Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske - Bethany Griffin - E-Book

Die Stadt des roten Todes - Das Mädchen mit der Maske E-Book

Bethany Griffin

4,5
9,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Eine junge Frau zwischen Licht und Schatten, zwischen Leben und Tod

Die Stadt ist von der Umwelt abgeschnitten, ganze Straßenzüge liegen in Ruinen. Der Regent feiert wilde Feste, während die Bevölkerung von einer schrecklichen Seuche dahingerafft wird. Nur eine kleine Oberschicht kann sich durch kostbare Masken vor der Krankheit schützen. So auch die junge Araby. Doch unter der Last einer großen Schuld sucht sie Vergessen in den Nachtclubs der Reichen. Dort begegnet ihr der faszinierende, verführerische William. Und Elliott, tollkühn, ein Revolutionär. Beide werben um Araby. Und sie muss sich entscheiden, ob sie sich dem Leben stellen und kämpfen will. Um ihre Liebe. Um Vergebung für ihre Schuld. Und um die Zukunft.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 399

Bewertungen
4,5 (26 Bewertungen)
17
4
5
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Buch

Die siebzehnjährige Araby führt ein privilegiertes Leben. Vor Jahren brach in ihrer Heimat eine tödliche Seuche aus, vor der nur das Tragen einer Porzellanmaske schützt, und Araby besitzt eine solche. In seinem Stadtstaat führt Prinz Prospero eine Schreckensherrschaft, unterdrückt das Aufbegehren der hungernden Massen und feiert dekadente Feste.

Doch sosehr Araby auch versucht, den Erwartungen ihrer einflussreichen Eltern zu entsprechen und das Elend um sie herum zu ignorieren – es gelingt ihr nicht. Ihr einziger Antrieb ist eine tief verwurzelte Todessehnsucht, genährt von schrecklichen Schuldgefühlen seit dem Tod ihres Bruders. Seitdem sucht sie Vergessen in einem rauschhaften, zügellosen Leben. Einziger Lichtblick ist William, Manager des Nachtclubs, dessen Räume sie und ihre beste Freundin April Abend für Abend durchstreifen. Williams geheimnisvolle Schönheit übt eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf April aus. Sie glaubt, ihm gleichgültig zu sein. Doch auch William ist längst auf sie aufmerksam geworden. Er ahnt nicht, dass er bald mit einem der mächtigsten Männer des Fürstentums um Araby wird kämpfen müssen. Denn Prinz Prosperos Neffe will eine Revolution anzetteln – und Araby spielt eine wichtige Rolle in seinem Plan. Sie muss sich entscheiden: zwischen zwei Männern, die unterschiedlicher nicht sein könnten; zwischen einem Leben im Luxus und einem fast aussichtslosen Kampf um ein neues, besseres Leben; zwischen Vernunft und Liebe …

Autorin

Bethany Griffin ist Highschool-Lehrerin. Zusammen mit ihren zwei kleinen Kindern und ihrem Ehemann lebt sie in Kentucky und widmet jede freie Minute dem Schreiben. Mit »Das Mädchen mit der Maske« erobert sie nun auch das Gebiet des Fantastischen. Mehr zur Autorin und ihren Büchern unter

www.bethanygriffin.com

Bethany Griffin

Die Stadtdes roten Todes

Das Mädchen mit der Maske

Band 1

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Andrea Brandl

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2012unter dem Titel »Masque of the Red Death« bei Greenwillow Books,an Imprint of HarperCollinsPublishers, New York.

1. AuflageDeutsche Erstausgabe Dezember 2012Copyright © der Originalausgabe 2012 by Bethany GriffinCopyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2012by Wilhelm Goldmann Verlag, München,in der Verlagsgruppe Random House GmbHUmschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, MünchenUmschlagmotiv: Monalyn Gracia/Corbis; FinePic®, MünchenRedaktion: Eva WagnerTh · Herstellung: Str.Satz: DTP Service Apel, HannoverISBN 978-3-641-08332-8www.goldmann-verlag.de

Für Lee, der fast immer recht hat,es aber so gut wie nie raushängen lässt

EINS

Kalter Regen fällt vom schiefergrauen Himmel, als wir an einer Kreuzung abrupt zum Stehen kommen. Ein schwarzer Karren blockiert die Straße, und obwohl wir in einer gepanzerten Kutsche sitzen, macht der Fahrer keine Anstalten, sich daran vorbeizudrängen.

Stämmige Männer schleppen etwas zu ihrem Karren. Jemanden. Einer von ihnen gerät ins Straucheln, worauf die Leiche grotesk zwischen ihnen zu schaukeln beginnt.

Ich höre meine Freundin April hinter ihrer Maske würgen. »Was für ein Pech, dass die Maske, die dein Vater entwickelt hat, nur vor der Ansteckung, aber nicht vor diesem widerlichen Gestank schützt.«

Werden die Leute, die noch im Haus sind, heute Nacht frieren müssen, wenn sie ihre Toten in ihre einzigen Decken hüllen? Nicht besonders klug von ihnen.

Die Leichensammler tragen dünne, lappige Stoffmasken, die völlig nutzlos als Schutz vor Ansteckung sind. Sie zerren ihren Karren gerade einmal hundert Meter weiter, dann halten sie erneut an. Es scheint sie nicht zu kümmern, dass sie den Verkehr aufhalten. Ihnen ist es völlig egal, dass wir auf dem Weg in den Debauchery District sind, um es so richtig krachen zu lassen.

Der Debauchery District. Allein der Name lässt mich erschaudern.

Gerade als ich mich April zuwende und über die Verspätung schimpfen will, schiebt jemand ein Mädchen aus einer Tür auf die Straße heraus.

