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Die SS - zwei Buchstaben, die für kaltblütigen Massenmord, gewissenlosen Terror, menschenverachtenden Rassenwahn und grenzenlose Macht stehen. »Killer mit kaltem Herzen« nennt Guido Knopp Hitlers »Schutzstaffel« in seiner umfassenden Dokumentation: von den Wachtruppen in den Konzentrationslagern über die Waffen-SS und die Sicherheitspolizei bis zur Nachkriegsorganisation »Odessa«.
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Seitenzahl: 522
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© 2002 C. Bertelsmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München. KF Herstellung: Sebastian Strohmaier
ISBN 978-3-641-10841-0 V002
www.goldmann-verlag.de
Auf der Basis von wiederentdeckten Filmaufnahmen und Dokumenten sowie aus Gesprächen mit Zeitzeugen, die erst am Ende ihres Lebens zu Aussagen bereit waren, zeichnet Guido Knopp ein neues Bild der NS-Organisation.
Der blutige Aufstieg der SS begann mit der Ermordung der SA-Führer 1934 in Hitlers Auftrag. Gewinner des parteiinternen Machtkampfes war »Reichsführer« Heinrich Himmler, der Befehlshaber über Todesschwadronen und Vernichtungslager mit Hang zur schwarzen Magie. Knopp analysiert die Hintergründe der »Nacht der langen Messer« (»Bartholomäusnacht«) und porträtiert neben Himmler auch Reinhard Heydrich, der kalt und organisiert die »Endlösung der Judenfrage« betrieb. Dabei wertet er bisher unbekannte Informationen über die Totenkopfverbände und die Waffen-SS aus und untersucht den Mythos »Odessa«, einen von mehreren Zirkeln, die nach dem Krieg ehemalige SS-Angehörige unterstützten – bei der Verteidigung vor Gericht, bei der Flucht ins Ausland und beim Aufbau einer neuen, bürgerlichen Existenz.
Prof. Dr. Guido Knopp, geboren 1948, war nach dem Geschichtsstudium Redakteur der »FAZ« und Auslandschef der »Welt am Sonntag«. Seit 1984 leitet er die ZDF-Redaktion Zeitgeschichte und unterrichtet an einer deutschen Hochschule Journalistik. Für seine Fernseh-Dokumentationen, die auch in Buchform erschienen, hat er zahlreiche Auszeichnungen erhalten, u.a. den Jakob-Kaiser-Preis und das Bundesverdienstkreuz.
Den Opfern der SS
Sie war der Inbegriff des Terrors. Sie vollzog den Massenmord. Sie verkörperte wie keine andere Organisation in Hitlers Reich den tödlichen Wahn vom Herrenmenschen. SS – die beiden Buchstaben in altgermanischer Runenschrift stehen für das wohl effektivste und gefährlichste Machtinstrument der NS-Diktatur. In nur wenigen Jahren wurde die »Schutzstaffel« von einer unbedeutenden Leibwache zu einem Staat im Staate Hitlers, einem Sklavenstaat.
»Deine Ehre heißt Treue« – unter der von Heinrich Himmler propagierten Losung sollten SS-Männer an den Fronten als »Feuerwehr« die Lücken stopfen, die Gefangenen und Zwangsarbeiter erbarmungslos ausbeuten, in mobilen Mordschwadronen und den Todeslagern des Regimes mit kaltem Herzen morden. Den Holokaust vollziehen – unter all den Organisationen des NS-Staats war nur die SS imstande und vor allem willens, diesen Auftrag Hitlers auszuführen.
In diesem Buch wird nicht versucht, den nützlichen und detaillierten Studien zur Geschichte der SS eine weitere hinzuzufügen. Hingegen wird zu einer Zeit, da die letzten Täter und die letzten Opfer noch am Leben sind, parallel zu einer international gestützten Fernsehreihe publizistische Bilanz gezogen: für ein großes Publikum, mit vielen bislang unveröffentlichten Quellen aus Archiven zwischen Washington und Moskau – und mit Zeugen der Geschichte der SS: Opfern, Tätern, Gegnern, die sich bislang nicht geäußert haben. Zeitzeugengestützte Dokumentationen solcher Art sind in fünf Jahren nicht mehr möglich. Es war also höchste Zeit.
Die SS begann ganz klein. Auf der Kegelbahn des Münchner Wirtshauses Torbräu schlug im Mai 1923 die Geburtsstunde des »Stoßtrupps Hitler« – 22 Männer bildeten die Keimzelle des schwarzen Ordens. In Saalschlachten das Leben des »Trommlers« zu schützen, der »Führer« sein wollte – das war ihre Aufgabe. Auf ihren schwarzen Mützen trugen sie den Totenkopf – entliehen dem Emblem des 1. Garde-Reserve-Pionieregiments im Ersten Weltkrieg, das vor den Frontlinien mit Flammenwerfern operierte. »Todesverachtende Kampfesfreude« – mit solcher Schützengrabengesinnung wollten die Stoßtruppler die verhasste Republik stürzen.
Nachdem Hitlers dilettantischer Putschversuch im ersten Anlauf gescheitert war, stellte der aus seiner Haft entlassene Anführer im Jahr 1925 einen neuen »Stoßtrupp« auf: Die »Schutzstaffel« – SS – verstand sich wie der erste Trupp von Anfang an als eingeschworene Prätorianergarde, als »Elite« der Partei, in bedingungslosem Gehorsam ihrem »Führer« unterworfen. SS-Anwärter mussten zwischen 23 und 35 Jahre alt sein, zwei Bürgen nennen können, »gesund und kräftig gebaut«, mindestens 1,70 Meter groß und natürlich von »arischer Abstammung«.
Doch in den Jahren vor der Machterschleichung Hitlers verschwand das Häuflein der SS im Millionenheer der SA, deren »braune Bataillone« den Straßenkampf beherrschten. Auch wenn SS-Chef Himmler die Marschrichtung vorgab: »Die SA ist die Linie, die SS die Garde« – es war die SA, die unter Führung von Ernst Röhm den Weg zur Reichskanzlei mit ebnete und immer vehementer Anteil an der Macht im Staate forderte.
Die Stunde der Wahrheit schlug am 30. Juni 1934. In einer bis dahin beispiellosen Mordaktion töteten SS-Kommandos im Auftrag Hitlers die Führer der SA. In dieser »deutschen Bartholomäusnacht« begann der Aufstieg der SS zur mächtigsten Terrororganisation des »Dritten Reiches«. Die frustrierten braunen Revolutionäre waren Hitler mehr als nur im Weg gewesen. Der zügellose Terror der SA-Kohorten nach der Machterschleichung hatte das auf einen starken Staat erpichte Bürgertum verschreckt. Enttäuscht von Hitlers Bündnis mit den alten Mächten, forderte SA-Chef Röhm nach der nationalen nun die »nationalsozialistische Revolution« – und die noch immer ausstehende Belohnung seiner braunen Heere für die »Opfer der Kampfzeit«.
All das gefährdete den Pakt des neuen Kanzlers mit der Reichswehr – die er benötigte, um seine imperialen Ziele zu erreichen. So sammelten nun Himmlers Helfer Heydrich und Gestapo-Chef Diels Material gegen den vermeintlichen »Putschisten« Röhm. Doch die Gefahr eines »Röhm-Putschs« gab es nie. Der »Röhm-Putsch« war ein Putsch gegen Röhm. Ein Gebräu aus Gerüchten, manipulierten Beweisen und gefälschten Indizien diente als Vorwand, um den Querulanten Röhm zu stürzen.
SS-Einheiten und Polizeiverbände, ausgerüstet mit Waffen der Reichswehr, töteten nicht nur die Führer der SA, sondern auch, in einem »Aufwasch«, konservative Regimegegner wie Hitlers alten Weggefährten Gregor Strasser und den ehemaligen Reichskanzler Kurt von Schleicher.
Der wahre Gewinner des parteiinternen Machtkampfs aber war die SS unter ihrem bislang kaum bekannten »Reichsführer«. Der Aufstieg der SS ist untrennbar mit Heinrich Himmlers Weg verbunden.
Dessen insgeheimer Wahlspruch, ein frivoler Diebstahl aus dem Reservoir des alten Preußen, hieß: »Mehr sein als scheinen.« Keiner hätte je vermutet, dass ausgerechnet dieser unscheinbare Mann zum mächtigsten Satrapen Hitlers werden würde.
