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"Für alle, die auch gerne mal eine Dystopie lesen möchten, die in Russland angesiedelt ist, kann ich dieses Buch nur wärmstens empfehlen. Ein spannendes Buch, welches Lust auf mehr macht." [Lesermeinung] Inhalt: Russland 2071. Nach einem verheerenden Atomkrieg in den 2020er Jahren liegt über der Welt noch immer ein Schatten der Verwüstung. Eine amerikanische Privatarmee fällt in andere Länder ein und betreibt Ressourcenraub. Doch damit dient sie lediglich als Deckmantel einer fundamental-christlichen Organisation, die monströse Experimente am Menschen durchführt, um ein künstliches Paradies zu erschaffen: The Shine.
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Seitenzahl: 685
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Deutsche Erstausgabe Copyright Gesamtausgabe © 2017 LUZIFER-Verlag Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Cover: Michael Schubert Lektorat: Eva Geibert
Dieses Buch wurde nach Dudenempfehlung (Stand 2017) lektoriert.
ISBN E-Book: 978-3-95835-229-2
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Sie saß da und starrte in die Stadt. In die Stadt, die sie vor drei Tagen hatten verlassen wollen. Die Stadt, über der heute schwere Wolken hingen, betongrau wie die Häuser.
Sie hatte seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen und zwang sich, auf einem dick belegten Brot herumzukauen. Kurze Übelkeit überkam sie; sie spürte Angst, sich erbrechen zu müssen. Als die Übelkeit verflogen war, spürte sie gar nichts mehr.
Henry und Yuri hatten gestern ihre Therapieversuche aufgegeben. Einmal, weil nichts durch Tarjas eisernen Mantel des Schweigens drang. Zum anderen, weil es den beiden selbst kaum besser ging.
Tarjas Gefühle waren eine im Verhältnis variierende Mischung aus Verzweiflung, Trauer, Hass und Ausweglosigkeit. Sie hatte die Orientierung verloren.
Sie hatten keinen Pavel Kirov mehr. Wohin sollten sie jetzt gehen? Nach Novosibirsk, wo angeblich Blaydow war?
Allein weitermachen?
Ja. Aber noch nicht jetzt. Momentan war Tarja nicht einmal in der Lage, zu essen oder zu schlafen. Gestern hatte sie für einen Moment gehofft, die Spürhunde würden seine Leiche finden. So, wie sie inzwischen acht weitere Leichen gefunden hatten. Doch Kirov war nicht darunter. Noch immer war sie froh darüber; andererseits glaubte sie dennoch an seinen Tod. Nach drei Tagen lautete die traurige Bilanz: Drei Überlebende, drei Tote und drei Verschollene auf GEISTs Seite.
Dreck.
Wieder donnerte sie den Kopf gegen die nackte Wand. Ihren Freunden im Nebenzimmer war der dumpfe Knall sicher nicht entgangen, und vielleicht kam gleich wieder jemand herüber, um sie zu bändigen. Doch dieser Ausbruch war es wert. Denn in diesen herrlichen Sekunden, in denen der Schädel dröhnte, sie bloß Schmerz spürte, waren alle anderen Empfindungen weg. Aber sobald in marternder Wucht die Klarheit zurückkehrte, glaubte Tarja, dass der Alkohol nicht nur die länger währende, sondern sogar die gesündere Alternative war.
Kurz zuckten ihre Muskeln in der Entschlossenheit, sich eine Spirituose zu suchen. Dann erschlaffte ihr Körper wieder. Es machte keinen Sinn. Besoffen oder nüchtern, Kirov war tot.
»Tot, tot, tot.«
Nicht das erste Mal murmelte sie dieses Wort vor sich hin. Doch der Schmerz darüber ließ nicht nach. So oft sie sich auch vor Augen hielt, dass ihr einstiger Kommandant, Pavel Anatoljewitsch Kirov, einer der schönsten und gutmütigsten Menschen, die sie je kennengelernt hatte, eines frühen und grausamen Todes gestorben war, so unnachgiebig blieb die Pein. Kein betäubender Überdruss, keine Leere nahmen ihr auch nur einen Bruchteil des Schmerzes ab.
Und dennoch brachte Tarja es nicht mehr zustande, auch nur eine einzige Träne zu vergießen, nachdem sie auf dem Schlachtfeld so offen geweint hatte. Vielleicht sollte sie gar nicht erst damit beginnen …
Es musste Abend werden, bis sie doch noch zum Alkohol griff. Reiner russischer Wodka rann brennend durch ihre Kehle und entfachte in ihrem leeren Magen ein Feuer. Sie trank hastig und mit Brechreiz. Lethargisch erwartete sie die Wirkung.
Die anderen beobachteten ihr Trinkverhalten mit Skepsis, aber keiner mischte sich ein. Man hatte sich in einem Aufenthaltsraum der GEIST-Basis versammelt, ein Kartenspiel ausgegeben und eine Partie begonnen. Obwohl keiner ernsthaft Spaß empfand, spürte Tarja, wie sie wütend wurde.
»Wie könnt ihr so vergnügt spielen, wenn Kirov abgekratzt ist?!«
Erschrocken hielt sie inne. Hatte sie das gerade gedacht oder gesagt? Benommen rieb sie sich die Augen, um festzustellen, dass man sie ansah. Dass der Wodka so schnell sein Werk tat … hatte sie dann doch nicht erwartet. Fast musste Tarja über die Absurdität der Situation lachen und bemerkte, dass es um ihre Mundwinkel zuckte. Ehe irgendwer reagierte, schob Kalinina die Karten zusammen und packte sie zurück.
»Hast recht, das war dumm«, murmelte Henry betreten.
Die Runde schwieg. Henry griff nach einer Flasche Likör und kippte sein Glas voll. Er trank ohne Trinkspruch und ohne Genuss. Die Stille setzte sich bedrückend fort.
»Wie wird es weitergehen?«, fragte Yuri nach einigen Minuten.
Tarja schaffte es nur knapp, keinen Widerspruch einzuwerfen. Sie hatten den Kopf der ganzen Operation verloren. Auch, wenn sie wussten, dass Blaydow in Novosibirsk war, standen die Chancen verdammt gering, ihn dort zu finden. Dazu kam, dass Tarja noch immer das Geheimnis wahrte, dass sie vor drei Tagen heimlich hatten aufbrechen wollen.
Niemand schien Tarjas finsteres Mienenspiel zu bemerken, und Henry war der Erste, der Yuri eine Antwort gab.
»Wir werden uns sammeln müssen. Wenn wir alle Informationen über Blaydow beisammen haben, werden wir Kirovs Plan zu Ende führen.«
Es war keine erschöpfende Antwort und eine noch weniger befriedigende. Doch es war die einzig vernünftige.
Dann kam Tarja eine Idee. Vielleicht musste sie GEIST noch eine Weile länger dienen, ehe sie offiziell alle Informationen über Blaydow bekamen. Und vielleicht geriet sie in dieser Zeit erneut in ein Gefecht. In ein Gefecht, das sie nicht überlebte. Der Gedanke brachte sie das erste Mal seit Tagen zum Lächeln, und darüber erschrak sie nicht einmal.
Mit klarer Stimme mischte sich Kalinina ein.
»Ihr seid in die Stadt gekommen, um nach Skyfe Blaydow zu suchen. Nach einem Mann, der für euch irgendeine Schlüsselrolle spielt.«
Henry nickte bitter. »Ja. Nur leider weiß nur einer von uns, was für eine Schlüsselrolle das ist.«
Tarja war ihm in diesem Moment abgöttisch dankbar, dass er von Kirov in der Gegenwart sprach. Als sich Henry kleinlaut verbesserte, verkrampften sich ihre Innereien.
»Oder besser … wusste.«
Yuri wandte sich an Kalinina. Die feste Entschlossenheit in ihrer Stimme beeindruckte Tarja.
»Was wissen Sie über Skyfe Blaydow? Können Sie uns sagen, wo er ist?«
Kalinina lachte auf. Es klang resigniert. »Selbst, wenn ich es weiß. Wollt ihr ein Skelett besuchen?«
Diese prompte Aussage ließ Tarja kerzengerade hochfahren.
»Wie?«, stieß sie entrüstet hervor. »Der Kerl ist tot? Wieso zur Hölle erfahren wir das erst jetzt, nachdem Kirov für GEIST gestorben ist?!«
»Kirov wusste es«, sagte Kalinina zerknirscht. »Skyfe Blaydow ist ein Phantom.«
Tarja konnte sich nur mit Mühe beherrschen, Kalinina nicht vor Wut ins Gesicht zu springen.
Glücklicherweise lenkte Henry ein. Er war ebenso perplex.
»Das kann nicht sein. Pavel hätte uns das wissen lassen.« Er knetete konzentriert seine Hände. »Wenn Blaydow tot ist und Pavel das wusste, hatte er irgendwas vor.«
»Kirov hätte uns nie hintergangen!«, schrie Tarja und sprang auf. »Vielleicht war Skyfe Blaydow bloß eine Metapher! Vielleicht ist in seiner Leiche etwas versteckt, oder er hat einen geheimen Code hinterlassen! Vielleicht brauchen wir nicht Blaydow, sondern nur seine Nachricht! Kirov hätte uns direkt dorthin geführt. Wenn er noch leben würde, wären wir schon dort!«
Henry hob die Hände und beschwor betont: »Keiner von uns hat die Absicht, Pavel irgendwas anzuhängen.«
Nach einigen Atemzügen gab Tarja nach und setzte sich wieder. Obwohl sie betrunken war, bemerkte sie Kalininas eindringlichen Blick. Tarja hatte jede Scheu verloren und stierte scharf zurück. Wie erwartet senkte Kalinina den Blick jedoch nicht.
»Was meinst du mit schon dort?«, bohrte die Kommandantin nach.
Trotz ihres Blutalkohols lief es Tarja kalt den Rücken herunter. Sie hatte die Absicht der Gruppe verraten. Scheiße. Sie rang nach Fassung und nach Worten. Als sie keine Worte fand, haftete sie die Augen auf ihr leeres Glas und die winzigen Kratzer und Lufteinschlüsse darin.