Sie hält etwas in den Armen. Dass sie genau dann auftaucht, als die Leichensammler ihre tägliche Runde machen, kann kein Zufall sein. Weitere Gestalten erscheinen im Türrahmen – möglicherweise sind es die Bewohner des Hauses. Ich habe Angst vor ihnen, weil keiner von ihnen eine Maske trägt, nicht einmal eine aus Stoff.

Einer der Leichensammler tritt auf das Mädchen zu. Bis zu diesem Augenblick habe ich mir gewünscht, er möge sich beeilen, doch nun erfüllt mich jeder seiner schweren Schritte mit Furcht.

Das Mädchen ist zierlich und trägt ein uraltes Kleid, dessen Säume gekürzt wurden, damit man ihre Arme und Beine sehen kann. Trotzdem kann ich im trüben Licht nicht erkennen, ob sie die Male der Krankheit trägt oder nicht. Die Menschen im Haus bedeuten ihr, dem Mann das Bündel zu geben, doch sie wendet sich ab. Man braucht nicht viel Fantasie, um zu erahnen, dass es sich bei dem Bündel in ihren Armen um ein Baby handelt.

Sie hebt das Gesicht in den strömenden Regen. Ihre Verzweiflung ist förmlich mit Händen greifbar.

Ich weiß nicht, wie es mir gelingt, die Tränen von den Regentropfen zu unterscheiden, die ihr übers Gesicht strömen. Aber ich kann es.

Unsere Blicke begegnen sich.

Etwas rührt sich in mir – die erste echte Empfindung an diesem Tag, abgesehen von einer vagen Vorfreude auf heute Abend. Doch was in mir aufsteigt, ist in Wahrheit nur eine nagende Übelkeit – nichts, worüber man sich freuen würde.

In diesem Moment tritt ein junger Mann aus den Überresten des Hauses, dessen Dach höchstwahrscheinlich im Zuge irgendeines sinnlosen Aufstands weggerissen und später mit einer Plane abgedeckt wurde. Das Mädchen wendet den Blick ab. Er packt sie und dreht sie an den Schultern herum. Ich frage mich, ob er der Vater des Kleinen ist, ob ihm das leblose Bündel etwas bedeutet hat oder ob er nur die Krankheit von sich abwenden will; jenen Ausschlag, der einen dicken Schorf bildet und sich durch die Haut frisst. Hat man sich erst einmal damit angesteckt, gibt es kein Entrinnen. Der Tod kommt unweigerlich. Nur wenn man Glück hat, geht es sehr schnell.

Ich versuche das Alter der jungen Mutter zu schätzen. Nach ihrer Körperhaltung zu schließen, muss es ein blutjunges Mädchen sein.

Vielleicht fühle ich deshalb diese Verbindung zu ihr. Weil wir im selben Alter sind.

Vielleicht liegt es auch daran, dass sich unsere Blicke begegnet sind. Normalerweise sehen sie uns nicht an.

Die Trauer des Mädchens ist ein blindwütiger, alles verschlingender Schmerz, und aus irgendeinem Grund kann ich ihn nachempfinden, obwohl mein Inneres eigentlich taub sein sollte. Als die Männer ihr das Baby aus den Armen reißen, überfällt mich ein tiefes Gefühl des Verlusts. Am liebsten würde ich die Arme ausstrecken und sie anflehen, aber April würde mich wahrscheinlich nur auslachen.

Meine Knie beginnen zu zittern. Was ist nur los mit mir? Ich bin den Tränen nahe. Wenigstens sieht mich keiner genau genug an, um zwischen Tränen und Regentropfen unterscheiden zu können.

Die Männer werfen das tote Baby auf den Karren.

Als ich mir das Geräusch vorstelle, das der winzige Körper macht, zucke ich zusammen, obwohl ich lediglich das Rumpeln des Wagens und Aprils genervten Seufzer höre.

»Eigentlich sollten sie froh darüber sein«, sagt sie. »Mein Onkel blättert ein Vermögen dafür hin, dass die Leichen entsorgt werden. Sonst wäre die Unterstadt längst unbewohnbar.«

Würde ich April mit ihrem silbernen Glitzerlidschatten aus der offenen Kutsche stoßen, würde sich die Meute am Straßenrand ganz bestimmt auf sie stürzen und sie töten. Würde ich ihr die Maske herunterreißen, wäre sie innerhalb weniger Wochen tot.

Sie versteht all das nicht. Sie ist in den Akkadian Towers aufgewachsen und war nie draußen auf der Straße. Zumindest nicht hier und auch nicht einen halben Block westwärts, wo ich früher einmal in vollständiger Dunkelheit leben musste. Aber davon weiß sie nichts, und sie wird es auch nie erfahren.

Trotzdem kann ich ihr nicht böse sein. Ich lebe für April, für die Stunden mit ihr, in denen sie mich vergessen lässt, und für die Orte, zu denen sie mich mitnimmt. Vielleicht hat sie ja recht, und die Leute können tatsächlich froh sein, dass die Männer ihnen die Leichen aus den Armen reißen.

Aus dem Augenwinkel registriere ich dunkle, schemenhafte Gestalten zwischen zwei Gebäuden auftauchen. Ich kneife die Augen zusammen, doch sie kommen nicht aus der Düsternis heraus. Angst überfällt mich. In dieser Gegend kann es schnell gefährlich werden. Die Leichensammler marschieren zur nächsten, mit einer roten Sense markierten Tür, verschwinden in den Schatten und treten wieder ins Licht. Ihre Gleichgültigkeit lässt die verzweifelten Versuche der verhüllten Gestalten, im Verborgenen zu bleiben, noch deutlicher erscheinen.

April bekommt nichts von all dem mit.

