier ist?«, fragte der Beifahrer, der nervös nach den Scheinwerfern Ausschau hielt. Der Lenker des Fahrzeugs zündete sich gelassen eine Chesterfield an. »Glaubst du, ich mach das zum ersten Mal, oder was?«
»Ich frag ja nur«, gab sein Spezi kleinlaut zurück. »Und jetzt?«, ließ er sich nach einer kurzen Pause erneut vernehmen.
»Jetzt warten wir«, statuierte der andere, während er gemächlich den Rauch der Zigarette ausblies.
Minuten vergingen, die dem einen wie eben Minuten, dem anderen aber wie Stunden vorkamen. Der Fahrer griff nach seiner Zigarettenschachtel und hielt sie dem Jüngeren unter die Nase. »Da. Nimm eine. Das beruhigt.« Kurz ward von der rechten Fahrzeugseite aus Widerspruch erwogen, doch dann griff der Mann schweigend zu und zündete sich umständlich selbst eine Zigarette an. Gleich darauf unterdrückte er aufsteigenden Husten, dafür ein mitleidiges Lächeln des Älteren erntend. »Scheiß di ned an, Bua«, kam es gönnerhaft im lokalen Idiom aus dessen Mund, »uns kann ja nix passieren. Im schlimmsten Fall erwischt’s die Ostler.«
»Und wenn die da oben auf uns schießen?« Die Anspannung des Jüngeren klang durchaus nicht ab.
»Na was soll sein? Ich geb Vollgas. In 100 Metern sind wir auf der Margaretenstraße, und dann können die uns gar nichts mehr.« Er kurbelte das Fenster hinunter und klopfte am Glasrand Asche ab. »Wir verschwinden im ›Renz‹ – und die Ostler in Sibirien. Das ist alles.«
Der Gedanke an das verruchte Nachtlokal mit seinen nackten Mädchen schien den Jüngeren endlich ein wenig zu beruhigen. Der Ältere ahnte, welche Gedanken seinem Partner durch den Kopf gingen. »Wie’s auch kommt: Dir legt heute nur die Mitzi die Handschellen an.«
Die Maria war der Star unter den Schönen der Nacht. Abend für Abend strippte sie auf der Bühne der Erotik-Bar in der Ramperstorfer Gasse. Und gegen einen kleinen Aufpreis durfte man dann mit ihr nach hinten gehen, um privat mit ihr ein Gläschen Schampus zu leeren. Ehe man sich, entsprechendes Entgelt vorausgesetzt, auch selbst entleeren durfte. Je nach Höhe der Summe vor ihr, auf ihr oder in ihr. Und der Beifahrer spürte, dass sich nun auch der letzte Körperteil, der bislang noch nicht angespannt gewesen war, versteifte.
Beide starrten angestrengt durch die Finsternis. Der Fahrer warf einen Blick auf seine Seiko. »Jetzt wurdert’s langsam Zeit«, ließ er sich vernehmen. Was die Nervosität seines Kumpanen nicht gerade verringerte.
Die Zigaretten waren längst aufgeraucht, als beide ein schleifend-knarzendes Geräusch vernahmen. Der Fahrer richtete sich auf und spähte durch die Windschutzscheibe. Etwa zehn Meter vor ihnen wurde ein Kanaldeckel verschoben. »Das sind sie«, zischte er. Er öffnete die Fahrertür und trat ins Freie. Aus der Öffnung in der Straßenmitte blickte ihn ein neugieriges Augenpaar an, das in einem stiernackigen Glatzkopf steckte. Der Fahrer sah kurz nach den Suchscheinwerfern, dann nickte er. Behände kletterte der Kahle aus dem Kanal und lief geduckt auf das Auto zu. Auch der Fahrer ging, ohne zu wissen, warum er dies eigentlich tat, in die Knie. »Willi«, stellte sich der Mann aus dem Osten vor. »Auch Willi«, antwortete der Fahrer automatisch. Natürlich hieß er nicht so, aber der Zoni musste ja nicht alles wissen. »Wir haben da drüben 30 Ikonen gelagert. Einige davon sind bei euch ein Vermögen wert. Wo ist die Kohle?« Der falsche Willi deutete auf den Kofferraum. Der echte Willi nickte. Dann eilte er zurück zum Kanal und pfiff hinein. Er wartete einen Augenblick, dann bückte er sich weiter nach unten und griff nach etwas, das er sodann auf die Straße legte. Mit einem schnellen Wink gab er dem Fahrer zu verstehen, er möge zu ihm kommen. Gemeinsam mit seinem Kompagnon schleppte dieser mehrere Bündel zum Auto. Er öffnete den Kofferraum und legte das erste Paket hinein. Dann erst schlug er die Stoffe, in welche die Ikonen eingeschlagen waren, beiseite, um zu prüfen, ob er auch die richtige Ware bekommen hatte. Er kannte sich zwar nicht sonderlich mit alten Gemälden aus, aber die auf den gebeizten Holzbrettern aufgepinselten Heiligendarstellungen sahen ohne Frage alt aus. Er ging also davon aus, dass er von den Zonis nicht übervorteilt worden war. Als Nächstes zählte er die Bündel. Es waren sechs, inklusive jenem, das Willi der Zoni ihm in diesem Moment brachte. Anhand der Wölbungen konnte er feststellen, dass sich in jedem fünf Bilder befanden. Also 30 insgesamt, wie vereinbart. Er ging zurück zur Fahrerseite, hob die Rückbank an und entnahm dem darunter befindlichen Hohlraum eine kleine Tasche. »Da«, sagte er zu Willi, »10.000 West-Schilling. Wie vereinbart.« Der Zoni stockte. »Mark! Es waren 10.000 West-Mark vereinbart. Nicht Schilling.«
Der falsche Willi zuckte mit den Schultern. »Davon weiß ich nichts. Das müssen deine Chefs mit meinen Chefs abklären.«
»Du willst mich wohl bescheißen«, brauste der echte Willi auf. Noch ehe sein Gegenüber reagieren konnte, traf sie beide ein Lichtkegel. »Hier spricht die Volkspolizei«, hörten sie aus einer ihnen unbekannten Richtung. »Scheiße«, fluchte der Glatzköpfige und tauchte ohne weiteres Wort unter dem Auto weg. Sein Westkollege stellte sich demonstrativ ins Licht und hielt seinen westösterreichischen Pass in die Höhe. »Regt euch nicht auf, Burschen, ich g’hör da her.«
Möglichst gelassen stieg er wieder in den Taunus, in den sich sein Kompagnon bereits geflüchtet hatte. Während er den Motor startete, sah er im Augenwinkel, wie Willi der Zoni über sich den Kanaldeckel zuzog. Es konnte ihm rechtschaffen egal sein, ob der Schmuggler am anderen Ende des Kanals bereits von der Staatssicherheit erwartet wurde oder nicht. Das einzig Entscheidende war: Er hatte die Ikonen. Und das um ein Siebentel des vereinbarten Preises. Besser hätte es gar nicht laufen können.
