Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
In einem Wald bei Ferlach wird ein Stadtrat tot aufgefunden. Fiel er einem Jagdunfall zum Opfer? Oder wurde ihm sein Ruf als Casanova zum Verhängnis? Hat sein Tod vielleicht gar einen politischen Hintergrund? Die beiden Ortspolizisten Obiltschnig und Popatnig haben eben erst mit ihren Ermittlungen begonnen, als ein zweiter Stadtrat das Zeitliche segnet. Führt jemand einen Privatkrieg gegen die Lokalpolitik? Doch warum muss dann auch noch eine dritte Person sterben, die mit dem Rathaus gar nichts zu tun hat? Die beiden Ermittler stehen vor einem Rätsel.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 292
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Andreas Pittler
Kärntner Finale
Kriminalroman
Mörderjagd in Kärnten In Ferlach wird ein Stadtrat mitten im Wald erschossen. Die Art des Todes deutet auf einen Jagdunfall hin, von dem der Jäger geflüchtet ist. Andererseits tauchen rasch Ungereimtheiten auf. Der Stadtrat war nicht nur als »Weiberheld« bekannt, sondern auch für ein in der Gemeinde höchst umstrittenes Stadionprojekt verantwortlich. Dennoch schenkt die Klagenfurter Kriminalpolizei der Angelegenheit keine besondere Bedeutung, was die beiden Ortspolizisten Obiltschnig und Popatnig dazu veranlasst, selbst mit Ermittlungen zu beginnen. Während sie noch in dieser Sache recherchieren, stirbt ein zweiter Stadtrat bei einem vermeintlichen Unfall mit seinem Mountainbike. Obiltschnig kann jedoch nachweisen, dass jemand eine Drahtfalle installiert hatte, die dem Stadtrat zum Verhängnis wurde. Auch er war, wie sich zeigt, federführend an dem Stadionprojekt beteiligt. Schließlich stirbt noch eine dritte Person, die auf den ersten Blick mit der Politik der Stadt überhaupt nicht in Verbindung gebracht werden kann. Ist das Motiv doch ein anderes?
Andreas Pittler, geboren 1964, studierte Geschichte und Politikwissenschaft (Magister und Doktor phil.). Ursprünglich als Journalist tätig, wandte er sich im 21. Jahrhundert vermehrt der Belletristik zu und veröffentlichte seit dem Jahr 2000 insgesamt 23 Romane. Seine Werke landen regelmäßig auf den österreichischen Bestsellerlisten und wurden bislang in acht Sprachen übersetzt. In seiner ursprünglichen Profession als Historiker ist er regelmäßig als Experte im Österreichischen Rundfunk zu Gast. Für sein literarisches Wirken erhielt er 2006 das Silberne Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich, 2016 wurde ihm vom österreichischen Bundespräsidenten der Berufstitel »Professor« verliehen.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Immer informiert
Spannung pur – mit unserem Newsletter informieren wir Sie
regelmäßig über Wissenswertes aus unserer Bücherwelt.
Gefällt mir!
Facebook: @Gmeiner.Verlag
Instagram: @gmeinerverlag
Twitter: @GmeinerVerlag
Besuchen Sie uns im Internet:
www.gmeiner-verlag.de
© 2023 – Gmeiner-Verlag GmbH
Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © gombocz / stock.adobe.com
ISBN 978-3-8392-7548-1
Scheiß Kälte. Konzentrier dich! Kimme und Korn, immer nach vorn! So irgendwie war das doch, oder? Es ist ganz einfach: das Ziel anvisieren und bumm. Wie bei der Jagd. Nur dass diesmal nicht irgendein Reh oder ein Hirsch dran glauben muss, sondern eine miese Pestbeule, die längst schon vom Antlitz der Erde hätte getilgt werden müssen. Wann kommt der endlich? Was? Ich liege hier schon seit einer halben Stunde auf der Lauer! Kein Wunder, dass mir hier allmählich alles abfriert. Ich hätte mir eine Decke mitnehmen sollen! Aber gut, dann hätten sie vielleicht später irgendwelche DNA-Spuren oder so etwas gefunden. Man kennt das ja aus dem Fernsehen, heute kommst du ja praktisch mit nichts mehr durch, weil die immer etwas finden. Na gut, die! Die sind im Fernsehen. Die lösen immer alles. Aber der Obiltschnig, der Trottel, oder der Popatnig, der Säufer, die sind ja schon mit einer Verkehrskontrolle überfordert, die werden nichts finden. Aber rein gar nichts. Und wenn es stimmt, was sie im ORF gesagt haben, dann regnet es am Nachmittag, und dann sind ohnehin alle Spuren dahin. Also nur ruhig Blut! Wenn er nur endlich käme!
Hoffentlich kommt er allein! Sonst war das da alles für die Katz! Keine Angst, beruhige dich, er geht immer allein in den Wald, das hast du recherchiert. Stand ja sogar in der Zeitung. Wie hat er sich da ausgedrückt? Die frische Natur, oder nein, die reine Natur, die helfe ihm, seine Gedanken zu ordnen und kreative Lösungen … denk nicht länger darüber nach, weil, sonst musst du kotzen, und dann finden die am Ende doch noch etwas! Das war doch auch in irgendeinem Film … welcher war das noch gleich? Da bringt eine einen um und muss sich deswegen übergeben. Und das finden die Ermittler dann und können die Täterin deshalb überführen. … Was war das noch gleich? Irgendein österreichischer … die eine Blonde, die war die Täterin. Die, die auch in so einer Serie mitspielt. Herrgott, ich komm nicht drauf! Normal würde ich jetzt googeln, aber das Handy habe ich vorsorglich am Parkplatz in Ressnig gelassen. Nicht dass die mich mit dem Ding irgendwie orten! So kann ich sagen, ich war die ganze Zeit bei der Drau und hab die Aussicht über das Rosental genossen. Und dann bin ich zum Plasch etwas essen gegangen. Teuer war’s, aber hervorragend wie immer. Und wenn sie mir das nicht glauben, dann werden sie sehen, wo mein Handy eingeloggt war, und niemand kann mir beweisen, dass ich in Wirklichkeit in den Wäldern beim Schaidabauern war.
