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Im Kaukasus stürzt ein Zapfenpflücker von einer Nordmannstanne, in Deutschland wird ein Forstwissenschaftler von vier Gangstern verfolgt. Was hat das eine mit dem anderen zu tun? Warum hat dieser Wissenschaftler sein Gedächtnis verloren? Mit Hilfe von neu gewonnen Freunden flüchtet er quer durch die Wälder des Sauerlands und des Reinhardswalds, wobei er und seine Freunde permanent in Lebensgefahr schweben.
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Bluttannen
Ein Thriller zum Weihnachtsbaum
Dr. Klaus Offenberg
Impressum
Texte: © Copyright by Klaus Offenberg
Umschlag: © Copyright by Jakob Skatulla
Verlag: Dr. Klaus Offenberg
Herrenstr. 20
48477 Hörstel
2022
Eine Reminiszenz an den finnischen Biologen, Alexander von Nordmann (1803 bis 1866), der die Tanne 1835 im Kaukasus nordöstlich von Bordschomi (Georgien) entdeckt hatte. 1842 erhielt dieser Baum den wissenschaftlichen Namen Abies nordmanniana, deutsch Nordmannstanne, heute gebräuchlicher Nordmanntanne.
Jagdhütte
Er wachte auf. Ihm war kalt und sein Schädel brummte, als wenn er die ganze Nacht durchgesoffen hätte. War es Morgen, Nachmittag oder Abend? Nichts, aber auch nichts fiel ihm ein, nicht einmal sein Name. Was machte er hier, hier in der Kälte? Noch war es dunkel, nicht ganz dunkel, aber auch noch nicht hell. Oder war es Abend, dann, wenn die Sonne gerade unter dem Horizont verschwand? Nichts wusste er, nur, dass er noch lebte. Nur wie? Er fror erbärmlich, obwohl er unter so einer seltsamen Plastikplane lag. Den Kopf hatte er zur Seite gelegt, er meinte sich zu erinnern, dass er das immer so machte, wenn er im Bett lag. Nur er lag nicht im Bett. Unter ihm mussten Bretter sein. Denn als er sich bewegte, er wollte aufstehen, knackte es, wie Bretter eben knacken, wenn man Druck ausübt.
Er hatte seinen Oberkörper vorsichtig über die linke Körperseite aufgerichtet. Sein Kopf schmerzte, so dass er mehr oder weniger unbewusst an den Hinterkopf fasste. „Au!“, schrie er, als er eine große Beule ertastete. Wo kam die her? Er wusste es nicht.
Jetzt saß er aufrecht und schaute sich um. Es war feucht, muss geregnet haben, dachte er. Darum ist mir auch so kalt. Wie komme ich bloß hierher?, fragte er sich immer wieder. Gott Dank, die Sonne ging auf. Er schaute Richtung Osten durch ein Gewirr von Ästen. Es wurde langsam hell. Gut, dass ich noch weiß, in welcher Himmelsrichtung die Sonne aufgeht.
„Im Osten geht die Sonne auf, im Süden macht sie ihren Lauf. Im Westen muss sie untergehn, im Norden ist sie nie zu sehn!“
Er hatte es laut zitiert, das Kindergedicht. „Warum?“ Jetzt redete er mit sich selbst. „Hört ja keiner zu!“ Er sprach leise; er wusste aber nicht warum. „Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste! Verrückt, weiß nicht, was mit mir los ist und zitiere Sprüche. Ich glaub´, ich hab ´ne Macke!“
Nur das hilft nicht, dachte er. Nein, nicht laut reden. Denken! Du bist nicht doof. Woher weiß ich das?, fragte er sein Gehirn. „Glaub´ ich zu wissen!“ Doch wieder laut gesprochen. Wie war das, du bist nicht doof? Dann musst du jetzt logisch denken. Zuerst die Frage wo bin ich? Dann was mache ich hier? Und dann wer bin ich?
Wenn du die erste Frage beantworten willst, steh´ auf und schau dich um!, befahl er sich selbst aktiv zu werden. Er stand vorsichtig auf, legte die Plastikplane zur Seite.
Ja, ich schaue in belaubte Äste. Das bedeutet, dass ich nicht auf dem Boden stehe, sondern auf einem erhöhten, von Menschenhand hergestellten Bauwerk oder sowas. Auch die Holzbretter beweisen meine Vermutung.
Er drehte sich einmal um die eigene Achse. Osten haben wir geklärt, damit ist es Morgen und nicht Abend.
Egal wohin er schaute, überall belaubte Äste. Und wenn ich über die Kante der Bretter,… Kante?, fragte er sich. Ich stehe auf einem Gebäude aus Holz. Hinter der Kante erkannte er in allen Richtungen Bäume, Buchen, Altbuchen. Starkes Baumholz, zirka 30 Meter hoch, jeweils 1,5 Festmeter pro Baum ergibt bei gut 200 Bäumen pro Hektar 300 Festmeter.
Was macht da dein Gehirn mit dir?, fragte er sich plötzlich. Ich muss mich mit Waldbewirtschaftung auskennen. Sonst würde ich wahrscheinlich nicht einmal die Baumart kennen. Er grinste, das hilft sicher weiter, weiter um mich zu erinnern, dachte er.
Nur was mache ich hier im Wald auf einer,…?, jetzt hatte er es, Jagdhütte. Er hatte auf einer Jagdhütte geschlafen. Nur warum und was war gestern?