Er bog nach links in die Margaretenstraße ein und fuhr dann gemächlich in Richtung Gürtel. »Mitzi?«, fragte er in die Richtung des Beifahrers. »Mitzi!«, bestätigte der.
Peter Landsrait hasste Sitzungen. Das durfte er sich natürlich nicht anmerken lassen, denn sonst konnte er seine Karriereplanung gleich vergessen. Dennoch: Er war nicht Polizist geworden, um die halbe Dienstzeit mit inhaltslosem Geschwätz zuzubringen. Da waren die Meetings des FÖGB, also der Gewerkschaftsvereinigung, dann jene der Betriebszelle der Partei, dann noch jene der Betriebssportvereinigung und schließlich jene der Kulturorganisation und jene des Polizeiverbands. Auf diese Weise konnte man locker die halbe Arbeitswoche zubringen, ohne auch nur einen einzigen konkreten Arbeitsschritt getan zu haben, zumal, wenn man sich dann noch regelmäßig mit den Abschnittsbevollmächtigten traf, mit den Bezirksbehörden Fühlung hielt oder sich sonst irgendwie wichtig machte. Wie sein direkter Vorgesetzter etwa. Major Jäger hatte wohl seit dem reaktionären Putschversuch in der CSSR vor nunmehr über 20 Jahren keinen konkreten Fall mehr bearbeitet. Aber, wie Jäger stets betonte, dafür hatte er ja seine Mannschaft. Und die bestand neben Hauptwachtmeister Landsrait noch aus Oberwachtmeister Schneider, Wachtmeister Artner und den drei Unterwachtmeistern Farkas, Kellner und Rozehnal. Letztere waren erst vor zwei Jahren von der VP-Schule »Alfred Klahr« in Favoriten abgegangen und durften nun ebenfalls bei der Kriminalpolizei Dienst tun.
Landsraits Revier in der Klagbaumgasse befand sich auf neuralgischem Territorium. Keine 100 Meter weiter verlief der antifaschistische Schutzwall. Gerne erzählte Jäger, wenn er einmal keine Sitzung besuchen konnte und daher auf einen, wie er es nannte, Plausch unter Kollegen vorbeischaute, wie die Mauer vor knapp 30 Jahren innerhalb weniger Tage errichtet worden war. »Das war ja«, hatte Landsrait Jägers Stimme lebendig im Ohr, »quasi eine Anweisung aus Berlin. Weil der Genosse Ulbricht so ein Trum hingestellt hat, mussten wir das natürlich auch haben. Allerdings sind in Berlin die Straßen doppelt und dreimal so breit wie bei uns.« Und genau so sah es aus an der Grenze der Bezirke Wieden, das noch zum Territorium der ÖDR gehörte, und Margareten, das Teil dieses merkwürdigen Konstrukts namens West-Wien war. Das war offiziell gar nicht Teil der sogenannten BRÖ, eine Insel aus einigen Wiener Bezirken, die von Briten, Amis und Franzosen verwaltet wurden. In der Verlängerung hieß die Klagbaumgasse Neugasse, und da stand er. Der antifaschistische Schutzwall. Vier Meter hoch, einen Meter breit und mit Stacheldraht überwuchert. Aus seiner Kindheit konnte sich Landsrait noch daran erinnern, dass jene Gasse schon damals ziemlich schmal gewesen war. Wenn, was allerdings selten der Fall war, auf beiden Straßenseiten ein Auto parkte, dann kamen keine zwei Wagen mehr aneinander vorbei. Jetzt gab es, soweit er wusste, auf der Westseite ein generelles Halt- und Parkverbot, um wenigstens einem Wagen das Fortkommen entlang des schmalen Fahrstreifens zu ermöglichen. Auf der Ostseite durften ja ohnehin nur die Fahrzeuge der Volkspolizei, der Staatssicherheit und der Nationalen Volksarmee die neuralgische Gasse benutzen, doch wenn sie einmal nicht mit dem 1600er Lada, sondern mit einem der neueren Wolga fuhren, dann galt es, dort schon sehr vorsichtig zu agieren, um nicht die Mauer oder aber den Gehsteig entlangzuschrammen. Und da es unmöglich war, an dieser Stelle irgendwo einen Wachturm zu errichten, hatte der Grenzschutz vorsorglich einige Wohnungen requiriert, in denen nun die Organe der Grenztruppen darüber wachten, dass es weder zu einer kapitalistischen Infiltration noch zu einem Fall von Republikflucht kam.