Unter einem dunklen Umhang lässt sich so gut wie alles verbergen. Unser Fahrer stößt einen Fluch aus und macht eine scharfe Wendung. Endlich gelingt es ihm, an dem Leichenkarren vorbeizumanövrieren. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, sind die Männer mit ihren Umhängen bereits mit den Schatten verschmolzen.

Wenigstens können wir uns wieder unserem abendlichen Vergnügen widmen.

Wir biegen um eine Ecke. Unser Ziel kommt in Sicht. Es befindet sich in einer kleinen Senke, so als wäre der gesamte Häuserblock ein paar Meter abgesackt. Über dem höchsten Gebäude des Viertels schwebt ein Heißluftballon. Obwohl man den Schriftzug nicht erkennen kann, weiß jeder hier, dass er das Markenzeichen des Debauchery Districts ist.

Der Ballon ist eine schwebende Erinnerung – nicht daran, dass wir früher alles Mögliche erfunden haben und umherreisen konnten; vielmehr erinnert er die Leute daran, dass sie, wenn sie hierherkommen und genug Geld mitbringen, für ein paar Stunden hässlichen Dingen wie Tod und Krankheit entfliehen können.

»Du bist mit den Gedanken wieder mal meilenweit weg«, sagt April mit dieser typisch leisen Stimme, mit der sie mit mir spricht, wenn sie früher auftaucht als erwartet und mich dabei ertappt, wie ich in den Regen hinausstarre.

Ich habe keine Ahnung, weshalb sie so versessen auf meine Gesellschaft ist. Sie ist quirlig und voller Leben, während ich ständig bloß vor mich hinstarre und im Schlaf leise wimmere. Und wenn ich wach bin, grüble ich über den Tod nach oder versuche zu lesen, schaffe es aber kaum, etwas zu Ende zu bringen. Gedichte sind das Einzige, worauf ich mich konzentrieren kann, und April hasst Gedichte.

Das Einzige, was April und mich verbindet, sind Rituale – Stunden, in denen wir Make-up auflegen, Glitzerpuder, falsche Wimpern, einzeln angeklebt, Lippenstift, der mit konzentrierter Präzision aufgetragen wird. Wenn man es genau nimmt, ist der Unterschied zwischen jemandem, der gedankenverloren sein Gesicht im Spiegel betrachtet, und jemandem, der in die vergiftete Trübnis hinausstarrt, eigentlich gar nicht so groß. Im Grunde könnte April es auch mit jedem anderen Mädchen tun.

Es gibt keinerlei Grund, weshalb ausgerechnet ich diejenige sein muss, die ihr Gesellschaft leistet.

»Heute Abend wird der blanke Wahnsinn«, sagt sie fröhlich. »Wart’s ab.«

Die Leute sitzen in den Überresten ihrer einst feudalen Salons, trinken minderwertigen Tee-Ersatz aus ihren angeschlagenen Porzellantassen und tuscheln über den Debauchery Club. Echter Tee ist Importware. So etwas gibt es hier seit Jahren nicht mehr.

Als Erstes kommen wir an einem Club namens Morgue vorbei. Er befindet sich in einem verlassenen Fabrikgebäude, wo früher Ziegelsteine hergestellt wurden. Damals, als die Leute noch Häuser gebaut haben. Erst wenn all die verlassenen Gebäude vollends zusammengefallen sind, können wir anfangen, neue zu bauen. Falls es uns dann überhaupt noch gibt.

Die Schlange der Besucher zieht sich um den gesamten Häuserblock. Ich lasse den Blick über die Menge schweifen und stelle mir vor, dass sie um jeden Preis in den Club gelassen werden wollen, als hinge ihr Leben davon ab, aber wir sind zu weit entfernt, um einen Blick auf ihre Gesichter mit den Masken zu erhaschen.

April und ich kommen regelmäßig hier vorbei, gehen aber nie hinein. Wir sind unterwegs zum Debauchery Club, der genauso heißt wie das Viertel hier und zu dem lediglich Mitglieder Zutritt haben.

In einer engen Seitenstraße lässt der Fahrer uns aussteigen. Die Tür ist unauffällig und nicht verschlossen. Mit Ausnahme von pulsierenden roten Lichtern auf dem Boden empfängt uns völlige Dunkelheit, als wir das Foyer betreten. Obwohl wir schon oft hier waren, wecken die roten Lichter jedes Mal meine Neugier. Tastend lasse ich meinen Fuß über das erste Licht gleiten, um herauszufinden, inwiefern es sich vom restlichen Boden abhebt.

»Los, komm schon, Araby.« April verdreht die Augen. Wir nehmen unsere Masken ab und verstauen sie in Samtbeuteln, wo sie sicher sind.

Vor dem Ausbruch der Epidemie war der Debauchery Club ausschließlich Männern vorbehalten. Aber wie in all den anderen Clubs ist die Mehrzahl der Mitglieder längst tot.

April und ich sind Mitglieder auf Probe. Die Mitgliedschaft haben wir ihrem Bruder zu verdanken, den ich bisher noch nicht kennengelernt habe. Erst mit unserem achtzehnten Geburtstag bekommen wir eine Vollmitgliedschaft.

»Hier entlang, Ladys.«

Ich erhasche einen Blick in den Spiegel und lächle. Ich bin nicht derselbe Mensch wie heute Morgen. Ich bin schön, künstlich, geistlos und inkognito. Mein schwarzes Kleid reicht mir bis zu den Knöcheln und schmiegt sich um das Fischbeinkorsett aus dem Kleiderschrank meiner Mutter – ich würde zwar nicht so auf die Straße gehen, trotzdem gefällt mir mein Outfit. Es lässt mich unglaublich dünn und ein klein wenig geheimnisvoll aussehen.

Einen Moment lang muss ich an die Gestalten mit ihren Umhängen denken, die ebenfalls schwarz waren. Nervös streiche ich mein Kleid glatt.