Er nahm sich Zeit und betrachtete seinen Schlafplatz. Ihm war immer noch kalt. Nen heißer Kaffee wäre jetzt das richtige, ´ne heiße Dusche auch. „Später, erstmal sehen, was unter der Plane…“
Er hob die Plane an. Neben einem Rucksack lag eine Pistole. „Oh. Scheiße!“ entfuhr es ihm. „Pistole“, er sprach jetzt leise. „Wie kommt die denn hier her?“ Er nahm sie in die Hand. Seltsam, er kannte diese alte Waffe. „Offizierspistole aus dem Ersten Weltkrieg, eine Dreyse 7,65.“ Woher weiß ich das?, fragte er sich. Bin ich Waffennarr, Gangster oder sowas? Nein, irgendwas mit Wald und Jagd. Das ist eine Kurzwaffe. Schon wieder so ein Wort, was nur ein Fachmann kennen kann, dachte er, Kurzwaffe, jagdlicher Ausdruck für Pistole oder Revolver.
Er hatte die Pistole rechts in seinen Gürtel gesteckt, unbewusst. Jetzt zog er den Rucksack zu sich. Ganz schön schwer, dachte er. Als er ihn öffnete, wusste er, was der beinhaltete. Eine Kletterausrüstung zum Besteigen von Bäumen. „Klar, ich hab´ ´ne Kletterausbildung gemacht. Zapfenpflücker. Mensch“, er wurde richtig laut, „ob ich Erntemöglichkeiten von Waldbäumen ausgelotet habe?“
Aber das beantwortet nicht die Frage, wo? In welchem Wald? Buchenaltholz, hatten wir schon mal. Kommen Buchen in ganz Europa vor? Scheiße, weiß ich nicht. Buche, atlantische Baumart in Mitteleuropa, so oder so ähnlich hab´ ich´s doch gelernt. Da gibt´s noch die orientalische Buche, Fagus orientalis. „Super, kenne sogar die wissenschaftlichen Namen.“ Kommt die nicht auch im Kaukasus vor, gemeinsam mit der Nordmannstanne?
„Scheiße, wie komme ich auf Kaukasus? Und wenn das hier der Kaukasus wäre und nicht irgendein Mittelgebirge in Deutschland!“ Er setzte sich. Das musste erstmal verdaut werden. Nur ohne weitere Infos komm ich nicht weiter. Auch wenn ich das Gefühl habe, dass der Wald mich zurzeit schützt, ich muss raus, eine Ortschaft oder ein Bauernhof, egal was. Anhand der Architektur kann man schnell erkennen, in welcher europäischen Region man ist, dachte er.
Er faltete die Plane zusammen, ließ vorsichtig den Rucksack vom Dach dieser Hütte hinab. Jagdhütte, er war sich auf einmal gar nicht mehr so sicher. In Deutschland ja, aber im Kaukasus? Egal, erstmal das Gebäude von der Seite betrachten. Er sprang runter, gut zwei Meter. Dann stand er vor dem Holzhaus. Wie bin ich da hinauf gekommen?, fragte er sich, als er unten vor dem kleinen Gebäude stand.
Zuerst einmal das Haus von allen Seiten betrachten! Rechts rum, und da wurde ihm klar, wie er hinaufgekommen war. Vor dem Eingang, na ja, Eingang, mehr oder weniger eine Brettertür, hatten die Erbauer mal eine Holzveranda mit Geländer angebracht. Über das Geländer war er hinaufgeklettert. Nur mit Glück, wie er das jetzt beurteilte. Denn das Geländer war durch sein Gewicht zusammen gebrochen.
Links und rechts vom Eingang gab es jeweils ein Fenster, die mit Blendläden verschlossen waren. Die anderen Seiten des Holzhauses besaßen weder Eingang noch Fenster. Wahrscheinlich ´ne Sicherheitsfrage. Das Dach des Holzhauses, auf dem er die Nacht verbracht hatte, war leicht schräg, kein Spitzdach. Er lachte, denn dann hätte er wohl kaum dort oben liegen können. Neugierig wie er war, ich muss neugierig sein, dachte er, sonst finde ich nie heraus, was hier vor sich geht, riss er die alte Holztür auf. Sie war nicht verschlossen gewesen. Er ging hinein. Warum hab´ ich die Nacht nicht hier drin verbracht? Muss einen Grund haben. Wilde Tiere? Bären? Er hatte doch was darüber gelesen, über den Kaukasus. Warum dachte er immer an den Kaukasus? Luchs, Schakal, Leopard und Wolf. Na ja, das muss der Grund gewesen sein.
Oder? Eigentlich nicht, denn außer Bär hatten die anderen Carnivoren, schon wieder ein Wort, was nicht jeder kennt, Angst vor dem Menschen. Und bei geschlossener Tür, geschlossen, er lachte, zuschließen war nicht möglich. Also, doch Gefahr durch Carnivoren.
Und wenn es der Mensch ist, vor dem ich mich verstecke? Wäre viel schlimmer, denn, so sinnierte er, ich kann wilde Tiere erkennen, nur welche Person hat es auf mich abgesehen? Ich weiß es nicht. „Verdammte Scheiße!“, schrie er laut in der Hütte, in der er keinen weiteren Hinweis auf sich und für sein Problem fand, nur zwei Stühle, einen Tisch und zwei schmutzige Feldbetten. „Sicher verlaust!“
Er verließ die Hütte, nahm den Rucksack auf und marschierte Richtung Trampelpfad, der von dem Holzhaus hinab ins Tal führte.