Automatisch sah Landsrait auf die Uhr. Vorne quasselte immer noch der Oberstleutnant vom Betriebsschutz über irgendwelche neuen Maßnahmen angesichts der geänderten geopolitischen Gemengelage. Landsrait interessierte sich dafür ungefähr ebenso wie für den berühmten Sack Reis, der irgendwo in China umfiel. Gelangweilt blätterte er in der aktuellen Ausgabe der Monatszeitschrift »Die Volkspolizei«, als hinten im Saal die Tür aufging. Kellner, der Bereitschaft hatte, kam auf ihn zu. »Könnten Sie einmal kurz kommen, Genosse Hauptwachtmeister«, flüsterte er ihm zu. Landsrait war zutiefst dankbar für die Abwechslung und folgte Kellner nach nebenan.
»Der Grenzschutz hat in der Nacht auf heute zwei verdächtige Subjekte in der Neugasse gestellt. Als die beiden flüchten wollten, machten die Genossen von der Schusswaffe Gebrauch, und erst, nachdem einer von den beiden, wie sich herausstellte, tödlich getroffen worden war, hat sich der andere ergeben. Und den haben sie jetzt zu uns ins Revier gebracht.«
Landsrait hob die Augenbrauen. »Wieso zu uns? Republikflucht fällt nicht in unser Aufgabengebiet.«
»Das ist es ja. Anscheinend waren die beiden nicht auf dem Weg in den Westen, sie kamen vielmehr aus dem Westen in unsere Richtung!«
»Spione?«
»Keine Ahnung, Genosse Hauptwachtmeister. Sie haben jedenfalls beide Ausweisdokumente unserer Republik, und es heißt, die sind echt.«
Allmählich dämmerte Landsrait, weshalb der Kriminelle bei ihnen gelandet war. Die Grenztruppen vermuteten offensichtlich einen Fall von Wirtschaftskriminalität. Die beiden hatten irgendetwas in den Westen geschmuggelt und dafür wahrscheinlich Westwährung erhalten. »Konnte irgendein ausländisches Geld bei dem Mann sichergestellt werden?«
»Ja. 10.000 West-Schilling in unauffälligen Noten.« Das erhärtete Landsraits Verdacht. »Und die Genossen wollen jetzt, dass wir uns der Sache annehmen, ja?« Kellner nickte. »Na gut, dann gemma’s an.« Beschwingt begab sich Landsrait ins Vernehmungszimmer.
Dort saß ein bulliger Glatzkopf von etwa 40 bis 45 Jahren. Der Wachhabende reichte Landsrait den sichergestellten Personalausweis. »Wilhelm Schütz«, las der Hauptmeister laut, »geboren am 12. Oktober 1946 in Güssing.« Dann sah er den Mann direkt an. Dieser bestätigte die Angaben mit einer entsprechenden Kopfbewegung. Landsrait nahm Schütz gegenüber am Tisch Platz, kramte seine »Club« aus der Rocktasche und zündete sich eine an. »Was machen Sie in der Nacht im Keller eines Hauses in der Neugasse?«, fragte er schließlich. »Und vor allem, woher haben sie 10.000 Einheiten einer ausländischen Währung?«
Landsrait bemühte sich, ernst zu bleiben. Jedes Mal wieder musste er innerlich schmunzeln, wenn er zu dieser absurden Formulierung zu greifen hatte. Aber der österreichische Arbeiter- und Bauernstaat war nun einmal nicht gut auf das imperialistische Überbleibsel westlich seiner Grenzen zu sprechen, weshalb die Einheiten der Exekutivorgane dazu angehalten waren, Begriffe wie »Bundesrepublik Österreich« oder »West-Schilling« nach Möglichkeit zu vermeiden.
Schütz hatte zwischenzeitlich nur mit den Schultern gezuckt. Das war naheliegend. Es gab keine vernünftige Erklärung für die beiden Tatbestände, und so blieb dem Mann nichts anderes übrig, als in Schweigen zu verharren.