Nach unerträglichen Momenten erfüllte Henrys Seufzen den Raum. Ein tiefes, gedehntes, aber nicht kapitulierendes Seufzen.
»Franky hat Tarja, Yuri und Pavel unter Drogeneinfluss verhört. Wir haben ihm willenlos all unsere Pläne und unser Wissen über die wahren Hintergründe von UF und The Shine erzählt.«
Er verschwieg Kirovs Antiserum, wofür Tarja ihm stumm dankte.
»Seitdem hat sich der Plan aber geändert. Wir setzten uns ein Datum, an dem wir aufbrechen wollten. Unser Plan und unsere Leben gingen einfach vor. Du wusstest davon nichts.«
Kalinina begriff. »Ihr wolltet früher abhauen.«
Obwohl sie versuchte, ihrer Stimme einen festen Ton zu geben, entging Tarja nicht, dass sie sich reichlich überrumpelt fühlte. Doch ob sie auch aufgebracht war, ließ ihr Ton nicht erkennen.
»Kirov hat behauptet, er bräuchte mehr Wissen als er in Wahrheit benötigte – nicht wahr? Ich habe ihm unabsichtlich bereits alles mitgeteilt, was er wissen wollte. Noch vor dem Ablauf des dreimonatigen Vertrages.«
Henry nickte. »Vor drei Tagen wollten wir fahren.«
Kalinina blieb still. Sie erhob keinen Protest. Stattdessen sagte sie zu Tarja: »Stepan Ljadov ist sehr dankbar für seine Rettung. Er versucht seit zwei Tagen, dich zu kontaktieren.«
Stepan Was-auch-immer ist mir scheißegal, hätte Tarja am liebsten gesagt. Doch sie unterließ es und schämte sich im nächsten Moment für diesen gemeinen Gedanken. Auch, wenn er stimmte.
Kalininas Stimme klang fremd, als sie ungewöhnlich sanft hinzufügte: »Ich habe ihm deutlich gemacht, dass du Zeit für dich selbst brauchst. Er sagt, er kann warten. Und«, ergänzte sie, »es tut ihm zutiefst leid, dass er nicht derjenige war, den du finden wolltest.«
Tarja spannte den Kiefer an. Sie sah zu Kalinina und fragte fast nüchtern: »Sagen Sie uns alles, was Sie über Blaydow wissen?«
Kalinina brauchte nicht lange für die Entscheidung. »Ja. Auch wenn ich nicht glaube, dass ihr damit sonderlich weit kommt.«
Henry holte Luft und legte den Kopf in den Nacken.
»Für mich hört sich das alles sehr vage an«, gestand er ehrlich. Er zuckte mit dem gut gemeinten Vorsatz, ein bisschen Lockerheit in die Runde zu bringen, leger die Schultern, doch sein trüber Gesichtsausdruck machte diesen Versuch zunichte. »Um ehrlich zu sein, fühle ich mich ohne Pavel ziemlich orientierungslos. – Aber nicht hoffnungslos!«, setzte er nach einem Moment hinterher. »Ich bin dabei, Mädels. Wie immer.« Ein Teil der alten Zuversicht war in sein Gesicht zurückgekehrt.
Tarja musste sich eingestehen, dass Henry optimistischer war als sie selbst. Sie fühlte sich ohne Kirov nicht nur emotional, sondern auch strategisch gebrochen. Der Schmerz über ersteres hatte die Tatsache, dass sie keinen handfesten Plan mehr hatten, für drei Tage überblendet.
»Und du, Yuri?«
»Ich sehe das genauso.«
»Wann und wie brechen wir auf?«
Tarjas Frage war fast ein Seufzen. Sie klang viel mutloser als geplant. Yuri und Henry wechselten bedeutsame Blicke. Da erkannte Tarja, dass sie sich bereits abgesprochen hatten. Während Tarja in ihrem Elend versunken war, hatten ihre Kameraden Pläne geschmiedet. Erst fühlte sie sich ein bisschen hintergangen. Doch sie erkannte, dass sie eher Grund hatte, darüber erleichtert zu sein.
»Wir möchten dir noch Zeit geben. Um über den Verlust … das ungewisse Schicksal von Kirov hinwegzukommen«, sagte Yuri mitfühlend. »Erst dann brechen wir auf.«
»Ich werde nie darüber hinwegkommen!«, sagte Tarja laut.
Ehe sie es zurückhalten konnte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Unwillentlich war sie aufgesprungen und spürte starken Schwindel.
»Ich brauche einen Spaziergang«, hörte sie sich lallen. »Ich muss an die frische Luft.« Tränen rollten über ihre Wangen. Sie wankte zur Tür.
Jemand stellte sich ihr in den Weg.
»Nicht in deinem Zustand!«, sagte irgendeine Stimme.
Tarja setzte sich wieder hin, obwohl sie eigentlich nicht wollte. Sie griff nach ihrem Glas. Eine Hand zog es vor ihr weg. »Du hast eindeutig genug!«
Unkoordiniert langte sie danach, verfehlte aber ihr Ziel. Sie stützte das Kinn auf die Hand. Ihr Kopf schien plötzlich hundert Kilo zu wiegen. Ihre Arme verweigerten, ihn noch zu halten. Ihre Stirn schlug auf die Tischplatte. Ihre Sinne verschwammen. Das Dröhnen von Stimmen vermengte sich zu einer unstrukturierten Masse, sie konnte nicht mehr unterscheiden, welche Fragmente von außen und welche aus ihrem Kopf kamen.
Sie wachte auf, als ihr Körper von schwerem Schluchzen geschüttelt wurde. Ein Traum, dessen Segmente brutal nachwirkten, hatte eine Lawine von Emotionen losgetreten. Es war ein wirrer Traum gewesen, dessen Handlung in dem Moment vergessen war, in dem Tarja die Augen geöffnet hatte. Verblieben war das Gefühl von schrecklicher Hilflosigkeit.
Genauso schrecklich wie die Realität.
Tarja hätte am liebsten weitergeschlafen, um der unerträglichen Wirklichkeit zu entgehen. Erneut löste sich aus ihrer Kehle ein tiefes Schluchzen. In dem kargen Zimmer, das zum Lazarett gehörte, war sie allein. Sie drehte sich auf den Bauch und presste das Gesicht in die Matratze. Sie heulte und heulte. Wenn jemand kam: egal.
Doch sie blieb allein.
Wieso pumpte ihr Herz so unermüdlich, wenn sie von innen schon tot war? Wieso hielt ihr Körper sie am Leben?
Wodka. Der Gedanke kam wie ein greller Lichtblitz und entfachte heißes Verlangen. Obwohl sich ihr Körper mit aller Macht gegen erneuten Alkohol sträubte, sah sie darin den letzten Grashalm in ihrem Meer aus grenzenlosem Schmerz.
Als sie sich mit beiden Armen von der Matratze stemmte, brauchte sie eiserne Willenskraft, um sich nicht auf der Stelle über den Boden zu erbrechen. Oder besser in den Eimer, der dort stand. Der vorausschauend platziert worden war, von demjenigen, der sie hier reingebracht hatte. Und dann abgehauen war.
Es musste nach Mitternacht sein, wenn ihr Zeitgefühl den Wodka überlebt hatte. Ihr routinierter Griff in die Seitentasche der Hose bekam die kupferfarbene Kette der Taschenuhr zu fassen.
Taschenuhr. Geschenk von Borodin. Wieder durchfuhr sie ein schmerzhafter Stich. Jede noch so vage Assoziation reichte aus, um Kirov lebensnah vor sich auftauchen zu lassen.
Dass die Uhr zwanzig nach eins zeigte, nahm sie nur beiläufig zur Kenntnis. Wieder rollten Tränen – wie viele hatte sie überhaupt? – über ihre nassen Wangen, doch das Schluchzen blieb aus.
Sie musste sich an der Wand festhalten, bis ihr Kreislauf endlich stabiler wurde. Vor der Tür putzte sie sich die Nase und wischte die Tränen weg. Die Scharniere ächzten verräterisch, als sie wankend den Raum verließ.
Zufällig kam sie an den Toiletten vorbei. Sie stürzte hinein, um das schmerzhafte Drücken in ihrem Magen loszuwerden. Sie übergab sich und fühlte sich wenigstens körperlich ein Stückchen besser. Anschließend klemmte sie sich eine Weile unter den Wasserhahn und begriff erst jetzt, wie stark ihr Durst gewesen war.
Auf halbem Weg durch die leere Basis bemerkte sie, dass sie keine Ahnung hatte, woher sie neuen Alkohol bekommen sollte. Sie taumelte zur Kantine und fand neben dem regulären Kühlschrank einen, der abgeschlossen war. Sehr verdächtig. Doch selbst mit der verzweifelten Kraft einer Betrunkenen konnte sie den Schrank nicht aufbrechen. Auch im Rest der Küche fand sie keinen Alkohol, der offen herumstand. GEIST mochte seine Gründe haben, doch trotzdem fachte es ihre Wut an.
Tarja murmelte, schimpfte und sang monoton vor sich hin, was sie sonst nie tat. Fast war sie eine andere Person geworden. Oder ein Geist. Ja, das traf es irgendwie akkurater.
Wodka. Der Rest ihrer arbeitenden Gehirnzellen erkannte, dass sie versuchen musste, in der Innenstadt etwas von dem Zeug aufzutreiben. Sie summte Katjuscha weiter und steuerte auf den Ausgang des Komplexes zu. Wissend, dass sie ohne Schlüssel nicht mehr hineinkommen würde.