So unbeschreiblich die Verbrechen sind, die sich mit seinem Namen verbinden, so banal war der Mensch, der sie vollziehen ließ. Als »völlig unbedeutende Persönlichkeit«, als »Mann ohne Eigenschaften«, allenfalls als Typ des »Schulmeisters mit ausgeprägtem Sparsinn« wurde er von Zeitgenossen charakterisiert. In anderen Zeiten hätte er seine Talente wohl als Bürokrat entfalten können: Wie ein Finanzbeamter Hunderte von Steuererklärungen abzeichnet, so absolvierte Himmler seine Aufgabe:
Völkermord als Organisationsproblem.
Dass Hitlers Holokaust so gründlich, systematisch und mechanisch ablief, war vor allem Himmlers Werk. Die Mordfabriken inspizierte er persönlich. Täglich ließ er sich die Todeszahlen melden.
Der SS-Chef war kein Intellektueller, eher linkisch, furchtsam und entscheidungsschwach. Autorität erlangte er nicht aus der Überzeugungskraft seiner Person, sondern aus einem zielstrebigen und auf konsequente Machtentfaltung gerichteten Sinn. Organisationstalent und das bewusst gepflegte Bild des rigorosen Hardliners machten ihn zum unentbehrlichen Vollstrecker. Am Ende war Himmler als »Reichsführer SS« Chef der deutschen Polizei, Reichsinnenminister sowie als Oberbefehlshaber des Ersatzheeres nach Hitler der mächtigste Mann im Reich.
Sein Menschenideal war das des nüchternen und opferwilligen Gewaltmenschen, sein Ziel war dessen Züchtung. Seinen Mannen predigte er Lauterkeit und Sittlichkeit im gleichen Atemzug, in dem er auch Gewalt und Massenmord befahl: Unbarmherzigkeit als Tugend, mitleidloser Mord als Stärke. Himmler machte sich am Ende keine Sorgen um das Leid der Opfer, sondern um die Seelenpein der Täter. Nüchternheit und kalte Rationalität waren freilich nur die eine Seite seines widersprüchlichen Charakters. Zugleich verstieg er sich in ein absurdes Metgebräu aus Rassentheorie, Naturheillehre und völkischem Okkultismus.
Ausgerechnet dieser willige Vollstrecker, der »getreue Heinrich«, praktizierte in den letzten Kriegsmonaten eine doppelgleisige Verzweiflungspolitik. Er organisierte auf der einen Seite die Schimären Volkssturm und Werwolf und bot auf der anderen Seite dem Westen in Geheimgesprächen eine Kapitulation an – ohne zu erkennen, dass sein Name längst als Synonym für Massenmord schlechthin stand. So verriet er seinen »Führer« ebenso, wie er elf Jahre zuvor seine beiden ersten Förderer, Ernst Röhm und Gregor Strasser, verraten hatte. »Deine Ehre heißt Treue«: Was die von Himmler propagierte Losung der SS am Ende wert war, hat er selbst bewiesen.
»HHHH – Himmlers Hirn heißt Heydrich«, spotteten die Paladine des Regimes schon in den Dreißigerjahren. In der Tat erlebte der aus der Marine verstoßene Reinhard Heydrich in der SS-Hierarchie eine kometenhafte Karriere. Er baute für Himmler den Sicherheitsdienst der SS aus, er machte die Gestapo zu einem Codewort für Hitlers Deutschland, für den jederzeit möglichen Gewalttod, er schuf das Reichssicherheitshauptamt der SS, eine Riesenbehörde, die ein unsichtbares Netz über das System des Terrors gespannt hatte.
Gleichwohl ist hier eine Legende zu entkräften – die von der Gestapo als allwissender, allmächtiger Geheimpolizei. In Hitlers Reich sprach man von ihr als einer krakengleichen Mammutbehörde, deren bloße Existenz jedem vor Augen führen sollte: Widerstand ist zwecklos. In den Jahrzehnten nach dem Krieg geriet sie gar zu einem Synonym für die Herrschaft der Gewalt nach innen. Tatsächlich war die Gestapo sehr viel kleiner, als es die Legende wissen will. Entfalten konnte Heydrich seinen Spitzelstaat am Ende nur, weil sich ein Heer von Denunzianten anbot – die IMs des Nazi-Reichs. Ohne die Kohorten der Verleumder wäre die Gestapo blind und taub geblieben. Nie zuvor in der deutschen Geschichte war es so leicht, unliebsame Nachbarn, Konkurrenten oder einfach Menschen, die man hasste, anzuzeigen, sie zu hilflosen Opfern eines Willkürapparats zu machen, sie um Arbeit und Zukunft zu bringen – und schließlich unter das Fallbeil des Henkers. Wellen der Niedertracht schwappten über das Land. Die Spuren dieser Sintflut überdauerten die Zeiten in Tausenden von Akten.
Heydrich hatte Himmler seinen Aufstieg zu verdanken – und er revanchierte sich mit bedingungsloser Loyalität und gewissensfreier Härte. Himmlers rassistischer Säuberungswahn und Heydrichs eiskalter Sinn für das Machbare bildeten eine fatale Kombination.
Heydrich war der Prototyp des Managers der Macht, der vage formulierte Intentionen Hitlers aufgriff, daraus künftige Entwicklungen und Absichten ablas, bevor sie der Diktator noch befehlen musste. Wenn einer »dem Führer entgegengearbeitet« hat, dann war es Reinhard Heydrich. Die Organisation der »Endlösung« packte Heydrich, der SD-Chef, unter Himmlers Obhut nicht zuletzt auch deshalb so energisch an, weil er beflissen um die Gunst des »Führers« buhlte, um dereinst selbst »Reichsführer« zu werden.
Der Schweizer Carl Burckhardt empfand ihn bereits vor dem Krieg als »jungen, bösen Todesgott«. »Heydrich«, schrieb das frühere Gestapo-Opfer Ralph Giordano, »war der Prototypus eines neuen Menschen, wie der Nationalsozialismus ihn haben wollte. Er war ein Protagonist der Generation des Unbedingten. Nichts an Unmenschlichkeit war mehr unmöglich. Alles war möglich, auch der Mord an Millionen Menschen.« Reinhard Heydrich hat ihn organisiert, doch das Ende des Vollzugs nicht mehr erlebt. Im Juni 1942 erlag er einem Attentat.
Was wäre geschehen, wenn Heydrich am Leben geblieben wäre? Heydrich war wie eine Ahnung dessen, was aus Hitlers Staat vielleicht geworden wäre: ein SS-Staat. In einem großgermanischen Reich vom Atlantik zum Ural, von Autobahnen durchzogen, von Totentempeln gekrönt, wären 90 Millionen Slawen in der Gewalt der Nazis gewesen. 14 Millionen wurden als Arbeitssklaven gebraucht, etwa 30 Millionen sollten umgebracht und die übrigen über den Ural vertrieben werden – in die Wildnis von Sibirien. Reinhard Heydrich, der kommende Mann der SS, hätte nicht gezögert, diese Vision des Schreckens wahr zu machen.
Bei den Nürnberger Prozessen fehlte Heydrich auf der Bank der Angeklagten. Er wäre zweifellos zum Tode verurteilt worden.
In Nürnberg wurde eine Organisation pauschal als kriminell eingestuft, die in der Schlussphase des Zweiten Weltkriegs mit fast 900 000 Mann die zahlenmäßig stärkste Truppe der SS aufbot: die Waffen-SS.
Am militärischen Arm der SS scheiden sich bis heute die Geister. War sie Elitetruppe oder Verbrecherbande? Waren ihre Männer »Soldaten wie andere auch«? Gar Inbegriff soldatischer Tapferkeit und Angriffslust? Oder Nazi-Raufbolde und -Schlächter, die man so bedachtsam brutalisiert hatte, dass sie eifrig und willig waren, alles und jeden niederzumachen?
Belege finden sich für beide Thesen. Die Panzerdivisionen der Waffen-SS kämpften insbesondere nach Stalingrad, vor allem an den Brennpunkten der Ostfront, als »Feuerwehr« oft mit immensen Verlusten. Die gab es freilich bei der Wehrmacht auch. Andererseits tat sich die Waffen-SS bei Kriegsverbrechen unrühmlich hervor: Gewiss war sie mit ihrem brutalen Vorgehen nicht allein, und der Unterschied zwischen Wehrmacht und Waffen-SS war bei weitem nicht so groß wie vielfach dargestellt. Dennoch übertrafen die Exzesse von SS-Einheiten die der Wehrmacht meist an Scheußlichkeit. Der Name Oradour steht als Symbol für manche anderen Kriegsverbrechen.