Landsrait verdrehte die Augen und seufzte laut. »Komm, Schütz, wir sind nicht blöd oder was. Geld und Keller ist gleich Schmuggel. Eine andere Erklärung gibt’s da gar nicht. Also sag uns einfach, was du nach draußen gebracht hast, in wessen Auftrag und aus welcher Quelle, dann hast du eine realistische Chance, dass du vor der Jahrtausendwende wieder in Freiheit bist.«
»Ach, ihr lasst mich in den Westen?«, übte Schütz sich in Ironie. Abrupt rieb Landsrait auf, sodass Schütz instinktiv zusammenzuckte. Landsrait aber schmunzelte nur. »Dass wir Leute schlagen, ist westlich-imperialistische Gräuelpropaganda. Aber das Strafmaß erhöht sich schon, wenn du nicht geständig bist. Dann werden es eben 15 oder 20 Jahre statt drei oder fünf. Liegt ganz bei dir.«
Tatsächlich begann Schütz zu schwitzen. »Ich hab praktisch gar nichts gemacht«, begann er. »Ein Fremder, den was ich gar nicht kenne, der hat mir 200 West-Schilling gegeben, wenn ich ein Packerl in den Westen schaff’. Ich hab noch gefragt, was da drinnen ist, doch der Fremde hat nur g’meint, es wär’ besser, wenn ich das gar nicht erst wüsst. Jetzt weiß ich, warum er das g’sagt hat.«
Landsrait machte einen auf erstaunt: »Und du glaubst echt, du kommst mit der Nummer durch? Du musst zu viel Westfernsehen geschaut haben.«
»Ich weiß nur, dass ich das Geld gut gebrauchen kann. Meine Frau will endlich ein g’scheites Auto, und das Enkerl kommt bald in die Schule. Dazu braucht’s auch Geld.«
»… das aber ehrlich verdient sein will«, ermahnte Landsrait.
»Ich hab eh Sonderschichten gemacht im Kombinat. Aber was nützt das, wenn man sich erst eintragen muss, bevor man hier irgendwas bekommt.«
Landsrait lehnte sich zurück. »Aha, der feine Herr wollte die Warteschlange umgehen und ein Auto am Schwarzmarkt erwerben. Oder wie?«
»Ja«, maulte Schütz, »aber nur, weil man auf euren blöden Gräf & Stift eine Ewigkeit warten muss, bis man ihn bekommt. Sieben Jahre und mehr.«
Landsrait lächelte. »Du weißt selbst, dass das ein Blödsinn ist. Einen Gräf und Stift bekommst du innerhalb von sechs bis acht Wochen ab Kauf. Wie auch einen Lada, einen Moskwitsch oder einen Trabant. Länger dauert es nur bei Luxuskarossen wie einem Wolga oder einem ZIL. Aber die kannst du dir sowieso nicht leisten. Nicht einmal mit deinem Schmugglergeld.«
Von Schütz kam nur ein grunzendes Geräusch.
Landsrait beugte sich vor. »Wenn du dich schon so gut auskennst, dann weißt du sicher auch, dass wir noch ganz anders können, wenn wir wollen. Denk einmal an deinen Kollegen. Als spuck’s aus, sonst spuckst du gleich Blut und Zähne.«
Schütz spannte seine Nackenmuskeln an. »Was soll ich noch sagen! Dieser Herr hat mich am Marx-Ring angesprochen, hat mir gesagt, auf mich würde jemand im Kanal bei der Neugasse warten, und dem soll ich das Packerl geben. Er würde mich bezahlen, und das Geld sollte ich dann heute am Nachmittag an den besagten Herrn aushändigen.«
»Wo?«
»Na wieder am Marx-Ring. Im ›Café Einheit‹.«
Landsrait kannte die Örtlichkeit gut. Das genannte Etablissement befand sich gegenüber dem Kunstmuseum direkt am Ring. Daneben stand das große Lenindenkmal, dessen ausgestreckter rechter Arm auf die Landstraße wies, die, anders als das sogenannte West-Wien, eine noch kleinere Insel im Meer der ÖDR darstellte. Vor 20 Jahren hatte es im Zuge der sogenannten »neuen Ostpolitik« von BRD und BRÖ Verhandlungen mit der Regierung und dem Staatsrat gegeben, wo Staatsratsvorsitzender Muhri beim Westen einen Gebietstausch angeregt hatte, doch natürlich war der Westen stur geblieben. Auch wenn ihm die Versorgung von zwei Bezirken mit weniger als einer Viertelmillion Einwohner ein Vermögen kostete, so waren die Landstraße und Simmering ein beständiger Stachel im Fleisch des sozialistischen Vaterlandes und somit buchstäblich unbezahlbar für den Imperialismus.
»Wann?«
»Um drei.«
Automatisch konsultierte Landsrait seine Uhr. Es war kurz nach elf. »Beschreib mir den Fremden. Wie sieht er aus?«
»Meine Güte! Etwa 1,70 groß, graue Haare. Um die 50. Und sehr distinguiert.«
»Distinguiert?«
»Na ja, vornehm halt. Ich glaub’, der ist was Besseres.«
»Wir leben in der Österreichischen Demokratischen Republik. Da sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Stände und Klassen sind abgeschafft«, schnarrte Landsrait reflexartig.
»Ja genau. In der ÖDR gibt es nichts Besseres.«
Landsrait war sich dessen vollkommen bewusst, dass Schütz gerade eine unverfrorene Provokation vom Stapel gelassen hatte, doch die undurchdringlich gutmütige Miene, die Schütz dazu machte, ließ es fast unmöglich erscheinen, ihm das auch nachzuweisen. Gleichviel. Er, Landsrait, hatte jetzt ganz andere Sorgen als einen ironischen Kommentar zur Gesellschaftsformation der ÖDR.
»Irgendeinen Bart? Brillen? Sonstige besondere Kennzeichen oder Auffälligkeiten?«
»Jetzt, wo Sie’s erwähnen – Augengläser. Ja. So ganz dicke. Hornbrillen. Und er raucht ›Montecristo‹.«
Dass sich der Verdächtige kubanische Zigarren leisten konnte, sprach, auch wenn Landsrait das vor niemandem zugegeben hätte, tatsächlich dafür, dass der Mann etwas Besseres war. Umso mehr war schnelles Handeln geboten.