Der Himmel war sternenklar. Eine reine, frostige Kälte, doch Borodins Mantel hielt sie warm. Die spärlichen Straßenlaternen machten ihren Atem in weißen Wölkchen sichtbar. Die kalte Luft brannte in ihrer Nase, doch bald spürte Tarja nur noch wohltuende Frische. Gefrorenes Gras, das aus Rissen im Beton gewachsen war, knickte unter ihren Stiefeln. Erst als die Tore der Basis verlassen und die stählernen Pforten unwiederbringlich hinter ihr eingerastet waren, wurde ihr bewusst, dass die Herberge schon seit zwei Tagen gekündigt war. Und ihr Geld reichte nicht für eine Nacht. Später zurück über die Stacheldrahtzäune klettern? Keine Chance …
Nicht dran denken. Notfalls war sie eben die ganze Nacht unterwegs.
Die schäbige Gegend, die nur auf den ersten Blick ausgestorben war, beheimatete schattenhafte Gestalten, die durch die dunklen Straßen huschten. Tarja wurde sich ihres zweiten Versäumnisses bewusst: Sie trug kein Messer. Aber heute fühlte sie sich gut dabei. Gezielt steuerte sie Seitengassen an. In jenen Gassen, die sie zuvor umgangen hatte, hielt sie Ausschau nach der Gefahr.
Doch die Gefahr hatte Angst vor ihr. Die gesichtslosen Gestalten rochen ihre Furchtlosigkeit und wichen ihr aus. Ihre Todessehnsucht machte sie zum mutigsten Menschen der Stadt.
Sie kam von ihrem direkten Weg zur Innenstadt ab. Die Gegend änderte sich zum Negativen. Ihr war gleichgültig, wo sie sich befand, ob sie sich verlief … sie hoffte es beinahe. Adrenalin wäre ihr genauso willkommen gewesen wie Wodka.
Was sie weniger gleichgültig aufnahm, war die Tatsache, dass sie mit jeder weiteren Minute nüchterner wurde. Höchste Zeit für Nachschub.
Kirov ist tot.
Schon wieder. Ihr Unterbewusstes wurde nicht müde, sie mit diesem Satz zu quälen. In der Hoffnung, dass sie es endlich begriff?
»Ich will's gar nicht begreifen«, murmelte sie. »Ich will's nicht begreifen.«
Die Worte flossen ineinander und wurden von dem leisen Knirschen unter ihren Sohlen überlagert.
Песня о тревожной молодости – Das Lied von der unruhevollen Jugend. Ein Lied aus Sowjet-Zeiten. Ein so schönes Lied. Ein so melancholisches Lied, und wahrscheinlich war es deshalb schön. Но дружба моя с тобою Лишь вместе со мной умрёт. Und meine Freundschaft zu dir wird nur mit mir zusammen sterben.
Das Lied berührte die Tiefen ihrer Seele. Und gerade, als sie zum Refrain angesetzt hatte, erklang rechts von ihr eine Männerstimme und stimmte in den Refrain mit ein.
»Wunderbares Lied!«
Tarja war stehen geblieben und blickte suchend in die Dunkelheit. Nur fünf Meter weiter erkannte sie die Gestalt des Fremden, der einen so löblichen Musikgeschmack besaß. Er saß auf einer Mauer und blickte sie an.
»Nur wenige kennen die alten Texte noch«, sagte der Fremde. »Meine Großmutter hat sie mir alle beigebracht.«
Tarja stellte mit Überraschung fest, dass er allerdings gar nicht so fremd war, wie sie zuerst geglaubt hatte. Sie trat näher.
»Sie können gut singen, Fräulein! Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt?«
Unter gewöhnlichen Umständen wäre Tarja rot geworden und hätte sich sofort gewünscht, sein Gedächtnis löschen zu können.
Jetzt sah sie den Mann bloß teilnahmslos an und entgegnete müde: »Kann sein.«
»Haben Sie sich verlaufen?«
»Ich komm klar.«
»Der Winter naht!«, mahnte der Mann. »Wir haben eine frostige Oktobernacht. Sie können schnell krank werden! Aber seien Sie froh, dass Sie mich getroffen haben. Ich habe hier etwas, das Sie aufwärmen kann.«
Tarjas Herz machte einen Sprung. Noch immer konnte sie den Mann in der Dunkelheit nicht genau erkennen. Doch sie stellte fest, dass er einen langen Mantel und eine Uschanka trug. Und er grinste geschäftig …
»Smirnoff?«
»Sie kennen mich?« Smirnoff klang erstaunt, aber nicht überwältigt. Er lachte. »Onkel Nikolai ist wirklich eine Berühmtheit in Stalnovsk.«
Routiniert öffnete er seinen Mantel, knipste eine Taschenlampe an und verbannte ihre letzten Zweifel, dass sie an der rechten Adresse war. Der Lichtkegel beleuchtete die unterschiedlichen Spirituosen, die Smirnoff in seinem Mantel aufbewahrte.
Tarja besaß nur noch 170 Rubel. Sie brauchte eine möglichst hohe Dichte an Ethanol.
»Es ist mir egal, wie gut oder schlecht das Zeug schmeckt. Geben Sie mir für 170 Rubel so viel Sprit wie möglich.«
»170 Rubel …« Nikolai ging halblaut seine Flaschen durch. »Da hätten wir 300 Milliliter Wodka Moskovskaja … 150 Milliliter schwarzen Absinth … einen halben Liter süßen Kwas mit Whisky, Spezialanfertigung von Smirnoff Industries … 200 Milliliter Blended Scotch …« Er sah sie erwartungsvoll an.
»Wodka klingt gut!«
Sie spürte, wie sie bereits unruhig zu zittern begann. Einerseits erwartungsvoll, andererseits durch ihre Übelkeit, und zusätzlich wegen der Kälte. Mit fast einem Drittelliter Wodka würde sie nicht nur diese Nacht, sondern auch den kommenden Tag im Dämmerzustand überstehen. Zumindest um die kommenden vierundzwanzig Stunden musste sie sich keine Sorgen mehr machen.
Smirnoff hatte offenbar eine Chance gewittert. Er griff nicht nach der Flasche mit dem abgegriffenen Label Moskovskaja, sondern holte aus den Tiefen des vermutlich mehr als dreidimensionalen Mantels eine andere, vollere Flasche. Ein aufgeklebtes Etikett präsentierte den handgeschriebenen, in der versuchten Schönschrift nicht ganz geglückten Namen: Wodka Nikolai – Smirnoff Industries. Daneben war der Versuch einer Selbstzeichnung Smirnoffs in Form eines grinsenden Männchens.
Tarja bedauerte, dass ihr nicht zum Lachen zumute war.
»Was ist das?«
»Eine Eigenkreation«, brüstete sich Nikolai stolz. »Über 45 Umdrehungen. 750 Milliliter für nur 300 Rubel. Ein Meisterwerk! Können Sie sich dieses Schnäppchen entgehen lassen?«
»Ich habe nur 170«, bemerkte Tarja trocken. »Außerdem hätte ich Angst, hinterher nicht mehr aufzuwachen.« Anscheinend war ihr Selbsterhaltungstrieb doch noch nicht gestorben.
Letztere Äußerung hatte Smirnoff ganz offensichtlich in seiner Eitelkeit getroffen.
»Was höre ich?« Impulsiv schraubte er den angerosteten Deckel ab und füllte seinen Rachen mit einem kräftigen Schwall. »Das ist ein Wässerchen bester Qualität!«, behauptete er beharrlich, nachdem er das Getränk mit tränenden Augen heruntergewürgt hatte. Eine Sekunde später hallte der Lärm seines Hustenanfalls durch die Gasse.
»Ich komme dann doch lieber auf die 300 Milliliter Moskovskaja zurück«, stellte Tarja klar.
»Ich habe bloß was in die Luftröhre bekommen«, versicherte Smirnoff verkrampft.
Bei der Menge, die er mit einem Schluck getrunken hatte, kam Tarja in Versuchung, diese Möglichkeit nicht auszuschließen. Mit betonter Skepsis schlug sie vor: »Wenn Sie mich probieren lassen, glaube ich Ihnen vielleicht.«
Ihr Plan ging auf, als Nikolai ihr die Flasche reichte. Im Normalfall hätte ihr Anstand nicht zugelassen, durch so ein Kalkül umsonst an Alkohol zu kommen, doch heute hatte sie sowieso gegen ihre Prinzipien verstoßen. Ohne erst eine Geruchsprobe zu nehmen, setzte sie die Öffnung an den Mund und trank einen Schluck, der an Nikolais herankam. Sie schaffte es, sich nicht zu verschlucken, musste sich aber das Husten verkneifen, als die Flüssigkeit in ihrer Kehle eine Feuerspur hinterließ. Hoffentlich verkraftet das meine Magenschleimhaut.
Sie reichte die Flasche an Nikolai zurück.
»Gar nicht schlecht«, quittierte sie zu dessen Zufriedenheit. »Leisten kann ich mir die ganze Flasche trotzdem nicht.«
Smirnoff hatte inzwischen Verdacht geschöpft.
»Wofür wollen Sie eigentlich so viel Alkohol?«, fragte er unverblümt. »Ich glaube nicht, dass Sie feiern wollen. Dafür ist Ihre Laune zu schlecht. Sie wollen sich einfach wegballern, habe ich recht?«
Sie stimmte ihm sachlich zu. »So ist es.«
»Kann mir recht sein, ich mache Umsatz damit!«
Nikolai lachte herzhaft. Der Händler von der Straße besaß ein sonniges Gemüt, für das Tarja ihn unwillkürlich beneidete.
»Nachts verkaufe ich häufig mehr als tagsüber. Manchmal kann ich bis zum Mittag schlafen.«
»Wo übernachten Sie?«, fragte Tarja situationsbedingt. In dieser Stadt fielen ihr nicht viele gediegene Unterkünfte ein. »Ihre Handelsgilde hat Sie ja gefeuert.«
»Habe ich das erzählt?« Smirnoff verzog das Gesicht. »Ja, stimmt. Ich spreche manchmal mehr, als ich mir vorgenommen habe. Ich schlafe in einer Herberge am Rand der Innenstadt. Eine billige Absteige«, zischte er mit gespielter Missbilligung. »Aber das Bett ist warm und bequem.«
Tarja stellte fest, dass ihr das Gespräch mit dem dubiosen Händler tatsächlich ein wenig Ablenkung verschaffte.
