Die Zettel - Klaus Offenberg - E-Book

Die Zettel E-Book

Klaus Offenberg

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Vier Menschen werden ermordet, alle haben vorab einen Zettel mit einer seltsamen Warnung erhalten. Alle vier Personen kennen sich nicht, haben schon aufgrund ihrer Herkunft, ihres Alters oder ihres beruflichen Hintergrundes nichts miteinander zu tun. Die beiden Polizeibeamten Albertina Beiersdorff und Kevin Magner aus Ibbenbüren sind ratlos. Steckt hinter diesen Morden nur eine Person, ist diese männlich, wie Kevin Magner glaubt? Was haben die spiritistischen Sitzungen mit dem Fall zu tun? Die Lösung dieser Verbrechen stellt sich als besonders schwierig heraus, als auch noch eine fünfte Leiche in einem tiefen Schacht gefunden wird.

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Seitenzahl: 275

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Die Zettel

Zweiter Fall der Polizistin, Albertina Beiersdorff,

und des Polizisten, Kevin Magner, Ibbenbüren

Klaus Offenberg

Impressum

Texte: © Copyright by Klaus OffenbergUmschlag: © Copyright by Jakob SkatullaVerlag:Dr. Klaus Offenberg,

Herrenstr. 20, D-48477 Hö[email protected]

Druck:epubli, ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Auflage 2022

Printed in Germany

Für Doro, Catharina und Jakob

Die Zettel

Es gibt Menschen, die glauben, dass es keine Zufälle gibt. Es gibt aber auch Menschen, die glauben, dass vieles vorherbestimmt ist. Beweisen lässt sich beides nicht. Was in der folgenden wahren Begebenheit Zufall oder gar so geplant gewesen war, ließ sich schon damals nicht klären. So ist und bleibt die Geschichte um die seltsamen Zettel auch heute mysteriös.

Zettel

„Steigen Sie nie in ein einmotoriges Flugzeug! Machen Sie nie Bungee-Jumping! Schwimmen Sie nie zu weit hinaus, besonders nicht in Meeren! Schauen Sie sich öfter um, es verfolgt Sie jemand!“

Er hatte diesen seltsamen Zettel mehr zufällig in seiner Hosentasche gefunden. Dummer-Jungen-Streich, war das Erste, was er dachte. Doch seltsam war der Druck auf dem Papier, oder war es nur ein guter Drucker an einem privaten PC? Er drehte das Blatt hin und her. Hielt dieses kleine Papierstückchen sogar ans Licht. Warum, das wusste er später nicht mehr. Und dann sah er es, so ein seltsames Wasserzeichen, ein Drache oder ein Oktopus. Genau erkannte er es nicht.

Er steckte den Zettel zurück in seine Hosentasche und vergaß das Ganze, bis seine Frau, Isabel von Meier, die Hose in die Reinigung bringen wollte. Doch vorher durchsuchte sie die Taschen, weil er dort immer ein Taschentuch vergaß, und fand den Zettel. Ein Einkaufszettel, dachte sie noch. Sie wusste aus Erfahrung, ihr Mann vergaß sofort, was sie ihm zum Einkauf aufgetragen hatte. Doch dieses war weder etwas für den privaten Einkauf noch eine Adresse einer heimlichen Geliebten.

Sie kannte seine Vorlieben. Treu war er nie, nicht vor der Ehe und jetzt schon gar nicht. Aber damit hatte sie sich abgefunden, ein unausgesprochenes Agreement. Er glaubte, dass sie es nicht bemerkte, sie wusste von jedem Seitensprung. Nur er war nett, zuvorkommend, hatte ein Vermögen erwirtschaftet und war in der Gesellschaft beliebt. Das zählte, denn bei vielen wichtigen Ereignissen war sie dabei und wurde hofiert.

Das mochte sie. Soll er sich doch mit den vielen Geliebten abrackern, dachte sie häufig. Denn wenn er abends nach Hause kam, forderte sie nochmal, nur um ihn zu ärgern. Und das war das verrückte, sie genoss es, wenn er eigentlich keine Lust mehr hatte. Sie wartete schon im knappsten String, den man sich vorstellen konnte, in der Küche.