»Ich werde dir eine Schere leihen«, neckt April und betritt den Untersuchungsraum.

Ich lache. Ihre eigenen Röcke hat sie kunstvoll über Kniehöhe abgeschnitten. Der Schwärende Tod hat sich auch auf unsere Mode ausgewirkt. Unter langen Röcken konnten sich eiternde Wunden verbergen.

Ich genieße es, den Stoff an meinen Beinen zu spüren, als ich mich umdrehe und mich ansehe.

»Du bist dran, Süße.«

Ich folge der samtigen Stimme in den Untersuchungsraum.

Wenn ich ganz ehrlich bin, muss ich zugeben, dass die kurzen Momente mit ihm der wahre Grund sind, weshalb ich Woche für Woche hierherkomme. Verschlungene Tattoos bedecken seine Arme, winden sich über seinem Hemdkragen empor und bis hinauf zum Ansatz seines zerzausten dunklen Haars. Ich bemühe mich, ihn nicht anzustarren. Es könnte sein, dass er mich glücklich macht. Seine Aufmerksamkeit, ein Schimmer der Bewunderung in seinen Augen … Aber ich verdiene es nicht, glücklich zu sein.

»Du kennst ja die Prozedur. Hier hineinatmen.« Er hält mir das Gerät hin. »Könntest du dich diese Woche angesteckt haben?«

»Nein, ausgeschlossen«, flüstere ich.

»Ganz ausschließen kann man es nie. Du solltest vorsichtiger sein.« Er drückt auf einen roten Knopf, damit das Gerät die Luft aus meinen Lungen filtern kann. Mein Blick fällt auf die Nadel in seiner Hand. Ich erschaudere.

»Du genießt das mehr, als du solltest«, bemerkt er leise.

Er gibt meine Blutprobe in eine Art Maschine. Sie hat zwar einen Aufziehmechanismus und einen kleinen Messingknopf vorne dran, trotzdem bin ich ziemlich sicher, dass sie mit Ausnahme der Gutgläubigkeit der Leute in Wahrheit gar nichts messen kann. Trotzdem denke ich jedes Mal, wenn ich sehe, mit welchem Ernst er seine Arbeit erledigt, dass er sehen kann, ob ich mir etwas eingefangen habe. Mein Atem beschleunigt sich. Ich bin nervös.

Was würde er wohl tun, wenn ich mich angesteckt hätte? Mich voller Verachtung ansehen? Mich mit einem Tritt auf die Straße befördern?

Der Club ist der einzige Ort in der ganzen Stadt, wo wir uns ohne Masken gefahrlos aufhalten können. Unser Personal trägt Masken, damit sie die Keime aus der Unterstadt nicht ins Haus schleppen. Hier hingegen wäre es eine glatte Beleidigung, jemandem zu sagen, er müsse seine Atemluft filtern. Andererseits werden wir stets einzeln in den Untersuchungsraum gebeten. Wie soll man da sicher sein, dass andere Clubmitglieder nicht klammheimlich von der Seuche zerfressen werden?

»Sieht so aus, als wärst du diese Woche sauber, Süße. Sieh zu, dass es so bleibt.« Er entlässt mich mit einer knappen Handbewegung. »Oh, und nächstes Mal solltest du dieses silberne Zeug auflegen. Dir steht es viel besser als deiner Freundin.«

Er wendet sich ab, während ich unwillkürlich die Hand hebe. Hätte er ein wenig dichter vor mir gestanden, hätte ich ihn berührt.

Ich berühre niemals andere Menschen.

Zumindest nicht absichtlich. Zum Glück sieht er weder meine verräterische Geste noch den Ausdruck auf meinem Gesicht.

Ich trete durch den Vorhang aus silbernen Perlenschnüren. Manchmal stelle ich mir vor, sie würden ein angenehmes Geräusch machen, wenn sie sich teilen, aber bisher habe ich nicht einmal das leiseste Klackern gehört. Es ist fast, als hätte sich die Diskretion des Clubs auch auf sein Mobiliar übertragen.

April hat nicht auf mich gewartet. Es ist völlig normal, dass wir uns in dem Labyrinth aus Räumen von Zeit zu Zeit begegnen und uns wieder verlieren. Jede von uns hat ihre ganz eigene Weise, den Aufenthalt hier zu genießen.

Das Gebäude erstreckt sich über fünf Stockwerke, was in diesem Teil der Stadt üblich ist. Ursprünglich war es als Wohnkomplex gedacht, doch inzwischen sind die Räume durch lange Korridore und halb geöffnete Türen miteinander verbunden.

Das Einzige, was einem verrät, dass man sich noch im selben Gebäude befindet, sind die Drachen, die sich in jedem Zimmer finden – sei es in Gestalt von Schnitzereien oder als Statuen in Vitrinen, aber stets mit ihren roten Augen, die uns zu beobachten scheinen.

In einigen Räumen liegen Perserteppiche auf dem Boden oder bedecken die Wände, um die Geräusche zu dämpfen oder den Tabak- und Opiumgeruch zu absorbieren. Im obersten Stockwerk des Gebäudes befinden sich Bibliotheken mit verbotenen Büchern – die eine beherbergt Bücher über okkulte Phänomene, in der anderen stehen Bücher über sexuelle Praktiken, von denen ich nicht einmal im Traum gedacht hätte, dass sie überhaupt existieren. Ich mag Bücher, halte mich aber eher in den unteren Stockwerken auf, wo Musik spielt.

Ich schlendere von Raum zu Raum. Im Club herrscht immer Betrieb, viele Menschen, leises Stimmengewirr, hier und da tanzen die Leute oder stehen küssend in dunklen Ecken. April und ich sind bei Weitem nicht die einzigen Frauen hier.

