Die Stromabnehmer - Klaus Offenberg - E-Book

Die Stromabnehmer E-Book

Klaus Offenberg

0,0

Beschreibung

Ein Kernkraftwerk kann seinen Strom nicht mehr ins Netz abgeben. Vier junge Männer sterben nacheinander auf unerklärliche Weise. Hat sich der Techniker des Kernkraftwerks selbst getötet? Und hat das Ganze was mit dem Verschwinden der jungen attraktiven Frau, Zoe Schulte, zu tun? Die beiden Polizeibeamte Albertina Beiersdorff und Kevin Magner aus Ibbenbüren versuchen das Puzzle mit Hilfe ihrer Kollegen der Wasserschutzpolizei Bergeshövede zu lösen. Dabei sind die oder der Mörder den beiden immer ein Schritt voraus. Oder war das eine Mörderin, was Albertina Beiersdorff immer in Erwägung zieht. Die Protagonisten des Regionalkrimis agieren rund um Ibbenbüren, Lingen, Osnabrück und dem Nassen Dreieck, dem Abzweig des Mittellandkanas vom Dortmund-Ems-Kanal bei Bergeshövede.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 258

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Die Stromabnehmer

Klaus Offenberg

Impressum

Texte: © Copyright by Klaus OffenbergUmschlag:© Copyright by Jakob Skatulla…Verlag:Dr. Klaus Offenberg

Herrenstr. 20D-48477 Hö[email protected]

Druck:epubli, ein Service der

neopubli GmbH, Berlin

Auflage 2020

Printed in Germany

Für Doro, Heinz und Heinz-Josef

Vorwort

Ist es mit einfachen Mitteln möglich, die es beispielsweise im Baumarkt oder im Versandhandel zu kaufen gibt, ein Kernkraftwerk spürbar zu stören? Oder sind wir alle so technikgläubig, dass unsere Heimat vor allen terroristischen Anschlägen geschützt ist? Wer den Thriller „Blackout“ von dem Autor Marc Elsberg gelesen hat, denkt wahrscheinlich anders darüber. Und plötzlich überfällt Ende 2019 die gesamt Welt ein Virus, das Corona-Virus. Dass der nicht nur Menschen in Dritte Welt Ländern gefährlich wird, sondern Industrienationen lahm legt, hätte ich beim Schreiben dieses Krimis nicht erwartet.

Ich wohne mit meiner Familie gut 30 Kilometer vom Kernkraftwerk Lingen entfernt. Da mache ich mir schon seit Jahren Gedanken, was passiert, wenn dort ein Störfall auftritt. (Genau das können Sie in meinem Roman, „Der Tote von ´59“ nachlesen. Weitere Infos dazu am Ende dieses Buches.) In diesem Krimi habe ich ein Szenario entwickelt, das die Abschaltung eines AKWs durch Aktivisten möglich macht. Doch bitte seien Sie nicht zu ängstlich! In diesem Krimi ist alles erfunden, nur die Orte und die Landschaften nicht.

Die Stromabnehmer

November 2018

Die Polizei glaubte, schnell einen Verdächtigen ermittelt zu haben. Denn mit den heutigen Methoden der Genanalyse sollte die Person doch identifiziert, besser gesagt, ihr genetisches Profil gefunden worden sein. Wer dahinter steckte, das wussten die Spezialisten der Polizei natürlich noch nicht.

„Aber, den kriegen wir schon!“, meinte Polizeiobermeister Kevin Magner.

„Könnte das denn nicht auch ´ne Frau sein?“, fragte die Kollegin, Albertina Beiersdorff, die immer wieder penetrant die weibliche Seite betonte.

„Mhm“, brummelte Magner, was so viel bedeutet, sollte man bedenken.

In dem Einfamilienhaus, direkt am Dortmund-Ems-Kanal gelegen, war eine Leiche gefunden worden. Das Haus war seit einem halben Jahr unbewohnt gewesen. Der letzte Bewohner, August Meier, war in ein Seniorenstift gezogen, wobei Seniorenstift sicher eine Übertreibung war. Nur der Begriff Altenheim gefiel August Meier nicht. Er war seit Jahren verwitwet, sodass sein Haus nicht mehr optimal gepflegt war. Kinder gab es auch nicht. Das Haus stand nach dem Auszug von August zum Verkauf im Internet; nur Käufer gab es keine. Lag sicher auch an der Lage, weit außerhalb, ohne Sichtkontakt zu einem Nachbarhaus.

August hatte ins Seniorenstift wenig mitgenommen. Lesen tat er selten; nach seiner Aussage, in Wirklichkeit nur die Bildzeitung und die IVZ. Fernseher war wichtig, ein paar Klamotten, wie er sagte, das war‘s. Der Rest blieb im Haus.

Ein paar Wochen kümmerte sich niemand um das Haus am Kanal. Noch hatten Kinder oder Wohnungslose das Haus nicht entdeckt. Doch irgendwann war es dann doch soweit. Wer als erster einstieg, ließ sich auch durch die Spezialisten der Spurensicherung nicht mehr feststellen.

In diesem Spätherbst 2018 hatte es endlich – nach dem extrem warmen Sommer – geregnet, sodass der Boden und die vertrockneten braunen Grashalme um das verlassene Haus jetzt feucht waren. Das könnte bei der Spurensuche helfen.