»Woher beziehen Sie eigentlich Ihre Ware?«Nikolai rümpfte die Nase, als mochte er das Thema nicht besonders. »Ich habe da so einen Vertrag«, sagte er knapp. »Hier gibt es einen Stützpunkt von so einer Organisation, und wenn dort Güter eintreffen, kaufe ich einen Anteil des Alkohols, um ihn weiterzuverkaufen.«
»Stützpunkt? Sie meinen GEIST?«
Nikolai zögerte, was Tarja an Bestätigung reichte.
»Also ja. Welche Handelsspanne haben Sie, dass Sie von dem Gewinn leben können?« Erst danach fiel ihr auf, dass die Frage vielleicht etwas indiskret war.
Nikolai sah das womöglich ähnlich, denn seine Antwort fiel unbehaglich aus. »Ich verkaufe eben gut.«
Selbst im schlechten Licht erkannte Tarja, dass er ihrem Blick auswich.
»Welcher GEIST-Kommandant würde denn einen Vertrag mit einem Händler schließen?«, hakte Tarja ungläubig nach. »Oder schieben Sie geheime Geschäfte mit dem Lieferanten? Wenn Kommandantin Kalinina das erfährt, dann …«
»Nein«, widersprach Nikolai rasch.
Tarjas Plan, ihm etwas Schlimmeres zu unterstellen, als er wahrscheinlich tat, um so die Wahrheit aus ihm herauszulocken, schien aufzugehen.
»Ich mache nichts Unerlaubtes«, beschwor er kleinlaut. »Ich bekomme wöchentlich eine Ladung Spirituosen einfach auf bare Hand. Im Tausch halte ich gewissenhaft Ausschau nach den Dingen, die sich so auf den Straßen ereignen. Ich stelle fest, ob vielleicht irgendwelche Unruhen gegen GEIST im Gang sind. Das soll in den letzten Jahren häufiger passiert sein! Die Straßengauner sind wütend darüber, dass GEIST so einen intakten Gebäudekomplex beherrscht, und haben schon mehrmals versucht, ihn zu überfallen. – Das ist alles«, führte er mit abschwächendem Handwink zu Ende.
»Dann scheint GEIST Ihnen ja wirklich zu vertrauen.«
»Tun sie auch. Ich habe schon manch einen Überfall vorausgesagt!«
»GEIST ist netter, als ich dachte«, erkannte Tarja wohlwollend an.
Nikolai überging diese Aussage. Vermutlich wollte er nicht als Profiteur von mitleidiger Großzügigkeit dastehen. Um die kurze Stille zu beenden, fand Tarja zum Geschäftlichen zurück.
»Ich gebe Ihnen 170 Rubel und möchte dafür alles, was Sie mir an Wodka geben können«, fasste sie zusammen. »Meinetwegen auch Ihr Eigengebräu. Hauptsache, es haut mich um.«
Nikolai füllte seinen Fusel in eine kleinere Flasche ab.
»Das kickt Sie ins Delirium«, bemerkte er mit einem Augenzwinkern. »Aber vergessen Sie nicht, es zu genießen! Das ist ein Wässerchen exklusiv von Nikolai, und jede Flasche ist ein Unikat.«
Tarja verkniff sich einen Kommentar darüber, dass das keineswegs gut sein musste. Aber egal, denn das Gesöff würde seinen Zweck erfüllen. Als sie sich verabschiedet und zum Gehen gewandt hatte – wohin auch immer das sein sollte – plauderte Smirnoff fröhlich weiter.
»Dass sie in den letzten Tagen alle so viel saufen müssen! Na ja, kommt mir ja zugute. Wenigstens zahlen sie anständig und sind freundlich in letzter Zeit …«
Tarja blieb stehen. Irgendwie fand sie den Händler recht angenehm. Außerdem stieg ihr der Alkohol zu Kopf und ließ sie geselliger werden. Gesellschaft hatte sie in den letzten Tagen definitiv zu wenig gehabt.
»Wie behandelt man Sie sonst, dass Sie sich über freundliche Behandlung wundern?« »Eher gleichgültig. Nun ja«, offenbarte er seufzend, »meistens nicht so gut. Einige sehen in mir einen streunenden Hund. Aber manchmal sind die Leute auch nett zu mir. Wie du zum Beispiel, junge Dame.«
Eine sentimentale Assoziation schwirrte durch Tarjas Hinterkopf.
»Und wer war außerdem noch nett zu Ihnen?«, fragte sie nebenbei.
»Eigentlich nur ein anderer«, gestand Nikolai. »Man neigt dazu, besondere Emotionen auf einen ganzen Zeitraum zu projizieren, auch, wenn sie nur von kurzer Dauer waren.«
Tarja, die einen solchen Ausbruch von Intellekt von Smirnoff nicht erwartet hatte, stimmte ihm seufzend zu.
»Der Mann hat gleich für fünf gekauft«, fuhr Nikolai gesprächig fort. »Dabei sah er gar nicht aus wie ein Säufer. Und er war sehr nett. Er hat mir sogar Trinkgeld gegeben. Niemand hat mir sonst Trinkgeld gegeben! … Was ironisch ist, denn ich verkaufe ja das Trinken.«
Tatsächlich hatte sich in Tarjas Kopf ein Bild zusammengesetzt, das auf schmerzliche Weise Erinnerungen weckte.
»Wie sah er aus?«, fragte sie ungeduldig, bereit, sich an jedes noch so kleine Indiz zu klammern.
»Recht jung …«, antwortete Nikolai erstaunt. Man sah ihm an, dass er sich Mühe gab, die wahrscheinlich längst ad acta gelegte Erinnerung zu rekonstruieren. »Gute Statur, fast so gut wie ich. Wieso«, wandte er sich argwöhnisch an Tarja, »bestehen Sie darauf, das zu wissen?«
Er konnte sich noch immer nicht entscheiden, ob er Tarja duzen oder siezen sollte.
Tarja überhörte die Frage. Nein, schrie eine Stimme in ihrem Kopf. Das ist absurd! Doch die Stimme war schwächer als der Schimmer neu erwachter Hoffnung.
»Wann war das?!«, fragte sie in einem scheiternden Versuch, gefasst zu wirken. »Vor wie vielen Tagen?«
Nikolai lachte überfordert auf. »Ich zähle doch die Tage nicht«, sagte er zu Tarjas Enttäuschung. Doch sie war noch nicht bereit, sich geschlagen zu geben.
Nikolai schien das zu spüren, denn er ließ die Zahnräder in seinem Kopf krachen. »Das muss vor drei oder vier Tagen gewesen sein.«
Vor drei Tagen.
»Wo?« Tarjas Kehle war staubtrocken. Sie befeuchtete sie mit einem etwas zu großzügigen Schluck Wodka Smirnoff.
»Als ich gerade meine Ware abgeholt habe«, antwortete Nikolai. Er konnte Tarjas übersteigerte Reaktion schwer einschätzen.
»Bei GEIST?«
Smirnoff nickte.
»Welche Uhrzeit?«
»Muss morgens gewesen sein.«
Mit ungeahnter Härte brach Resignation über Tarja herein. Kirov war freundlich. Kirov zählte mit seinen 30 Jahren zu der jüngeren Generation, Kirov arbeitete bei GEIST. Aber morgens bedeutete, dass der Verkauf vor der verheerenden Mission stattgefunden hatte. Selbst, wenn es Kirov gewesen war, waren alle Informationen wertlos geworden. Und nebenbei konnte man sich fragen: Wieso sollte Kirov Alkohol kaufen, dazu noch in der Menge, die Nikolai genannt hatte?
Tarja wollte das letzte Fünkchen Erinnerung aus Smirnoff kratzen.
»Woran erinnern Sie sich außerdem? Welche Haarfarbe hatte er, wie groß war er?«, führte sie ihren Fragenkatalog fort.
»Fragen Sie mich doch gleich nach seiner Augenfarbe«, entgegnete Nikolai säuerlich. Doch sein Sarkasmus hielt sich in Grenzen, weil er erstens vermutlich nicht dazu neigte, zweitens den Ernst der Sache mitbekam und sich drittens wahrscheinlich über einen Gesprächspartner freute.
Tarja brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass es für die meisten Menschen nicht selbstverständlich war, sich die Augenfarbe ihres Gegenübers einzuprägen.
»Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Aber er hatte, glaube ich, dunkle Haare«, förderte Nikolai ein Detail zutage. »Er war so groß wie ich, in etwa.« Smirnoff deutete die Größe des unbekannten Käufers mit der Handkante an. »Und er hatte einen Dreitagebart.«
Auch das passte auf Kirov! Doch Tarja erkannte, dass selbst weitere zutreffende Beschreibungen keine Gewissheit bringen konnten. Sie konnte unmöglich verlangen, dass Nikolai ein Phantombild zeichnete. Oder sich hypnotisieren ließ. Außerdem fielen ihr keine markanten äußeren Merkmale Kirovs ein. Sie war dazu verdammt, zu hoffen. Zu zittern.
Nikolai hatte seinerseits inzwischen begonnen, sich für den Grund ihrer Nachfragen zu interessieren. Auf mehr oder weniger rücksichtsvolle Art versuchte er, hinter das Mysterium zu steigen.
»Ist er dein Freund?«, fragte er wie ein plumper Geheimagent. »Überwachst du ihn? Hast du ihm das Trinken verboten?«
»Nein.« Tarja seufzte. Wenn es doch so einfach wäre.
»Ich vermisse jemanden«, sagte sie frei heraus.
Smirnoff zog die Brauen zusammen. Er beugte sich neugierig und für Tarjas Geschmack etwas zu weit vor. Schlagartig hellte sich seine Miene auf.
»Er ist dir abgehauen!«
»Nein«, sagte Tarja dumpf. Selbst das wäre ihr lieber gewesen als die Wahrheit. »Er ist wahrscheinlich tot.«
Betroffenes Schweigen setzte ein. Doch Tarjas Mauer war gebrochen. Ihre Hemmungen waren weg.