Am 30. Juni 1934 erhielt der Terror des »Dritten Reiches« eine andere Farbe. Schwarz löste Braun ab und vermischte sich mit Blutrot. Die Täter grölten keine Parolen und schwangen keine Knüppel. Sie fuhren dunkle Limousinen.
In Berlin geleiteten drei Männer der Berliner Gestapo-Zentrale den ehemaligen NS-Spitzenfunktionär Paul Schulz zu einem offenen Viersitzer. Sie schlossen das Verdeck des Wagens. »Es entströmte ihm ein unangenehmer Geruch nach geronnenem Blut, der mir, wenn ich noch im Unklaren über den Sinn dieser Fahrt gewesen wäre, auch den letzten Zweifel genommen hätte«, erinnerte sich Schulz später. Der Wagen jagte über Steglitz in den Grunewald, raste weiter Richtung Wannsee. Doch auf den Straßen waren zu viele Ausflügler unterwegs. Erst hinter dem Dorf Seddin, eine halbe Stunde von Potsdam entfernt, fanden die Männer in einem Waldstück die Gelegenheit, ihren »Abschuss«, wie sie es nannten, zu vollenden.
Sie befahlen ihrem Opfer, auszusteigen und ein paar Schritte zu gehen. Schulz blieben nur noch wenige Sekunden. Er schlug einem der SS-Männer die Waffe aus der Hand. Der Schuss eines zweiten traf ihn, bevor er das Unterholz erreichte. »Als ich wieder zu mir kam, lag ich auf dem Bauch, mit dem Kopf nach unten. Ich spürte starke Schmerzen im Rückgrat. Der Körper war nass von Blut. Ich begann sofort zu röcheln und imitierte die Zuckungen eines Sterbenden. Danach verhielt ich mich vollkommen ruhig – so ruhig, wie ein Toter ruhig ist.« Einen Fangschuss hielten die Täter für überflüssig. Als sie eine Zeltplane holten, um den vermeintlich Toten hineinzupacken, sprang der schwer verletzte Schulz auf und flüchtete in einen Waldweg. Er konnte mit knapper Not entkommen.
Es war das einzige Mal, dass die Männer in den schwarzen Uniformen an diesem 30. Juni 1934 ihren Auftrag nicht wie befohlen erledigten. Ansonsten töteten sie, wie man es von ihnen erwartete: durchdacht, gehorsam, skrupellos, intelligent und unauffällig. Nichts deutete an diesem schwülen Samstag darauf hin, dass die SS den ersten Massenmord des »Dritten Reiches« verübte. Es lag Ruhe über dem Land. Die Menschen erregten sich wenig über die seit Wochen offen ausgetragenen Konflikte zwischen der Partei und ihrer wichtigsten Organisation, der SA. Gesprächsstoff lieferte ein Drama anderer Art. Eine Woche zuvor hatte der FC Schalke 04 in einem dramatischen Finale den deutschen Meistertitel im Fußball gegen den 1. FC Nürnberg geholt. Ernst Kuzorra war kurz vor Abpfiff der entscheidende Treffer zum 2:1 gelungen.
Die Menschen ahnten wenig vom gnadenlosen Machtkampf, der innerhalb der Führung der NSDAP entbrannt war. Es war ein Machtkampf, in dem sich jene Parteiorganisationen bis aufs Blut bekämpften, die in den Propagandainszenierungen als machtvolle Einheit auftraten, sich öffentlich in scheinheiliger Maskerade, Treue und Gehorsam gelobend, hinter Adolf Hitler sammelten. Ein Machtkampf, den die neuen Herren aber auch nutzten, um alte Rechnungen zu begleichen.
Das Strafgericht war inszeniert, die Beweise waren gefälscht, und das Urteil stand längst fest. Unter dem Vorwand, einen drohenden Putsch der SA niederzuschlagen, ließen die SS-Führer Heinrich Himmler und Reinhard Heydrich von langer Hand angelegte Todeslisten abarbeiten. An diesem Tag bewies sich die Festigkeit eines Bündnisses, das sie mit Paladinen wie Göring und Bormann seit Monaten geschmiedet hatten. Es sollte zum Fundament der NS-Diktatur werden. Die schwarzen Bataillone waren ihre willfährigen Exekutoren. Im Gefängnis München-Stadelheim starb im Kugelhagel der SS-»Leibstandarte Adolf Hitler« der engste Führungszirkel der SA. In der Kaserne der »Leibstandarte« in Berlin-Lichterfelde exekutierten die Erschießungskommandos der Prätorianergarde des »Führers« die persönlichen Feinde der Parteielite. »Die Pelotons«, erinnert sich Hans Fischach, ehemaliger Angehöriger der »Leibstandarte«, »bestanden aus jungen Männern, denen man das befohlen hat: ›Da sind Leute, die gegen den Führer geputscht haben. Die werden hingerichtet und aus.‹ Und dann: Antreten. Erste Reihe knien, zweite Reihe stehen. Und dann wurde der Befehl ausgeführt. Der einzelne SS-Mann hat da nicht drüber nachgedacht. Das war einfach Staatsnotstand.«
Für andere Aufträge schickte die SS professionelle Killer. Kurz vor 13 Uhr hielt der Wagen des Sturmhauptführers Kurt Gildisch vor dem Reichsverkehrsministerium in der Wilhelmstraße. Gildisch erkundigte sich nach dem Büro des Ministerialdirektors Dr. Erich Klausener. Dieser war für die Schifffahrt zuständig, doch wichtiger erschien den Machthabern, was er neben der Arbeit tat. Als Leiter der »Katholischen Aktion« hatte er eine Woche zuvor mehr als 60 000 Menschen zu einer Kundgebung im Berliner Hoppegarten zusammengebracht. Dort hatte er ein spontanes Schlusswort gesprochen, das die Teilnehmer bewegte: Gerade in diesen Zeiten dürfe man niemanden aus der Liebe Gottes entlassen. Überdies hatte der Ministerialdirektor eine Vergangenheit, die Göring und Heydrich missfiel. Während der Weimarer Zeit war Klausener im preußischen Innenministerium auf der Polizeiabteilung gewesen. Niemand kannte das Strafregister der alten Nationalsozialisten besser als er. Klausener verließ gerade sein Büro, als er seinem Mörder begegnete. Gildisch erklärte ihm, er sei verhaftet. Als der Beamte nach seinem Jackett griff, schoss ihm sein Mörder zwei Kugeln in den Kopf. Eine SS-Wache zog auf vor dem Büro des Opfers. Ohne sich umzusehen, verließ Gildisch das Ministerium. Andere Aufträge warteten auf ihn.
In München glitten am Abend des 30. Juni 1934 schwarze Limousinen durch die Stadt. Eine hielt ganz in der Nähe des Siegestores, vor dem Haus Schackstraße Nummer 3. Im Gegensatz zu Paul Schulz war Dr. Willi Schmid ahnungslos. Die Familie wunderte sich zwar über den barschen Ton der vier Männer in schwarzer Uniform, doch der Vater beruhigte Frau und Kinder: Es werde sich schon alles aufklären, er komme bald zurück. Was konnte die SS schon von ihm, einem Musikkritiker, wollen? Bevor er einstieg, griff Schmid nach seinem Hut. Diese alltägliche, unzählige Male beobachtete Geste ist die letzte Erinnerung der Tochter Renate an ihren Vater. »Die Limousine rollte nach Dachau«, weiß sie heute, »und dort haben sie ihn sofort erschossen.«
In einer Terrorwelle ohnegleichen starben fast 100 Menschen im gesamten Reich – darunter Politiker der konservativen Opposition wie Kurt von Schleicher oder alte Weggefährten Hitlers wie Gregor Strasser. In der »Nacht der langen Messer« begann der Aufstieg der SS zur wohl gefürchtetsten Institution der braunen Herrschaft. An diesem Tag, urteilt der Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder, lieferte die SS ihr »Mordgesellenstück« ab. Innerhalb weniger Jahre wucherte die »Schutzstaffel« von der persönlichen Leibwache Hitlers zu einem monströsen Terrorapparat, der Staat und Volk durchdrang. Die Ereignisse jenes Sommers wuchsen in der SS-eigenen Mythologie zur Legende von der »Blutsäuberung«. Das Ereignis war der Prüfstein ihres Selbstverständnisses: Pflegen sollten SS-Männer, so mahnte schon 1933 die Hauspostille Das Schwarze Korps, in erster Linie »…all die Tugenden, all die Eigenschaften, die die SS in den langen Jahren ihres Bestehens gepflegt und aufgrund deren sie sich bewährt hat: Treue zum Führer, Unterordnung und Disziplin«.