Es fanden sich auch Fußspuren von Kindern, aber auch von Erwachsenen. Die Fenster waren nicht zerstört, nur der Hintereingang, der zum Kanal zeigte, war aufgebrochen. Doch die Spuren waren schon älter, sicher noch vom Frühjahr, mutmaßte Kevin Magner.

„Müssen wohl zuerst Erwachsene eingedrungen sein.“

„Wie kommst du darauf?“, fragte Albertina Beiersdorff.

„Die Tür ist recht stabil. Kinder kriegen sowas normalerweise nicht auf.“

„Wirst recht haben!“

„Wer hat denn den Toten gemeldet?“

„Ein Schiffer.“

„Ein Schiffer, war der im Haus?“

„Nee, kam mit seinem Kahn vorbei!“

„Kahn ist sicher untertrieben. Aber wieso ein Schiffer? Hatte der hier angelegt?“

„Ist schon ´ne seltsame Geschichte“, meinte Albertina, die wegen des unangenehmen Geruchs vor das Haus getreten war. „Der Schiffer, warte mal, schau mal eben nach, wie der heißt!“ Sie schaute auf ihr Smartphone. „Gustav Schwarze. Der rief bei uns an …“

„Logisch“, brummelte der Kollege.

„Was hast du gesagt? Egal, der rief an und erzählte was von ´nem Wildschwein, das aus diesem Haus gekommen war.“

„Das ist tatsächlich seltsam. Hat er die Uhrzeit genannt, wann er das Tier beobachtet hat?“

„Nein, muss aber gleichzeitig zum Anruf gewesen sein, denn der war ganz aufgeregt. ‚Da, da, es steht noch vorm Haus und jetzt läuft´s weg.‘ Hat er gesagt.“

„Aber, wie konnte der wissen, dass im Haus ´nen Toter liegt?“

„Berechtigte Frage! Hab‘ ich mir bis jetzt keine Gedanken gemacht. Der Schiffer meinte nur, dass so viele Fliegen aus dem Haus kämen. Sowas hätte er in dieser Jahreszeit noch nicht gesehen, Fliegen im November. Und wenn das Wildschwein nicht da gewesen wäre, hätte er das mit den Fliegen eben auch nicht gesehen. Ob wir nicht ´ne Streife vorbeischicken könnten. Denn vor ein paar Wochen hätte der Opa noch vor dem Haus gesessen. Und den kannten doch alle Schiffer, weil der immer grüßte und winkte.“

„Hat ja mal einer mitgedacht. Nur der Opa lebt noch, hier im Altenheim.“

„Seniorenstift, meinst du!“, verbesserte Albertina.

„Du mit deinen Sprachfeinheiten, dann eben Seniorenstift.“

„Sei vorsichtig, du bist auch nicht mehr der Jüngste, kommst bald …“

„Stopp, bin gerade mal 40 geworden.“

„Eben!“

Sommer 2010

Gott, was hatte er ein schönes Leben gehabt. In den 1960er Jahren geboren, Abitur gemacht und dann einfach weg von Zuhause. Gammeln nannte man das schon nicht mehr, das war ein Jahrzehnt vor seiner großen Zeit gewesen. Er hatte einfach einen Flieger genommen und war nach Gran Canaria geflogen. Damals noch von Düsseldorf aus.

Er trampte, damals, mein Gott, an was man sich alles erinnert, nannte man das „hitchhiking“, in Richtung? War ja auch egal. Er kam dann mehr zufällig in Maspalomas an. Nein, hier gefiel es ihm gar nicht. Damals in den 80er Jahren war der Ort schon überlaufen. Er wollte weiter. Wieder den Daumen in den Wind und es ging nach Puerto de Mogán. Ein wunderschöner kleiner Hafen, mehr was für „Touries“.

Und weiter zog es ihn quer über die Insel, die sicher sehr schön, aber auch schon überlaufen war. Nein, hier fühlte er sich nicht wohl. Er schiffte sich ein und kam mit einem Zwischenstopp in Teneriffa nach La Palma. Und endlich fand er, was er suchte. Unterhalb des Ortes Barlovento fand er in den Bananenplantagen eine Hütte, ganz in der Nähe des Ozeans. Der Plantagenbesitzer ließ ihn dort wohnen, wenn er ein Auge auf die Bananen hätte. Denn ab und an kamen Touristen und pflückten in Unwissenheit unreife Früchte. Da ungenießbar, lagen die dann unter den übermannshohen Stauden.

Ja, damals gerade 20 Jahre alt, lebte er von Luft und Liebe. Ein Händler hatte ihm eine ausgediente Gitarre geschenkt. Und da er musikalisch und handwerklich begabt war, dauerte es ein paar Wochen, und er konnte die wichtigsten Songs einigermaßen intonieren.

Zu kleineren Festen wurde er eingeladen, besonders wenn junge Leute feierten. Etwas zu Essen und Alkohol reichten als Bezahlung. Na ja, und die Mädels waren auch nicht zu verachten. ‚Wie viele hab‘ ich damals flachgelegt?‘, fragte er sich. ‚Ob ich Vater geworden bin?‘ Er wollte das nicht mehr wissen, oder doch?

Was war das für eine schöne Zeit gewesen! Fast wäre er in Tränen ausgebrochen. Und heute? Nein, er wollte weiter träumen. Noch ein bisschen.