Die Stunden verstreichen. Allmählich verliere ich die Lust. Heute Abend will der Funke nicht überspringen. Es gelingt mir nicht, meine Niedergeschlagenheit abzustreifen; darüber, dass ich bin, wer ich bin. Ich wünschte, ich könnte mit der Menge verschmelzen, mich in jemand anderes verwandeln, in jemanden, der Teil von etwas Geheimnisvollem, etwas Umstürzlerischem und Aufregendem ist.

Ein Mann folgt mir. Er ist blond, dünn und viel zu förmlich angezogen – dunkle Hosen und ein blaues, bis zum zweitobersten Knopf zugeknöpftes Hemd. Er passt so gar nicht in den mit reich verzierten Sofas möblierten Raum, wo ein Mädchen mit seiner Geige von Selbstmord singt. Er sagt etwas zu mir, aber ich kann ihn nicht verstehen. Ich gehe weiter.

Er folgt mir auf die Damentoilette.

Mädchen stehen in dem dunklen Raum und betrachten sich im Spiegel.

Ich trete an ihnen vorbei in eine Kabine. Ein Mädchen versucht, mir mit ihrem hohen Absatz auf den Fuß zu treten. Ich mache einen Satz zur Seite und halte den Kopf gesenkt. Sie soll nicht sehen, dass mich ihr hämisches Grinsen abschreckt.

Er macht die Tür hinter uns zu. Die Türen im Club sind gut geölt, sodass sie keinerlei Geräusch von sich geben. Und so dick, dass man nicht mitbekommt, was sich dahinter abspielt.

»Was willst du?«, fragt er in amüsiertem Tonfall. Seine Selbstsicherheit lässt ihn älter wirken, als er aussieht. Wäre die Universität nicht längst geschlossen, würde er dort vermutlich studieren.

»Vergessen.« Das ist mein größter Wunsch.

»Was könnte ein hübsches Mädchen wie du denn vergessen wollen?«

Ein hübsches Mädchen wie ich, mit meinen sauberen Fingernägeln und meinem tadellosen Gesundheitszeugnis.

Er weiß rein gar nichts über mich.

»Hast du nun, was ich will, oder nicht?«

Er zieht eine silberne Spritze hervor.

»Ich bezweifle, dass du weißt, was du willst«, murmelt er in abfälligem Tonfall, als wäre ich eine Idiotin. Eine Amateurin. Ich ignoriere meine aufsteigende Wut, fest entschlossen, mir zu beschaffen, was ich brauche, um sie und jede andere Gefühlsregung zu bekämpfen, die in mir aufkeimen könnte. Ich bin keine Amateurin.

Mein Blick fällt auf die Spritze.

»Viel los heute Abend?«, frage ich.

»Normalerweise gebe ich nichts ab von meinem Stoff.«

Ich reiche ihm ein paar Geldscheine, die er in seiner Hosentasche verschwinden lässt, ohne sie richtig anzusehen. Seine Brauen sind ebenfalls blond und verleihen seinem Gesicht einen Ausdruck ständigen Erstaunens.

Ich halte ihm meinen Arm hin. »Los.«

»Willst du denn gar nicht wissen, was da drin ist?«

»Nein.«

Meine Antwort scheint ihn noch mehr zu erstaunen, falls das überhaupt möglich ist. Seine blonden Brauen faszinieren mich.

Was auch immer sich in der Spritze befinden mag, fühlt sich kalt an. Die Welt um mich herum beginnt zu verschwimmen.

»Wo willst du jetzt hin?«

»Zurück zu dem Mädchen mit der Geige. Ich will hören, wie sie über den Selbstmord singt.«

Er lacht.

Als wir die Toilette verlassen, stolpere ich über die Schwelle. Er hält mich am Arm fest.

»Ich hoffe, du findest, wonach du suchst«, sagt er. Und es klingt, als meine er es auch so.

ZWEI

Dunkelheit. Wir essen in der Dunkelheit, wir reden in der Dunkelheit, wir schlafen in der feuchten Dunkelheit, eingehüllt in unsere Decken. Es gibt nie ausreichend Licht hier unten; nicht, wenn man wirklich etwas sehen will.

»Dein Zug«, sagt mein Zwillingsbruder Finn. Seine Stimme ist sanft, ohne jeden Anflug von Verärgerung. Ich weiß, dass ich träume, aber es kümmert mich nicht. Ich werde hierbleiben, so lange ich nur kann.

»Tut mir leid.« Ich blicke auf die Quadrate auf dem Brett. Es ist völlig sinnlos, mir die Figuren anzusehen, denn ich habe sowieso keine Ahnung, was ich tun soll. Ich besitze keinen Funken strategisches Talent, will mich aber auf keinen Fall kampflos geschlagen geben. Er soll zumindest ein klein wenig Spaß und Abwechslung haben, indem ich ihm Paroli biete.

»Ich stelle die Lampe anders hin.«

Er tut so, als hätte mein spielerisches Unvermögen lediglich etwas mit der Beleuchtung zu tun. Ich berühre den Elfenbeinkönig mit der Fingerspitze.

Vater kommt aus seinem Labor und nimmt die Schutzbrille ab.

»Hat jemand Lust auf Mittagessen?«

Wir haben immer Lust auf das Mittagessen. Es durchbricht die Monotonie unseres Tagesablaufs. Wir folgen ihm in die Küche, in der sich die Konservendosen bis unter die Decke stapeln. Vater gibt etwas in eine Schüssel und stellt sie auf den Gasherd.

»Ich glaube nicht, dass …«, sage ich warnend.

In diesem Moment gibt es eine laute Explosion, und die Gaslampe über unseren Köpfen erlischt.