»Und, ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist, aber …«
»Aber was?«
»Er hat einen Akzent. Irgendwie russisch. Oder slawisch halt.«
Landsrait kam ins Wanken. Die Art, wie Schütz über seinen Auftraggeber sprach, wirkte auf ihn so, als wäre dieser dem Schütz tatsächlich fremd. Aber wer wäre schon so dumm, auf einen solchen Auftrag einzugehen? Für 200 West-Schilling? Die Gefahr, dass es sich dabei um eine Falle der Staatssicherheit handelte, war viel zu groß. Nein, niemand ließe sich auf ein solches Spiel ein.
Während Landsrait diesen Gedanken noch in sich ausklingen ließ, arbeitete sein Gehirn schon an der nächsten Frage. Es war zweifelsohne naheliegend, einige Polizisten in Zivil in besagtem Café zu postieren, um, wenn der Verdächtige erschien, diesen sofort dingfest zu machen. Doch er, Landsrait, war einfacher Hauptwachtmeister der Volkspolizei. Eine solche Maßnahme überstieg mithin seine Kompetenzen bei Weitem. Bevor er also irgendeinen konkreten Schritt setzte, musste er sich mit Jäger ins Einvernehmen setzen. Landsrait blickte wieder auf die Uhr. In der Zwischenzeit war die Sitzung sicher schon zu Ende gegangen. Gleichzeitig rückte die Mittagspause heran. Wenn er also Jäger noch erreichen wollte, dann galt es, rasch zu reagieren.
Landsrait ließ Schütz in den Zellenblock abführen und begab sich selbst in sein Büro, wo er sofort zum Telefonhörer griff. »Genossen Jäger bitte«, flötete er der Telefonistin ins Ohr. Wenig später vernahm er die Stimme seines Vorgesetzten. Die klang unwillig. Kein Wunder. Im Geiste war der Mann sicher schon bei Tisch.
»Genosse Major. Wir haben da einen mutmaßlichen Fall von Schmuggel am Hals, und es scheint, als würde sich der Auftraggeber dieses Aktes von Wirtschaftskriminalität heute am Nachmittag im ›Café Einheit‹ einfinden. Ich ersuche daher um die Erlaubnis, das genannte Kaffeehaus am Nachmittag observieren zu dürfen.«
»Machen Sie, was Sie wollen, Landsrait. Aber gehen S’ mir mit Details nicht auf die Nerven, gell? Alsdern. Mahlzeit.«
Landsrait lächelte. Das hatte ja besser funktioniert, als er hatte erwarten dürfen. Er brauchte nur noch dafür zu sorgen, dass Farkas, Kellner und Rozehnal zum entsprechenden Zeitpunkt an Ort und Stelle waren, dann musste ihnen der Auftraggeber, wenn er denn tatsächlich existierte, unweigerlich ins Netz gehen.
Zufrieden mit sich und dem Fortgang der Dinge griff Landsrait nach seiner speckigen Ledertasche, öffnete die Verschlüsse und holte den grünen Plastikbehälter hervor. Diesem entnahm er eine Knackwurst und die beiden Scheiben Mischbrot, die extra noch in ein Butterbrotpapier eingewickelt waren. Aus der obersten Schreibtischschublade holte er sein Taschenmesser, mit dem er die Wurst schälte. Nun stand dem Mittagmahl nichts mehr im Wege. Ehe er aber den ersten Bissen zu sich nahm, breitete er die aktuelle Ausgabe des »Neuen Österreich« vor sich aus. Und wie immer begann er seine Lektüre mit der Sportseite. Denn wenn es etwas gab, wofür sich Landsrait nachhaltig erwärmen konnte, dann war es Fußball.
Die neue Saison hatte eben erst begonnen. Alle jagten den »FAC«, der zum Entsetzen der kommunistischen Sportfunktionäre in der abgelaufenen Spielzeit den Meistertitel geholt hatte. Als Polizist galten seine Sympathien pflichtschuldigst »Dynamo Wien«, dem allseits bekannten und geschätzten Polizeiverein. Doch »Stahl Favoriten«, »Volksstimme Brigittenau« sowie die Provinzmannschaften »Roter Stern Krems«, »Vorwärts Steyr« und »Roter Husar Eisenstadt« waren auch in diesem Jahr wieder als harte Konkurrenten einzustufen. Insgeheim trauerte Landsrait immer noch den vergebenen Chancen von vor zwei Jahren nach, als »Dynamo« im Cup der Meister sensationell den Namensvetter aus Berlin ausgeschaltet hatte, um dann ausgerechnet gegen den West-Meister »Rapid« sang- und klanglos auszuscheiden. Ein Sieg gegen die Hütteldorfer hätte den Aufstieg ins Viertelfinale bedeutet, so aber blieb der Fußball der ÖDR wieder einmal außen vor und in der internationalen Arena auf die Zuschauerrolle beschränkt. Doch wie Landsrait dem Vorbericht auf die erste Runde der Oberliga entnahm, strotzte »Dynamo« vor Selbstbewusstsein. Vielleicht also konnten sie den Titel wieder ins Tolbuchin-Stadion zurückholen.