Sorgen hatte er auf dieser Insel im großen Atlantik nicht. Er stand auf, wenn er wach war, ging zur Zisterne, schöpfte Wasser, wusch sein Gesicht und machte Tee. Das war dann erstmal alles. Mit der Gitarre zog er hinauf auf die Ringstraße, setzte sich auf einen der Mauern und wartete. Mal kam ein Tourist mit Leihwagen, mal ein Einheimischer, er war ja nach ein paar Wochen nicht unbekannt, nahm ihn mit, lud ihn zum Essen ein und verabredete sich mit ihm zum Abend. Das waren seine Höhepunkte. Feiern, trinken, etwas essen und meistens noch ein williges Mädel.

Und dann konnte er in den Hotels auch noch abends zur Unterhaltung der Gäste beitragen. Jetzt hatte er ein regelmäßiges Einkommen und die Touristinnen aus Deutschland oder Nord- und Mitteleuropa waren alle liebesbedürftig. Im Nachhinein war er froh, nie irgendeine Geschlechtskrankheit bekommen zu haben. Sicher, die eine oder andere gab ihm schon mal ein Kondom. ‚Always prepared‘, das waren die besten. Die wussten, was sie wollten, Sex ohne Liebe, und das wollte er auch.

Jahre verbrachte er auf La Palma. Wahrscheinlich wäre er heute noch da, wenn nicht sein Vater schwer krank geworden wäre. Der Brief seiner Mutter mit einem Scheck brachte ihn nach Hause ins nördliche Münsterland zurück. Braungebrannt mit Rastalocken. Locken, er grinste, als er an seine Haarpracht dachte, gammelige Klamotten, stand er in Düsseldorf an der S-Bahn. Angst überfiel ihn. So viele Menschen! Kühl war es auch, in diesem Spätsommer. Auf La Palma hatte er nie gefroren. War täglich ins Meer gesprungen. Aber diese nasse Kälte zog unter seinen zerlöcherten Pullover. Jacke, wofür? Hatte er nicht. Koffer, Tasche, nein nur ein altes Portemonnaie mit dem Geld seiner Mutter.

Der Zug brachte ihn über Münster nach Rheine. Hier wollte ihn seine Mutter abholen. Erkannt, er musste nachdenken, hatte sie ihn damals auf dem Bahnsteig erkannt? Er sie ja. War älter geworden, dabei war sie damals, als er abhaute, jünger als er heute.

Sein Vater starb kurz nach seinem Eintreffen. Er blieb, leider, wenn er heute darüber nachdachte. Warum bist du nicht nach der Beerdigung des Vaters zurück nach La Palma gegangen? Hier fasste er nicht mehr Fuß. Gelegenheitsjobs, am Anfang spielte er in einer Band mit, den ‚Palmendieben‘. Der Name war seine Idee. Noch lief alles gut. Am Wochenende Tanz und hier und da eine willige Tänzerin. Das war die Zeit, wo alle die Musiker anhimmelten. Und er, der mit der Konzertgitarre, war was Besonderes. Alle wussten von seinem Leben auf La Palma. Und er sah nicht schlecht aus. Seine Haare hatte er immer noch ungeordnet, aber mit Zopf. Doch irgendwann war es vorbei mit der Musik. Die ‚Palmendiebe‘ kamen nicht mehr an. Es war die Zeit des Diskosounds. Sie aber waren bei Abba, Stones und Lords hängen geblieben. Heute könnte man damit wieder Geld verdienen, dachte er. Aber er hatte einen anderen Job bekommen, viel lukrativer und stimmig mit seiner politischen Überzeugung.

Heute, er wachte auf. Wach war er ja, öffnete die Augen, hörte auf das Stampfen des alten Dieselmotors und erhob sich. Es saß in der Kabine eines Schiffes. Jetzt bin ich Matrose eines Frachters auf den Kanälen. Hätte mehr aus meinem Leben machen können, meinte er, als er seine schweren Stiefel anzog. Und dann auch noch auf der Flucht. Warum eigentlich? Er hatte mit vielen Frauen geschlafen und immer einvernehmlich. Keinem hatte er was angetan. Gut, seinen Eltern, die hatten erwartet, dass er nach Studium Karriere machte. Aber sonst? Ihm fiel nichts ein. Doch sein Job verlangte von ihm absolute Diskretion. Denn man hatte ihn geweckt, den Schläfer für besondere Aktionen.

„Dich gibt es nicht! Das musst du dir eintrichtern! Ein Verbindungsmann zwischen Organisation, die dir völlig egal sein muss und Laufburschen.“ Eine überaus attraktive zirka 30-jährige Frau hatte ihn Jahre nach der Beerdigung seines Vaters bei einem seiner Konzerte angesprochen. In einem schwarzen Kostüm tat sie so, als ob sie ihn schon jahrelang kannte. Muss ´ne Cousine sein, dachte er noch. Oder Papa hatte eine Affäre gehabt. Halbschwester?

Doch als sie ihn ansprach, ihr Anliegen vortrug, da konnte sie keine Verwandte sein.

Später fragte er sich, wie sie ihn ausgesucht, gefunden hatte. Denn bis zu diesem Zeitpunkt war sein Leben politisch so interessant gewesen, wie das Leben eines Nacktmulls. Heute glaubte er es zu wissen. Zufall, die Dame hat ihn irgendwo gesehen, ihn, den Musiker ohne Bindung.