»Deshalb bin ich seit drei Tagen unfähig, etwas zu mir zu nehmen außer Wodka.«
Nikolai verzog mitfühlend das Gesicht. Es wirkte nicht einmal aufgesetzt. Er schwang sich zurück auf die niedrige, moosbewachsene Mauer und klopfte neben sich auf den Stein.
»Wenn du magst, erzähl es mir.«
Ehe sie sich versah, saß sie neben dem Händler. Sie stieß mit ihm zum Trinken an und erzählte von der verhängnisvollen Mission. Proportional zu ihrem Alkoholpegel sprudelten die Worte zahlreicher. Es tat irgendwie gut, in der kalten Nacht jemanden zu haben, der ihr zuhörte. Auch, wenn sie mehr sagte, als sie überhaupt geplant hatte.
Sie erklärte, dass Kirov der Ex-Kommandant der 13. Kompanie auf Sokolskaja, einem bedeutsamen Stützpunkt der Russischen Garde, war. Sie vergaß ihre Schweigepflicht und schilderte den Umstand, der ihn seines Postens beraubt hatte. Sie berichtete von Kirovs Verleumdung, von seiner gewagten Rettung zusammen mit Yuri und Henry. Sogar das Komplott mit The Shine ließ sie nicht aus, ehe sie zur Rekrutierung bei GEIST kam. Doch hauptsächlich erzählte sie von dem Mann, den sie heimlich aus der Ferne geliebt hatte. Und noch immer liebte.
Nikolai lauschte andächtig. Er unterbrach Tarja zwanzig Minuten lang an keiner einzigen Stelle. Am Ende, als sie ausgeredet hatte und sich zum wiederholten Mal die Tränen wegwischte, sah sie ihn an und stieß auf tiefe Betroffenheit. Ihr fiel kein Grund ein, aus dem Smirnoff diese Regung vortäuschen sollte.
»Das tut mir so leid«, sagte er bestürzt. »Ich verspreche, dass ich es niemandem weitersage.«
»Ich danke Ihnen.«
Deprimiert offenbarte sie: »Henry, Yuri und ich werden bald nach Sibirien aufbrechen, aber ich zweifle daran, dass die ganze Sache überhaupt noch irgendwas bringt.«
Nikolai schwieg erneut. Unversehens traf Tarja ein Schlag auf den Rücken. »Nimm's nicht so schwer! Komm, Schwester, trink noch einen.«
Er setzte den Moskovskaja an die Lippen und trank. Tarja tat es ihm nach. Sie spülte ihre Sorgen weiter fort. Sie hatte gelernt abzuschätzen, wie viel sie bis zur Besinnungslosigkeit vertrug. Sie wollte nicht übers Ziel hinausschießen. Nikolai, der trank wie jemand, der gute Mengen gewöhnt war, hielt sich mit ihr auf einem Level.
Während sie immer betrunkener wurde, erwartete Tarja, dass ungehemmt die volle Bandbreite ihrer Gefühle ausbrach. Doch zu ihrer Überraschung setzte nichts ein außer Leichtigkeit. Gleichgültigkeit.
Sie widersprach entschlossen – doch es stimmte, dass sie nicht mehr gerade laufen konnte. Als sie einen Laternenpfahl rammte, hörte sie ein albernes Lachen und bemerkte, dass es ihres war. Sie hatte lange nicht mehr gelacht.
Ihr Lachen schwoll an, als Nikolai ebenfalls Schlangenlinien lief. Spaßhaft stritten sie, wer den höheren Promillewert intus hatte. Tarja war überzeugt, dass das Nikolai war. Sie stellte im Vollrausch stimmige Überschlagungen anhand seines geschätzten Körpergewichts und der Unmenge von Wodka in seinem Magen auf.
Die Kälte war weg. Die russische Kälte, die beinah so bohrend wie der innere Schmerz gewesen war, war verschwunden.
Es tut so gut, stellte Tarja fest, doch gleichzeitig nagte in ihr die Angst, morgen wieder nüchtern zu sein. Diese Angst ließ sie erneut ansetzen. Und sie soff sich jeden Rest von Zurechnungsfähigkeit aus dem Kopf.
Abgestandener Zigarettenrauch hing in der Luft. Doch irgendwie mochte sie den Geruch. Das Zimmer war dunkel. Durch ihre geschlossenen Lider fiel kaum Licht, obwohl es nach ihrem Zeitempfinden mindestens Vormittag war. Rauchgeruch und Dunkelheit kreierten ein seltsames Gefühl von Geborgenheit.
Sie stöhnte und drehte sich auf die Seite. Sie hatte gut geschlafen, doch die Spuren der Nacht steckten ihr tief in den Gliedern. Und im Kopf. Das musste sie schmerzhaft feststellen, als sie ebendiesen heben wollte. Sofort meldete sich ein dumpfer Schmerz in ihren Schläfen. Ein Alarmsignal, dem sie nachgeben musste. Ihr Kopf fiel zurück ins Kissen, als wäre er aus Blei, und sie hielt es für schlauer, ihn erst einmal dort zu lassen.
Noch immer hatte sie die Augen nicht geöffnet, denn etwas hielt sie davor zurück. Es war das übliche Gefühl von Wonne und Glück, wenn man die Augen schloss und sich ausklinkte. Sie wollte das Gefühl nicht hergeben – selbst, falls sie wieder einschlief.
Geraume Zeit später hatte sich ein kontinuierliches Rumpeln in ihre Träume geschlichen. Ihre Müdigkeit erreichte nach vielen Stunden komatösem Schlaf einen Tiefpunkt. Sie beschloss, dass jetzt der richtige und für längere Zeit wahrscheinlich einmalige Zeitpunkt war, um aufzustehen.
Ein Schmerz, der sich von ihrem Kopf in ihre Arme ausbreitete, erinnerte sie unbarmherzig an ihren hemmungslosen Umgang mit dem Alkohol. Doch sie hielt stand und starrte für Sekunden auf einen Punkt an der gelblichen Wand, bis sich der Schmerz endlich legte. Dann wagte sie einen Blick in den Rest des Raums.
Er war ebenso klein wie vollgestopft. An den Wänden türmten sich Konserven, jedoch ordentlicher, als sie unwillkürlich von Nikolai erwartet hatte. Tarja sah über die Kante des Hochbetts, in dessen oberer Etage sie geschlafen hatte. Jetzt wurde ihr bewusst, woher das Rumpeln und die Ordnung kamen. Nikolai räumte auf.
Hin und wieder summte er Melodien und führte Selbstgespräche. Tarja lauschte ihm belustigt und wartete darauf, dass er an ihrer aufrechten Haltung erkannte, dass sie wach war.
Bis er sie bemerkte, hatte er schon Frühstück gemacht. Durch den warmen Duft von Rührei zog sich eine angebrannte Note, doch diese konnte Tarjas monströsen Appetit nicht lindern. Obwohl der Kater sie plagte, wollte sie am liebsten einen ganzen Elch verschlingen. … Elch? Ganz nüchtern war sie offenbar noch nicht. Doch sie fühlte sich besser als am Vortag.
Nikolai lachte verlegen, als ihm klar wurde, dass er beobachtet worden war. Tarja, der einfiel, wie mitgenommen sie aussehen musste, stimmte in sein Lachen ein.
»Ich habe ein Menü gemacht«, verkündete Nikolai feierlich.
Er bat sie an einen winzigen Tisch, der gerade für zwei Leute reichte, nachdem er ihn von leeren Wodka-Flaschen befreit hatte. Als Tarja die großzügige Portion Rührei mit Brot und Ketchup vor sich sah, wartete sie kein zeremonielles ›Guten Appetit‹ ab und machte sich gierig über das Mahl her. Auch das Wasser verschwand in Rekordzeit in ihrem Bauch.
Sie bedankte sich und half Nikolai beim Abräumen und Spülen, ohne dass peinliche Stille aufkam. Schließlich sagte sie: »Ich schulde dir was.«
»Du schuldest mir nichts. Wir hatten ein paar lustige Stunden.«
Er lachte aufheiternd. »Wir haben voneinander profitiert.«
Etwas in dieser Wortwahl rief in Tarja Skepsis hervor. Nicht, dass die Nacht im entferntesten unzüchtig gewesen war – dafür war der dubiose Straßenhändler mit viel zu viel Anstand gesegnet. Zumindest glaubte sie das. Aber erinnern … konnte sie sich nicht …
Tarja schluckte. Sie musste der Nacht schrittweise auf den Grund gehen. »Aber du hast mich vor dem Erfrieren bewahrt«, konterte sie. »Sowohl körperlich als auch emotional.«
»Willst du mir für den Rest deines Lebens dankbar sein? Komm«, schloss Nikolai fröhlich an, »wir gehen ein bisschen an die frische Luft.«
Tarja verspürte plötzlich Bewunderung für ihn. Seine Lebensenergie beflügelte sie.
Der Flur war baufällig, und von den Wänden schälte sich Tapete. Vertrauter Geruch von altem Beton drang in Tarjas Nase. Sie hatten in seiner alten Absteige in der Innenstadt geschlafen.
Sie liefen eine Weile an der frischen Luft, die den Kater milderte. Sie sprachen über dieses und über jenes. Ein derart ungezwungenes Gespräch hatte Tarja lange nicht mehr geführt. Ohne Hemmungen erzählten sie sich von privaten Angelegenheiten.
Da waren zum Beispiel die zahlreichen, häufig nicht mehr als einmonatigen Beziehungen, die Nikolai mit allerhand Frauen geführt hatte. Irgendwie, berichtete er nicht ohne Selbstmitleid, hatten alle bald von ihm die Schnauze voll gehabt. Vielleicht hatte er zu wenig verdient. Vielleicht hatten sie ihm krumme Geschäfte unterstellt. Oder vielleicht hatte er auch einfach zu oft anderen Frauen hinterhergeschaut. Natürlich alles ungerechtfertigte Vorwürfe!