Kommt der jetzt noch oder kommt er nicht? Mir werden schon die Finger steif. Und Durst hab ich auch! Schrecklichen Durst sogar! Ich hätte mir was mitnehmen sollen. Auch egal. Wenn er nicht in den nächsten zehn Minuten kommt, dann hat er halt Glück gehabt, der Arsch der. Ich glaube, ich spüre meine Zehen nicht mehr. Scheiße, reiß dich zusammen. Du hast eine Mission, und die musst du erfüllen. Du …
Was hat da geknackt? Ist da hinter mir ein Vieh? Nicht dass am Ende ich selbst die einzige Leiche bin da in dem Wald, weil wieder einer von diesen Bären einen Ausflug über die Karawanken gemacht hat und mich für ein Schaf hält. Da! Schon wieder! Was zum Teufel …
Nein, das kommt nicht von hinter mir, das ist viel weiter unten, nur der Wind spielt mir einen Streich. Da! Da kommt er! Endlich! Gleich ist er an der Lichtung. Also ganz ruhig jetzt. Das Gewehr genau in Anschlag gebracht, das Ziel anvisiert. Nicht zu lange warten, sonst beginnt man ganz unwillkürlich zu zittern, und dann geht der Schuss auf diese Distanz daneben. Oder man trifft ihn nicht richtig, nur in die Schulter oder ins Bein. Aber der Treffer muss sitzen. Richtig sitzen. Er muss tot sein. Ganz tot.
Kimme und Korn, Kimme und Korn … Boah, ist das laut gewesen! Das haben sie sicher noch in Dollich und vielleicht sogar in Waidisch gehört. Fuck! Jetzt aber ganz schnell weg, sonst erwischen sie mich am Ende noch. Noch einmal genau hingesehen! Nein, da ist nichts! Vielleicht noch schnell mit dem Stiefel ein wenig übers Laub gestrichen? Ach, egal. Selbst wenn sie suchen, werden sie nicht gerade da suchen! Das Gewehr geschultert, und ab die Post!
Gruppeninspektor Sigisbert Obiltschnig schluckte. Einerseits, weil es galt, den Bissen der Leberkässemmel Richtung Magen zu befördern, andererseits, weil der penetrante Klingelton des Amtstelefons Arbeit signalisierte. In der Mittagspause. Unwillkürlich warf er einen Blick auf seinen Kollegen, doch Revierinspektor Ferdinand Popatnig fühlte sich sichtlich nicht zuständig, sondern kaute weiter versonnen an seiner eigenen Semmel herum. Als er endlich zu bemerken geruhte, dass der Ranghöhere von ihm eine Reaktion erwartete, zuckte Popatnig mit den Schultern. »Ich hab das Essen geholt«, gab er mampfend von sich. Obiltschnig musste zugeben, dass Popatnigs Aussage der Wahrheit entsprach. Er schickte sich also ins Unvermeidliche und hob den Hörer ab.
»Landespolizeidirektion Kärnten, Polizeiinspektion Ferlach, Gruppeninspektor Obiltschnig am Apparat, was kann ich für Sie tun?«, leierte er artig den eingelernten Spruch herunter.
»Ich steh da im Wald, circa eine Viertelstunde vom Schaidabauern weg«, kam es abgehackt aus der Leitung, »und da liegt einer. Mit einem Mordstrum-Loch in der Brust.« Obiltschnig vernahm ein Tuten und ein extrem nerviges »Hold the line, please«, was ihn nicht verwunderte. Dort oben war die Verbindung nie besonders stabil. Endlich war der Anrufer wieder da. »Voller Blut, hab ich gesagt«, schrie er regelrecht, »alles voller Blut!«
Die letzten Worte versetzten den Gruppeninspektor in eine Art inneren Alarmzustand. »Ganz langsam«, bemühte er sich, den Anrufer und damit aber auch sich selbst zu beruhigen, »wo genau sind Sie? Und können Sie mit Bestimmtheit sagen, dass die Person, die Sie da gesehen haben, tot ist?«
»Na wenn das kein Zombie ist, dann freilich. Seine Augen starren ins Nirgendwo, und rühren tut er sich auch nicht.«
»Haben Sie den Puls gefühlt?«
»Ja, sind Sie denn narrisch worden, Herr Inspektor! Ich greife doch keine Leiche an.«
Wieder so ein Zartbesaiteter, dachte Obiltschnig, blieb aber nach außen hin sachlich. »Ja gut, ich verstehe. Können Sie zum Schaidabauern herunterkommen und uns von dort zu Ihrem Lei… zu Ihrem Fund führen?« Der Anrufer signalisierte Zustimmung. »Gut, wir warten dort auf Sie. Bis gleich, auf Wiederhören.«
Obiltschnig legte den Hörer zurück und kramte nach seinen Utensilien. »Auf geht’s, Ferdi, wir haben einen Einsatz«, ließ er sich überdeutlich vernehmen, dafür einen wehmütigen Blick Popatnigs erntend, dem die Vorstellung, dass der Leberkäse in der Zwischenzeit kalt werden würde, sichtlich nicht behagte.