Einige Jahre später wurde er geweckt. Dabei hatte er das Zusammentreffen mit der Dame längst vergessen. Doch es passte, wie vieles in seinem Leben. Das Geld wurde knapp, extrem knapp, sodass er sogar den Job eines Matrosen angenommen hatte. Nun, jetzt hieß es verschwinden, ganz schnell untertauchen. Glück muss man haben! Hatte er eigentlich sein ganzes Leben gehabt, bis … ja bis …

„Hein, kuemm es! Ick bruuk di!“

Der Käpt‘n, dachte er. Hein, nein so hieß er nicht, aber der Chef des Schiffes meinte, alle seine Matrosen hießen Hein. War auch egal, oder sogar besser. Denn seinen richtigen Namen hatte der Käpt‘n längst vergessen.

Das Schiff fuhr in die Schleuse Münster ein. Da musste er vorne am Bug des Schiffes die Einfahrt kontrollieren. Hier in der neuen Schleuse war das recht einfach, aber in der Bevergerner Schleuse passte links und rechts vom Schiff keine Hand mehr dazwischen. Da soll ´ne neue breitere Schleuse gebaut werden, hatte ihm der Käpt‘n erzählt. Nur wann, das stand wie immer in den Sternen.

Hein schlurfte ans Vorschiff. Mit dem ‚Walky-Talky‘; Mensch, die Dinger gibt es immer noch, informierte er den Chef des Schiffes. Festmachen in der Schleuse war gestern, hatte der Käpt‘n ihn aufgeklärt. Und dann kam das Seemannsgarn. Soll mal ´n fauler Matrose vergessen haben, die Taue zu lösen, als das Schiff in der Schleuse zu Tal fuhr. Das Schiff hing schief, die Taue wurden mit einem Beil gekappt und beinahe wäre der Kahn dabei abgesoffen.

Hein stand vorn am Bug und beobachtete die Einfahrt.

Wie immer standen Schaulustige oben auf der Schleuse.

„Harry, dass bist doch du?“

Hein schaute nach oben. Nein, den kannte er nicht. Aber es war sein alter Spitzname, damals, als er in der Band spielte.

„Der Gitarrist, du bist doch der Gitarrist, ‚Palmenzweig‘, oder hieß die Gruppe nicht so?“

Der muss mich erkannt haben, vermutetet Hein. Nur, er wollte nicht erkannt werden, nein, er durfte nicht erkannt werden.

„Weiß nicht, wovon Sie reden. Ich heiße Hein und nicht Harry und Gitarre kann ich sowieso nicht spielen!“

Das Schiff schob sich weiter in die Schleuse. Hein schaute intensiv nach vorne und gab einige Kommandos ins ‚Walky-Talky‘. Der Rufer von der Oberkante der Schleuse hatte sich nicht mehr gemeldet, Gott Dank. Die Besichtigungsterrasse lag jetzt hinter ihm. Bis auf die Höhe des Vorschiffs konnte man von dieser Terrasse nicht kommen. Doch noch Schwein gehabt!

November 2018

„Männliche Leiche, Alter zwischen 20 und 25, Todesursache: schwerer Schlag auf den Kopf“, las Albertina Beiersdorff den Bericht des Rechtsmediziners, Dr. Volker Schirrmeister, laut vor.

„Männlich, dafür brauch‘ man kein Studium, hab‘ das Geschlecht sofort erkannt.“

„Kevin, du bist allwissend! Ist mir bekannt!“

„Ob männlich oder weiblich, das sehe ich auf den ersten Blick!“

„Quod erat demonstrandum!“

„Was soll denn das heißen?“

„Ach, der Herr Polizeiobermeister hat kein Latinum?“, grinste Albertina.

„Nein, dafür erkenne ich …“

„Ja, du wiederholst dich! Und jetzt zum Spruch: ‚Was zu beweisen war‘. Verstehst du doch? Du musst das, was du so vollmundig von dir gibst, beweisen. Kannst du das?“

„Hab´ ich doch, gestern bei der Leiche!“

„Ein Beweis muss sich immer wieder beweisen lassen. Das ist ein Theorem der Wissenschaft. Das bedeutet für dich, bei jeder Leiche musst du, bevor die Rechtsmedizin Klarheit schafft, das Geschlecht bestimmen.“

„Kein Problem!“

Jetzt lachte die Polizistin, Albertina Beiersdorff, laut auf. „Hast du schon mal Transvestiten gesehen? Ich bezweifele das. Gehen wir eine Wette ein!“

„Okay, gegen ´ne Kiste Bier!“

„Nee, gegen ´ne Einladung zum Essen. Der Gewinner bestimmt das Lokal.“

„Hab‘ schon gewonnen!“

„Hast recht. Wir müssen ´ne Zeitspanne eingeben!“

„Ein Jahr, was …“

„Sie sollen den Fall so schnell wie möglich aufklären. Wer hat da was von einem Jahr gesagt?“ Der Leiter der Kripo, Hans-Heiner Hasenschrodt, genannt ‚H-hoch-drei‘, stand plötzlich im Büro der beiden. Hasenschrodt war ein Pedant, was an seiner Kleidung schon zu erkennen war. Egal, ob Sommer oder Winter, er trug immer ein Jackett mit Fliege. Das Jackett war modisch und er wechselte es täglich, sodass Kollegen, die ihn selten sahen, das manchmal gar nicht erkannten. Nein, hatte er mal verlauten lassen, er wolle nicht wie der Gauland von der AfD aussehen, immer dasselbe Jackett.