Zapfenpflücker
Irgendwann in den 1980er Jahren lösten Tannen die Fichte als typischen Weihnachtsbaum in den deutschen Haushalten ab. Die bis zu dieser Zeit neben der heimischen Rotfichte bevorzugte aus Nordamerika stammende Blaufichte war schon lange wegen ihrer extrem spitzen Nadeln unbeliebt geworden. Weißtannen, eine in Süddeutschland heimische Art, kam nicht in Frage. Die findigen Weihnachtsbaumproduzenten in Dänemark, in Schleswig-Holstein und dem Sauerland kamen mit der Edeltanne, von den Spezialisten auch Nobilis oder Procera genannt, auf den Markt. Besonders die Blaufärbung der Nadeln, eben wie bei der Blaufichte, ließ in der Weihnachtsstube die Herzen von Hausfrau, Vater und Kindern höher schlagen. Dazu kam dann auch noch das späte Abstoßen der weichen Nadeln, das Nadeln genannt, an denen sich keiner verletzten konnte.
Die Weihnachtsbaumproduzenten suchten nach weiteren Tannenarten auf der Welt. Aus Nordamerika bot sich die Koloradotanne, die Tanne mit den längsten und auch bläulich schimmernden Nadeln, an. Gute Erfahrung machten dann die ersten Forstverwaltungen mit der Nordmannstanne, deren benadelten Äste als Schmuckgrün schon frühzeitig im November Gartenbaubetrieben angeboten wurden.
Jetzt war der richtige Tannenbaum gefunden. Die Weihnachtsbaumproduzenten schickten ihre Saatguteinkäufer in die Region des natürlichen Verbreitungsgebiets der Abies nordmanniana los, um so viel wie möglich an Samen zu kaufen. Mit den Käufern zogen die ersten Zapfenpflücker in die Region um den Kaukasus, dort wo die Art im ostpontischen Gebirge der Länder Georgien, Russland, der Türkei und Aserbaidschan wuchs. Noch fanden anfangs die Saatguteinkäufer genug Altbäume, die regelmäßig fruktifizierten. Leider hatten die Nordmannstannen, wie alle Tannen die Angewohnheit, keine Zapfen als Ganzes abzuwerfen, wie Fichten oder Kiefern, sondern nur einzelne Schuppen mit Samen. Es mussten Männer auf die über 50 Meter hohen Bäume steigen und die fast reifen Zapfen als Ganzes pflücken.
Die Forstbaumschule „Tannengrün“ im Münsterland hatte ihren erfahrenen Chef und Saatguteinkäufer, Franz Sohlmann, mit dem Fachmann der Universität Göttingen, Dr. Heinrich Bader, nach Georgien geschickt. Der eine sollte mit den Waldbesitzern, in der Regel der Staat, auch wenn das Land den Bauern gehörte, Verträge abschließen, der andere die Ertragslage vor Ort erkunden.
Im Spätsommer 2016 waren beide mit einem Ortsführer in das verlassene Nest Laschitschala gefahren. Von hier aus sollte es zu Fuß weiter gehen. Von der Hauptstadt Tiflis war es die Nationalstraße Nr. 60 Richtung Westen gegangen. In Sestaponi, ein typisch vom Stalinismus geprägter Ort mit gut 25 000 Einwohnern, nahm das Taxi die Straße Richtung Norden zum Svaneti Planned National Park.
In Laschitschala erwartete die beiden der heimische Förster mit seinem altersklapprigen Lada. Radebrechend in einem holprigen Englisch bat er Franz Sohlmann und Heinrich Bader auf der hinteren Sitzbank Platz zu nehmen, denn vorne gab es nur den Fahrersitz.
Der Lada quälte sich, nachdem er die gepflasterte Straße verlassen hatte, einen Waldweg hinauf ins Kaukasusgebirge. Der an vielen Stellen ausgehöhlte Weg zog sich in Kehren, an Steilwänden und Abhängen entlang immer höher hinauf zu den besten Altbeständen der Nordmannstannen.
Nach gefühlten Stunden in einem schlecht gefederten Geländewagen kamen die Drei in einem lang gestreckten Hochtal an. Der Fahrer parkte den Lada neben einem modernen SUV Qashqai vor einer Waldarbeiterhütte, die am Rande einer Wiese lag. Hinter der Hütte rauschte ein Bach, danach ging es steil den Berg hinauf. Direkt über der Hütte lag ein Felsvorsprung, der dem Holzhaus Schutz vor Schnee und Regen bot.
Die beiden Herren aus Deutschland schauten etwas besorgt zu diesem Felsüberhang, so dass der Fahrer lachend hinaufzeigte und meinte, dass das „Ding“ da oben wohl schon tausend Jahre da hing.
„Hier, Nordmann. Da Samen in Sack!“ Er zeigte auf Jutesäcke, die mit Zapfen der Tannen gefüllt waren. Sohlmann ging zu den Säcken und nahm ein paar der grünen verharzten Zapfen in die Hand.
„Sehen gut aus, schau mal Heinrich! Wenn die alle so sind, können wir das Geschäft abschließen.“
„Wenn der Preis stimmt! Ich möchte zuerst die Bäume sehen und auch die Art der Ernte. Und dann musst du entscheiden.“
Aus dem Holzhaus trat ein kleiner Mann im Lodenmantel. Er ging direkt auf Sohlmann zu und begrüßte ihn in recht gutem Deutsch. „Schön, dass ihr geschafft. Wir gemailt. Iwan Boroschenko. Nennt mich Iwan, sagt jeder.“
Neben dem Holzhaus stand ein grob gezimmerter Tisch, auf dem eine Flasche mit klarer Flüssigkeit und vier Wassergläsern stand.
„Zuerst ein Willkommensgruß!“
Muss das sein?, dachte Heinrich Bader, lächelte dem Gastgeber aber zu.
Der Wodka hatte es in sich, da jeder zwei volle Wassergläser trinken musste. Auf nüchternem Magen, wenn das man gut geht, dachte Bader.