Landsrait hatte die Wurst fast aufgegessen, als er sich endlich der Titelseite der Zeitung zuwandte. Mit flinken Augen überflog er die Schlagzeilen. Der Erste Sekretär der Zentralrats der FÖJ, Gusenbauer, hatte sich mit Friedensaktivisten aus dem neutralen Ausland getroffen. Ein kleines Foto zeigte den dicken Vorsitzenden, der mit seinem Vollbart an den italienischen Schauspieler Bud Spencer erinnerte, mit einer farblosen Blondine, die, wie der Bildunterzeile zu entnehmen war, dem sozialdemokratischen Jugendverband Schwedens vorsaß. Ebenfalls titelseitenwürdig war laut Meinung des Zentralorgans der Partei die Stellungnahme des Politbüro-Mitglieds und ZK-Sekretärs für Landwirtschaftsfragen. Der Mann hatte Vertreter der LPG »Laurenz Genner« im Ministerium empfangen und sich bei dieser Gelegenheit zuversichtlich gezeigt, dass die Weinernte in diesem Jahr die Kennziffern des aktuellen Fünfjahresplans um nahezu 100 Prozent übererfüllen würde. Landsrait ertappte sich bei der Frage, ob angesichts dieser Prognose bald jemand als »Bestwinzer« ausgezeichnet werden würde, gab es doch schon »Bestmelker« und »Bestmäher«, wobei Letztere nicht selten Anlass zu ironischem Spott boten, wenn natürlich auch nur hinter vorgehaltener Hand.
Erwartungsvoll sah zudem Staatsratsvorsitzender Muhri dem Besuch seines Amtskollegen Honecker entgegen. Eine Tatsache, die naturgemäß die Hälfte der Titelseite füllte. Landsrait las den Bericht aufmerksam und wunderte sich, dass darin die aktuelle Flüchtlingskrise der DDR mit keinem Wort erwähnt wurde. Seit dem Vormonat waren Tausende DDR-Bürger in die Westbotschaften von Prag und Budapest geflohen, was auch den Bürgern der Staaten des Warschauer Vertrags nicht verborgen geblieben war, egal, ob sie nun heimlich West-Fernsehen sahen oder nicht. Landsrait fand, eine solche Entwicklung zu ignorieren, war der falsche Weg. Man musste die Krise offen ansprechen, Selbstkritik üben und in einer nach vorne gerichteten Diskussion progressive Lösungen für das Problem finden.
Aber mutmaßlich geschah das ohnehin. Honecker kam sicherlich auch deshalb in die Hauptstadt der ÖDR, weil er sicherstellen wollte, dass die Organe der ÖDR ein Ausufern der Flüchtlingskrise bereits im Vorfeld unterbanden. Landsrait kam nicht dazu, den Gedanken zu Ende zu spinnen, denn in diesem Augenblick kamen Artner und Schneider ins Büro. Automatisch sah Landsrait auf. »Karl! Friedrich!«, grüßte er sie, »alles erledigt?« Artner nickte. »Der Einbruch ist ordnungsgemäß abgeschlossen, und den subversiven Agitator haben wir an die Genossen von der Staatssicherheit abgetreten.« Auf den Gesichtern der beiden zeichnete sich ein Lächeln ab. »Freut euch nicht zu früh«, dämpfte Landsrait ihren aufgekeimten Optimismus, »es gibt schon wieder Arbeit.« Tatsächlich bewegten sich vier Mundwinkel in erstaunlicher Geschwindigkeit nach unten.
Nachdem Landsrait die Sachlage erläutert hatte, erhob sich von beiden Protest. »Das geht nicht«, begann Artner, »ich muss um vier meine Kleine von der POS abholen.«
»Und ich bin ab drei zum Treffen der ÖSG delegiert«, ergänzte Schneider.
Landsrait seufzte innerlich. Die zahlreichen Freundschaftsgesellschaften mit den sozialistischen Bruderstaaten, von denen die ÖSG, die »Österreich-Sowjetische Gesellschaft«, die bedeutendste war, fraßen fast noch mehr Arbeitszeit auf als die Gewerkschaftssitzungen. Doch Landsrait verwunderte es nicht, dass diese Organisationen sich allgemein großer Beliebtheit erfreuten, denn durch sie kam man verhältnismäßig leicht zu Auslandsurlauben. Wer nicht immer nur sein wackeliges Segelboot über den Neusiedler See schippern lassen wollte, der konnte es durch die ÖUF, die »Österreich-Ungarische Freundschaft«, an den Plattensee, durch die entsprechenden Gesellschaften mit der DDR, Bulgarien oder Polen an die Ostsee, ans Schwarze Meer oder wenigstens an die Masuren schaffen. Aus genau diesem Grund war auch er Mitglied bei der ÖPG. Aber dass Artner sich seiner polizeilichen Arbeit mit der Begründung entziehen wollte, er müsse seine Tochter von der Schule nach Hause bringen, das war schon mehr als dreist. Denn Landsrait kannte Artners Tochter Katja gut. Sie war bereits zehn und konnte daher die paar Gassen von der Polytechnischen Oberschule »Alfons Petzold« in die heimatliche Winarskystraße ohne Probleme auch alleine schaffen. Allerdings, so fiel Landsrait ein, hatte er mit Farkas, Kellner und Rozehnal ohnehin drei Leute zur Hand. Das Café hatte nur zwei Eingänge, es sollte also leicht möglich sein, den Verdächtigen auch mit nur vier Polizisten zu stellen.