Hasenschrodt war recht klein, daher trug er Schuhe mit etwas höherem Absatz, was seinen Gang stelzenhaft erscheinen ließ. Im Dienst war er nervig, manchmal unausstehlich. Trafen Kollegen ihn privat, sah das ganz anders aus, er war menschlich, nahezu persönlich aufdringlich. Da er Privatleben und Dienst strikt trennte, konnte es passieren, dass Kollegen ihn beim Bier geduzt hatten, das am nächsten Tag fortsetzten, was dann auf Ungnade beim Chef fiel.

„Hat …“, Kevin stotterte, „nichts mit dem Fall zu tun. War was …“

„Alter Fall“, preschte Albertina dazwischen. „Sie erinnern sich doch noch an die Mörderin, die die Freunde ihres Schwiegervaters und den auch noch umgebracht hatte.“

„Gut, wie weit sind Sie mit dem neuen Fall?“

„Versuchen, die Identität herauszufinden. Und dann haben wir ja noch die DNA. Warten auf die Daten der Rechtsmedizin.“

„Na, dann mal los!“ Der Chef verschwand.

„Danke! Wusste im Moment nicht, was ich sagen sollte!“

„Eben, Frauen können besser lügen!“

„Oh, oh, das durfte aber keiner hören. Wenn ich das deinem Freund erzähle!“

„Kannste ruhig. Hab‘ ihn gestern in den Wind geschossen. Ist vorbei. Der hat mehr gelogen, als du dir überhaupt denken kannst.“

„Tut mir leid!“

„Braucht´s aber nicht. Ich war zu vertrauensselig und er zu blöd. Seine vielen Tussies hat er per WhatsApp gelistet. Irgendwann klackerte das Handy, ich wollte es ihm geben. Er stand unter der Dusche. Und dann las ich eben das Liebesgesülze von einer Sandra.“

Albertina Beiersdorff war der Liebe wegen aus Siegen nach Ibbenbüren gezogen, was sie im Nachhinein bereute. Denn ihre Freunde und Bekannten waren im Siegerland geblieben. Sie lebte jetzt mit Kind im nördlichen Münsterland. Und da die Dienstzeiten wechselten, war ein Wochenendbesuch so selten, dass sie es bald aufgab. Sie musste neue Freunde finden, was ihr eigentlich nicht schwerfiel. Sie sah gut aus, durchtrainiert und meistens gut gelaunt. Nur mit ihrer Körpergröße hatte sie ein Problem, sie war eins-neunzig groß. Daher blieb sie immer sitzen, wenn ‚H-hoch-drei‘ ins Büro kam. Bei ihrer Vorstellung vor gut einem Jahr war sie vor dem Schreibtisch des Chefs stehengeblieben. Das kam nicht gut an, als der aufstand und ihr die Hand gab. Sie musste runterschauen, was ‚H-hoch-drei‘ als despektierlich empfand.

„Ich glaub´, wir sollten jetzt weitermachen, was meinst du?“, meinte Kevin.

Albertina Beiersdorff und Kevin Magner bildeten seit einem halben Jahr ein Team. Beide verstanden sich von Anfang an gut, zu gut, meinten einige Kollegen. Ob da was läuft? Vielleicht fand Kevin seine Kollegin nicht nur im Dienst ganz nett, aber er hatte eine angeborene Distanz zu Kolleginnen. Seine Eltern waren beide im Polizeidienst gewesen und das brachte ständige Konflikte und Streitereien mit sich.

Als junger Polizist hatte Kevin bei Stella Bevergern Judo trainiert. Dabei war er sogar erfolgreich gewesen. Dann kam die unglückliche Verbindung mit einer Sportlerin. Jetzt nach gut zwei Jahren Trennung lebte er wieder auf. Er suchte eine neue Beziehung, nur eben nicht beim Sport und im Dienst.

Kevin war etwas kleiner als seine Kollegin, wenn auch nur zwei Zentimeter. Aber zwei Zentimeter sind schon ein großer Unterschied, was seine neidischen Kollegen beim Bier abends gerne einwarfen. Sie neideten ihm die Arbeit mit Albertina, einer eben gut aussehenden, fast immer gut gelaunten Kollegin.

Kevin legte im Gegensatz zum Chef keinen großen Wert aufs Äußere. Nein, Jogginghosen trug er nicht, aber abgewetzte Jeans, dazu meistens ein ungebügeltes T-Shirt und eine uralte Lederjacke. „Die gehörte meinem Vater“, hat er mal seiner Kollegin gestanden, die dann laut auflachte und meinte, das müsste eher der Urgroßvater gewesen sein. Kevin war zwar etwas beleidigt, aber Albertina schaute ihn dann so reizvoll an, dass er dann auch lachte, was wieder ‚H-hoch-drei‘ ins Büro lockte.