„Gleich gibt es Essen. Vorher gehen wir zu den Bäumen!“
Gott Dank, dachte Bader. Noch mehr Wodka und ich kann für nichts garantieren. Dem Ladafahrer und Iwan merkte man nichts an. Die sind entweder immun oder die trinken täglich, überlegte Bader, als die beiden Einheimischen den schmalen Pfad hinauf zu den Tannenbeständen voran gingen.
Sohlmann und Bader konnten kaum folgen. Muss der Schnaps sein, dachte Sohlmann. Dass es auch die Höhe war, fiel ihm nicht ein. Der ungewohnte geringere Sauerstoff hier in 2000 Metern machte den Tieflandmenschen stark zu schaffen. Zusätzlicher Wodka beeinträchtigte deren Kondition. Nach einer halben Stunde anstrengendem Fußmarsch an alten Orientbuchen vorbei standen die vier plötzlich vor riesigen Nordmannstannen.
„60 Meter oder mehr!“, sagt Iwan, als die beiden endlich aufgeschlossen hatten.
„Na, Heinrich, hättest du Lust?“, fragte Sohlmann.
„Klar, werde heute Nachmittag hoch gehen. Jetzt nicht, Alkohol, du weißt ja.“
„Männer sind oben“, meinte Iwan. Er zeigte auf die Zapfen, die unter den Bäumen lagen. „Brechen oben ab und schmeißen runter.“
„Wann kommen die wieder runter?“, fragte Bader.
„Heute Abend.“
„Aber die schaffen doch mehr als einen Baum pro Tag?“
„Klar, gehen rauf auf Baum eins, kommen runter von Baum zehn oder mehr!“
„Gefährlich, in Deutschland verboten. Immer ein Baum hoch und runter. Dann neuer Baum.“ Bader hatte sich der Sprache von Iwan angepasst.
„Hier nicht. Besser so.“ Vor ihnen fielen mehrere Zapfen hinab. Ein kleiner Junge kam hinter einer Gruppe Alttannen hervor und sammelte die Zapfen ein.
„Kinderarbeit?“
„Warum nicht? Verdienen Geld. Hier arme Gegend und Kinder können besser sammeln. Nicht so tief bücken“, und Iwan lachte über den schlechten Witz.
Sohlmann und Bader nahmen den einen oder anderen Zapfen in die Hand, um die Fertilität der Samen zu prüfen.
„Gutes Samen!“ Iwan hatte mit einem Messer einen Zapfen längs geteilt. „Hier, schau, alles Samen!“
„Nicht schlecht. Die Bäume sehen gut aus. Phänologisch, wichtig für unsere Zucht“, meinte Sohlmann mehr an Bader gerichtet. Iwan sollte keine positiven Antworten hören, um den Preis nicht hoch zutreiben.
„Ich denke, wir haben das meiste gesehen. Wir würden gerne zurückgehen. Herr Bader will heute Nachmittag einen Baum besteigen. Ist das möglich?“
„Kein Problem, Bader geht rauf und wir trinken und machen Vertrag.“
Vertrag, dachte Sohlmann, ja, aber schon wieder trinken? Iwan, der Ladafahrer, Sohlmann und Bader stapften den schmalen Pfad zurück zur Waldarbeiterhütte. Irgendwer hatte unten ein Feuer entfacht. Es roch nach feuchtem Holz und angebranntem Fleisch.
„Wassili hat Feuer gemacht. Riecht gut? Hunger? Durst? Gleich Wodka und Essen!“
Franz Sohlmann hatte zwar Hunger, als er aber die verbrannten Fleischstücke sah, den hinter einem Holzfeuer knienden dreckigen Einheimischen, war ihm der Appetit vergangen.
„Bär, Schinken, du verstehst?“, und Iwan klopfte auf seinen Popo. „Lecker!“
Mit Wodka, dachte Sohlmann, kann das wohl nicht so gefährlich sein. Trichinen und sowas müsste das abtöten. Auf einem riesigen Stamm einer gefällten Nordmannstanne nahmen Bader und er Platz. Der schmutzige Koch oder Grillmeister, wie Sohlmann den Mann am Feuer in Gedanken betitelte, bot den drei Ankömmlingen jeweils ein riesiges Stück Fleisch mit einer Eisengabel an.
„Hier Brot und Wodka, Nastrovje!“
„Danke, Prost!“
Der Hunger der beiden Herren aus Deutschland verscheuchte den Gedanken an Krankheiten. Das Fleisch war völlig unerwartet zart und lecker. Mit dem Brot schmeckte es beiden, ebenso wie Iwan, dem Förster und dem Koch so gut, dass der Nachschlag vom Grill gerne genommen wurde. Während Sohlmann gleich mehrere Wodkas trinken musste, lehnte Bader ab. Er wollte nochmal hinauf zu den alten Nordmannstannen und an einer hinaufsteigen.
VW-Bus
Es wurde langsam wärmer. Die Sonne im Osten blinzelte jetzt zwischen den alten Buchen hindurch. Einige Strahlen drangen bis auf den Waldboden. Licht und Schatten in diesem Hochwald produzierten seltsame Figuren. Das sind nur Einbildungen, dachte er. Muss daran liegen, dass ich noch zu wenig über mich und meine derzeitige Situation weiß. Wer kriegt da keine Angst?, fragte er sich, als er den Pfad von der Hütte runter ins Tal nahm.
Bis jetzt sah er nur Buchen, alte hohe, zum Teil mehrstämmige Bäume, hohle Bäume und mit Zunderschwämmen bewachsene tote Exemplare.
Durchgewachsener Niederwald. Aha, wieder etwas, was nicht jeder kennt, dachte er. Ob es im Kaukasus Niederwälder gab? Er war sich nicht sicher. Er meinte, dass es nur in Mitteleuropa diese Waldbewirtschaftungsform gegeben hat. Historisch, heute total überholt.