Gemeinsam begaben sie sich ins Freie, stiegen in den Streifenwagen, wobei Obiltschnig hinter dem Lenkrad Platz nahm, während sich Popatnig auf den Beifahrersitz fallen ließ. Sie bogen auf die Hauptstraße ein, legten die 100 Meter bis zum Supermarkt zurück und nahmen dort die kleine Seitenstraße, die zu dem Ausflugsgasthof führte, wo sie sich mit dem Anrufer treffen sollten. Das alles war in weniger als fünf Minuten erledigt, sodass von dem Mann erwartungsgemäß noch keine Spur zu sehen war. Popatnig fingerte eine Marlboro aus seiner Brusttasche, wofür er einen tadelnden Blick seines Kollegen erntete. »Was?«, fragte er gereizt. »Im Freien, während wir warten! Darf ich nicht einmal das?« Obiltschnig sah wieder Richtung Wald. »Ist deine Lunge«, merkte er leichthin an. Die Zigarette lag schon längst zertreten auf dem Asphalt, als endlich ein Mann mittleren Alters auf sie zustolperte. Er wirkte ziemlich aufgelöst, was Obiltschnig angesichts der zuvor gemachten Erfahrung weiter nicht verwunderte. Eilig machte er ein paar Schritte auf ihn zu. »Gruppeninspektor Obiltschnig, wir haben telefoniert«, stellte er sich vor. »Ja, gut«, blieb der andere kurz angebunden, »da oben ist’s, einen guten Kilometer, und es geht ziemlich bergauf, aber das ist nicht meine Schuld.«
»Natürlich nicht, Herr …«
Der Mann, der sich schon wieder bergwärts gedreht hatte, blieb abrupt stehen. Er sah über die Schulter. »Ach, brauchen Sie zuerst meine Personalien?« Obiltschnig bemühte sich um ein Lächeln: »Der Name genügt vorläufig völlig. Aber wir wollen Sie ja nicht mit ›Sie, Herr, Sie‹ anreden müssen.«
»Wessely. Franz Wessely. Aus Wien. Zum Wandern hier. Genügt das vorerst?« Obiltschnig machte eine begütigende Geste: »Vollkommen.«
Der Herr Wessely hatte, so stellte Obiltschnig fest, nicht übertrieben. Obwohl er für sein Alter eigentlich ziemlich fit war, bemerkte er, dass ihm das Atmen zunehmend schwerer fiel. Die Steigung war markanter, als es den Anschein gehabt hatte, und der Gruppeninspektor schalt sich innerlich für seinen Hochmut, hatte er doch anfänglich: Ja, was für einen Wiener halt bergauf ist, gell, gedacht. Doch der Anstieg lehrte ihn Demut, und er hoffte inständig, nicht ins Keuchen zu kommen, was ihm nämlich unzweifelhaft ein »Und wessen Lunge ist jetzt nachher das?« von Popatnig einbringen würde. »Gleich da drüben«, lenkte ihn der Wiener von seinen trüben Gedanken ab.
Obiltschnig beschlich eine düstere Ahnung, als er der Richtung des ausgestreckten Wiener Zeigefingers folgte. Er zwang sich, nicht vorschnell zu urteilen, und legte den letzten Rest des Weges zurück, ehe er die Leiche wirklich genau betrachtete. »Scheiße!«, entfuhr es ihm.
Wofür er zwei irritierte Blicke erntete. »Das ist der Schatzl. Kein Zweifel«, klärte er seine Begleiter auf. Vom Urlaubsgast hatte er keine Reaktion erwartet, doch dass auch Popatnig nach dem Hören dieses Namens keine Regung zeigte, erstaunte Obiltschnig denn doch. »Der Ferlacher Finanzstadtrat«, stieß er daher nach, immer noch auf Unverständnis bei seinem Kollegen stoßend. Als Popatnig endlich des Umstands gewahr wurde, dass nun auch der Wiener von ihm ein Statement erwartete, machte er eine entschuldigende Geste. »Glaubst du, ich kann mir alle Politiker merken? Ich hab doch schon genug damit zu tun, mir das jeweilige Gesicht vom Bundeskanzler zu merken, so oft, wie die neuerdings wechseln.«
»Aber der Schatzl ist nicht irgendwer«, statuierte Obiltschnig mit einem strengen Ton, »der ist … der war nach dem Bürgermeister die eigentliche Instanz im Rathaus.« Er seufzte. »Und jetzt ist er tot.«
Popatnig war derweilen in die Knie gegangen, um die Wunde genauer in Augenschein zu nehmen. »Sieht nach einem Gewehr aus«, mutmaßte er, ehe er sich wieder erhob. »Vielleicht ein Jagdunfall?« Obiltschnig schüttelte den Kopf. »Mitten ins Herz? Das muss schon ein saublöder Zufall sein, dass ein Projektil genau da …« Er vollendete den Satz nicht, dennoch wussten alle, was er meinte.