Um 2016

Sie waren Freunde, vier 16-jährige Jungs, eine verschworene Gemeinschaft. Begonnen hatte es, kaum dass die vier von der Grundschule zur Gesamtschule wechselten. Zwei waren damals schon richtige Draufgänger gewesen, einer ein mehr ängstlicher Typ und der vierte im Bund stieß zufällig zu den dreien. Dessen Eltern waren als Gastarbeiter in den 1970er Jahren aus der Türkei nach Deutschland gekommen. Bis zum Kohleausstieg arbeitete der Vater bei der RAG in Ibbenbüren.

Die Eltern der anderen Jungs zählten zu den Durchschnittsmenschen, unauffällig, strebsam, die nur das Beste für ihre Kinder wollten. Alle, auch die ehemaligen Gastarbeitereltern, besaßen ein Eigenheim. Während zwei der Jungs noch Geschwister hatten, waren die beiden anderen Einzelkinder. Es sollte aus denen was werden, ein besseres Leben haben, als die Eltern. Daher arbeiteten auch die Mütter, wenn auch nur in Jobs ohne großes öffentliches Ansehen.

Die Jungs waren daher nachmittags nach dem Unterricht auf sich selbst gestellt. Wahrscheinlich entwickelte sich dadurch eine Freundschaft, die dicker nicht sein konnte. Außenstehenden Klassenkameraden war ein lockerer Kontakt in diese Gruppe möglich, wie beispielsweise bei Vorbereitungen zu Klassenarbeiten, aber richtig dazu gehörten die nie. Nach solchen Terminen zogen sich die vier schnell wieder zurück. Von außen betrachtet, gingen die vier nicht mal böse oder aggressiv dabei vor. Die vier waren so innerlich verbandelt, nach außen verschworen.

Traditionsbewusst standen die Eltern zu ihren Religionen. Das wurde den Kindern auch so vermittelt. Wer macht sich vor der Pubertät auch große Gedanken über einen Gott, der bei den einen Jesus Christus und bei dem anderen Allah heißt. Eigentlich ist Religion in dem Alter nur hinderlich. Da gibt es feste Rituale, die von den Eltern nicht nur vorgelebt, sondern auch von ihren Sprösslingen nachgelebt werden müssen.

Dann kam die Pubertät und die vier lehnten sich auf, gegen Eltern, Lehrer und Gesellschaft. Religion wurde als total überflüssig angesehen. Und Gott wurde negiert. Hitzige Diskussionen gab es abends am ungeliebten gemeinsamen Abendbrottisch. Während die christlichen Eltern langsam verzweifelten, gab es im Haus des Moslems keine Alternativen. Das einzige Kind war und blieb Mohammedaner. Innerlich löste sich der Junge von der Religion, genauso wie seine drei Freunde.

Jetzt fühlten sich die vier befreit, nicht mehr eingeengt von Eltern mit überholten Vorschriften. Eine Rebellion war das sicher nicht. Denn zuhause wurde das Thema nicht mehr diskutiert. Nach den ersten heftigen Streitgesprächen glaubten die Eltern endlich, ihre Kinder seien wieder zum Glauben ihrer Eltern und Vorfahren zurückgekehrt. Daher bemerkten sie auch nicht, dass sich die Sprösslinge plötzlich änderten, sich eine innere Verwandlung entwickelte.

Wer, warum und wann, Jahre später war das nicht mehr erklärbar. So etwas kommt nicht plötzlich, wie der Heilige Geist bei den Christen zu Pfingsten. Vielleicht war es der Junge aus der türkischstämmigen Familie, der alles ins Rollen brachte. Denn der introvertierteste der Gruppe war durchgeistigt, mehr als die anderen. Vielleicht fühlte er sich in seinem Körper nicht wohl. Er stellte fest, ohne dass seine Freunde das je erfahren haben, dass er schwul war. Und damit kam er nicht zurecht, zuhause, bei seinen Freunden, in der Schule und in der Gesellschaft nicht. Outen, würde er sich nie. So zog es ihn zuerst in die Esoterik. Danach beschäftigte er sich mit Weltreligionen, Buddhismus, Naturreligionen und zum Schluss mit der Religion seines Freundes, dem Islam.

Plötzlich gefiel ihm die strenge Auslegung des Korans. Das Christentum zu ‚wischi-waschi‘, das Judentum zu konservativ. Ja, Ausreden fand er immer. Den Koran ließ er sich von seinem Freund geben, weiteres fand er im Internet. Und ganz langsam wurde die Saat gesät, als er seinen eigenen Koran von den Salafisten auf der Straße erhielt.

Er schloss sich dieser Religion an und wurde bald einer der schärfsten Verfechter. Seine drei Freunde bemerkten erst später seine geistig religiöse Verwandlung. Die ersten Diskussionen mit denen verliefen kontrovers. Streit kam auf, flachte ab und am Ende von ein paar Wochen hatte er alle überzeugt. Seltsamerweise gestaltete sich die schwierigste Überzeugungsarbeit bei dem jungen Mann, dessen Eltern aus der Türkei stammten.

„Reden hilft nicht!“, war einer seiner Sprüche. „Es muss ein Fanal her!“

Zwei der jungen Männer machten Abitur am Goethe in Ibbenbüren, einer hatte nach dem Besuch der Gesamtschule Hörstel eine Lehre als Schlosser begonnen und der vierte bekam sein Leben nicht in den Griff. Er verließ die Hauptschule ohne Abschluss. Jetzt lebte er von Gelegenheitsarbeiten im Gartenbau. Trotz der großen sozialen und geistigen Unterschiede blieben sie Freunde.