Der unbefestigte Waldweg überquerte einen kleinen Bach, der aus einem anderen Quertal kam. Dann verlief der Weg parallel zum Gewässer, ein Bächlein, dachte er, sauber und klar. Durst verspürte er. Warum nicht? Das Wasser kommt von einer Quelle da oben. Hat wohl keiner reingepinkelt. Er bückte sich und schöpfte mit beiden Händen das kalte Wasser. Es schmeckte neutral und erfrischte ihn. Er wusch sich das Gesicht und richtete sich wieder auf.
Vor ein paar Minuten hatte er sie noch gar nicht bemerkt. Vor ihm in gut einhundert Metern lag eine Straße, Asphalt mit weißen Streifen auf der Fahrbahn. Jetzt hörte er einen Wagen ankommen. Er lief schnell weiter. Du musst das Kennzeichen sehen, dann weißt du, ob du in Deutschland oder sonst wo bist.
Ein VW-Bus kam die Straße hinaufgefahren. Die Scheiben waren verdunkelt, so dass er nur durch die Frontscheiben zwei Personen erkennen konnte. Der Wagen fuhr recht schnell weiter hinauf, er sprintete zur Straße und schaute hinterher. Was war das für ein Kennzeichen, weiß mit schwarzer Schrift? Kommt in nahezu allen europäischen Ländern vor. Die ersten Zeichen waren Buchstaben, zwei. Das erkannte er noch deutlich, aber dann, waren dass Zahlen und dann wieder Buchstaben, oder Buchstaben und dann Zahlen, wie in Deutschland?
Er war sich nicht mehr sicher. Vorsichtshalber zog er sich in den Wald zurück. Hinter einer mehrstämmigen Buche setzte er sich auf den Waldboden und schaute auf die Straße. Von unten kam ein Auto. Er hörte den Motor schon von weitem aufheulen. Typischer Anfänger mit hoher Drehzahl gefahren, dachte er.
Dann kam er, ein alter Mercedes, so Jahrgang 1995, in sein Blickfeld. Er konnte den Fahrer gut erkennen. Ja, ein älterer Herr mit Hut. Langsam zog das Fahrzeug an seinem Gesichtsfeld vorbei. Er atmete auf. Deutsches Kennzeichen, HSK, dann zwei Buchstaben und eine Zahl.
Ich bin in Deutschland. Er atmete spürbar auf. Ein Stein fiel ihm vom Herzen. Gott Dank nicht Georgien, warum eigentlich nicht? Er richtete sich hinter den Buchenstämmen auf, griff den schweren Rucksack und stapfte erleichtert den Abhang zur Straße hinab.
Noch war er im Wald unter den letzten Buchen, deren tiefen Äste die Straße mit ihrem Laub abschirmten. Oben auf der Straße hörte er ein Hupkonzert, nicht die normale Hupe eines Serienwagens. Die Hupe klang mehr nach zusätzlich eingebaut, ohne TÜV-Genehmigung, dachte er noch. Was steckt noch in meinem Kopf?, fragte er sich, als der VW-Bus in einer Schussfahrt den Berg hinab kam und kurz, bevor der Waldweg auf die Asphaltstraße einmündete, stoppte.
Weg, nur weg! Panik kam auf. Nicht nach hinten schauen, nur weg. Mehr dachte er gar nicht. Er raste erneut den Berg hinauf, bloß nicht den Waldweg nehmen. Nach gut hundert Metern erreichte er eine leichte Kuppe. Der Hochwald endete hier. Ein Fichtenjungwuchs, dachte er nur. Was für ein Glück. Er rollte sich unter die ersten tief beasteten Fichten und versuchte zu Atem zu kommen.
Nützt nichts, er musste wissen, ob die da aus dem VW-Bus ihn verfolgten oder nur pinkeln wollten. Er robbte vorsichtig zum Rand der Kuppe, immer noch verdeckt durch die Fichtenäste. Zwei Männer stapften den Berg hinauf. Dunkel gekleidet, wahrscheinlich Leder, meinte er zu erkennen. Einer der Männer hatte einen großen Hund an der Leine. Die wollen hier sicher keinen Platz zum Picknicken suchen. Noch hatten die beiden den Waldweg nicht verlassen, das bedeutete, dass sie, falls sie ihn verfolgten, seinen Sprint hinauf nicht gesehen hatten.
Sie mussten ihn im Rückspiegel gesehen haben, als er auf die Straße gerannt war, um das Kennzeichen ihres Wagens zu erkennen. Scheiße, dachte er. Aber ich weiß ja nicht einmal ob und oder warum die mich verfolgen.
„Heinrich!“ Ein lauter Ruf kam von unten den Berg hinauf. „Du das sein! Wir dich erkennen.“ Die Stimme kannte er, denn der Rufer rollte das R im Wort. Typisch slawisch, dachte er noch. Heinrich, so heiße ich. Das war schon mal gut. Aber den beiden traute er trotzdem nicht.
„Wir müssen reden. Keine Angst. Und das mit Stockschlag, du weißt, nur Spaß.“
Spaß?, jetzt erinnerte er sich. Das war kein Schlag mit dem Stock, das war ein Knüppel, mit dem sie ihn verprügelt hatten. Er hatte sich gewehrt, aber irgendwann waren bei ihm die Lichter ausgegangen.
Erstmal weg, Heinrich, dachte er. Gut, dass ich schon meinen Vornamen kenne. Der Rest fällt mir bestimmt noch ein. Er robbte zurück in den Fichtenjungwuchs. Langsam, vorsichtig kroch er die Kuppe auf der anderen Seite hinab. Das Ohr immer in Richtung Verfolger gerichtet, versuchte er zu entkommen.