Bild 50Martialische Gesten, zwei Jahre vor der »Machtergreifung« Hitlers: Die »Totenkopfbrigade« der Braunschweiger SA marschiert, 1931.
Bild 51»Sturmlokale« waren Zentren der braunen Subkultur in den Großstädten. Hier ein SS-Lokal in Berlin.
In der Folge dieser »deutschen Bartholomäusnacht« wurde sie zur »schärfsten Waffe im Arsenal des Hitler-Staates« geschmiedet, wie Hitler-Biograf Ian Kershaw urteilt. Jene Instrumente wurden sichtbar, die in den Folgejahren den Terror der SS ausmachen sollten: der scheinbar allmächtige Polizei- und Spitzelapparat, das System der Lager, der Einsatz gläubiger Elitetruppen, die auf Hitler eingeschworen waren.
Die Geschichte der SS hatte elf Jahre zuvor auf der Kegelbahn eines rauchgeschwängerten Münchner Wirtshauses begonnen. Die Männer im Hinterzimmer verlangten immer neue Runden. Sie warteten, bis die Bedienung den Raum verlassen hatte, dann erhoben sie ihre Gläser auf den Mann, dessen Bild nicht wenige Münchner Gaststuben und Hinterzimmer zierte: Adolf Hitler. Ihm widmeten sie, was sie nach dem Krieg noch zu besitzen meinten: »Wir schwören dir Treue bis in den Tod.« Diese bierselige Nacht im Mai des Jahres 1923 war die Geburtsstunde des »Stoßtrupps Hitler«. Gewachsen aus einer kurz zuvor gegründeten Leibwächtertruppe namens »Stabswache«, ahnten diese Männer der ersten Stunde noch nicht, dass sie die Urzelle des »schwarzen Ordens« bilden würden, nibelungentreu bis zum bitteren Ende. Noch 1942 schwärmte ihr Führer in romantischer Überhöhung von den »Männern, die zu revolutionären Taten bereit waren und wussten, dass es eines Tages hart auf hart gehen würde«.
Die Wirklichkeit schien dagegen grotesk. Schreibwarenhändler Josef Berchtold, dessen zwergenhafter Wuchs wenig mit dem Idealbild eines hünenhaften SS-Mannes zu tun hatte, und der stellvertretende Kassierer der NSDAP, Julius Schreck, sammelten insgesamt an die 20 Männer um sich. Unter ihnen auch die später verklärten »alten Kämpfer« Emil Maurice, ein wegen Unterschlagung vorbestrafter Uhrmacher, Pferdehändler Christian Weber und der Metzger und Hobbyringer Ulrich Graf. Es war ein verschwiegener Kreis von Weltkriegsveteranen, der Außenstehenden nur ungern Einblick in das Innenleben der Leibwächtertruppe gewährte. Schon damals kannte ihr Gehorsam keine Bedingung; Befehle nahmen sie nur von Hitler selbst entgegen. Dessen Leben zu schützen war ihre einzige Aufgabe; wo immer er auftrat, war auch seine neue Leibgarde vor Ort. Wie ein Schatten folgte sie ihm bei seinen Touren durch die Münchner Bierkeller. Bald wuchs die Gruppe auf über 150 Mann. Aufgenommen wurden nur diejenigen, die sich in den Saalschlachten des nachrevolutionären München »bewährt« hatten. »Macht ist Recht«, lautete ihre einfache Formel, und sie überzeugten ihre Gegner mit »Radiergummis« und »Feuerzeugen«, wie sie Gummiknüppel und Pistolen verniedlichend nannten. Ihre Uniformen zierte ein besonderes Symbol: »Auf unseren schwarzen Mützen tragen wir den Totenkopf unseren Feinden zur Warnung und unserem Führer zum Zeichen des Einsatzes unseres Lebens für seine Idee«, erklärte der spätere SS-Organisator Alois Rosenwink.
Das Symbol des Totenkopfs hatten sie den Eliteverbänden des Militärs entliehen. Seit Jahrhunderten galt er als Zeichen besonderer Loyalität gegenüber dem Truppenführer. Die »schwarzen« Husaren des preußischen Soldatenkönigs trugen den Totenkopf ebenso auf der Mütze wie die Männer vom 1. Garde-Reserve-Pionierregiment im Ersten Weltkrieg. Sie hatten weit vor der Infanterie mit einer neuartigen Waffe operiert, deren Einsatz Mut erforderte – und Vernichtungswillen. Der Flammenwerfer wurde zu einer der schlimmsten Waffen in diesem Krieg. Den Tod im Schützengraben, die massenhafte Vernichtung des Gegners verklärten die Veteranen zum reinigenden »Stahlgewitter«, das der eigenen Existenz erst Sinn und Richtung gebe. Der Armeeführer und deutsche Kronprinz verlieh der Einheit am 28. Juni 1916 feierlich das Recht, den weißen Totenkopf auf dem Ärmel zu tragen – höchste Auszeichnung für seine Truppe. Er gratulierte: »Stets an schwierigsten Stellen eingesetzt, haben Offiziere und Mannschaften ihre Waffen überall wirksam zur Geltung gebracht und in kurzer Zeit erreicht, für die Franzosen einer der gefürchtetsten Gegner im Nahkampf zu werden. Ich bin überzeugt, dass das äußere Zeichen der jungen Truppe stets eine Mahnung bleiben wird, bei ihrer Weiterentwicklung fortzufahren in dem Geiste todesverachtender Kampfesfreude.«
»Todesverachtende Kampfesfreude« im Zeichen des Totenkopfs – mit solcher Gesinnung aus den Gräben des Weltkriegs wollten die Stoßtruppler die verhasste Republik stürzen. »Das waren schlichte Männer. In ihrer Seele und in ihrem Herzen waren sie Soldaten geblieben«, sagt der ehemalige SS-Mann Robert Krötz, der die Mitglieder des »Stoßtrupps« in München erlebt hat. »Einige der Männer des Stoßtrupps waren pathologisch brutal, aber äußerlich unauffällig, andere relativ moderat«, erinnert sich der Münchner Rechtsanwalt Otto Gritschneder, »aber sie waren allesamt Hitler hörig.« Wie so viele hielten auch sie den Versailler Vertrag für einen »Schandfrieden«, abgeschlossen von den »Novemberverbrechern«, die Deutschland in den Rücken gefallen seien. In München sammelte sich etliches an, was diese neue Republik von Herzen verabscheute. Das Chaos der »Räterepublik« hatte den Hass der Rechtsrevolutionäre auf die neue Staatsform noch zusätzlich genährt, die Verheißungen des neuen Verführers sogen sie gierig auf. Als 1923 die Inflation um sich griff, kostete eine Maß Bier im SS-Stammlokal Torbräu schon mehrere Milliarden Mark. Das Geld, das sie am Morgen verdient hatten, war abends nichts mehr wert. Ihr Auftrag, Hitler zu beschützen, erhob die Männer von der Kegelbahn, wie sie es sahen, aus einer durchschnittlichen Existenz in den Rang einer »Elite«, einer Art kämpfenden Truppe. Sie zahlten es mit dem zurück, was sie der Weltkrieg gelehrt hatte: Treue, Gehorsam und Lebensverachtung.
Den ersten Versuch, den verhassten Staat zu stürzen, unternahm Hitler knapp ein halbes Jahr nach dem Treueschwur im Torbräu. Der Kurs für einen Dollar lag inzwischen bei 420 Milliarden Mark. Die Geduld der Menschen war erschöpft, die Situation für eine »nationale Revolution« schien günstig.
Für den Abend des 8. November hatte das bayerische Regierungstriumvirat Ritter von Kahr, von Lossow und von Seißer im Münchner Bürgerbräukeller zu einer Versammlung geladen. Diesen Anlass wollte Hitler für einen Coup d’Etat nutzen, das Treffen sprengen und Politiker und Militärs nach Mussolini-Vorbild zu einem gemeinsamen »Marsch auf das rote Berlin« zwingen. Der Gefreite wusste einen Star der rechten Szene auf seiner Seite: Die Autorität des ehemaligen Generalquartiermeisters von Ludendorff sollte Hitlers bestes Argument gegenüber Kahr sein.
Der Himmel hing am Morgen des 8. November in schwerem Grau über der bayerischen Metropole, als Hitler die »Vorhut des Deutschen Erwachens« – so nannte er seinen Stoßtrupp – alarmierte. Im Torbräu weihte Josef Berchtold die Männer in die Putschpläne ein: »Kameraden, jetzt ist die Stunde gekommen, die Sie alle wie auch ich herbeisehnten. Hitler und Herr von Kahr haben sich geeinigt, und noch heute Abend wird die Reichsregierung gestürzt und eine neue Regierung Hitler-Ludendorff-Kahr gebildet. Die von uns auszuführende Tat wird der anstoßgebende Moment zu den neuen Ereignissen sein. Aber ehe ich fortfahre, fordere ich diejenigen, die aus irgendwelchen Gründen gegen unsere Sache Bedenken haben, auf auszutreten.« Niemand machte Anstalten zu gehen.