»Es bringt nichts, sie zu reparieren. Nicht, wo ich so kurz vor dem Durchbruch stehe.« Das sagt Vater nahezu jeden Tag.

»Ich nehme Pfirsiche«, sagt Finn. »Dosenpfirsiche schmecken auch kalt.« Er ist Vater nicht böse, weil er uns in den Untergrund gebracht hat. Weil er seine Versprechen nicht hält und manchmal tagelang in seinem Labor verschwindet, um Gott weiß woran zu arbeiten. Finn ist noch nicht einmal Mutter böse, weil sie nicht mit uns hier unten leben wollte.

»Ich mag Pfirsiche gern«, sage ich. Finn fördert stets das Beste in mir zutage. Licht und Dunkelheit, so nennt Vater uns immer.

»Ich bin ein echter Glückspilz«, sagt Vater. »Dass Gott mich mit so geduldigen Kindern gesegnet hat.« Seine Stimme bebt, und ich glaube, im Halbdunkel Tränen in seinen Augen glitzern zu sehen. Er sieht an mir vorbei zu Finn.

In diesem Moment klopft es. Die Tür geht auf. Im Licht der Eingangstür, deren Schwelle wir seit einer Ewigkeit nicht mehr übertreten haben, ragt die Silhouette eines Mannes über uns auf.

»Dr. Worth«, sagt der Mann. »Mein Sohn – er hat die Krankheit, trotzdem lebt er noch … seit über einem Monat.«

Das ist völlig unmöglich. Hat man sich angesteckt, ist der Tod unausweichlich. Das weiß jedes Kind.

»Geben Sie mir Ihre Adresse«, sagt Vater. »Ich komme später vorbei, wenn ihre Mutter hier ist, um auf sie aufzupassen.« Das bedeutet, Mutter kommt zu Besuch. Das wird Finn freuen. Der Mann nennt Vater mechanisch seine Adresse. Seine Stimme ist leise und ruhig, als gebe es nichts, was ihm nach all dem Grauen, das er erlebt hat, noch etwas anhaben könnte.

Mit einer Dose Pfirsiche und zwei Gabeln kehren wir zu unserem Schachbrett zurück.

»Immer noch dein Zug«, sagt Finn. »Araby?«

Ich sehe ihn an, um herauszufinden, ob er doch verärgert ist. Besitzt er tatsächlich diese übermenschliche, scheinbar unendliche Geduld? Aber ich kann ihn nicht erkennen. Der Dunst ist so dicht, und der Schein der Lampe so trübe. Ich kneife die Augen zusammen. Ich höre seine ruhige Stimme, aber ich kann ihn nicht sehen, kann nicht sehen …

In diesem Augenblick wache ich auf.

»Lieber Gott, wie um alles in der Welt soll ich dich tragen?«, höre ich April fragen. Die Kälte schlägt mir entgegen, und mir wird bewusst, dass wir uns im Freien befinden. Es regnet. Wir stehen vor dem Club. Panik erfasst mich. Die Angst vor der Ansteckung durch die Luft ist mir inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen. Ich berühre mein Gesicht und spüre die glatte Porzellanoberfläche meiner Maske. Ein erleichterter Seufzer entfährt mir. Ich trage dieses Ding schon so lange, dass ich es nicht mehr spüre.

Ich versuche mich wieder zusammenzurollen. Ich leide unter Schlaflosigkeit, und die Euphorie, die ich empfinde, ist so wunderbar. Ich spüre den kalten Regen auf meinen Fußsohlen. Wo sind meine Schuhe?

»Ihr solltet vorsichtig sein«, sagt jemand. »Es ist gefährlich, nachts draußen herumzulaufen.«

»Ich muss sie nach Hause schaffen«, erklärt April. Der Klang ihrer Stimme ruft eine Erinnerung wach – vielleicht nicht an den Tag, als wir uns das erste Mal begegnet sind, sondern vielmehr an die Art, wie sie die Geschichte erzählt. Sie glaubt allen Ernstes, sie hätte mir das Leben gerettet. »Wir haben Wachen. Uns passiert schon nichts.«

Wenn die Warnung nicht von einer der Wachen kam, mit wem redet sie dann?

Ich spüre den gepolsterten Sitz von Aprils Kutsche unter mir.

»Danke für die Hilfe«, sagt sie.

»Das wird wohl nicht das letzte Mal gewesen sein.« In der samtweichen Stimme schwingt ein Anflug von Belustigung und noch etwas anderem mit. Er beugt sich vor und sieht mich an. Als ich versuche, sein Gesicht auszumachen, wird mein Gefühl der Orientierungslosigkeit noch schlimmer. Die Tattoos, das dunkle Haar. Mein Herzschlag beschleunigt sich. Ich glaube … ich glaube … kann einem das Herz stehen bleiben, obwohl man erst siebzehn ist? Aber wenn ich zusammenbreche, bekommt mein Vater mich bestimmt wieder hin.

»Diesmal hattest du noch Glück, Süße. Aber das wird nicht so bleiben. Das Glück ist nie ein Dauergast.«

Doch. Ich bin diejenige, die Glück hatte – etwas, was ich wohl niemals vergessen werde.

DREI

Ich lasse meine Wange gegen das kühle Glas der Fensterscheibe sinken. Ich bin schon so lange hier, dass sie sich selbst unter meinen kalten Fingern eisig anfühlt. Ich habe mich auf dem Sitz unter der Fensterbank zusammengerollt und starre hinaus, aber nicht auf die Straße, sondern in eine Art Innenhof. Die Architekten der Akkadian Towers haben zwei luxuriöse Penthouse-Wohnungen mit einem üppig bewachsenen Garten dazwischen entworfen, einer Art überdachtem Eden. Wir leben in Penthouse B.