Blöde Idee, dachte Heinrich. Du musst denen entgegenkommen, unauffällig natürlich. Das erwarten Verfolger nie. Heinrich hatte das Ende des Fichtenbestandes erreicht. Der Gedanke beflügelte seinen Geist. Zurück, aber nicht durch die Fichten. Er umging den Jungwuchs, was ihm bei der Tarnung auch noch half. Jetzt tauchte der Altbuchenbestand wieder auf, nur das Heinrich jetzt die Buchen von links erreichte, genau oberhalb des VW-Bus.
Heinrich legte seinen Rucksack hinter einer vom letzten Sturm umgeworfenen Buche ab. So bin ich flexibel und schneller. Oben im Wald hörte er Stimmen, Rufen, aber ohne dass er die Worte verstand. Der VW-Bus stand mit der Schnauze Richtung Waldweg. Heinrich hoffte, dass wirklich nur zwei Personen im Wagen gesessen hatten.
Heinrich verließ den Wald, erreichte die Straße und sprintete Richtung VW-Bus. Von unten kam ein Wagen, doch der fuhr nur vorbei. Lenk die dritte Person im VW-Bus ab!, dachte er noch, als er sich atemlos neben den schwarzen Wagen warf. Heinrich blieb liegen und hörte seinen pulsierenden Herzschlag. Langsam beruhigte sich die Atmung. Im VW-Bus bewegte sich nichts. Heinrich kroch zur hinteren Tür, dann sprang er auf, schaute durch das Beifahrerfenster. Vorne saß keiner. Zurück. Er riss die hintere Tür auf und schaute hinein. Leer! Heinrich atmete auf. Viel Zeit hab ich nicht, dachte er. Ein schneller Blick. Hinten sah er drei Koffer, auf dem Sitz lag eine Mappe. Mitnehmen, nicht hineinschauen, die Zeit hast du nicht. Noch ein Blick auf die vorderen Sitze. Nichts, doch. Der VW-Bus hat doch ein eingebautes Navi. Seltsam, dass ein weiteres Navi an der Frontscheibe klebte. Es war nicht abgeschaltet. Heinrich sah einen blinkenden Punkt, etwas abseits vom VW-Bus. Vielleicht 50 Meter? Sein Rucksack. Was jetzt? Sie hatten ihn verwanzt. Warum spielte in diesem Moment keine Rolle. Ihm musste was einfallen, ganz schnell. Die Wanze im Rucksack finden, ja. Aber hatte er dazu noch Zeit? Wohl nicht. Denn die Stimmen kamen näher, glaubte er zu hören, obwohl er noch im VW-Bus saß.
Heinrich riss das Navi von der Frontscheibe und kletterte aus dem Wagen. Er zog sein Messer, toll, die haben mir das Taschenmesser gelassen, und stach in den linken Vorderreifen. Dann lief er zur anderen Seite und stieß das Messer mit Wucht in den rechten Hinterreifen. Gerne hätte er alle Reifen zerstochen, doch er glaubte, dass ihm die Zeit dazu fehlte.
Dann sprintete er los Richtung Rucksack. Scheiße, er hatte die Autotür nicht geschlossen. Kaum war er im Wald verschwunden, hörte er von oben Stimmen, wütende Stimmen. Die Männer fluchten in einer slawischen Sprache. Die hatten die offene Autotür entdeckt.
„Heinrich“, rief einer, der mit dem rollenden R. „Wir nur reden. Keine Angst. Da bleiben, wir kommen!“
Angst verleiht Flügel, dachte Heinrich. Ich weiß zwar nicht, was die von mir wollen. Aber nett werden die nicht sein, wenn die mich erwischen, Reifen zerstochen und Navi und Mappe geklaut. Heinrich hatte seinen Rucksack aufgenommen und lief weiter in den Wald hinein. Jetzt musste er noch dringender weg von seinen Verfolgern. Im Laufen vernahm er die wütenden Rufe, Schreie dachte er. Jetzt sind die beim Auto und sehen die zerstochenen Reifen.
„Du zahlen, Heinrich Bader!“
„Schön“, Heinrich konnte jetzt wieder lachen. „Jetzt habt ihr mir geholfen, meinen Namen wiederzufinden.“ Dann hörte er einen Schuss, Pistole, dachte er noch und dann eine wütende Schimpfkanonade in slawisch und deutsch. „Idiot! Warum du schießen? Willst du Bullen hier?“
Heinrich Bader erreichte den Bergrücken hinter dem Fichtenjungwuchs. Er kroch wieder hinein. Nach ein paar Metern nahm er seinen Rucksack ab und durchsuchte ihn nach dem Peilsender. Nein, nicht im Rucksack war der angebracht, sondern an seinem Klettergerät. Das hätte fatal enden können, dachte Heinrich Bader. Denn wäre er auf einen Baum geklettert, aus welchem Grund auch immer, die drei hätten ihn problemlos finden können. Glück muss man haben, dachte er noch, als er den Peilsender abschaltete und die Batterie entnahm. Dasselbe machte er mit diesem seltsamen Navi. Dann schulterte er seinen Rucksack und ging Richtung Süden quer durch den Bestand.
Darby O´Gill I
Anna Kripinski wollte schon als Kind Försterin werden. Eigentlich bin ich das ja auch, naja, dachte sie dann, kann man so oder so sehen. Die Ausbildung zum Förster hatte sie abgeschlossen. Hatte sich dann aber bei Wildbiologie eingeschrieben und eine Bachelorarbeit über Wölfe geschrieben und das Ganze in einer Masterarbeit vertieft.