Dann bin ich natürlich zum Bürgerbräukeller, und da habe ich schon gesehen, dass Leute auf einmal da standen, die haben Hakenkreuzarmbinden gehabt und auch ein Gewehr. Sie waren noch in Zivil, aber die meisten waren dann schon gruppenweise mit Gewehren aufgestellt.
Karl Füss, lebte damals in München
Bild 101Diese Männer schworen ihrem »Führer« Treue bis in den Tod: Der »Stoßtrupp Hitler« gilt als Vorläuferorganisation der SS, München 1923.
Die Männer versorgten sich aus einem geheimen Waffenlager an der Balanstraße mit Maschinengewehren, Karabinern und Handgranaten, dann setzten sie sich in Richtung Rosenheimer Straße in Bewegung. Am Bürgerbräu angekommen, sprangen die schwer bewaffneten Stoßtruppler von ihren Lastwagen herab und blockierten die Straße. Berchtold wuchtete ein Maschinengewehr von der Ladefläche und schleppte es vor den Eingang des Bierkellers. Vom Trittbrett eines offenen Autos sprang ein SA-Führer namens Hermann Göring herunter. Den Stahlhelm auf dem Kopf und mit einem Säbel fuchtelnd, lief er die Treppen durch den Boteneingang hinauf. Es war ein Bild, das so grotesk wirkte wie der gesamte Bierkeller-Putsch, der nicht über das Zentrum Münchens hinauskommen sollte.
Im Inneren des Bürgerbräu wartete Hitler vor der Saaltür auf seinen Einsatz. Seine Taschenuhr zeigte 20.30 Uhr. Er klappte sie zu, nahm einen letzten Schluck aus seinem Bierglas, warf es mit theatralischer Geste an die Wand, zog seine Browning aus der Hosentasche, riss die Schwingtür auf und stürmte mit seinem Gefolge herein. Um ihn herum postierte sich neben Göring auch der SA-Studentenführer Rudolf Heß, umringt von den Männern des Stoßtrupps. Hitler sprang auf einen Stuhl und feuerte einen Schuss in die Decke, über einen Tisch kletterte er auf die Bühne: »Die nationale Revolution ist ausgebrochen!«, schrie er. Seine Stimme überschlug sich, als er fortfuhr: »Der Saal ist von 600 Schwerbewaffneten besetzt, niemand darf den Saal verlassen. Die bayerische Regierung ist abgesetzt, eine provisorische Reichsregierung wird gebildet.«
Zur gleichen Zeit hatte ein anderer Nationalrevolutionär zur Versammlung in den Löwenbräukeller geladen. Der Weltkriegs-Hauptmann Ernst Röhm begrüßte die Kameraden seines paramilitärischen Verbandes »Reichskriegsflagge« mit einem verheißungsvollen Versprechen: »Der Abend«, so Röhm kryptisch, »soll über den Rahmen eines gewöhnlichen Kameradschaftsabends hinausgehen.« In gewohnter Manier wetterte er gegen »Novemberverbrecher« und »Judenrepublik«, als ihn die Nachricht aus dem Bürgerbräukeller erreichte: Glücklich entbunden, lautete das Codewort. Röhm war eingeweiht. Er zögerte nicht und setzte seine Männer in Richtung Wehrkreiskommando in Bewegung. Es galt, das Gebäude zu besetzen, um dort ein »Hauptquartier« für General Ludendorff zu errichten.
Auch Ernst Röhm hatte im Krieg seine Bestimmung gesehen. Seine Autobiografie »Geschichte eines Hochverräters« begann er mit dem Satz: »Am 23. Juli 1906 wurde ich Soldat.« Ein Leben davor schien es nicht gegeben zu haben. »Ich betrachte die Welt von meinem soldatischen Standpunkt aus. Bewusst einseitig. Ein Soldat kennt keine Kompromisse.« Zivilisten verachtete er, die bürgerliche Welt mit ihren Tabus war dem homosexuellen Röhm verhasst. Die Männergemeinschaft der Sturmtrupps des Weltkriegs verklärte er zur schlechthin idealen Lebensgemeinschaft. Später sah er darin gar die Keimzelle eines diffusen Schützengraben-Sozialismus. Röhm galt als derber Haudegen. Ein Granatsplitter hatte ihm bei den Kämpfen auf den Maashöhen im Herbst 1914 eine Narbe beschert, die sein Gesicht auf Lebzeiten von der Nase bis zum Kinn durchzog. Überdies war seine Nase als Folge einer Gesichtsoperation verstümmelt. All das verstärkte den Eindruck einer Landsknechtfigur, die geradewegs den Söldnerlagern des Dreißigjährigen Krieges entsprungen zu sein schien.
Im Nachkriegsbayern fand er schnell seinen Platz als Ausrüster des Eppschen Freikorps, das gegen die geschmähte Räterepublik zu Felde zog. Später versorgte er im ganzen Land radikale Wehrverbände mit Waffen, bei ihm liefen etliche Fäden der antidemokratischen Rechten zusammen. Er gehörte einer Reihe von schwarz-weiß-roten Offiziersbünden an, darunter auch dem von ihm mitgegründeten nationalsozialistischen Zirkel »Eiserne Faust«. Hier traf er im Herbst 1919 zum ersten Mal Adolf Hitler. Aus der Zusammenkunft wuchs bald eine komplizierte Beziehung. Bereits früh keimte in der Duzfreundschaft Misstrauen.
Im Juni 1921, knapp zwei Jahre vor der Gründung des »Stoßtrupps«, verlangte Hitler als neuer Vorsitzender der NSDAP eine zunächst als Saalschutz verwendbare Schlägertruppe. Röhms militante Weltkriegsveteranen erschienen dafür wie geschaffen. Der Ordnungsdienst erhielt den Namen »Sturmabteilung«, kurz SA. Röhm und seine Vertrauten rekrutierten eine schnell wachsende Truppe blutjunger Männer, meist zwischen 17 und 24 Jahre alt, geführt von ehemaligen Weltkriegsoffizieren aus dem Dunstkreis der »Brigade Erhardt«. In ihrem Gründungsaufruf versprach die SA am 3. August 1921, der NSDAP als »eiserne Organisation zu dienen und freudigen Gehorsam gegenüber dem Führer zu üben«. Die Männer erlangten bald einen üblen Ruf. Wer in den Bierhallen oder auf den Straßen gegen Hitler aufmuckte, wurde ohne Gnade niedergeprügelt. Die SA und Hitler schienen nach außen eins.
Dabei prägte ein tief greifender Konflikt das Verhältnis zwischen SA und ihrem starken Mann im Hintergrund auf der einen und Hitler und der Partei auf der anderen Seite. Früh witterte Hitler in Röhm ein Übermaß an politischem Ehrgeiz. Der dagegen betrachtete die NSDAP nur als eine Art Werbeorganisation für seine SA, die er in Zukunft als regulären Truppenverband einzusetzen gedachte. Hitler sah er vor allem als fähigen Trommler, der ihm die Massen zutreiben sollte. Röhm 1922 über Hitler: »Wir müssen seine zweifellos große Stoßkraft ausnützen. Aber er reist mit leichtem Gepäck, und sein Weitblick reicht nicht über die Grenzen Deutschland hinaus. Wir werden ihn rechtzeitig beiseite stellen.« So wie sich Hitler ausschließlich als Politiker erachtete, hielt sich Röhm für einen politischen Soldaten: »Ich verlange das Primat des Soldaten vor dem Politiker«, schrieb er später in seiner Autobiografie. Die Saat des Konflikts war ausgebracht; 13 Jahre später sollte sie aufgehen.
Obwohl Hitler »seinen Mann«, Hermann Göring, als SA-»Kommandeur« einsetzte, blieb Röhm die treibende Kraft. Die SA-Männer unterstanden nicht Hitlers direktem Befehl, seine Position blieb angreifbar. Aus dieser Einsicht entstand die Idee zur Bildung des »Stoßtrupps«, einer Leibwache, die nur Hitler persönlich unterstellt, ihm treu ergeben sein sollte. Das blutige Ende des Novemberputschs von 1923 sollte auch die Legende um den »Stoßtrupp« begründen, aus dem der Mythos der SS erwachsen sollte.