»Na ja«, ergriff nun wieder Popatnig die Initiative, »wir müssen die KTU aus Klagenfurt kommen lassen. Und sicherheitshalber sollten wir auch die Kriminal…« Obiltschnig hob die Hand. »Gar nichts sollten wir. Zuerst müssen wir einmal zweifelsfrei klären, was das da überhaupt ist. Nicht dass uns die Großkopferten dann auf den Schädel schei…« Er verstummte abrupt, da ihm bewusst wurde, dass ja immer noch der Herr Wessely neben ihm stand. »Vielleicht könnten Sie mir jetzt doch Ihre Personalien geben, während mein Kollege die Formalitäten erledigt. Sie wohnen in Wien, haben Sie gesagt …«
Während der Herr Wessely, nachdem er sich umfassend deklariert hatte, darauf bestand, seine Wanderung nun wie geplant fortzusetzen, immerhin habe er die weite Reise nur deswegen angetreten, war es Popatnig gelungen, die Leute von der KTU zu mobilisieren. »Die werden in einer guten Stunde da sein, sagen sie.« Obiltschnig hob die Augenbrauen. »Warum brauchen die so lange?« Popatnig gab sich ratlos: »Keine Ahnung. Vielleicht müssen sie erst das Team kreuz und quer in Klagenfurt aufsammeln.« Obiltschnig fand, es war wieder einmal Zeit für einen Seufzer. »Na, es hilft ja nichts. Du gehst zurück zum Wagen und wartest dort auf die Kavallerie. Ich pass einstweilen hier auf, dass unsere Leiche nicht wegkommt.«
Das Warten erwies sich als zermürbend. Er hatte sich auf einen Baumstumpf gesetzt und war dabei bemüht, sich die Zeit durch einige Beobachtungen der Natur zu vertreiben. Doch da war nichts, was seine Aufmerksamkeit dauerhaft hätte erregen können. Da krabbelte nichts, da zwitscherte nichts, da, was er jedoch als Glück empfand, grunzte auch nichts. Nicht einmal die Blätter rauschten, was angesichts der anhaltenden Windstille weiter nicht verwunderlich war. Aber gut, er hätte es schlechter treffen können, sagte sich Obiltschnig und drehte unmerklich seinen Kopf in Richtung Schatzl, der derartiger Sorgen ein für alle Mal enthoben war. »Ja«, murmelte er, »dir ist das wurscht. Weil dir jetzt alles wurscht ist. Aber ich, ich sterbe in der Zwischenzeit auch. Vor Langeweile.«
Er holte sein Handy aus der Brusttasche seiner Uniformjacke und begann ohne sonderlichen Enthusiasmus, einige der Apps aufzurufen. Auf WhatsApp keine neuen Nachrichten, auf Facebook zwar Nachrichten, aber keine interessanten. Er überlegte, ob er ein Selfie machen und sein Profilbild aktualisieren sollte. Doch dann fiel ihm ein, dass er ja die Uniform anhatte, und dann wäre sein Vorsatz, seinen Beruf in den sozialen Medien nicht zur Sprache zu bringen, dahin. Er war von allem Anfang an bemüht gewesen, auf Facebook ein ganz normaler Teilnehmer zu sein, weshalb sein Profil auch schlicht »Da Sigi« hieß. Ihm graute vor der Vorstellung, irgendwelche Ferlacher würden ihm Freundschaftsanfragen schicken, nur damit sie sich dann bei einer Amtshandlung auf eben diese Freundschaft berufen konnten. Nein, für seine Freunde war er »der Sigi«, und für alle anderen schlicht nicht präsent.
Endlich drangen Geräusche an sein Ohr, die an menschliche Stimmen gemahnten. Tatsächlich bahnte sich ein kleiner Trupp seinen Weg hinauf zum Fundort. Obiltschnig erkannte den dicken Wagner, der direkt neben Popatnig ging und sichtlich schnaufte. Die Gesichter der beiden Jüngeren hingegen sagten ihm nichts. Doch das mochte nichts heißen. Es war ja nicht so, dass er alle Tage mit der KTU in Verbindung treten musste.
»Na servus«, keuchte Wagner, ohne Obiltschnig zu begrüßen, »das wird nicht lustig, den da runter zum Wagen zu bekommen. Na ja«, und nun zeigte sich ein Grinsen auf seinem feisten Gesicht, »da wird es dann heißen: Jugend voran.« Der Gruppeninspektor ignorierte Wagners Unhöflichkeit und hielt ihm die Hand hin: »Servus, Gustl«, fügte er hinzu, ehe er mit der anderen Hand auf den Toten wies. »Ja, schad’, dass die Leute nicht direkt in der Prosektur ermordet werden, das wäre praktischer.« Wagner ließ eine Art Knurren vernehmen: »Ich hab schon mehr gelacht. Und ob das ein Mord ist, das werden wir erst noch sehen.«
»Na ja, Selbstmord ist es jedenfalls keiner«, mischte sich Popatnig in die Unterhaltung, »außer, der Schatzl war nebenbei auch Zauberer und hat die Tatwaffe auf magische Weise verschwinden lassen.« Dabei lächelte er schief. Wagner aber schüttelte den Kopf. »Ihr zwei wart auch schon einmal lustiger. Vielleicht solltet ihr euch versetzen lassen. Das dauernde Zusammensein tut euch anscheinend nicht gut.«
»Es kann nicht ein jeder so witzig sein wie die Leute vom Villacher Fasching«, entgegnete Obiltschnig, wobei er das vorletzte Wort unter bewusster Anspielung auf Wagners Herkunftsort überdeutlich betonte. Wagner straffte seinen Oberkörper: »Weißt, was ein Ferlacher ist?« Er machte eine kurze Kunstpause. »Das ist ein Unterkärntner, bei dem es nicht einmal zum Klagenfurter gereicht hat.«
»Und wer hat gestern das Derby gewonnen? Ha? Wer?« Obiltschnig ließ seine Zähne sehen. »Die Klagenfurter. Aber nicht ihr«, gab Wagner unbeeindruckt zurück.
»Vielleicht, wenn wir uns jetzt der Leiche …« Der Einwand des blonden Jünglings wurde mehr gestottert als formvollendet vorgebracht, reichte aber immerhin aus, die drei Älteren zur Räson zu bringen. »Also, gehen wir’s an«, gab Wagner die Richtung vor.