Ich blicke hinaus auf die tropische Pracht. Mir ist hundeelend. Den ganzen Morgen schon kämpfe ich gegen die Übelkeit an.

Meine Mutter betritt den Raum. Ich drehe mich nicht zu ihr um, denn ich weiß auch so, was sie tut. Sie knetet ihre Hände, ihre schmalen weißen Hände, die sie in Pfefferminzöl gebadet hat.

Vor mir steht ein Teller mit vier verschiedenen Crackern. Ich streiche mit der kühlen Wasserflasche über mein Gesicht. Kondenswasser zieht sich in Schlieren über meine Wangenknochen und an meinem Hals entlang.

In diesem Moment registriere ich eine Bewegung im Garten. Der Typ mit der silbernen Spritze von gestern Abend steht mit den Händen in den Hosentaschen da und beobachtet mich.

Aber das ist völlig unmöglich.

Als das Klima tropisch-feucht wurde und sich die Krankheiten auszubreiten begannen, wurde der Garten der Akkadian Towers geschlossen. Die Türen wurden zugemauert und die Spalten mit Mörtel abgedichtet.

Ich setze mich auf. Meinem Magen gefällt die abrupte Bewegung ganz und gar nicht. Ich kneife die Augen zu.

Teures Parfum steigt mir in die Nase und schnürt mir die Luft ab.

»Araby?«

Mutter legt mir die Hand auf die Stirn. Während wir im Keller Zuflucht gesucht haben, ist sie hier in den Akkadian Towers geblieben und hat Klavier gespielt. Ihre Musik hat die reichen Leute besänftigt, während sie herauszufinden versuchten, ob sie sterben würden oder nicht. Und wenn sie jemanden ausmachten, der am Schwärenden Tod litt, warfen sie ihn hochkant auf die Straße. Ich schlage die Augen wieder auf.

»Schätzchen …«

Am liebsten würde ich die Arme um sie schlingen und sie nie mehr loslassen. Dieser Gedanke setzt mir mehr zu als die Drogen, gegen die sich mein Körper schon den ganzen Morgen verzweifelt wehrt.

Die Welt beginnt sich zu drehen.

»Wieso tust du dir das bloß an?«, flüstert sie, bläst die Kerze auf dem Beistelltisch aus und breitet eine Decke über mir aus. Licht fällt durch die Fenster herein, die auf die Straße und auf den inzwischen leeren Garten hinausgehen.

Stunden später betritt mein Vater das Zimmer. Er hat sich die Maske hochgeschoben, und das Haar steht ihm wild vom Kopf ab.

»Ich möchte, dass du mit mir spazieren gehst, Araby«, sagt er.

Meistens fragt er mich zweimal die Woche. Es sind die einzigen Gelegenheiten, bei denen er mich mit meinem Namen anspricht. Ich will, dass er endlich aus seinen Tagträumen aufwacht und sich daran erinnert, dass er immer noch ein Kind hat. Er zieht seinen Mantel über und hält mir meinen hin. Ich schließe für einen Moment die Augen, unterdrücke die letzten Spuren von Unwohlsein und folge ihm.

Als wir aus dem Aufzug treten, kommt einer von Prinz Prosperos Wachleuten auf uns zu. Die Wachen wurden angeheuert, um meinen Vater zu beschützen. Jeder weiß, dass die Wissenschaftler unser größtes Kapital sind. Und zugleich unsere gefährlichsten Waffen. Nachdem der Prinz eine Fabrik zur Massenherstellung der Masken eröffnet hatte, brach Chaos in der Stadt los. Keiner wusste, wie er mit der Hoffnung umgehen sollte. Die Leute pinselten Sprüche an die Gebäudewände: DIE WISSENSCHAFT HAT TRIUMPHIERT. Oder: DIE WISSENSCHAFT HAT VERSAGT. Es waren stets zwei Parolen, die einander widersprachen, und allesamt mit derselben leuchtend roten Farbe geschrieben, die sie auch benutzen, um die Türen der von der Epidemie betroffenen Häuser mit dem Sensensymbol zu markieren.

Obwohl die Stadt längst zum schwelenden Trümmerhaufen geworden war, kamen die Leute immer noch in der Dunkelheit aus ihren Häusern gekrochen, um Dinge an die zerfallenden Mauern zu schreiben, während die restliche Bevölkerung friedlich schlief oder heimlich, still und leise ihr Leben aushauchte.

»Das sagt einiges über die Natur des Menschen aus«, erklärte Vater, machte jedoch niemals Anstalten zu erklären, was. Zumindest mir nicht.

»Wohin gehen Sie, Dr. Worth?«, fragt der Wachmann.

»Ich will nur einen Spaziergang mit meiner Tochter machen«, antwortet er.

»Wir geben Ihnen eine Eskorte mit.«

»Nur ein paar Männer. Wir gehen nicht allzu weit.« Resigniert vergräbt mein Vater die Hand in seiner Manteltasche und spielt mit irgendetwas herum.

Wir warten im Foyer, bis die Eskorte zusammengetrommelt ist. Eine Staubschicht liegt auf den künstlichen Pflanzen. Die Farne sind die schlimmsten Staubfänger von allen.

Der erste Wachmann öffnet die Tür, gefolgt von drei weiteren Männern. Sie halten sich an unserer Seite, mit Kurzschwertern und Pistolen bewaffnet, um Vater gegen jede Form von Bedrohung zu verteidigen, egal ob durch Menschen oder ein Tier. Auch wenn die Leute sich vor allerlei Geschöpfen fürchten mögen – die größte Gefahr geht in dieser Stadt nach Einbruch der Dunkelheit eindeutig von den Menschen aus.

»Die Werft ist wieder geöffnet«, sagt Vater im Plauderton.