»Aber so etwas wie dich habe ich noch nicht erlebt«, knüpfte Nikolai an und ließ Tarja in Schrecken erstarren. Nikolai grinste sie halb anklagend und halb schelmisch an. »Aber ich verzeihe dir, weil du betrunken warst und deinen Liebsten vermisst.«
»Was habe ich getan?«, warf Tarja entsetzt ein und war sich nicht sicher, ob sie die Antwort überhaupt hören wollte.
»Ja, ja, ja«, meinte Nikolai und schnalzte mit der Zunge. »Sei froh, dass ich so anständig bin! Und außerdem … zu besoffen war. Du hast dich zu mir ins Bett gelegt und mich Pavel genannt! Und eindeutige Signale gegeben.«
»Das erfindest du doch«, hoffte Tarja verzweifelt – doch das Stichwort hatte schemenhafte Erinnerungen wachgerufen …
Nikolai winkte lapidar ab. »Ich verzeihe dir! Es war sogar ganz süß, mit dir zu kuscheln. Ich hatte lange niemanden mehr zum Kuscheln.«
Tarja schoss das Blut in den Kopf, als sich die erste klare Erinnerung manifestierte: Sie sah sich in der unteren Bettetage sitzen. Erst neben Nikolai, dann auf seinem Schoß. Sie spürte das Kratzen seines Barts an ihrer Wange. Während die Dunkelheit die Züge des dreißigjährigen (und bestenfalls mittelmäßig attraktiven) Mannes verschleiert hatte, hatte sie ihn aus trotziger Überzeugung für Kirov gehalten.
»Habe ich dich geküsst?«, fragte sie hochrot.
»Nein.«
Fast bildete sie sich ein, dass er enttäuscht klang.
»Ich war standhaft«, erklärte er stolz, doch sie wusste nicht, ob das Ausbleiben eines Kusses nicht eher an ihr gelegen hatte. »Hattest du eigentlich vor Pavel schon einen Freund?«
Tarja seufzte. »Als wäre er mein Freund gewesen. Aber, um deine Frage zu beantworten: jein. Nicht wirklich. Aber ich habe zweimal mit älteren Jungen geschlafen. Ist zwei Jahre her. Irgendwie bereue ich das. Wirklich angezogen haben mich seit jeher nur reife Männer. Ich habe damals an einen halbwegs interessanten Kerl meine Unschuld verloren … Aber so dramatisch wie früher sehe ich das schon lange nicht mehr. Man hat Erfahrungen gesammelt, und streng gesehen hat es einem auch nicht geschadet …«
»Er hätte dich ruhig nehmen können, in der Nacht vor vier Tagen«, sagte Nikolai überzeugt.
Tarja ärgerte sich, dass sich schon wieder ein Kloß in ihrem Hals bildete. Sie sah ihre wunderbare Leichtigkeit in Gefahr.
Nikolai stieß sie an. »Beim nächsten Mal kriegst du ihn ganz!«
»Wie soll das gehen …?«
»Wenn du seine Leiche nicht gefunden hast, weißt du nicht, dass er tot ist!«
»Hm …«
Tarja hatte keine Lust, Einwände zu erheben. Irgendwie war ein Teil ihrer Trübsal sogar wie von Zauberhand weggeblasen. Ein bemerkenswerter Kerl, dieser Smirnoff …
Sie nahmen Kurs auf die GEIST-Basis. Tarja hielt das für besser, da man sich möglicherweise schon um sie sorgte. Sie erreichte das GEIST-Gelände mit einem besseren Gefühl, als sie es verlassen hatte. Trotz ihres Katers fühlte sie sich aufgetankt und entschlossen.
Sie klingelten am Tor und wurden, nachdem man sie über die Kamera geprüft hatte, eingelassen. Auch Smirnoff schien hier kein unbekanntes Gesicht zu sein. Sobald sie eingetreten waren, kam ihnen Kalinina entgegen.
»Ihr kennt euch?«, fragte sie erstaunt.
»Seit heute Nacht«, antwortete Nikolai, und Tarja fiel ein, dass sie ihn nicht geimpft hatte. Bevor sich Kalinina wundern konnte, erklärte Tarja so harmlos wie möglich: »Ich habe heute Nacht einen Spaziergang gemacht.«
Die Kommandantin wirkte nicht gerade geneigt, das leichtfertig hinzunehmen. Ein strenger Blick fuhr auf Tarja nieder, ehe sie ohne Umschweife verkündete: »Wir haben nach dir gesucht. Es gibt Neuigkeiten.«
Sie sah zu Nikolai. »Smirnoff, bitte entschuldigen Sie. Das ist eine vertrauliche Angelegenheit.«
Nikolai nickte. »Ist okay, ist okay. Ich kenne das ja nicht anders. Ihr seid meine Lieferanten, aber trotzdem gehen mich eure Geheimnisse nichts an.«
Er salutierte gespielt vor Kalinina. »Mittwoch wieder die Lieferung?«
Kalinina nickte ihm wohlwollend zu. »Ja. Wie üblich.«
Nikolai machte kehrt und winkte Tarja hinterher. »Tarja, lass nie den Kopf hängen! Du hast das Feuer in dir. Glaub daran!«
Trotz dieser etwas plumpen Aufmunterung musste Tarja lächeln. Vielleicht war tatsächlich nicht alles so schwer, wie es ihr geschienen hatte.
»Danke!«, rief sie ihm nach. »Wir sehen uns!«
Als Nikolai durch die Tür verschwunden war, wandte sich ihr Kalinina zu. Sie sah ernst aus. Tarja wurde mulmig zumute.
»Bei Sokolskaja ist gestern ein anonymer Hinweis eingegangen. Du und Yuri, ihr seid erkannt worden. Ich weiß nicht, wie viele Tage das schon zurückliegt, aber jemand hat offensichtlich aufmerksam dem Radio gelauscht. Sokolskaja weiß, dass ihr hier seid. Wir haben heute Morgen mit der Zentrale telefoniert.«
Die Nachricht traf Tarja wie ein Meteorit. Sie schnappte nach Luft und versuchte vergebens, das Gehörte zu verarbeiten.
»Die Garde hat uns angeheuert, der Sache nachzugehen. Wir haben behauptet, euch nicht zu kennen. Nun stellt sich die Frage, wie wir weiterhin vorgehen.«
Tarjas eben gewonnene Stärke rann ihr wie Sand durch die Finger.
»Ihr sagt, dass es ein Missverständnis war«, stammelte sie. »Dass wir verwechselt worden sind.«
»Eine Möglichkeit, ja. Eventuell werden dann aber andere bezahlte Agenten auf euch angesetzt. Ich schätze, dass Sokolskaja außerhalb der Armee noch weitere Beziehungen als uns hat.«
»Seit wann habt ihr Beziehungen zur Garde?«, fragte Tarja blass.
»Schon lange. Aber nur lose. Es ist ein gegenseitiges Geben und Nehmen, aber sie wissen nur das Nötigste über uns. – Sie haben uns viel Geld geboten, wenn wir euch beide finden.«
Tarja ballte die Hände zu Fäusten. »Wer hat uns verraten? Die Punks vielleicht?« Sie spürte die Lust, jemanden zusammenzuschlagen. »Die Typen kennen Yuris und meinen Namen.«
Yuri hat sich mit ihnen angefreundet und ihnen einfach unsere Namen gesagt. Und ich habe nicht aufgepasst und sie nicht daran gehindert. Jetzt hat Jaro einen Groll gegen uns und hat uns verpetzt.
Sie fluchte laut.
Kalinina zuckte die Schultern. »Möglich.«
»Wir müssen raus aus Stalnovsk, richtig?«, schlussfolgerte Tarja. Sie schloss die Möglichkeit, dass Kalinina scharf auf das Kopfgeld war und die Schwestern dafür auslieferte, aus.
Nicht morgen, nicht übermorgen, nicht in ein paar Tagen. Nein, gleich heute mussten Tarja und Yuri die Stadt verlassen, um weiter nach Sibirien zu reisen. Sie schluckte. Vielleicht war es gar nicht so verkehrt. Vielleicht war das eine Chance, sich endlich aus ihrem Elend zu lösen. Wieder in die Zukunft zu schauen. Irgendetwas anderes zu tun, als tagelang betrunken in der Ecke zu liegen.
»Ja. Es muss alles kurzfristig organisiert werden.«
Kalinina ging voran. »Komm mit, lass uns im Sitzen darüber reden.«
Kurz darauf saßen sie in einem kleinen Aufenthaltsraum. Yuri und Henry waren ebenfalls anwesend. Es schien, als hätten sich die drei bereits besprochen.
»Tarja!« Yuri sprang auf und fiel ihr um den Hals. Tarja hielt mit Mühe das Gleichgewicht. »Mann, hatten wir Angst um dich!«
»Aber ich war doch gar nicht so lange weg«, murmelte Tarja. Sie war ein bisschen beschämt.
»Hast du mal auf die Uhr geguckt? Halb drei!«, warf Henry ein, nachdem er auf seine Armbanduhr geschaut hatte.
»Habt ihr gedacht, ich stürze mich irgendwo kopfüber vom Haus?«
»Nein, aber diese Nacht war verdammt eisig«, entgegnete Kalinina. »Wir haben befürchtet, du holst unabsichtlich nach, dass du beim Absturz der MiG nicht gestorben bist.«
Ihre rohe Wortwahl führte Tarja vor Augen, dass sie tatsächlich ziemlich selbstzerstörerisch gewesen war. Aber nicht in dem Maße, das ihr Kalinina vorwarf.
»Ich wäre eben die ganze Nacht durch die Stadt gewandert, wenn ich nicht Smirnoff begegnet wäre«, rechtfertigte sie sich mürrisch.
»Was, du hast jemanden kennengelernt?«, wunderte sich Yuri.