„Hallo Liebes, wo bist du? Hab ich einen Hunger!“ Kaum hatte er die Eingangstür ihres feudalen Hauses, ein Altbau aus der Zeit des Jungendstils, ins Schloss fallen lassen, da stand sie vor ihm, eben mit fast nichts an. An seinem Gesicht sah sie schon, dass er wahrscheinlich wieder mal auf seinem Schreibtisch eines der jungen Dinger vernascht hatte. Nein, es war kein lüsterner Blick oder eine sexuelle Geste, eher eine Enttäuschung. Aber er musste ran, wenn er nicht beichten wollte. Und das wollte er nie.

Doch was war das für ein seltsamer Zettel? Lange schaute sie diesen an, las ihn mehrmals zum Schluss sogar laut vor.

„Hast du was gesagt?“, seine Stimme kam aus der ersten Etage, dort wo das Schlafzimmer und das Bad lagen.

„Schau mir nur diese komische Botschaft an!“, rief sie hinauf.

„Botschaft?“, er kam die alte leicht gewendelte Treppe herunter.

„Hier!“ Sie gab ihm den Zettel. „Was ist das?“

„Sicher keine Botschaft, eher eine Drohung. Hab ich tatsächlich vergessen. Du, Schätzchen, den hab ich vor, warte mal, drei Wochen, nein, das war als ich mit …“ Jetzt fing er an zu stottern. Sie wusste warum. Da war er mit der neuen Auszubildenden zusammen gewesen. Sie hatte ein Foto in seinem Jackett gefunden, bildschön, nur dämlich.

„Ist ja egal, wann du den Zettel gefunden hast“, sie wollte ihm helfen. Nach gut zehn Ehejahren wollte sie seine Verfehlungen nicht mehr en détail erfahren. Das fand sie dann doch geschmacklos.

„Ja“, man merkte ihm an, dass er froh war, nicht weiter in seinem Gedächtnis zu kramen und irgendwelche falschen Erinnerungen darzulegen. „Fand diesen Zettel. Hab ihn gelesen und wieder eingesteckt, weiß nicht mal, warum ich den nicht weggeworfen habe? Naja, wirf ihn einfach weg! Hat nichts zu bedeuten. Ich denke, irgendjemand wollte mich ärgern.“

„Weiß ich nicht!“ Sie hatte beim Lesen so ein seltsames Unbehagen gehabt. Da stimmt was nicht, nur was nicht, das konnte sie nicht erklären. „Wir sollten ihn der Polizei zeigen, was meinst du?“

„Jetzt übertreibst du aber, Schätzchen! Ich hab den Zettel seit, … na du weißt schon. Was könnten die Bullen damit noch anfangen?“

Sie merkte sofort, dass er auf keinen Fall mit der Polizei zusammenarbeiten wollte. Denn dann müsste er seine Liebschaften offenlegen. Klar, dachte sie, umgekehrt wollte ich das auch nicht.

„Irgendwie hast du recht“, antwortete sie. „Ich werf´ den Zettel weg!“

Ulrich-Hermann Gutschneider-von Meier

Ulrich-Hermann Gutschneider-von Meier hatte bei der Messe Bauen und Wohnen in der Halle Münsterland in Münster einen Gutschein gewonnen. Mit seiner sehr attraktiven Frau, Isabel von Meier, war er durch die Hallen geschlendert, hier und da ein paar Bekannte getroffen und mit einem Kunden Small-Talk gehabt. Ulrich-Hermann war Geschäftsführer einer Firma für Veranstaltungen und Messebetrieb. Diesen Betrieb für Events in nahezu allen Bereichen hatte er nach seinem nicht abgeschlossenen BWL-Studium am Rand von Münster aufgebaut, beginnend in der Garage seines Schwiegervaters bevor der Schwiegervater wurde. Ulrich-Hermann suchte eine größere Garage und fand die im Anwesen der Familie von Meier.

Der Tüftler baute Scheinwerfer und Lautsprecher zusammen und bot diese Freunden und Bekannten für private Feiern an. Daraus auch mit Hilfe seines Schwagers entwickelte sich eine Firma für Großveranstaltungen.

Ulrich-Hermann baggerte schon als Schüler alle attraktiven Mädels an, klar dass auf dem Gelände der Familie von Meier Isabel den Komplimenten des Charmeurs sehr schnell erlegen war, nur dass Kundinnen, Praktikantinnen und Mitarbeiterinnen das auch waren.