Bild 102Duzfreunde und Kontrahenten: Röhm (2. v. r.) und Hitler als Angeklagte im Hitler-Ludendorff-Prozess 1924.
Bild 103Auf dem Weg zur Macht aufeinander angewiesen: Röhm, Hitler und Himmler auf einer NSDAP-Veranstaltung 1930.
Hitlers Putschplan war naiv. Generalstaatskommissar von Kahr verabschiedete sich ungehindert aus dem Bürgerbräukeller. Von Absprachen mit Hitler wollte er nichts mehr wissen. Auch die Reichswehr dachte nicht daran, gemeinsame Sache mit den Putschisten zu machen – im Gegenteil: Starke Verbände von Reichswehr und Landespolizei wurden am Morgen des 9. November vor dem alten Kriegsministerium zusammengezogen. Es war nur eine Frage der Zeit, wie lange Röhms Miliz das Gebäude noch halten konnte. Ein Foto zeigt die Belagerer, die inzwischen zu Belagerten geworden waren. Erstmals betrat ein blasser Mann mit Nickelbrille die politische Bühne, die für ihn nicht mehr als eine Statistenrolle bereitzuhalten schien. Der junge Agrarlaborant Heinrich Himmler hielt die Reichskriegsflagge im Namen Ernst Röhms, den er glühend verehrte. Elf Jahre später sollte er als »Reichsführer SS« die Exekution der SA-Führung und die Ermordung seines einstigen Vorbilds organisieren.
Die Euphorie der »Revolutionäre« im Bürgerbräukeller wich am Morgen des 9. November bald der Ernüchterung. In einem letzten Aufbäumen befahl General Ludendorff: »Wir marschieren.« Ein Marsch durch die Stadt sollte Aufmerksamkeit erregen, die Unterstützung der Massen und Röhm und seinen Männern die Befreiung bringen. »Stoßtrupp im Garten sammeln«, befahl Berchtold seinen Männern. Er schwor sie noch einmal ein. Dann formierte sich der Zug.
Am Odeonsplatz, neben der Feldherrnhalle, hatte sich schon eine Hundertschaft der bayerischen Landespolizei postiert. Die Marschierer überrumpelten die Kette, die sich mit Gummiknüppeln, Karabinern und Gewehren zu wehren versuchte. Als der Zug der Aufforderung zu stoppen nicht nachkam, schob sich eine zweite Einheit Landespolizei dazwischen. Totenkopfträger Ulrich Graf sprang zwischen die Fronten: »Nicht schießen, Seine Exzellenz Ludendorff und Hitler kommen.« Das Gebrüll übertönte seinen Appell. Ein Schuss peitschte über den Odeonsplatz. Ein Mann in Uniform, Polizeiwachtmeister Fink, brach zusammen. Gewehrsalven hallten durch die Straßen – ein einminütiges Feuergefecht. Hitler-Freund Max Erwin von Scheubner-Richter brach tödlich getroffen zusammen. Im Sturz riss er Hitler mit und renkte ihm den Arm aus. Auch Leibwächter Graf sank neben Hitler verletzt zu Boden – ein Umstand, aus dem später die Legende geboren wurde, er habe sich auf Hitler geworfen und mit seinem Körper jene Kugeln abgefangen, die sonst wohl Hitler getötet hätten. Von den 16 toten Putschisten gehörten allein fünf dem »Stoßtrupp« an.
Das klägliche Ende dieser »Revolution« markierte die Geburtsstunde eines Mythos. Auf dem Odeonsplatz blieb eine blutbefleckte Hakenkreuzfahne zurück. Die »Blutfahne«, wie sie die Nazis später nannten, verschwand vorerst in den Katakomben der Münchner Polizei. Der dilettantische Umsturzversuch sollte später zum Opfergang der »Alten Kämpfer« verklärt werden. Die SS stellte von 1933 an eine »Ehrenwache« an der Feldherrnhalle. Dort wurden am 30. April 1945 die letzten SS-Männer von amerikanischen Soldaten gefangen genommen.
Ruhe kehrte in der bayerischen Landeshauptstadt nicht ein. Während Hitler in Landsberg eine eher bequeme Haft absaß, machte sich der rastlose Ernst Röhm in München daran, wieder eine schlagkräftige paramilitärische Vereinigung aufzubauen: Partei und SA waren verboten, daher gab er der neuen Organisation den Namen »Frontbann«. Unter straffer Führung bündelte Röhm die mit dem Nationalsozialismus sympathisierenden Kräfte. Seine Truppe wuchs geradezu explosionsartig. Hatte die SA im November 1923 2000 Mitglieder, so konnte Röhm seinem schwierigen Freund Hitler bei dessen Freilassung im Dezember 1924 stolz 30 000 »Frontbann«-Angehörige melden.
Röhm wollte weitermachen wie gehabt. Mit ihm als Führer einer paramilitärischen Truppe sollte Hitler auch in Zukunft nur die Rolle des »Trommlers« einnehmen. Doch der alte Duzfreund schien aus den Fehlern der Frühzeit gelernt zu haben. Nicht noch einmal wollte sich Hitler der Dynamik einer Parteiarmee ausgesetzt sehen, deren Sturm und Drang sich jeder Kontrolle entzog. Aber ohne Rückendeckung der Partei musste Röhm klein beigeben. Am 30. April 1925, kurz nach der Aufhebung des Verbots von NSDAP und SA, blieb ihm nichts anderes übrig, als Hitler »in Erinnerung an schöne und schwere Stunden, die wir zusammen verlebt haben, für deine Kameradschaft herzlich danken und dich [zu] bitten, [mir] deine persönliche Freundschaft nicht zu entziehen«.
Die Begründung für Hitlers Entscheidung fand Röhm einen Monat später schwarz auf weiß auf seinem Schreibtisch liegend. Das Büro des Freundes teilte ihm mit: »Eine neue Wehrbewegung gedenkt Herr Hitler nicht aufzuziehen. Wenn er es seinerzeit tat, so nur auf Veranlassung der Herren, die ihn nachher im Stich ließen. Heute braucht er lediglich einen Saalschutz, wie vor dem Jahr 1923.« Das war eine glatte Abfuhr. Röhm versuchte sich zunächst mit bescheidenem Erfolg im zivilen Leben. 1928 ging er als Militärausbilder ins bolivianische Exil.
Mit dem ihm eigenen Gespür für gefährliche Konkurrenz manövrierte Hitler seinen vermeintlichen Freund zum ersten Mal ins Abseits. Während Hitlers Haft in Landsberg hatte Röhm den »Frontbann« massiv ausgebaut, bei Hitlers Comeback überwog dessen Bedeutung die der Partei um ein Vielfaches. Dem Wehrverband war gelungen, was die Partei erst noch erreichen musste: über die Grenzen Bayerns hinaus Bedeutung zu erringen. Die NSDAP drohte erneut in den Schatten der SA zu geraten. Nun aber hatte Hitler die SA ihres charismatischen Bezugspunktes beraubt. Zwar bestand die Truppe weiter, doch blieb sie ohne zentrale Führung. Zurück blieb eine lokal zersplitterte Parteiarmee, unfähig, einheitlich zu handeln. Als Machtfaktor war sie vorerst ausgeschaltet. Jetzt konnte Hitler weitgehend ungestört daran gehen, seinen Führungsanspruch innerhalb der Partei zu festigen. Vertrauen fasste er nur zu denen, die er selbst aussuchte.
»Ich sagte mir damals, dass ich eine Leibwache bräuchte, die, wenn sie auch klein war, mir bedingungslos ergeben wäre und sogar gegen ihre eigenen Brüder marschieren würde. Lieber nur 20 Mann aus einer Stadt – unter der Bedingung, dass man sich absolut auf sie verlassen konnte – als eine unzuverlässige Masse«, begründete Hitler Jahre später die Entscheidung vom April 1925. Er erteilte dem alten Stoßtruppmitglied Julius Schreck den Befehl, eine neue Leibwache aufzustellen. Schreck tat, wie ihm geheißen, und wurde an bereits bekannter Stelle fündig. Im Torbräu zu München scharte er die »alten Kameraden« um sich. Der Name, den sich die Truppe dann im September zulegte, passte zu den aktuellen Bedürfnissen ihres Führers: »Schutzstaffel«, kurz SS.