»Wirklich?« In meiner Stimme liegt ein Anflug von Atemlosigkeit, den jemand, der mich nicht kennt, fälschlicherweise als gespannte Erregung interpretieren könnte.

Als ich noch klein war und Finn noch gelebt hat, sind wir immer ausgesprochen gern zum Hafen hinuntergegangen. Damals herrschte dort unten stets Trubel und hektische Betriebsamkeit, mit den vielen Matrosen, die auf den Schiffen herumliefen. Vater zieht es auch heute noch häufig hin. Ich weiß nicht, ob es ihm bewusst ist oder nicht.

Inzwischen hat sich vieles verändert. Überall liegt Abfall am Ufer herum, und die rußgeschwärzten Skelette der Schiffe ragen aus dem Wasser. Der Mob hat die meisten von ihnen zerstört. Ein Passagier könnte die Seuche eingeschleppt haben oder auch irgendein Nager, der mit einem der Schiffe gekommen ist.

Neuerdings benutzen die Fischer einen anderen Hafen ein Stück weiter südlich, um der Verwüstung hier zu entgehen.

Mir stockt der Atem. Die Nachmittagssonne spiegelt sich auf den weißen Porzellanmasken der Seeleute, die auf einem nagelneuen, schimmernden Dampfschiff arbeiten.

»Das ist die Discovery«, sagt Vater.

Das letzte Mal, als ein Schiff im Hafen angelegt hat, war ich zehn Jahre alt. Im Gegensatz zu dem dampfbetriebenen Ungetüm vor uns hatte es einen hohen Masten und schwere Leinensegel. Es könnte von überall her gekommen sein.

Ich weiß noch, wie die Passagiere an Land strömten, als könnten sie es kaum erwarten, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Die Kleider, die sie trugen, waren einfach und knöchellang, mit hohen Krägen und langen Ärmeln. Damals war es ganz normal, hochgeschlossene Kleider zu tragen, selbst im Sommer.

Doch mit der Seuche ist alles anders geworden. Heute ist es von größter Wichtigkeit, so viel Haut zu zeigen wie nur möglich. Die Geistlichen haben diese neue Mode natürlich verteufelt. Wir seien alle dem Untergang geweiht, sagen sie, auch wenn wir uns alle fragen, was überhaupt noch übrig ist, das untergehen könnte.

Vermutlich waren die Menschen, die an diesem Tag von Bord gingen, von weit her gekommen, auf der Suche nach neuer Hoffnung. Stattdessen waren sie von einem Mob empfangen worden, der sie in Stücke gerissen hatte, noch bevor sie wussten, wie ihnen geschah. Und Finn und ich hatten das Geschehen voller Entsetzen verfolgt.

Mutter hatte uns schließlich gefunden. Wir waren weinend und völlig verstört durch die Seitenstraßen geirrt.

Die dramatischen Vorfälle hatten selbst Vater aus seinem Labor gelockt. Die Stadt sei völlig außer Rand und Band, sagte er, und wir sollten uns erst wieder hinauswagen, wenn die Seuche unter Kontrolle sei. Damals war es an der Tagesordnung, sich zu verstecken. Die Leute suchten Schutz in Kellern und auf Dachböden. Manche Familien flohen sogar aus der Stadt. Finn und ich hörten die Erwachsenen mit gedämpften Stimmen prophezeien, dass sie allesamt in den Wäldern sterben würden; und wenn nicht dort, dann in der Wildnis, die sich dahinter erstreckte.

»Ein gutes Zeichen«, flüstert Vater nun mit einer Geste auf die in der Sonne funkelnde Discovery. »Das erste gute Zeichen seit Langem.« Es tut gut, die Hoffnung in seiner Stimme zu hören. »Bald werden wir erfahren, was vom Rest der Welt noch übrig ist.«

Der Wind, der mir durchs Haar fährt, riecht nach Salz. Weiße Möwen fliegen heran und wieder davon.

Solange ich Vater nicht ansehe, kann ich so tun, als stünde Finn neben mir. Am liebsten würde ich in diesem meditativen Zustand versinken, der sich manchmal angenehmer anfühlt als das Vergessen. Aber in diesem Augenblick sieht Vater auf seine Taschenuhr und zieht mich mit sich. Plötzlich scheint er es eilig zu haben. Er stellt mir keine Fragen. Er interessiert sich schon lange nicht mehr dafür, was ich denke.

Wir gehen weiter, nähern uns dem Rand der Altstadt, die ein wenig höher gelegen ist als der Rest und wo es viele Türme und spitze Erker gibt, die aussehen wie aus dem Märchen. Sicherheitsleute säumen die Bürgersteige und sorgen dafür, dass Menschen ohne Masken nicht hereinkommen. Sie sollen außer Sichtweite bleiben, weg von uns und unserer Atemluft.

Wir nähern uns der Buchhandlung, der letzten in der Stadt. Vater pilgert mindestens einmal pro Woche hin, um zu sehen, welche Schätze die Leute in ihren Kellern und Dachböden aufgestöbert haben. Die Wachen kennen das bereits. Sie stellen sich im Halbkreis vor dem Eingang auf, lehnen sich gegen die Hauswand und warten.

Der Besitzer begrüßt meinen Vater mit Namen, während ich zwischen den mit schweren, dunklen Wälzern bestückten Regalen herumschlendere und den Blick über die Rücken schweifen lasse. Doch als ich um eine Ecke biege, sehe ich Vater zwischen zwei Männern stehen. Einer von ihnen hat ihn bei der Hand gepackt und lässt dann seine Finger eilig in seiner Tasche verschwinden. Vater hat ihm etwas gegeben, daran besteht kein Zweifel. Der jüngere der beiden Männer merkt, dass ich sie beobachtet habe, und starrt mich durch seine dicken Brillengläser unfreundlich an.

ENDE DER LESEPROBE