Das Ergebnis der Untersuchung war gleichwohl ernüchternd. Wagner resümierte, dass der Mann während eines offensichtlichen Spaziergangs von einer Kugel in die Brust getroffen worden war und sofort tot gewesen sein dürfte. Dementsprechend gäbe, so dozierte Wagner, es auch keine Spuren, die gesichert werden könnten. »Der ist einfach umgefallen, und aus die Maus. Wenn er einfach über eine Baumwurzel gestolpert wäre, könnten wir nicht weniger finden als so.«
»Und was kannst du uns zum Einschuss sagen?« Obiltschnig wollte partout irgendein Ergebnis in die Hand bekommen, das die sinnlose Warterei wenigstens teilweise rechtfertigte. »Na, da sehe ich nichts, was du nicht auch siehst. Schaut ganz nach einem Jagdgewehr aus. Vom Kaliber her, meine ich. Aber alles andere ist reine Spekulation. Ob der jetzt aus zehn Meter Entfernung gezielt erschossen wurde oder ob ein Jäger den armen Kerl mit einem Hirsch verwechselt hat, das kann ich dir nicht sagen. Aber da bringt der Pathologe vielleicht ein bisschen Licht in die Sache. Weißt eh, Aufprallwinkel, Schusskanal und solche Dinge. Da sind die ja echt Koniferen, die Herren in Weiß.« Sein auffordernder Blick ließ wenigstens seine beiden Helfer über den Wortwitz mit der Konifere schmunzeln. Für Obiltschnig und Popatnig gab es nichts zu lachen. Erstens, weil der Scherz uralt war, und zweitens, weil sie sich jetzt schon das Donnerwetter ausmalen konnten, das über sie hereinbrechen würde, wenn der Bürgermeister von der Geschichte erfuhr und keine Antworten von ihnen bekam.
»Aber wenn es ein Jagdunfall war, dann hätte sich der Jäger ja von sich aus bei uns gemeldet«, versuchte Popatnig, etwas Positives an der Causa zu finden. »Außer, er hat Fahrerflucht begangen!« Wagner hatte anscheinend seinen humorigen Tag.
»Oder aber«, bemühte sich Obiltschnig um Sachlichkeit, »es war jemand, der eigentlich gar nicht hätte jagen dürfen und es dann mit der Angst bekommen hat.« Wagner wies in der Zwischenzeit seine Helfer an, den Leichnam zum Wagen zu bringen. Erst dann wandte er sich an den Gruppeninspektor: »Spekulieren, lieber Freund, tun wir an der Börse. In unserem Metier halten wir uns an Fakten. Und Fakt ist: Nichts Genaues wissen wir nicht.« Er klopfte Obiltschnig jovial auf die Schulter. »Alsdern, habe die Ehre. Schönen Abend noch.«
Obiltschnig war ob des überfallartigen Abzugs der KTU einigermaßen konsterniert, und sein Hirn formte den gleichfalls uralten Kalauer: »Ich glaub, ich steh im Wald« zum einzigen Gedanken, der ihm in diesem Augenblick durch den Kopf ging. Nach einer kleinen Weile, die er einfach nur entgeistert dagestanden war, gestand er sich jedoch ein, dass an dieser Stelle tatsächlich weiter nichts zu tun war. Ihm blieb nur, wieder in die Inspektion zurückzukehren, wo ein ganzer Haufen an Telefonaten darauf wartete, von ihm getätigt zu werden.
Normalerweise trachte ich ja danach, stets schnellstmöglich wieder aus einem Supermarkt flüchten zu können. Aber heute ist das anders. Ich versuche, jede einzelne Unterhaltung, die da geführt wird, mitzuverfolgen. Natürlich nicht, weil mich interessiert, ob jetzt Schweinsbraten auf den Tisch soll oder doch gegrillte Zucchini, auch ist mir das Philosophieren, ob der VSV gegen den KAC eine Chance gehabt hätte, herzlich gleichgültig. Ich will wissen, ob schon etwas über den Schatzl die Runde macht.
Einmal schien es fast so, und meinen Körper durchflutete das Gefühl wärmender Seligkeit. Doch dann musste ich feststellen, dass da einfach nur ein Mann in meinem Alter am Telefon mit seiner Frau oder seiner Geliebten sprach. Na ja, warum musste dieses Arschloch auch so einen blöden Nachnamen haben! Ich muss zugeben, ich bin nervöser, als ich erwartet hätte. Wie sonst ist es zu erklären, dass sich Pampers-Windeln und zweierlei Hautcremen in meinem Einkaufswagen befinden? Anscheinend räume ich, während ich verzweifelt bemüht bin, irgendwelche Informationen aufzuschnappen, irgendeinen Müll aus den Regalen. Das wird gar nicht so leicht, dieses Riesending wieder unauffällig zurückzubefördern. Und Auffallen ist so ziemlich das Letzte, was ich augenblicklich gebrauchen kann.
Jetzt streune ich schon fast eine Stunde durch die Gänge hier. Das bleibt auf die Dauer sicher auch nicht unbemerkt. Also besser, ich gehe endlich zur Kassa. Die Schatzl-Sache hat sich offenkundig noch nicht herumgesprochen, so viel steht einmal fest. Aber gut, vielleicht hält die Polizei die Angelegenheit noch unter der Decke. Ich werde, wenn ich wieder im Auto bin, einmal die Nachrichten abrufen, möglicherweise ist ja etwas zu den Medien durchgesickert.
Auch nichts. Schon mehr als merkwürdig. Gut, der Widerling ist erst seit ein paar Stunden tot, aber wir sind hier ja in einer Kleinstadt. Da wissen in der Regel die Nachbarn, dass man einen Leibeswind gelassen hat, bevor man ihn selbst riecht. Es kann doch nicht sein, dass da wirklich noch niemand etwas weiß. Also zumindest der Schaidabauer hätte doch mitbekommen müssen, dass da plötzlich Polizei vor seinem Anwesen auffährt. Und dass da später ein menschlicher Körper verladen und abtransportiert wird. So etwas muss man doch bemerken! Und sofort weitererzählen! Denn, Hand aufs Herz, was hat man sich in so einem Kaff schon groß zu berichten für normal? Die Hedwig ist schwanger, aber wahrscheinlich nicht vom Herbert. So etwas taugt da für einen Tratsch von mehreren Wochen, da muss doch der Tod eines, na, sagen wir es halt, Politikers für die ganz große Welle gut sein, oder etwa nicht?