Allerdings durfte er Artner nicht das Gefühl geben, er sei in solchen Fragen leicht manipulierbar, sonst wurden solche Extratouren zur Regel. Landsrait setzte daher ein strenges Gesicht auf: »Aber nur ausnahmsweise, hast du verstanden, Karl? Und das nächste Mal will ich so etwas rechtzeitig wissen! Damit das klar ist.« Artner senkte den Blick und nickte pflichtschuldigst.
Landsrait wandte sich nun Schneider zu. »Und wo geht’s hin? Moskau? Leningrad? Kiew?«
»Gar nirgends vorerst. Aber wir haben eine Delegation von der Krim da. Und ich hoffe, die sprechen eine Gegeneinladung aus.«
»Du Glücklicher«, entfuhr es Artner, »Jalta! Schwarzmeerstrand! Sonne, Sand und Meer.«
»Von wegen«, wiegelte Schneider ab, »die sind aus Simferopol. Da gibt’s nur einen Bahnhof, ein Puppentheater und ein paar Berge.«
»Danke für den Ausflug in die Geografie«, kürzte Landsrait den sich entspannenden Diskurs jäh ab, »zurück zur eigentlichen Arbeit. Wir haben da einen potenziellen Schmuggler in Haft, falls ihr euch noch daran erinnern könnt. Und wenn ihr schon für die Observierung am Nachmittag ausfallt, dann könnt ihr euch wenigstens jetzt in die Neugasse begeben und ein bisschen mit den Anrainern plaudern, ob denen irgendetwas aufgefallen ist.«
Landsrait wusste nur zu gut, dass er Artner und Schneider damit leere Kilometer aufhalste, denn selbst wenn jemand irgendetwas bemerkt hatte, würde er mit der Volkspolizei sicher nicht darüber reden. So gesehen war es klüger, sich mit den Genossen der Staatssicherheit ins Einvernehmen zu setzen, damit die ihre IM befragten, über die sie sicherlich auch in diesem Abschnitt verfügten.
Für sich selbst stellte sich nun die Frage, wie er die folgenden zwei Stunden zubrachte, ehe er sich mit den drei Kollegen zum Kaffeehaus aufmachte. Fürs Erste konnte er Nachschau halten, ob die Kollegin bereits das Vernehmungsprotokoll von Schütz abgetippt hatte. Das könnte er dann immerhin gleich dem Akt beilegen. Er griff zum Telefonhörer und wählte die vierstellige Nummer der Stenotypistin. Bei jeder neuen Zahl gab die Wählscheibe ihr charakteristisches Knattern von sich. »Helga Hruby«, hörte er endlich die Stimme der Mitarbeiterin. »Du, Servus, Peter da«, begann er, »sag, hast du das Protokoll von heute schon fertig?«
»Bitte Peter, was glaubst du? Zuerst war Gewerkschaftssitzung, dann habe ich die mir gesetzlich zustehende Mittagspause in der Kantine zugebracht …«
»Was gab’s denn heute Gutes?«
»Fleischlaberl mit Erdäpfelpüree«, gab die Hruby zurück, und Landsrait bedauerte, stattdessen mit Knackwurst und Brot vorliebgenommen zu haben. Das Sozialmenü in der Polizeikantine kostete ohne Suppe und Getränk nur 70 Groschen, das war keine unbillige Summe. Er beschloss, am nächsten Tag kein Menagereindl mehr ins Büro zu bringen, sondern sich einmal in den Kreis der Kollegen zu begeben, auch wenn dies bedeutete, dass er die Zeitung später lesen musste.
»Na ja, jedenfalls hab ich dann gleich nach der Mittagspause damit angefangen«, beendete Hruby ihre Rechtfertigung zwischenzeitlich.
»Ja, passt schon«, beruhigte Landsrait sie, »wenn du fertig bist, dann leg es mir auf meinen Schreibtisch. Ich bin dann nämlich wahrscheinlich schon auf Außendienst.«
Landsrait zündete sich eine »Club« an und blies den Rauch gegen die Fensterscheibe. Langsam aber sicher trübte sich das Wetter ein. »Wir werden heute noch Regen kriegen«, sagte der Hauptwachtmeister zu sich selbst. Sein Blick fiel wieder auf die Zeitung. Bis er mit seiner Mannschaft ausrücken musste, hatte er noch eine gute halbe Stunde Zeit. Und die vertrieb er sich wohl am besten mit Lektüre. Allerdings war es vielleicht vernünftiger, statt dem Tagblatt ein Buch zu lesen. Das konnte man viel besser verschwinden lassen, falls es Jäger einfiel, unangekündigt bei ihm vorbeizukommen. Landsrait stand auf und ging zum Kleiderständer, wo er sein Sakko aufgehängt hatte. Er zog aus der Rocktasche das schmale Taschenbuch, das er derzeit mit sich führte. »Störfall«, ein Werk der DDR-Autorin Christa Wolf, das vor zwei Jahren im Weimarer Aufbau-Verlag erschienen war und sich unter anderem mit der Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl befasste. Die ÖDR hatte nur eine einzige Atomanlage, in Zwentendorf im nördlichen Niederösterreich gelegen, und Landsrait war sich sicher, dass dort Fehler, wie sie in der Ukraine gemacht worden waren, nicht vorkommen konnten, denn das Werk war eine gelungene Koproduktion von deutscher Präzision und österreichischer Innovation. Da konnte ganz einfach nichts schiefgehen.
Landsrait blätterte die Seiten hin und her und suchte nach der Stelle, an der er die Lektüre am Morgen, als er von seiner Wohnung ins Büro gefahren war, unterbrochen hatte. Dabei rief er sich den zweiten Handlungsstrang wieder ins Gedächtnis. Der Bruder der Erzählerin stand vor einer schwierigen und gefährlichen Gehirnoperation.