»Unseren städtischen Spirituosen-Händler«, sagte Kalinina trocken. »Und mit dem hast du dann eine reichlich durchzechte Nacht genossen, was?«
»Ja, das habe ich«, sagte Tarja mit ärgerlichem Unterton. »Er hat mir Trost geschenkt.«
Sie ließ absichtlich aus, inwiefern er das hatte. Allerdings hoffte sie trotzdem, dass man ihre zerzauste Mähne nicht fehlinterpretierte.
»Kommen wir zum Punkt«, leitete die Kommandantin zu dem unerfreulichen Thema über, das sie hier zusammengeführt hatte.
Tarja schnappte sich einen Stuhl.
»Du denkst, die Punks haben uns verraten, oder, Tarja?«, fragte Yuri ahnungsvoll.
»Wer sonst?« Tarja gab sich keine Mühe, ihren Zorn zu verbergen.
»Ich kann mir das nicht vorstellen«, sagte Yuri zerknirscht. »Sie sind alle gegen die Russische Garde und jede Form der Autorität. Sie würden gegen ihre eisernen Prinzipien verstoßen, wenn sie uns einfach verraten würden!«
»Jaros Prinzipien sind genauso stark wie seine Liebe zu dir, was?«, sagte Tarja sarkastisch. »Ich erinnere dich daran, was er sagte, als du dich von ihm verabschiedet hast: ›Glaub ja nicht, dass ich dich vermissen werde!‹«
»So sehr kann er uns nicht hassen«, widersprach Yuri. Doch auch sie schien von ihren eigenen Worten nicht eindeutig überzeugt. »Ich weiß, dass Jaro Probleme mit sich selbst hat. Aber so ein Arschloch … ist er nicht.« Jetzt sah sie Tarja in die Augen und wirkte sicherer. »Wenn ich herausbekomme, dass es anders ist, werde ich den Kerl lebendig in Stücke reißen.«
Ein kurzes Schweigen kam auf.
»Wie und wann brechen wir heute auf?«, kehrte Tarja zum Hauptgegenstand der Unterhaltung zurück.
»Tarja, wir haben nachgedacht. Es ist vielleicht gar nicht so klug, jetzt nach Novosibirsk zu fahren«, leitete Henry ein.
»Was denn sonst?!« Das wurde ja immer bunter. »Sollen wir hierbleiben und uns fassen lassen? Oder vielleicht irgendwo untertauchen?«, fiel ihr ein.
Dieser Gedanke war gar nicht einmal so übel. Plötzlich dachte sie an Borodin und Lavensk. Borodin war vielleicht die einzige Person, die ihre Trauer über Kirovs Verschwinden wirklich angemessen nachempfinden konnte. Ein Stich fuhr durch ihre Brust. Wusste Borodin überhaupt schon von dem Unheil?
»Wir haben vielmehr daran gedacht, nach Sokolskaja zurückzukehren«, kam es von Yuri.
Tarja, die gerade ein Glas Wasser in die Hand genommen hatte, stellte es hastig wieder ab. Entgeistert starrte sie ihre Schwester an. Sie fand nicht einmal Worte für diese Idee.
»Es dient letztlich eurer Sicherheit«, brachte sich Kalinina seufzend ein. »Und wir haben an einem Plan gefeilt, der euch glimpflich aus der Sache herauskommen lässt.«
»Was soll das bitte für ein Plan sein?!«, schrie Tarja.
Sie war außer sich. Träumte sie?! Waren jetzt alle durchgedreht?
»Wir sind Deserteure! Sie werden uns erschießen! Und wenn sie uns nicht erschießen, dann werden wir wahrscheinlich im Scheinkrieg mit der United Force sterben! Ich will nicht wissen, wie viele der Flugschüler schon draufgegangen sind!«
Ein Thema, dem sie geistig lange ausgewichen war. Nun musste sie es, so unangenehm es war, als Argument gebrauchen.
»Momentan herrscht Waffenruhe«, erklärte Kalinina. »Und GEIST bleibt weiter an den Fall dran. Wir werden alles daran setzen, zu erfahren, was Blaydow wusste und wie wir dieses Wissen nutzen können. Wir schicken unsere besten Agenten nach Sibirien. Tarja, Yuri – wir bleiben in Kontakt. Im Zweifelsfall sind wir an eurer Seite und holen euch wieder aus Sokolskaja heraus – wenn es wirklich zu eng wird.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Tarja schleppend. »Welchen Vorteil soll es denn haben, zurückzukehren?«
»Du verstehst nicht, Tarja«, sagte Yuri gequält. »Wenn die Generalränge erst eine Ahnung davon haben, dass wir hier sind, dann werden sie einiges daran setzen, uns auch zu finden.«
»Aber Sokolskaja vertraut GEIST doch genug, um zu glauben, dass es nur eine falsche Fährte war. Eine von … was weiß ich wie vielen, die bestimmt schon eingegangen sind.«
»GEIST ist nicht der einzige käufliche Informant der Garde«, gab Henry zu bedenken. »Möglich, dass jetzt schon einige an euch dranhängen.«
»Aber GEIST wird doch wohl die erste Instanz sein, die hier informiert worden ist? Wir sollten schlicht und einfach schnell hier abhauen, dann kriegen sie uns nicht. Zur Not färben wir uns eben noch die Haare!«
»Tarja«, sagte Henry. Er klang ebenso eindringlich wie bedauernd. »Sokolskaja weiß seit gestern, dass ihr in Stalnovsk seid. Das ist keine lange Zeitspanne, aber für jemanden, der euch unbedingt zurückhaben möchte, genug, um bereits … zig Leute losgeschickt zu haben.«
»Dann schnell raus aus der Stadt«, sagte Tarja verzweifelt.
»Tarja …«, flehte Yuri. »Wir müssen unterscheiden zwischen der Garde und unseren korrupten Generalrängen. Es wäre bei gewöhnlichen Deserteuren vollkommen unangemessen, eine Suchaktion zu starten. Doch General Swetlanov persönlich ist hinter uns her! Er wird verbissen nach uns suchen, jetzt, wo er eine Spur hat.«
Tarja nahm endlich einen Schluck Wasser.
»Ich glaube, ich verstehe allmählich«, sagte sie zu Kalinina. »Sie halten GEIST nicht für mächtig genug, um uns vor den Generalrängen zu beschützen.«
Kalinina seufzte. Sie behielt den Blickkontakt bei. »Und vor seinen geschätzten hundert Handlangern. Zugegeben. Genau das ist der Punkt.«
Das Schweigen dauerte lange. Tarja ging im Kopf die Möglichkeiten durch, die sie jetzt noch hatte. Sofort kam ihr die Idee, sich nicht auf GEIST zu verlassen und auf eigene Faust aus der Stadt zu gelangen. Sie würde sich die Haare färben, sich in Lumpen werfen und mit ihrer wichtigsten Habe zu Fuß die Stadtmauern verlassen. Sie würde mit Yuri einen Zeit- und Treffpunkt irgendwo außerhalb Stalnovsks ausmachen. Das alles musste sehr schnell gehen.
»Keine Sorge«, sagte sie zu Kalinina. »Ich werde mich verkleiden und die Basis verlassen. Ich kann verstehen, dass Sie nicht mit in den Feldzug der Generalränge hineingezogen werden wollen. Yuri und ich, oder zumindest ich, werde Stalnovsk eigenständig verlassen. Dann hat GEIST nichts mehr mit uns zu schaffen.«
Sie sprach finster, da sie sich von Kalininas offensichtlicher Feigheit ein wenig verraten fühlte. »Ich werde mich niemals freiwillig stellen, da sie uns dann sowieso lebendig zerreißen werden.«
»Nein, eben nicht«, sagte Kalinina, ohne zu zögern. »Wir haben einen Plan ausgearbeitet, der euch heil davonkommen lässt.«
Tarja stellte das Glas zurück und verschränkte schnaubend die Arme. »Der da wäre?«
»Die Generalränge halten euch für Deserteure. Eure Kameraden und der Rest des Stützpunkts hingegen für Entführungsopfer der UF. Aus diesem Grund gibt es zwei verschiedene Versionen der Geschichte, die ihr auswendig lernen müsst. Beide Versionen stimmen nicht mit der Wahrheit überein.
Folgende Version erzählt ihr euren Kameraden: Ihr seid vor etwa sieben Wochen bei einem harmlosen Manöver nahe Orelskaja von der Gruppe getrennt worden und in die Hände der UF geraten. Allerdings bekam die UF aus euch wenig Informationen heraus, da ihr einfache Rekruten seid. Außerdem hat man sich von euch weniger Lösegeld versprochen, als ihr durch Zwangsarbeit zu leisten in der Lage wart. Folglich hat man euch zum Schuften abkommandiert. Euer Entführungs-Bataillon ist gen Osten gereist. Vor vier Tagen gab es die Ausschreitungen bei Basis 55 zwischen der Garde und der UF. Ihr habt das Chaos genutzt, um zu fliehen. Ihr seid zwei Tage durch die Wildnis geirrt und am dritten Tag in Stalnovsk gelandet. Orientierungslos wolltet ihr euch zusammenraufen und entscheiden, wie ihr Sokolskaja kontaktiert. Glücklicherweise hat euch ein Bürger aus den Radiodurchsagen erkannt und die Garde informiert. Parallel dazu ist GEIST losgezogen und hat euch streunende Mädels aufgegabelt. Wenn ich mich gleich bei Sokolskaja melde, dann haben wir euch offiziell vor einer halben Stunde gefunden.«
Tarja schluckte. »Und die Variante, die die Führungsspitze erfährt?«
»Es stimmt. Ihr seid damals am dritten September widerrechtlich vom Stützpunkt Orelskaja geflüchtet, dazu noch mit einem gestohlenen Wagen und gestohlener Ausrüstung. Das geschah zu dem Zweck, den zum Tode verurteilten Kommandanten Pavel Kirov aus dem Schwarzen Dunst zu retten. Yuri hat durch raffiniertes Nachforschen die Hintergründe erfahren. Sie hat in einer Akte von Kirovs Verschwinden gelesen, als sie sich – was den Offizieren ohnehin längst bekannt sein muss – nachts ins Hauptgebäude geschmuggelt hat. Ihr waren die angeblichen Gründe von Kirovs Verbannung bekannt. Aber da sie Kirov auf persönlicher Ebene sehr mochte, hat sie sich gemeinsam mit ihrer Schwester Tarja für Kirovs Rettung entschieden.