Aber vielleicht hat der Schaidabauer gerade heute Ruhetag und war gar nicht zu Hause. Dann weiß er natürlich nichts von all dem, was da vor seinem Hof passiert ist. Und wer weiß, wie es im Hause Schatzl zugeht. Vielleicht ist seine Frau froh, dass der alte Gierlappen noch nicht zurückgekommen ist. Unter Umständen hat sie eine Affäre und freut sich darüber, länger mit dem Liebhaber schweinigeln zu können, was weiß man schon heutzutage.
Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich wieder in Geduld zu üben. Das hab ich heute ja ohnehin schon zur Genüge praktiziert. Vielleicht poppt die Sache morgen dann umso größer auf. Wollen wir’s hoffen! Aber jetzt sollte ich besser einmal von diesem Parkplatz wegfahren, sonst kommt das noch irgendeinem verdächtig vor, und am Ende notiert er sich dann mein Kennzeichen. Und wenn morgen die Polizei die Runde macht, ob irgendwer irgendwas bemerkt hat, dann erinnert der sich vielleicht an mich, und ich verrotte vor der Zeit in Karlau. Das darf nicht passieren. Also sehen wir zu, dass wir nach Hause kommen. Morgen ist, wie es so schön heißt, auch noch ein Tag.
»Jetzt sind S’ nicht kindisch, Obiltschnig! Jagdunfall! Dass ich nicht lach.« Wie das Tier im Zoo tigerte Oberstleutnant Hartl von der Landespolizeidirektion in Klagenfurt im Zimmer auf und ab. Hartl war für zwei Dinge gefürchtet: seine absolute Humorlosigkeit und seine Fähigkeit, prinzipiell keinen Satz zu vollenden. Der Pressesprecher der Kärntner Polizei hatte Hartl deswegen einmal »Anna Koluth« genannt, was natürlich niemand, auch Hartl nicht, verstanden hatte, bis irgendjemand herausgefunden hatte, dass man unter Anakoluth einen grammatischer Mangel verstand, Sätze logisch und richtig zu beenden. Und darin war Hartl, wenn er schon sonst nicht viel konnte, ein wahrer Meister. Was Obiltschnig allerdings auch nichts nützte. »Außerdem«, hörte er Hartl knurren, »ist dort ja kein Jagdgebiet, nicht wahr. Wer also sollte … ich meine, dort? Nicht?« Obiltschnig befand, ein Nicken an dieser Stelle mochte nicht schaden.
»Na sehen S’! Ganz meine … Rede, nicht wahr?« Obiltschnig schmunzelte. Der Satz war zwar von einer Pause unterbrochen worden, aber wenigstens keine Anna gewesen. »Ein Stadtrat noch dazu!« Der Gruppeninspektor bemühte sich, Hartl nicht aus den Augen zu verlieren. »Wichtig, nicht wahr? Wahnsinnig wichtig! Und heikel! Wirklich heikel.« Der Oberstleutnant war abrupt stehen geblieben und stützte die Hände in die Hüften, während er Obiltschnig durchdringend ansah: »Sie wollen mir doch nicht ernsthaft auftischen, dass … das … ein Unfall, nicht wahr? Das glauben S’ doch selber …« Es folgte eine wegwerfende Handbewegung. »Wenn’s der Dorfdepp gewesen wäre, bitte, oder irgendwer. Aber ein Stadtrat? Nie und nimmer!« Obiltschnig musste sich eingestehen, dass der Alte mit dieser Vermutung einen Gedanken formulierte, der ihm auch schon durch den Kopf gegangen war. Dass ausgerechnet eine gewichtige Ferlacher Persönlichkeit Opfer eines unglücklichen Jagdunfalls geworden sein sollte, das war wirklich nicht sehr wahrscheinlich. Er spürte, wie er blass wurde angesichts der Schlussfolgerung, die sich ob dieser Überlegung in ihm einzunisten begann: Wenn es kein Unfall war, dann war es … Mord!
Mord! Allein schon das Wort! Obiltschnig konnte sich nicht erinnern, dass es in Ferlach jemals ein solches Gewaltverbrechen gegeben hatte. Vom alten Obexer, der noch Kommandant des seinerzeitigen Gendarmeriepostens gewesen war, wusste er, dass irgendwann um 1985 einmal ein Bauer im Rausch seine Frau erschlagen hatte. In Ressnig unten. Aber der hatte gleich danach selbst die Polizei angerufen und die Tat noch am Telefon gestanden. Obiltschnig erinnerte sich noch gut daran, denn Obexer hatte überaus anschaulich dargelegt, dass er kaum zehn Minuten gebraucht hatte, um den Tatort, der sich in unmittelbarer Nähe vom Gasthof Plasch befunden habe, zu erreichen. Dennoch sei er zu spät gekommen, denn der Bauer hatte sich bereits in seinem Stall erhängt, sodass es nicht einmal mehr zu einer Festnahme gekommen war.