Er hatte kaum zehn Zeilen gelesen, als die Tür aufflog. Major Jäger stand formatfüllend im Türrahmen. Automatisch erhob sich Landsrait. »Genosse Major, was verschafft mir die Ehre?« Jäger kam ohne Umschweife zur Sache. »Genosse, Sie haben mir da am Telefon irgendetwas zugeraunt über irgendeine Schmuggler-Sache. Das hat mir keine Ruhe gelassen. Erzählen Sie mir mehr davon.« Landsrait berichtete, was sie bisher über die Angelegenheit in Erfahrung gebracht hatten.
»Und Sie glauben also, es gibt da einen Hintermann, der sozialistisches Eigentum ins kapitalistische Ausland verschiebt?« Landsrait nickte. Jäger kraulte nachdenklich seinen leninschen Spitzbart. »Das könnte eine heikle Angelegenheit werden, da müssen wir vorsichtig vorgehen.« Landsrait stimmte eilig zu. »Ganz meine Meinung, Genosse Major.«
»Da müssen wir auf jeden Fall mit der Staatssicherheit Kontakt aufnehmen. Und natürlich, wenn sich zeigt, dass es da um etwas Wertvolles geht, auch mit der KoKo.« Aus langjähriger Erfahrung wusste Landsrait, welche Einrichtung sich hinter diesem Kürzel verbarg. Die »Kommerzielle Koordinierung« war für den Handel mit dem Westen zuständig, den es offiziell natürlich gar nicht gab. Aber irgendwie musste ja auch der Arbeiter- und Bauernstaat an westliche Devisen kommen, denn nur so war es ihm möglich, am Weltmarkt jene Güter zu erwerben, die es im real existierenden Sozialismus nun einmal nicht gab. Der Schilling der ÖDR war durchaus eine starke Währung, aber wie auch bei der Mark der DDR oder beim sowjetischen Rubel war es dem Westen gelungen, den Realwert der jeweiligen Währung drastisch unterzubewerten, sodass man auf dem Schwarzmarkt für einen West-Schilling gleich sieben Schilling der ÖDR berappen musste. Daher waren die Tagestouristen aus West-Wien in der Hauptstadt der ÖDR alles andere als beliebt, denn sie machten sich allesamt offen über die Preise in der ÖDR lustig und führten sich auf wie Gott in Frankreich. Eine Attitüde, die sein Großvater gern mit »Was kostet die Welt-Mentalität« umschrieben hatte. Wenn Opa wüsste, wie diese Wessis heutzutage in seiner Stadt hausten, er würde sich im Grabe …
»Hallo? Genosse Hauptwachtmeister? Haben Sie mir überhaupt zugehört?« Jäger ließ eindeutig Unwillen erkennen. »Verzeihen Sie, Genosse Major«, rang Landsrait um eine Entschuldigung, »ich war in Gedanken ganz bei unserem Fall.«
»Sie stimmen mir also zu, dass wir die genannten Organe in die Ermittlungen einbeziehen?«
»Vielleicht, Genosse Major, sollten wir nichts übereilen. Ich habe vor, diesem Hinweis des verhafteten Schmugglers nachzugehen, wonach er um drei Uhr seinen Kontaktmann im ›Café Einheit‹ treffen sollte. Wenn es den nämlich gar nicht gibt, wenn Schütz den nur erfunden hat, dann könnten wir uns bei den Genossen blamieren. Und das würde ich gerne vermeiden.«
Natürlich war es Landsrait vollkommen gleichgültig, was die Wichtigtuer von der Stasi von ihm hielten. Aber wurden die jetzt schon in den Fall eingebunden, dann übernahmen sie ihn gleich ganz, und Landsrait durfte ihnen bestenfalls noch Tee vom Samowar holen. Das war sein Fall, und damit es auch so blieb, mussten die Jungs von der Staatssicherheit von der Sache ferngehalten werden.
»Ja, das ist vielleicht kein schlechter Gedanke. Nicht vorschnell urteilen, Sie haben recht, Genosse Hauptwachtmeister. Ich denke, es kann nichts schaden, wenn Sie dort einmal unverbindlich vorbeischauen, ob Sie jemanden antreffen, auf den die Beschreibung dieses … dieses Schmugglers passt. Und wenn so jemand dort ist, dann kontaktieren Sie sofort die zuständigen Organe.«
»Ich weiß nicht, Genosse Major. Das wäre vielleicht immer noch eine Spur zu voreilig. Was, wenn uns Schütz eine Falle stellt? Er hat uns eine Person beschrieben, die eigentlich ziemlich durchschnittlich geraten ist. Da kann es bald eine Ähnlichkeit geben. Und am Ende erwischen wir den Falschen und liefern ihn an die Genossen von der Stas… von der Staatssicherheit. Die würden dann schön über uns lachen.«
Landsrait hatte Jäger nun genau dort, wo er ihn hatte haben wollen. Die Debatte dauerte dem Major bereits zu lange, weshalb er die Lust daran verlor. Außerdem war nun auch Jäger bewusst, dass die Angelegenheit heikel war, sodass er sie ohne Zweifel an Landsrait abwälzen würde, damit er, Jäger, im Ernstfall den Kopf aus der Schlinge ziehen und Landsrait als Schuldigen benennen konnte.