Wie der »Stoßtrupp« verstand sich auch die SS von Anfang an als »Elite«, in bedingungslosem Gehorsam ihrem Führer unterworfen. Die Auswahl der Mitglieder erinnerte allerdings eher an die Strenge altväterlicher Turnvereine. »Chronische Säufer, Waschweiber und mit anderen Lastern Behaftete kommen nicht in Betracht«, hieß es in der ersten SS-Richtlinie. Im Gegensatz zur SA, in die nach wie vor nahezu jeder eintrat, der das Bedürfnis verspürte, durchliefen die Anwärter der SS von Beginn an ein Auswahlverfahren. Sie mussten zwischen 23 und 35 Jahre alt sein, zwei Bürgen nennen können, fünf Jahre in einem Ort polizeilich gemeldet sowie »gesund und kräftig gebaut« sein. Nicht nur in München, auch in anderen Städten entstanden nun SS-Gruppierungen. Keine Massenbewegung wie die SA, lediglich eine kleine Elitetruppe sollte sie werden: mit jeweils einem Führer und einer Stärke von zehn Mann. Nur in Berlin gab es zwei Führer, die 20 Mann kommandierten. Formal der SA zugeordnet und äußerlich lediglich durch schwarz umrandete Hakenkreuzbinden und Mützen zum Braunhemd von ihr zu unterscheiden, erschienen die wenigen SS-Männer wie stumme Begleiter der braunen Kolonnen. Noch erinnerten ihre Verhaltensregeln eher an eine Klosterschule denn an einen Orden: »Die SS beteiligt sich niemals an der Diskussion in Mitgliederversammlungen. Die Teilnahme an den Sprechabenden, in denen während der Dauer des Vortrages von keinem SS-Mann geraucht wird und keiner das Recht hat, das Lokal zu verlassen, dient zur politischen Schulung der Leute«, hieß es in einem Befehl des »Reichsführers SS« Erhard Heiden aus dem Jahr 1927. »Der SS-Mann schweigt und mischt sich niemals in einen Bereich [politische Ortsgruppenführung und SA], der ihn nichts angeht.«
Selten fiel die SS in der Öffentlichkeit auf – selbst wenn sie sich an Schlägereien beteiligte wie in Dresden, wo SS-Männer auf einer Parteiversammlung eine Attacke von 50 Kommunisten abwehrten und SS-Führer Rosenwink jubelte, kein Linker wage es zu stören, »seitdem … die vereinigten Schutzstaffeln von Dresden, Plauen, Zwickau und Chemnitz die Kommunisten nicht nur furchtbar verprügelten, sondern zum Teil auch noch zum Fenster hinauswarfen«. Im Gegenteil: Die Münchner Polizei lobte 1929 die Disziplin, die »von den SS-Leuten gefordert wird. Schon bei der kleinsten Verfehlung der Anordnungen, die in den laufenden SS-Befehlen ergehen, sind Geldstrafen oder Einzug der Armbinde auf eine bestimmte Zeit oder Dienstenthebung angedroht. Besonderes Gewicht wird auf das Verhalten des einzelnen Mannes und auf dessen Kleidung gelegt.« Bei Kontrollen fand man bei SS-Leuten immer einen Parteiausweis, den SS-Ausweis und – ein Liederbuch. An den Zeilen des SS-Liedes nahm 1929 noch kein bedeutender Hüter der Weimarer Demokratie Anstoß:
»Wenn alle untreu werden, So bleiben wir doch treu, Dass immer noch auf Erden, Für euch ein Fähnlein sei.«
Bild 104Eindeutige Parolen: Hitler (im Wagen stehend) nimmt auf dem NSDAP-Parteitag in Weimar den Vorbeimarsch der SA ab, Juli 1926.
Früh kultivierte Hitler den Mythos um seine »Schutzstaffel«. Auf dem Reichsparteitag 1926 in Weimar überreichte er die mittlerweile an die Partei zurückgegebene »Blutfahne« der SS »zu treuen Händen«. Bei kruden Weiheritualen sah man nunmehr, wie SS-Truppführer Jakob Grimminger sie hinter Hitler hertrug. Die SS war nun ganz offiziell die elitäre Garde der braunen Bewegung. Dagegen stürzte die SA nach Röhms Abgang in ihre erste große Krise. Lokale Kleinstgruppen handelten oft autonom. Erst Mitte 1926, als die Partei erneut an Macht gewonnen hatte, sah Hitler die Zeit gekommen, auch die SA wieder stärker einzubinden. Mit der schwarzen Garde sollte zwar später ein Staat zu machen sein, doch für den Weg dorthin brauchte Hitler auch die Massen der braunen Bataillone. Sie erwiesen sich als unentbehrlich im propagandistischen Großeinsatz.
Den Versuch, die SA zu zentralisieren und zu kontrollieren, unternahm Hitler am 27. Juli 1926. Er gewann einen populären Freikorpsveteranen für die Aufgabe. Goebbels notierte lapidar in sein Tagebuch: »12 Uhr beim Chef. Erste Besprechung. Pfeffer wird Reichs-SA-Führer.« Franz Pfeffer von Salomon kannte das Potenzial seiner Truppe. Zwar verzichtete er auf die Schaffung eines Wehrverbands Röhmscher Prägung, doch verspürte auch er nicht das Bedürfnis, die SA der NSDAP sklavisch unterzuordnen. Die Truppen der »Sturmabteilung« waren nun zwar an Hitlers Autorität gebunden, doch Pfeffer entwickelte freilich eine Eigenständigkeit, die nicht im Sinne Hitlers sein konnte. Noch immer waren Partei und SA nicht eins. Der Konflikt schwelte weiter; allein der gemeinsame Kampf um die Macht verhinderte vorerst, dass die Katastrophe offen ausbrach. Die SA stand nun im Großeinsatz: Ungeachtet der schwelenden Führungskrise trieb ihr besonders die Wirtschaftskatastrophe von 1929 in Scharen neue Mitglieder zu. Die Parteiarmee überzog das flache Land mit einer Vielzahl an Paraden und Veranstaltungen. Überall marschierten die »braunen Bataillone«. Ihr militärisches Auftreten, ihre permanente Präsenz beeindruckte die Bevölkerung, zumal in jenen Landstrichen, in die sich bis dato Politiker selten verirrt hatten. Politik fand in den Großstädten statt, mit einer Veranstaltung dort erreichte man bedeutend mehr Menschen als mit einer Tour durch die Dörfer. Hier setzte die SA an – mit Erfolg. Goebbels notierte in sein Tagebuch: »Man fing an, von uns zu reden. Man konnte uns nicht mehr totschweigen oder mit eisiger Verachtung an uns vorbeigehen. Man musste, wenn auch widerwillig und mit zornigem Ingrimm, unseren Namen nennen.«
Bild 52Nach der Reichstagswahl 1932 im Berliner Hotel Kaiserhof: Die SA- und SS-Führer von Ulrich, Heines, Himmler, Ritter von Epp, Röhm und Graf Helldorf (v.l.).
Mit »zornigem Ingrimm« wurde der Name insbesondere von den politischen Kontrahenten in den Großstädten ausgesprochen. Hier herrschte nackter Terror. Wie vor 1923 sprengte die SA Veranstaltungen der Gegner, sie verprügelte Kommunisten und Sozialdemokraten und machte die Bahn frei für die NSDAP. Dabei wurden hehre Ziele beschworen: »Die SA marschiert… für Goethe, für Schiller, für Kant, für Bach, für den Kölner Dom und den Bamberger Reiter. …Wir müssen jetzt für Goethe mit Bierkrügen und Stuhlbeinen arbeiten. Und wenn wir gewonnen haben, nun, dann werden wir wieder die Arme ausbreiten und unsere geistigen Güter an unser Herz drücken.« Solche Sätze legte Wilfried Bade, ein Dichter der »Bewegung«, seinem »Helden« Horst Wessel in den Mund.