Ihr jungen Mädchen habt überstürzt und reichlich unüberlegt gehandelt. Doch durch großes Glück konntet ihr Kirov tatsächlich finden und ins nächstgelegene Dorf fahren. Ein alter Arzt hat euch aufgenommen und Kirov versorgt. Leider ist Kirov an einer Lungenembolie gestorben, ausgelöst durch einen Projektilsplitter, der in seine Blutbahn geraten ist. Auch der alte Arzt hat es nicht mehr lange gemacht und nur wenige Tage später das Zeitliche gesegnet.
Da ihr euch nicht länger in seinem Haus verstecken konntet, seid ihr ziellos weitergefahren. Ihr habt für euer Vergehen schwere Strafen, wie schlimmstenfalls die Hinrichtung, befürchtet. Das hat euch von der Rückkehr abgehalten. Sicherheitshalber habt ihr den lädierten Einsatzwagen gegen ein altes, aber fahrtüchtiges Modell getauscht, mit dem ihr irgendwann in Seriy Stalnovsk gelandet seid … Hier hat man euch entdeckt.«
Tarja holte mehrmals tief Luft. »Und das wird der Führungsspitze reichen, um uns am Leben zu lassen?«, krächzte sie.
»Ihr werdet zu Propagandamitteln. Sie können euch nicht einfach umbringen. Ihr seid die Überlebenden, die tapfer dem Feind entronnen sind! Außerdem wird man euch unter Drogeneinfluss verhören. Ihr werdet die einstudierte Version vortragen, weil Doktor Fleischer euch ein Antiserum vorbereitet hat.«
Tarja dachte sofort an Kirovs Mittelchen, mit dem er Fleischer ausgetrickst hatte. Wieso hatte Fleischer damals keinen Verdacht geschöpft? Doch das interessierte sie gerade am wenigsten.
»Wir sind immer noch Deserteure. Wenn sie uns nicht töten, dann werden sie uns zu niederen Aufgaben verdonnern. Nein«, sagte sie entschlossen. »Ich lasse mir von Fleischer das Antiserum spritzen und lerne die Versionen auswendig. Aber danach versuche ich die Flucht.«
»Ich kenne die Russische Garde«, sagte Kalinina. »Ob ihr's glaubt oder nicht, aber Desertion ist dort nicht unbedingt ein Einzelfall. Es gibt eine ungeschriebene Frist von einem halben Jahr. Kehren die Übeltäter bis dann zurück, werden sie begnadigt. Außerdem darf ja niemand wissen, dass ihr Deserteure seid. Wenn sie euch Strafarbeiten anhängen, werden das eure Kameraden hinterfragen. Sicherheit geht den Generalrängen vor. Da werden sie wohl darauf verzichten, euch großartig zu knechten.«
Fleischers gruselige Präsenz war Tarja heute egal. Vielmehr verspürte sie sogar Dankbarkeit.
Der Doktor wies Tarja und Yuri an, eine beliebige Armbeuge freizulegen.
»Mein Impfstoff hält zwei Wochen lang«, erklärte er, während er die Spritze sterilisierte und das Serum hochzog. »Der Stoff bewirkt eine Immunität gegen die geläufigsten Substanzen, die der Volksmund als Wahrheitsseren kennt. Er wirkt relativ universell gegen Barbiturate, halluzinogene Drogen und Opiate. Während eurer Befragung unter vermeintlichem Drogeneinfluss werdet ihr eure erfundene Geschichte erzählen.«
»Wie können wir wissen, dass sie überhaupt Drogen einsetzen?«, fiel Tarja plötzlich ein. »Und uns nicht … foltern?!«
»Die Russische Garde kann mit traumatisierten Mitgliedern nichts anfangen«, meinte Fleischer überzeugt. »Ihr sollt so bald wie möglich in den regulären Dienst zurück. Sokolskaja will eure heldenhafte Befreiung sicherlich als Propagandamittel breittreten. Eure Kameraden sollen euch nicht als zerstörte Häufchen Elend begrüßen.«
Tarja kniff bei dem Pikser die Augen zu. Die farblose Flüssigkeit verschwand langsam in ihrer Blutbahn.
»Haben Sie den Wirkstoff selbst entwickelt?«, fragte sie bewundernd.
»Zur Hälfte. Unter normalen Umständen verschwindet die Wirkung nach zwei bis fünf Tagen. Doch ihr zwei habt das Glück, dass Petrov-Kinder ein zu langsam arbeitendes Enzym besitzen. Diese Eigenart optimiert den Wirkstoff für euch.«
»Hat das Zeug denn Nachteile?«, fragte Tarja vorsorglich.
»Ich würde in der Zeit keinen Alkohol trinken«, antwortete Fleischer grinsend. »Dann könnte es passieren, dass ihr spontan ohnmächtig werdet, dass das Serum seine Wirkung verliert, oder dass noch unschönere Dinge passieren, die ich nicht vorhersehen kann.« »Verstanden«, sagte Tarja sofort, obwohl ihr ernüchternd klar wurde, dass sie den Frust über Kirovs Tod – Kirovs Verschwinden, korrigierte sie sich energisch – von nun an anders bewältigen musste.
Fleischer injizierte auch Yuri den Wirkstoff. Währenddessen sagte er etwas, das Tarja sprachlos machte. »Kirov hat vor ein paar Wochen die unmodifizierte Version dieses Wirkstoffes verwendet, um gegen mein Serum immun zu sein. Um mir zu verschweigen, dass ihr den Termin eures Aufbruchs selbst wählen wolltet.«
Tarja wusste nicht, was sie sagen sollte.
»Natürlich hatte ich damit gerechnet. Ich habe ihm nur eine wirkungslose Scheindroge verpasst. Seltsamerweise sprang er darauf an«, erinnerte sich Fleischer amüsiert. »Ihr könnt ihm danken! Das hat mich auf diese Idee gebracht.«
Falls es ihn noch gibt, dachte Tarja zerknirscht.
»Wieso haben Sie nicht eingegriffen?«, fragte sie argwöhnisch.
»Es war mir egal«, entgegnete Fleischer. Vermutlich rührte seine Ehrlichkeit daher, dass Kalinina nicht im Raum war. »Ich finde es affig, Leute zu verpflichten. Kirov hat GEIST seine Dienste erwiesen, darauf kommt es an.«
»Vielleicht hätte er das besser nicht getan«, sagte Tarja finster.
Doch gleichzeitig fand sie, dass Fleischers Ansicht überraschend menschlich war.
»Aber danke, dass Sie es für sich behalten und nicht der Kommandantin erzählt haben.«
»Ja, Franky«, pflichtete Henry bei. »Das ist echt korrekt von dir.«
»Du kannst über mich denken, was du willst«, sagte Fleischer. »Aber eine Petze war ich nie.«
»Wenn wir uns freiwillig stellen, ist die Chance höher, dass wir auf Sokolskaja freundlich aufgenommen werden«, sagte Yuri eindringlich.
Tarja war dabei, sich umzuziehen. Sie suchte im Fundus von GEIST nach alten, möglichst verschlissenen Klamotten und einer großen Mütze, in der sie die Haare verbergen konnte. Denn Färbemittel gab es nicht, und sich die Haare abzurasieren … das kam selbst in einer Grenzsituation wie dieser nicht für sie infrage. Ob mir diese falsche Eitelkeit noch das Genick brechen wird?
»Yuri hat recht«, kam es von Kalinina. »Wenn ihr jetzt versucht, Stalnovsk getarnt zu verlassen, und sie euch kriegen, dann ist ihnen klar, dass ihr wusstet, dass nach euch gefahndet wird.«
»Vielleicht setzen sie bald Hunde ein«, erwog Yuri besorgt. »Tarja, du solltest dieses Risiko wirklich nicht eingehen!«
Tarja hielt in der Bewegung inne. Sie hatte gerade die Größenangabe in einer weiten Männerhose studiert und ließ das Kleidungsstück wieder sinken. Sie musste einsehen, dass die Einwände der beiden ziemlich berechtigt waren.
»Aber ich will nicht aufgeben«, murmelte sie schwach.
»Es ist kein Aufgeben, sondern einfach kein leichtfertiges Riskieren eures Lebens«, argumentierte Kalinina. Sie klang trotz ihres überzeugenden Tonfalls weicher als sonst. »GEIST wird weiterhin an dem Komplott dranbleiben. Wir werden nach Blaydow oder seinem Vermächtnis suchen.«
Tarja registrierte aus dem Augenwinkel, dass Kalinina ihren Blick suchte. Doch Tarja sah nicht zurück.
»Und wir bleiben mit euch in Kontakt. Versprochen.«
Tarja musste noch mehrere Augenblicke in die Kammer starren, ehe sie einen Schritt tat, den sie nicht für möglich gehalten hatte: Sie ließ die Hose auf den Kleiderhaufen fallen. Und sich selbst gleich hinterher.
Die Sonne war vor 18 Uhr untergegangen. Es tanzten die ersten, zarten Schneeflocken vom Himmel. Tarja hatte lange draußen gesessen. Hier, auf der Dachterrasse der GEIST-Basis, war der Ausblick über die Stadt grandios. Obwohl längst die Dunkelheit hereingebrochen war, blieb sie sitzen. Sie saß einfach da und ließ sich auf die innere Leere ein, die sie davon abhielt, irgendetwas zu fühlen.
»Es ist soweit.«
Sie hatte die Schritte hinter sich gehört, aber wollte nicht darauf reagieren.
»Wir bewahren eure Kleidung und eure Waffen hier für euch auf.«
Tarja nickte. Nachdem sie schließlich eine halbe Minute geschwiegen hatte, drehte sie sich zu Henry um.
»Dass es alles so kommen musste«, seufzte sie deprimiert.