So saßen die vier wieder vereint, anfangs bei einem der vieren und diskutierten über Einsätze in Syrien. Doch die drei Wortführer hofften auf ein Umdenken der Bevölkerung im eigenen Land.

„Es muss was Großes, noch nie Dagewesenes, passieren. Dann ändert auch der normale Bürger seine Gesinnung!“

So wurde geplant, verworfen, strategisch gedacht, aber nie kam es zu einer Entscheidung, zum großen Plan. Wie auch? Die nähere Umgebung, die nächsten größeren Orte waren Rheine, Ibbenbüren und Emsdetten, nicht gerade die große Welt oder, wie der Wortführer meinte: „Selbst, wenn alle diese Städte brennen, wer in der Welt kennt die denn?“

„Würde man aber mit diesem Fanal kennenlernen“, meinte der eine.

„Stimmt, so was Großes wäre schon toll.“

„Nur, so viel Sprengstoff kriegen wir nie!“

„Unsere Gruppe vergrößern?“, warf einer ein.

„Nein, dann sind wir zu schwerfällig und können schneller ausspioniert werden.“

„Strommasten!“

„Was ist damit?“

„Logisch!“ Einer der vier fasste sich an den Kopf. „Wieso bin ich nicht darauf gekommen!“

„Kapier‘ ich nicht!“

„Ganz einfach“, ergänzte der Ideengeber, „einen Masten sprengen, Dominoeffekt und viele kippen von alleine mit um.“

„Und?“

„Wir sprengen nicht nur einen, sondern …“

„Jetzt kapiere ich gar nichts mehr! Ich denke der Domino-…“

„Oh!“, stöhnten die anderen auf. „An mehreren Starkstromleitungen sprengen wir nur einen Masten …“

„Danke, hab´s kapiert!“

November 2018

„Bei Rossmann gibt es kein Milchpulver mehr!“

„Ist das ein Problem? Für Rossmann oder dich?“

„Für mein Kind. Seit ich nicht mehr stille, muss ich Lisa mit Milchpulver füttern!“

„Und das schmeckt deiner Lisa, Pulver?“

„Äh Kevin, willst du mich verarschen?“

Der Polizist lachte aus vollem Hals. „Klar“, er lachte immer noch, „und jetzt, musst du wieder stillen?“

„Geht nicht. Aber ich krieg‘ kein Milchpulver, also bei Rossmann und auch nicht bei DM. Aber jetzt bist du gefragt!“

„Wieso?“

„Das Milchpulver wurde gestohlen.“

„Wegen Milchpulver verlasse ich unser Büro nicht. Kinderkram!“

„Wenn schon, dann Babykram. Nur der Diebstahl hat Methode. Fast jeden Tag verschwindet nur das Milchpulver.“

„Sonst nichts?“, fragte Kevin, der aufgestanden war und sich hinter Albertina, seiner Kollegin stellte.

„Nein, nur Milchpulver. Und stell‘ dir vor, hier in Ibbenbüren, in Hörstel, in Rheine, ach egal, in allen Drogeriemärkten der Umgebung!“

„Seltsam, schau‘ mal im Rechner nach, ob unsere Kollegen auch damit zu tun haben!“

Beide schauten gebannt auf den Bildschirm, als plötzlich der Chef, Hans-Heiner Hasenschrodt, in der Tür stand. „Was macht der Tote vom Kanal? Schon weitergekommen?“

‚Ein Toter macht nichts mehr‘, wollte Kevin schon antworten, doch Albertina kam ihm zuvor. „Sind dran, Herr Hasenschrodt. Der Tote könnte ein Migrant sein. Spusi prüft das noch. Tod durch Schlag mit einem länglichen Gegenstand, wahrscheinlich Holz, auf den Hinterkopf. Erwarten heute Nachmittag weitere Infos. Sind gerad´ an einer Parallelgeschichte. Prüfen das noch. Hat mit unserem Toten wohl nichts zu tun.“

„Gut, und was ist das für eine Parallelgeschichte?“

„Diebstahl von Milchpulver“, rutschte es Kevin raus.

‚Blödmann‘, dachte Albertina. Das versteht ‚H-hoch-drei‘ doch sowieso nicht. Der Alte hat doch keine kleinen Kinder, wahrscheinlich nicht mal ´ne Frau. Aus dem Privatleben des Chefs war wenig, eigentlich gar nichts bekannt, obwohl er bei den Dienstjubiläen der Kollegen immer der letzte war, der die Feier verließ.

„Milchpulver, kann ich mir kaum vorstellen. Wieviel Tonnen sind denn wo gestohlen worden? Bei Kröner Stärke etwa?“

„Nee, die machen nur Stärke, sonst hießen die …“

„Danke, Frau äh, Beiersmann!“

„-dorff.“

„Wieso im Dorf gestohlen?“

„Nein, mein Name ist Beiersdorff, nicht Beiersmann.“

„Äh, ja.“ Und damit drehte er sich um und verschwand auf dem Flur.