Ulrich-Hermann war ein großer schlanker Mann mit vollen rötlich blonden Haaren. Das Gesicht war bartlos, er hasste Bärte, die Haare streng nach hinten gekämmt. Da er weitsichtig war, klemmte er die Lesebrille in den Haaransatz auf seine Stirn. Freunde von ihm fanden das affig, er stylish. Privat trug er saloppe sportliche Kleidung. Doch bei solchen Gelegenheiten wie diesen zog er den Grufti-Anzug, wie seine Frau den nannte, vor. Das waren eine helle Leinenhose und ein blaues Jackett. Ulrich-Hermann trug gern weiße Oberhemden. Und da der Sommer in Münster noch nicht eingezogen war, hatte er einen weißen Schal umgeschlungen.

Isabel war passend zu ihm in ihr Kostüm geschlüpft, eines mit sehr kurzem Rock, der ihre schlanken Beine hervorhob. Ihre tiefschwarzen Haare, sie glaubte, dass ihre Großmutter mal ein Verhältnis mit einem Italiener hatte, band sie gerne zu einem Pferdschwanz zusammen. Und wie bei ihrem Mann war eine Brille auf dem Kopf ein interessantes Accessoire, nur dass das eine große Sonnenbrille war. Wo sie auftraten, sie fielen auf, das wollten sie auch.

Das Pärchen zog an diesem Samstagmorgen von Stand zu Stand, trank im Café in der Halle 4 einen Espresso und standen endlich am eigenen Ausstellungsstand, der werbewirksam zwischen zwei Hallen im Eingangsbereich mit farbigem Licht und lauter Musik die Kunden anlockte.

Bevor beide den hinteren abgeteilten Raum betreten konnten, stand vor Ulrich-Hermann eine Losverkäuferin. „Lose für jeweils einen Euro für die Aktion Polio-Plus. Kennen Sie sicher Herr von Meier!“

Ulrich-Hermann war verblüfft, dass die Unbekannte ihn mit Namen, wenn auch nicht mit dem richtigen Namen ansprach. Aber das mit dem von schmeichelte ihn, sodass er aus seinem Portemonnaie einen Zehn-Euro-Schein zog und der niedlichen Losverkäuferin in die Hand drückte.

„Sie müssen mir keine Lose geben! Ist schon in Ordnung so!“

„Nein, das geht nicht, sonst bekomme ich Ärger. Bitte ziehen Sie zehn Lose!“

Isabel war einfach weitergegangen, da sie von solchen Menschen nicht belästigt werden wollte. Ulrich-Hermann zog die Lose, die Verkäuferin bat ihn, diese sofort zu öffnen. Acht Nieten hatte er schon gezogen. „Lassen wir das. Ist doch gut so!“, er schaute zur Losverkäuferin.

„Die beiden sind sicher Ihre Hauptgewinne. Schauen Sie nach!“

„Tatsächlich“, Ulrich-Hermann strahlte. „Wer hätte das gedacht, einen Tag im Freizeitpark Hoge Veluwe in den Niederlanden. Alles frei“, er schaute sich zu seiner Frau um, doch die sprach gerade mit dem jungen Mann, der den Stand betreute.

„Isabel, schau, ich hab ´nen ganzen Tag in einem Freizeitpark gewonnen und du darfst mit!“

Kindskopf, dachte sie. Freizeitpark, da fahr allein hin. Ich geh lieber Shoppen.

„Schön“, rief sie zu ihm rüber.

Freizeitpark

Erst wollte Ulrich-Hermann mit seinem Porsche 911 zum Freizeitpark in die Niederlande fahren, doch da er eine neue Freundin hatte, die Fahrt daher eher unauffällig sein sollte, bat er die junge Frau ihren Kleinwagen zu nutzen. Logisch, dass die darüber nicht erfreut war. Aber Ulrich-Hermann lockte mit Spaß und nachher noch mit einem Abstecher in einem Spa-Hotel.

Recht früh waren beide in Münster gestartet. Damit Isabel nicht Lunte roch, war ihr Ehemann mit dem Porsche zum Firmengelände gefahren. Dort holte ihn die neue Flamme, Leah, ab. Den Nachnamen der jungen Frau hatte er längst vergessen. Warum auch behalten?, fand er. Er wusste von seiner, so bezeichnen wollte er das nicht, aber es war eben seine Sexsucht. Und die konnte er nur durch neue Eroberungen befriedigen.