Jetzt lief sie quer durchs Sauerland und brachte Wildkameras an. Ihr Professor in Freiburg am Institut für Waldtierökologie und Waldtiermanagement wollte den Zusammenhang zwischen Wölfen und Verbiss von Herbivoren erforschen. Das war was Neues. Wölfe hatte es bis vor gut einem Jahrzehnt in Westdeutschland nicht gegeben. Der letzte Wolf in freier Wildbahn war in Herbern im Münsterland am 19. Januar 1835 von einem Gastwirt erlegt worden. Anna kannte sich mit der Geschichte aus. War Teil ihrer Bachelorarbeit gewesen. Und jetzt kamen die scheuen Tiere aus Osteuropa zurück.
Änderte sich damit die Artenzusammensetzung von frei lebenden Tieren in Deutschland? Dezimierten die Wölfe ihre Beute? Anna kannte den Zusammenhang zwischen Beute und Räuber aus der Literatur. Nicht der Räuber reguliert die Beute, die Beute reguliert den Räuber. Das Beispiel mit den Eulen kannte doch jeder, dachte sie, als sie ihre dritte Wildkamera an einem Baum anbrachte. Gibt es viele Mäuse, legen die Eulen viele Eier. Eine Jahr ohne Mäuse, und die Eulen bekommen keinen Nachwuchs. Und noch was fiel ihr spontan ein, die Vermehrung der Räuber läuft der Vermehrung der Beutetiere immer hinterher. Anders wäre es auch seltsam. Woher sollten die Räuber wissen, ob das Beutejahr gut oder schlecht würde.
Anna war nicht groß, gut 1,65. Doch durch ihre quirlige Art machte sie ihre nicht vorhandene körperliche Größe wett. Zusätzlich fielen ihre nicht zu bändigenden krausen roten Haare und ihre Sommersprossen positiv auf. Annas Kommilitonen gaben ihr den Spitznamen ‚Darby O´Gill‘, da sie vermuteten, ihre Vorfahren stammten aus Irland.
Trotz ihrer kleinen Statur war sie robust. Anna liebte das Leben unter freiem Himmel, fror selten und war nicht ängstlich. Ihre Kleidung war für die meisten gewöhnungsbedürftig. Derbe Schnürschuhe, schlabberige Hose und ein viel zu großer Pullover zählten zu Annas Lieblingskleidung. Ob während der Vorlesungen, Übungen oder Exkursionen, ihre Ausstattung war immer ähnlich. Nur, dass die Farben der Hosen und Pullover wechselten. Farblich passte eigentlich nichts zueinander, besonders Rottöne, die sie liebte, passten nicht zur roten Mähne.
Irgendwann war Anna ein Hund zugelaufen, so hatte sie es immer erzählt. Die meisten Kommilitonen glaubten ihrer Erzählung nicht. Der Hund war eindeutig nicht reinrassig, was Anna überhaupt nicht störte. Das recht große Tier trottete hinter seinem Frauchen her, egal wo Anna auch hinging. Da kam es hin und wieder zu Situationen, die Anna hätte voraussehen können. Das Mitbringen von Hunden war in den meisten Geschäften, in der Mensa oder in der Disco nicht gestattet. Doch der Hund ohne Namen ging einfach dahin, wo Anna hinging. Eigentlich hatten alle das Gefühl, der Hund gehörte nicht zum Frauchen. Nur zufällig lief ein Hund hinter Anna her.
Der namenlose Hund war lammfromm, sah aber gefährlich aus. Das wusste aber nur Anna. Daher fühlte sie sich mit dem Hund unverwundbar, wie auch bei der Wolfszählung im Sauerland. Während Anna ihre Wildkameras anbrachte oder kontrollierte, lag der Hund immer eine Schrittlänge entfernt. Sein Blick war in Richtung Anna gerichtet, aber die gespitzten Ohren hörten alles, was sich in der Nähe ereignete. Dann hob der Hund den Kopf, schaute in die Richtung, aus der das Geräusch kam. Mehr nicht. Er bellte selten und bewegte sich auch bei Fremden nicht.
Anna hatte, wie ihre Wolfskollegen auch, noch nie selbst einen Wolf in freier Wildbahn gesehen. Sie kannte Bilder, Filme und Fährten. Nur bis jetzt war ihr das Original verwehrt. Die Wildkameras waren schon an Standorten angebracht, wo der oder die Wölfe sich zeitweise aufhielten, ebenso wie diese kleine Waldlichtung im Sauerland.
Möglich wäre es schon, dachte sie, als ihr Hund den Kopf hob, dass ein Wolf sich hierher verirrte. Und Anna freute sich.
Absturz I
Franz Sohlmann hatte genug vom Wodka getrunken. In einem alten wackeligen Stuhl angelehnt an der Waldarbeiterhütte schlief er ein, als Heinrich Bader den Weg hinauf zu den alten Nordmannstannen und den einheimischen Zapfenpflückern stieg. Jetzt in der Mittagshitze mit einem Wodka intus kam ihm der Pfad noch steiler vor. Gut, dachte er, dass der Iwan Boroschenko und der Fahrer des Geländewagens unten blieben. Erstens störten die nur, wenn er die Zapfenpflücker nach Interna ausfragen wollte und zweitens waren die genauso besoffen wie der Eigentümer der Baumschule.
Heinrich gewann nur langsam an Höhe. Sein Körper reagierte jetzt auf Hitze, Alkohol und reduziertem Sauerstoff in der Höhenluft. Alle paar Meter machte er eine Pause. Dabei drehte er sich um und schaute zurück. Was war das jedes Mal für eine Aussicht auf das unter ihm liegende Tal mit den alten Bäumen. Abgeerntet, stellte Heinrich fest. Daher der Weg hinauf ins Gebirge.