„Das mit dem ‚Dorf‘ war gut“, meinte Kevin. „Es war ihm peinlich, sonst wären wir ‚H-hoch-drei‘ nicht losgeworden.“

„Frau äh, Beiers …“, den Rest verschluckte der Chef, „Milchpulver, da sind wir doch schon mal vorstellig geworden. Sie erinnern sich?“

Scheiße, dachte sie, der ist zurückgekehrt. Aber so trottelig wie der ist, hat der nicht mal bemerkt, dass wir über ihn lästern. „Fällt mir nicht ein. Müsste ich eigentlich wissen, da ich für Lisa gestern auch kein Milchpulver bekommen konnte. Gestohlen, hat mir die Kassiererin bei Rossmann erklärt.“

„Seh‘n ´se! Das war´s. Ein Kollege aus dem Ruhrgebiet hat mich angerufen.“ Hasenschrodt hatte seinen Zeigefinger an den Mund gelegt. Das machte er immer, wenn er nachdachte. Kann jetzt länger dauern. Das wussten die beiden Polizisten aus Erfahrung. Denn als nächstes erzählte der Chef von seiner Ausbildung in Selm, als das noch ´ne richtige Schule war und keine Fachhochschule, mit wem er damals die Stube geteilt hatte, zu wem er noch Kontakt hat und so weiter. Albertina und Kevin schauten ihren Chef dabei interessiert an. Aus Erfahrung wussten sie, dass er das liebte. Nach gut einer Viertelstunde kam Hasenschrodt auf das eigentliche Thema zurück.

„Milchpulver, der Kollege Müllersmann, der lag in der Nachbarstube …“

‚Ach, du Scheiße‘, dachten beide, ‚wann ist der endlich fertig‘. Denn während Albertina Beiersdorff saß, musste Kevin Magner stehend Interesse heucheln.

„Der rief mich doch vor ein paar Wochen an. Aha, jetzt fällt es mir wieder ein, Frau Beiers … Ich hab‘ unsere Kollegen von der Streife hingeschickt. Ging ja nur um fünf Pakete. Seh´n Sie, Frau Kollegin!“ Albertina grinste; er hat meinen Namen total vergessen. „Hab´ Sie gar nicht informiert. So, das hab‘ ich hiermit nachgeholt. Vermerk meinerseits leite ich Ihnen zu.“ Er drehte sich um und verschwand, hoffentlich für länger, dachte Kevin.

November 2018

Nach ein paar Tagen war die Leiche des jungen Mannes obduziert und seine DNA bestimmt worden. Die Fremd-DNA, die eigentlich Aufschluss über den Mörder geben sollte, stellte sich als Tier-DNA heraus.

„Natürlich, daran hätten wir doch sofort denken müssen! Das Wildschein!“

„Was meinst du mit Wildschwein, Kevin?“

„Der Schiffer hatte ein Wildschwein gesehen, das aus dem Haus am Kanal kam. Und was machte das Tier dort?“

„Fressen! Klar, das Wildschein hat an der Leiche mindestens geschnuppert. Doch was sind das für Vogelfedern?“

Seltsamerweise fanden die Spezialisten an den Füßen und unter dem rechten Arm Reste einer oder mehrerer Vogelfedern. Die Art des Vogels hatten die aber noch nicht bestimmt. Jetzt suchten die beiden Kripobeamten eine vergleichbare Opfer-DNA in ihrem System. Nichts. Kevin und Albertina waren enttäuscht. Aber was hatten die beiden Ermittler auch erwartet? Ein unbekannter junger Mann wird von hinten mit einem hölzernen Gegenstand erschlagen, an den nackten Füßen und unter den Armen finden die Spezialisten seltsame Vogelfedern. Einen so verrückten Fall hatten die beiden noch nie; wobei sie erst seit einem halben Jahr zusammenarbeiteten. Das wollten sie aber nicht gelten lassen.

„Wird denn kein junger Mann vermisst?“, fragte ‚H-hoch-drei‘, der plötzlich den Kopf in das Dienstzimmer der Beamten gesteckt hatte.

„Sind dran Herr H-ho … Hasenschrodt“, stotterte Albertina. „Könnte ein Migrant sein, hat etwas dunklere Haut. Daher haben wir noch keinen Hinweis.“

„Hier, leg´ ich Ihnen hin. Ein weiterer Fall. Da haben Sie genug zu tun. Also ran! Die Mörder schlafen nicht!“

„Was?“, Kevin hatte die Akte aufgeschlagen. „Eine junge Frau wird vermisst.“

„Dann noch kein Mord oder sowas?“

„Nein, aber die wird seit einer Woche vermisst. Die dreißigjährige Zoe Schulte.“

„Zoe und dann Schulte. Wie können die Eltern ihre Kinder nur so nennen?“

„Willst du meine Eltern beleidigen?“, grinste Kevin.

„Oh, stimmt, ich hätte mich längst umbenannt!“

„Geht nicht, hab´ nur einen Vornamen.“

„Armer Kerl!“

Wer vermisste einen jungen Mann? Die beiden Polizisten gingen davon aus, dass er aus der Gegend stammte. Bis jetzt hatten sich keine Angehörigen gemeldet, was eigentlich seltsam war. ‚Der war noch so jung, da müsste es doch Eltern geben?‘, fragte sich Albertina. Oder war das ein Migrant, der ohne Angehörige hier vor ein, zwei Jahren nach Deutschland gekommen war?