Die Polizeiberichte über Ausschreitungen von Angehörigen der SA mehrten sich. Beispiel Nürnberg, Reichsparteitag 1929: »Dort schliefen wir auf Stroh, und ein Bier konnten wir uns nicht leisten. Aber das machte nichts, denn wir waren begeistert«, schwärmt SA-Mann Krötz noch heute. In Wahrheit wurde geprügelt und randaliert. In Reih und Glied marschierte ein SA-Trupp in Richtung Parteitagsgelände und blockierte die Straßenbahn. Als der Fahrer den Trupp aufforderte, die Gleise zu räumen, stürmten die SAler in den Wagen und verprügelten den Fahrer und mehrere Fahrgäste. Am Rande der Veranstaltung überzog die SA Nürnberg mit einer Reihe von Gewalttaten: Ein Lokal wurde demoliert, weil es die schwarz-rot-goldene Fahne der verhassten Republik gehisst hatte, ein anderes wurde mit einem Bombardement von Bierflaschen überzogen, weil es Gewerkschafter beherbergte. Einem Polizisten, der einen von SA-Leuten verfolgten Mann schützen wollte, entriss einer der Horde den Säbel und stach ihn damit dreimal in den Rücken. Den Vorwurf unbotmäßiger Brutalität wischte Hitler mit einem Satz weg: »Die SA ist keine moralische Anstalt zur Erziehung von höheren Töchtern, sondern ein Verband rauer Kämpfer.«
Besonders in Berlin gehörten wüste Schlägereien zwischen Linken und Rechten bald zum Straßenbild. Bewusst drangen die braunen Horden in die kommunistischen Kieze vor, um zu provozieren. Im roten Charlottenburg installierten sie einen »Sturm« inmitten eines dichten Netzwerks aus Häuserschutzstaffeln, Verkehrslokalen und Mietergruppen der Kommunisten. Ein anderer Brennpunkt war die »Rote Insel« im Bezirk Schöneberg. Ritualisiert, wie nach Drehbuch, liefen die Auseinandersetzungen ab, immer und immer wieder. Die SA fuhr mit LKWs durch die Straßen, schrie Parolen und warf Steine gegen Einrichtungen der Roten. Der Kommunist Paul Tollmann beschreibt die Gegenwehr seiner Leute: »Wir hatten eine bestimmte Taktik. Erst einmal die Nationalsozialisten reinlassen, dann die Straße zumachen. Und sie dann möglichst nicht mehr rauslassen. Wenn wir die nur beschimpft hätten, wären die ja wieder gekommen.« Tollmann gehörte nach der »Machtübernahme« zu den ersten Folteropfern der SA.
Bild 53Hehre Worte für die Straße: Ein SA-LKW auf Propagandafahrt in Berlin.
Vor allem nach der Weltwirtschaftskrise 1929 drängte das neue Großstadtproletariat in die SA. Viele flüchteten aus Existenznot und familiären Krisen in die braune Uniform. In den Stammlokalen der SA entstand der Mythos von den »braunen Bataillonen«, die den Entwurzelten vor allem eine Heimat boten. Aus dem Gefängnis schrieb ein 21-jähriger SA-Mann an einen Kameraden: »Ich bitte dich, schick mir nicht immer meine Mutter her. Die weint dann immer + dann ist meine Stimmung auch hin. Erzähle ihr, wenn sie dich fragt, dass ich jetzt blos [sic] noch alle vier Wochen Sprecherlaubnis habe oder sonst was. Vor allem sehne ich mich nach euch Kameraden.« SA-Heime und die »Sturmlokale« wurden Mittelpunkte einer regelrechten braunen Subkultur in den Großstädten. In Kneipen wie der Bornholmer Hütte in Berlin-Mitte hing in der düsteren Schankstube eine Hakenkreuzfahne. Fahrradpatrouillen sicherten die Gegend; die Kneipe selbst war von innen mit Verschlägen schnell verrammelt. Fremde galten rasch als Feinde, und oft war im Nebenraum oder auf der Kegelbahn ein Versteck eingerichtet, in dem man schon mal eben eine Pistole verschwinden lassen konnte, »wenn die Polente unvermutet erscheint«, wie es in einem zeitgenössischen Bericht heißt.
In Beuthen haben SA-Leute kurz vor der Machtübernahme einen Kommunisten buchstäblich zu Tode getreten. Es gab eine Schwurgerichtsverhandlung, und die SA-Leute sind zum Tode verurteilt worden. Als Hitler an die Macht gekommen war, hat man sie sofort begnadigt, weil sie jetzt als tapfere Kämpfer für die nationalsozialistische Machtübernahme galten.
Otto Gritschneder, Anwalt aus München
Die Männerkumpanei wurde nicht zuletzt durch Alkohol beflügelt. Die Schadenersatzforderung des Berliner Lokalbesitzers Robert Reißig gab einen Eindruck: Als das preußische Innenministerium 1932 die SA verbot, verlangte er eine Entschädigung für entgangenen Umsatz von 152,5 Tonnen Bier – für drei Monate. Die vermeintlichen Kameraden von der SS sprachen angesichts solcher Attitüden hinter vorgehaltener Hand verächtlich vom »Lumpenproletariat« der NSDAP: »Da war keine Disziplin«, befindet heute der Hamburger Otto Kumm, der 1931 der SS beitrat.
Vor allem in Berlin verschwammen mitunter die Grenzen zwischen Halbwelt und SA. Zahlreiche Kleinkriminelle erhielten den Mitgliedsausweis. Im Wedding kämpfte der »Räubersturm« gegen Kommunisten und Gesetze. Die »Offizielle Geschichte der Berliner SA« kokettierte gar mit dem schlechten Ruf der Neuköllner Schergen: »Über 3000 rote Aktivisten, gegen knappe 70 Mann des Sturmes 25. Ein Sturm allerdings, der zu 80 Prozent aus Arbeitern besteht, aus Rabauken, eisern und mit allen Hunden gehetzt. ›Ludensturm‹, sagen die Berliner.« Im Bezirk Charlottenburg regierte der berüchtigte SA-Sturm 33, im Volksmund »Mördersturm« geheißen, nachdem Angehörige dieser Gruppierung zum Jahreswechsel 1930/31 binnen kurzer Zeit mehrere Menschen umgebracht oder schwer verletzt hatten. Am 22. November 1930 tanzten im Edenpalast gerade die Mitglieder des kommunistischen Wandervereins »Falke«, als 20 SA-Männer in das Lokal eindrangen. Mit dem Schlachtruf »Schlagt die Hunde tot« prügelten sie die Gäste des Lokals nieder und schossen wahllos in die Menge. Drei Arbeiter brachen von Kugeln getroffen zusammen und blieben in ihrem Blut liegen.
Diesmal landeten die braunen Schläger vor Gericht. Der Anklage lautete auf versuchten Totschlag, Landfriedensbruch und Körperverletzung. Der junge Rechtsanwalt Dr. Hans Litten vertrat die Nebenklage gegen vier der SA-Männer – und ihm gelang eine kleine Sensation. Am 8. Mai 1931 rief er Adolf Hitler in den Zeugenstand des Kriminalgerichts Berlin-Moabit. Litten wollte nach eigenem Bekunden den Nationalsozialisten die Maske vom Gesicht reißen, den terroristischen Kern der nationalsozialistischen Ideologie bloßlegen. Er versuchte nachzuweisen, dass die NSDAP die Gewalttaten nicht nur duldete, sondern dass der Terror auch in der Politik der Partei das entscheidende Moment war. Zwei Stunden dauerte die Vernehmung. Anfangs gab sich Hitler noch ruhig. Er wiederholte gebetsmühlenartig immer wieder: »Die SA unterliegt dem strengsten Gebot, sich von Angriffen gegen Andersdenkende fern zu halten.« Litten konfrontierte Hitler mit den unzähligen Aussagen des Berliner Gauleiters Goebbels, wonach die »Gegner zu Brei zertreten« werden müssten. Je länger die Befragung dauerte, desto mehr wuchs Hitlers Unruhe. Schließlich platzte ihm der Kragen. Er sprang auf und brüllte mit hochrotem Kopf: »Wie kommen Sie dazu, Herr Rechtsanwalt, zu sagen, es ist eine Aufforderung zur Illegalität? Das ist eine durch nichts zu beweisende Erklärung!« Litten erwirkte die Verurteilung der Angeklagten. Dass sein Auftritt vor Gericht sein eigenes Todesurteil bedeuten würde, ahnte er zu diesem Zeitpunkt nicht. Litten war einer der Ersten, die 1933 in »Schutzhaft« genommen wurden. Nach Jahren schwerster Misshandlungen und einer Odyssee durch diverse Konzentrationslager nahm sich der mutige Anwalt am 5. Februar 1938 in Dachau das Leben.
Zwei Bauern aus Oranienburg hatten einem Hitlerjungen eine Ohrfeige gegeben. Das Trommelfell war ihm geplatzt, und er musste zur Behandlung nach Berlin laufen. Die SA-Männer haben die beiden Bauern vor dem Lager barfuß im Kreis so viele Kilometer laufen lassen, wie der Hitlerjunge nach Berlin laufen musste. Als wir am Abend von der Arbeit ins Lager kamen, liefen sie immer noch. Man sah, wo sie gelaufen waren, der ganze Boden war voller Blut. Die Hautfetzen hingen ihnen von den Füßen herab.
Arno Hausmann, 1933 im KZ Oranienburg inhaftiert