Beim ersten Aufstieg hatte er mit den anderen beiden nur eine gute halbe Stunde gebraucht, jetzt kam er völlig fertig nach gut einer Stunde bei dem Ernteplatz an. Und dabei hatte Heinrich seine Kletterausrüstung noch dabei gehabt. Gut, dass er die beim ersten Aufstieg mit hinauf nahm und dort beließ.
Unter den Bäumen sammelten die Kinder die herabgeworfenen Zapfen ein. Er bemerkte, dass hier und da ein Kind getroffen worden war. Die Haare der Jungs waren mit Harz klebrig verdreckt.
An einem schattigen Platz standen gefüllte Plastiksäcke. Warum Plastik?, fragte er sich. Jutesäcke wären besser für das Saatgut, aber eben etwas schwerer, vielleicht auch teurer. Er wollte den Leiter danach fragen.
Heinrich Bader ging zu seiner Kletterausrüstung und legte die Bruststeigklemme sowie den Sitzgurt an und setzte den Helm auf. Die da oben werden sicher grinsen, dachte er. Aber sicher ist sicher und gelernt ist gelernt. Die Seiltasche mit weiteren Sicherheitsutensilien schnallte er um. Dann griff er einen der untersten Äste der im Zentrum stehenden Nordmannstanne und zog sich hoch. Zuhause hätte Heinrich zuerst die Wurfleine in den Baum geworfen und daran das Kletterseil hinaufgezogen. Und daran wäre er in den Baum gestiegen. Hier mit den tiefbeasteten Nordmannstannen war das einfacher, sicher aber auch gefährlicher, denn keiner der Zapfenpflücker trug Helm noch Sicherungsseile mit sich.
Langsam kletterte Heinrich hinauf. Er war froh, dass er nicht nur einen alten Kletteranzug trug sondern auch alte Handschuhe. Denn der Baum harzte an allen möglichen und unmöglichen Stellen. Nach gut fünf Metern musste Heinrich eine kleine Verschnaufpause einlegen. Daher brauchte er bis in die Spitze der sicher 50 Meter hohen Tanne eine halbe Stunde.
Instinktiv hatte Heinrich das höchste Exemplar für seinen Kletterausflug aufgesucht, denn jetzt schaute er über die meisten Wipfel der Nadelbäume hinaus. Was für ein Ausblick, was für ein Glücksgefühl, dachte er. Bevor Heinrich Bader die Weite in vollen Zügen genoss, befestigte er Sicherungsseile an mehreren Ästen.
Er schaute sich um und bemerkte, dass einige Nachbarbäume hin und her schwankten. Dann tauchte auch schon mal ein schmieriger Kopf aus dem Nadelgeäst, es flog ein Zapfen im Bogen hinab, dann verschwand der Kopf auch wieder. Sieht recht sicher aus, dachte Heinrich, auch wenn die heimischen Zapfenpflücker weder Sicherungsseile noch Helm nutzten.
Plötzlich bemerkte Heinrich, dass der Wipfel einer der Tannen kräftig zu schaukeln begann. Heinrich wurde es mulmig. Sturm, Erdbeben? Nein, ein Zapfenpflücker hatte den Baum in Schwingung gebracht. Der stand einhändig auf einem Querast und schaffte es den Rhythmus des Baumes aufzuschaukeln, so stark, bis der dann die Spitze des Nachbarbaums berührte. Bei der zweiten Baumberührung ergriff der Zapfenpflücker mit der freien Hand den Nachbarbaum und ließ die andere Hand los. Sofort rutschte er trotz Umklammerung des Stammes einige Meter in die Tiefe.
Heinrich rutschte das Herz in die Hose. Die klettern gar nicht runter, genau wie der Führer das heute Morgen gesagt hatte. Die bleiben den ganzen Tag im Baum, in mehreren Bäumen, berichtigte er sich. Lebensgefährlich, dachte er noch. Und dann passierte es vor seinen Augen. Ein anderer Zapfenpflücker schaffte es nicht den Nachbarbaum richtig zu ergreifen. Er griff am Stamm vorbei, versuchte noch einen der Äste zu erwischen, der brach ab und fiel seitlich mit dem Mann in die Tiefe.
Bader schrie auf. Panik überfiel ihn und er zitterte am ganzen Körper.
„Hilfe, Hilfe!“, er schrie und schrie. Doch seltsamerweise reagierten die anderen Zapfenpflücker gar nicht oder sie schauten kurz aus den Zweigen der Nordmannstannen, schüttelten mit dem Kopf und verschwanden wieder im Blaugrün der Nadeln.
Das kann doch nicht wahr sein, dachte Heinrich Bader. Deren Kumpel ist gerade vom Baum gestürzt, was der kaum überleben wird. Und die tun so, als wenn nichts passiert wäre. Bader schrie seine Wut, Angst und Enttäuschung aus, auch jetzt reagierte keiner, so als wenn er allein im Wipfel eines der Bäume saß.
Am ganzen Körper zitternd kletterte er vorsichtig hinab. Der Abstieg dauerte genauso lang wie der Aufstieg, was sicher mit seinem Schock zu tun hatte.
Auf den letzten Metern sah er den georgischen Kollegen am Boden liegen. Der Kopf war seltsam verdreht, saß mehr falsch herum auf dem Körper, die Arme hielten immer noch den Ast, die Beine lagen gespreizt auseinander. Aus dem Oberkörper war Blut ausgetreten, so dass der Zapfenpflücker in einer kleinen Blutlache lag.
Wo sind die Helfer?, fragte sich Heinrich Bader. Nur Kinder standen verstohlen hinter dem Stamm einer Tanne. Ein Junge wischte sich die Tränen aus dem Gesicht, das dadurch noch schmutziger wurde, als es vorher schon war.