»Sind wir im Traumland, oder wie?« Hartls schneidender Ton rief Obiltschnig zurück in die Gegenwart. »Was sitzen wir noch hier? Von allein löst sich der Fall nicht. Also hopp, hopp, nicht wahr? Gemma, gemma!« Der Gruppeninspektor war sich nicht sicher, was Hartl von ihm erwartete. »Und was soll ich jetzt Ihrer Meinung nach unternehmen?« Hartl verdrehte demonstrativ die Augen. »Muss man euch Streifenhörnchen eigentlich alles …?« Gepresst blies der Oberstleutnant Luft aus. »Jetzt gehen S’ einmal zum Doktor … na … wie heißt er? … Der Dings … na, der von der Pathologie, der …« Anscheinend vergaß Hartl jetzt nicht nur, wie man Sätze richtig vollendete, er wusste auch nicht mehr, wie seine Kollegen hießen. »Der Doktor Bergmann?«, mutmaßte Obiltschnig und erntete heftiges Nicken. »Genau! Der Berg… nicht wahr? Da gehen S’ jetzt einmal … na husch, husch!«
»Ist es nicht, Herr Oberstleutnant, vielleicht sinnvoller, wenn ich dort zuerst einmal anrufe? Unter Umständen ist der Herr Doktor noch nicht mit der Obduktion fertig. Oder er hat gerade eine Besprechung oder so etwas. Da kann ich ja wohl kaum aufs Geratewohl …«
»Ach, papperlapapp! Dieser Fall da«, dabei klopfte Hartl mit den Knöcheln seiner rechten Hand penetrant auf die Tischplatte, »absolute Priorität, nicht wahr! Da kann der Herr Doktor … ein anderes Mal … beschäftigt und so, nicht wahr!« Obiltschnig wollte noch eine Einwendung machen, doch sah er ein, dass er sich ins Unvermeidliche schicken musste. Trotz der vorgerückten Stunde würde er nach Klagenfurt fahren müssen, was bedeutete, dass das Nachtmahl heute ausfiel. Zumindest zur gewohnten Zeit. Er war eben aufgestanden, als die Tür aufflog und der Bürgermeister formatfüllend in der Öffnung erschien. »Was hab ich gehört? Der Hubert?« Mit einem Mal war die Dienstfahrt in die Landeshauptstadt gar nicht mehr so unattraktiv. »Herr Bürgermeister, Sie haben leider richtig gehört. Der Herr Oberstleutnant hier wird Ihnen alles genau erklären und Sie vollständig ins Bild setzen. Ich muss leider nach Klagenfurt in die Gerichtsmedizin. Ich darf mich daher empfehlen.«
Noch ehe der Bürgermeister irgendwie reagieren konnte, hatte sich der Gruppeninspektor an ihm vorbeigezwängt und sah zu, dass er zum Wagen kam. Er bog in die Hauptstraße ein und fuhr bis zum Sparkassenplatz, wo er wie üblich eine halbe Ewigkeit warten musste, ehe sich eine Lücke auftat, die es ihm ermöglichte, die Fahrt auf der Klagenfurter Straße fortzusetzen. Dummerweise hatte aber genau diese Verzögerung dafür gesorgt, dass aus der Waagstraße ein Traktor einbiegen konnte, der nun mit enervierender Langsamkeit vor Obiltschnig dahintuckerte. Der Gruppeninspektor hoffte inständig, unmittelbar nach der Ortstafel eine Gelegenheit zum Überholen zu bekommen, was freilich nur funktionierte, wenn es keinen Gegenverkehr gab, sonst klebte er bis zur Draubrücke hinter dem Nutzfahrzeug fest und verlor damit noch einmal wertvolle Zeit.
Endlich, nach einer schieren Ewigkeit, hatten sie das Farbenfachgeschäft passiert, wo das Ortsgebiet endete. Obiltschnig drückte das Gaspedal durch und schoss an dem Traktor vorbei, noch ehe der entgegenkommende Wagen zu einer Bedrohung werden konnte. Allerdings hatte er damit einen derartigen Geschwindigkeitsüberschuss erzielt, dass er kräftig auf die Bremse steigen musste, um beim Ortsanfang von Görtschach halbwegs das Tempolimit einzuhalten. Wenig später erreichte er den Ort, an dem der neue Sportplatz entstehen sollte. Ging es nach den Gemeindebossen, dann sollten ausgerechnet hier, weitab vom Stadtzentrum, die beiden Fußballvereine Ferlachs ihre neue Heimstätte bekommen. Obiltschnig zählte, wie so viele andere auch, zu den entschiedenen Gegnern dieses Projekts. Für ihn gab es nur einen Fußballverein in der Stadt, und der hieß ATUS. Arbeiterturn- und Sportverein. Der spielte in der Kärntner Liga, und sein Fußballfeld, gleich hinter dem Arbeiterheim gelegen, hatte den herben Charme vergangener Zeiten. Die anderen, das waren die Klerikalen, die irgendwann geglaubt hatten, sie mussten ausgerechnet in der Büchsenmacherstadt auf Don Camillo und Peppone machen. Natürlich taugte die DSG überhaupt nichts und dümpelte irgendwo im Nirgendwo der siebenten oder achten Spielklasse herum. Allein schon der Name! Diözesan-Spielgemeinschaft. Darauf musste man erst einmal kommen! Wenn man so etwas in einem Roman las, dann schalt man den Autor, er habe keine Ahnung von der Wirklichkeit.
Und jetzt sollten sich auf einmal beide Vereine ein Stadion teilen. Allein schon die Vorstellung war ein Witz, vollkommen abwegig. Es kam ja auch niemand auf die Idee, in Wien draußen Rapid und Austria in eine Arena zu pferchen. Aber gut, noch war die ganze Sache ja nicht in trockenen Tüchern. Es gab genügend Proteste, und die Finanzierung war absolut noch nicht gesichert. Obiltschnig wusste um die Gerüchte, die hinsichtlich dieses Plans im Umlauf waren. Angeblich hatte die Gemeinde voreilig einige Äcker angekauft, die sie nun irgendwie bebauen musste. Und weil man dort draußen, so weit vom Ortszentrum entfernt, keine Wohnungen errichten konnte, musste es eben ein Stadion werden. Der Bürgermeister, so hieß es, sei von dem Projekt nicht sonderlich angetan, aber er sei überrumpelt worden, weil … Obiltschnig klatschte sich mit der flachen Hand auf die Stirn. War da eben ein Motiv aufgetaucht? Der Finanzstadtrat hatte den Landkauf doch seinerzeit in Eigenregie durchgezogen und erst danach den Bürgermeister und den Gemeinderat darüber informiert. Mit der Aktion hatte sich der Schatzl sicher keine Freunde gemacht. Abgesehen von den Bauern, die ihm den Boden verkauft hatten, vielleicht. Die Welle der Euphorie war viel zu schnell über ihn hinweggeschwappt. Sigi, bleib ruhig! Du denkst schon an ein Motiv, und dabei steht noch nicht einmal fest, ob überhaupt ein Verbrechen vorliegt, sagte er sich. Verbunden mit der Mahnung, nicht so viele Fernsehkrimis anzuschauen.
Obiltschnig hing so sehr seinen Gedanken nach, dass ihm gar nicht auffiel, wie langsam er unterwegs war. Erst als auf der Draubrücke mehrere Wagen an ihm vorbeibrausten, warf er einen Blick auf den Tachometer. Mit 50 Stundenkilometern über Land machte man sich hierorts auch nicht viele Freunde, dachte er schließlich. Er schaltete also in den fünften Gang und fuhr mit rund 90 Sachen an der Hollenburg vorbei Richtung Maria Rain. Dort freilich musste er das Tempo wieder etwas drosseln, und zwei Kilometer später reihte er sich in den Kolonnenverkehr ein, der der Landeshauptstadt zustrebte.
Unweigerlich konsultierte er seine Uhr. Es ging hart auf 18 Uhr zu, was er auch daran ablesen konnte, dass sich die Dämmerung bereits ankündigte. Wollte er in der Gerichtsmedizin noch jemanden antreffen, dann hielt er sich besser ran. Tatsächlich parkte er seinen Wagen wenige Minuten nach 18 Uhr vor dem Gebäude der Pathologie und eilte zielstrebig in das Reich des Doktor Bergmann. »Entschuldigung, Herr Doktor, dass ich nicht vorher angerufen habe. Aber der Oberstleutnant Hartl …«
»Der hat es mal wieder eilig, was?«, schmunzelte Bergmann. »Aber kein Problem, die Messe ist schon längst gelesen.« Obiltschnig zeigte sich verwirrt. »Wie bitte?« Nun war der Pathologe irritiert. »Na, kommen S’ nicht wegen der Waldleiche heute?« Obiltschnig beeilte sich zu nicken. »Doch, doch!« Der Mediziner lächelte breit: »Dann passt’s ja. Der Bericht ist schon fertig. Eh schon wissen: ex nihilo nihil fit, und so weiter.«
Der Gruppeninspektor hatte keine Ahnung, was der Doktor meinte, ging aber davon aus, dass neuerliche Zustimmung nicht schaden konnte. »Und was haben wir jetzt? Mord oder Unfall?« Bergmann legte den Kopf leicht schief. »Grau, mein Freund, ist alle Theorie. Auf diese Frage kann auch die genaueste Obduktion keine zweifelsfreie Antwort geben. Alles, was ich Ihnen sagen kann, ist, dass der Mann aus ziemlicher Entfernung mit einem Kaliber getötet wurde, das, wie Sie ja schon selbst vermutet haben, für Jagdgewehre typisch ist.« Das Grinsen auf Bergmanns Gesicht wurde breiter. »Da haben Sie jetzt eine wirklich tolle Tatwaffe, was? In Ferlach, einer Stadt, die für ihre zahlreichen Büchsenmacher bekannt ist, haben sicher Hunderte, wenn nicht sogar Tausende ein Gewehr zu Hause stehen. Aber solang ich keine Vergleichsprobe habe, kann ich Ihnen nicht sagen, ob jetzt aus dem oder aus dem Gewehr geschossen wurde.« Das Grinsen changierte ins Sardonische: »Und ob jetzt ein Hubertusjünger einfach das falsche Zielwasser getrunken, oder ob jemand bewusst auf den Herrn da angelegt hat, das bleibt vorderhand unerklärbar. Aber«, und an dieser Stelle hob Bergmann den rechten Zeigefinger, »wenn das ein Anschlag war, dann haben Sie es mit einem wahren Meisterschützen zu tun, denn aus der Art der Wunde können wir schließen, dass der Täter – wenn er denn einer war – aus sehr großer Entfernung abgedrückt hat. Sicher an die 100 Meter, wenn nicht sogar mehr.«
»Also, Sie tippen nicht auf einen Unfall?«
»Das habe ich nicht gesagt. Ich habe lediglich betont, dass seitens der Wissenschaft in dieser Frage zum gegenwärtigen Zeitpunkt keine exakte Aussage getroffen werden kann.«
»Sehr super«, maulte Obiltschnig.
»Sehen Sie es doch von der positiven Seite. Solang nicht klipp und klar erwiesen ist, dass es sich hierbei um eine Straftat handelt, haben S’ keinen Fall und ergo eine Ruh’! Das ist doch auch etwas.«
»Mit Verlaub, aber das glauben auch nur Sie, Herr Doktor. Spätestens morgen wird ganz Ferlach wissen, dass der Herr Stadtrat erschossen wurde. Und dann bin ich umringt von 8.700 Polizisten, die allesamt besser wissen als ich, was vorgefallen ist, wer der Täter war und welches Motiv er hatte. Und wenn ich da nichts darauf sagen kann, dann bin ich jede Autorität für immer los. Aber wirklich für immer.«
»Sie haben mir nicht richtig zugehört, glaube ich. Solang Gegenteiliges nicht erwiesen ist, kann man getrost von einem Unfall ausgehen. Und wenn ich in der Exekutive etwas zu sagen hätte, würde ich das genau so kommunizieren.« Obiltschnig entrang sich wieder einmal ein Seufzer. »Dann kann ich nur hoffen, dass die Großkopferten das ebenso sehen. Weil, sonst kann ich mir in den nächsten Tagen einiges anhören.«