Das Wetter schien schön zu werden, so schön, dass er sich doch ärgerte, nicht den Porsche genommen zu haben. Denn das war ein Cabrio und das Auto von Leah hatte nicht einmal eine Klimaanlage. Doch die Vorfreude auf das Sexabenteuer ließ ihn diese Unzulänglichkeiten vergessen. Er saß neben der jungen Frau, die eine dieser kurzen Jeans anhatte. Ja, wunderschöne Beine hatte die, die er während der Fahrt hin und wieder streichelte. Dann rutschte seine Hand auch schon mal höher. Doch die Jeans war eng, zu eng, um zu testen, ob Leah rasiert war. Na, dann muss ich eben warten, was ihm noch mehr Vorfreude bereitete.

Eigentlich hätte man ja schon mal anhalten können, und man wäre hinter einen Busch oder sowas gegangen. Nur Leah fuhr stoisch weiter, als wenn sie ein festes Ziel im Auge hatte, dass auch noch zu einem bestimmten Zeitpunkt erreicht werden müsste. Doch das fiel Ulrich-Hermann Gutschneider-von Meier gar nicht auf.

Der Freizeitpark war typisch, mehr für Familien mit Kindern als für ein verliebtes Pärchen. Ulrich-Hermann hätte lieber sofort im Spa-Hotel eingecheckt, doch Leah wollte unbedingt zuerst alle Fahrgeschäfte testen. Gut, dass ihr Begleiter keine Höhenangst hatte. Das Riesenrad war schon überwältigend, da es wie in London nur an wenigen Drahtseilen hing. Und dann die Achterbahn. Leah schrie vor freudiger Angst, Ulrich-Hermann ließ alles über sich ergehen, er wartete auf seine Stunde.

Am Imbiss musste er unbedingt holländische Pommes essen, er wäre lieber in ein gutes Restaurant gegangen, so eines mit Stil. Leah aß mit beiden Händen, die Mayonnaise lief an ihren Fingern runter, was ihn bei Sex sicher erregt hätte, nur eben nicht hier.

Einen Stand nach dem anderen testeten die junge Frau und er immer hinterher. Ja, der Po war schon rattenscharf, wie er das heimlich nannte. Eigentlich konnte er sich nicht sattsehen.

Dann standen beide vor einem Kran mit ausgefahrenem Arm. In der Höhe hing ein Korb, der langsam nach unten fuhr.

„Bungee-Jumping, los Ulli. Das müssen wir machen!“

Was wenn er das jetzt ablehnte?, fragte er sich. Wär´s dann aus mit scharfem Sex? „Muss das sein?“, fragte er sie ganz vorsichtig.

„Angst, Höhenangst? Vorm Sex wohl nicht? Erst springen, dann bumsen, ist meine Devise.“

Hat die das geplant? Er musste nachdenken, doch da stand schon der Korb, und er war mit Leah hineingestiegen. Ein Mitarbeiter des Bungee-Jumping-Teams war im Korb geblieben und erklärte bei der Auffahrt die Details des Absprungs. Ulrich-Hermann wurde ein Gurt angelegt. Als der Korb oben stoppte, schaukelte der bedingt durch die Eigenbewegung und den doch hier oben herrschenden Wind.

Oh, Scheiße, dachte er. Wie komm ich aus dieser Nummer raus? Die Vorderseite des Korbs wurde geöffnet und sein Gurt mit dem Gummiseil befestigt. Jetzt stand er an der Kante und schaute hinab. Er musste an den Sex mit Leah denken, ansonsten würde er sofort aufgeben. Hinter ihm standen die junge Frau und der Mitarbeiter.

„Denk an den Zettel!“, hörte er plötzlich eine Stimme und dann flog er schon kopfüber hinab.

Er schrie, heulte und er meinte sein Herz blieb stehen, als er auf die Erde zuraste. Dann kam der Ruck, und das Seil spannte sich. Hält das oder nicht?

Im Norden von Münster

In Norden von Münster baute sich ein Gewitter auf. An diesem Montag im Juli 2014 war es sehr heiß und schwül gewesen. Die Münsteraner schauten gebannt zum Abendhimmel, als sich im Norden diese typische Amboss-Wolke entwickelte. Alle freuten sich auf einen kühlenden Regenschauer, der aber noch auf sich warten ließ. Zuerst einmal jagte vor dem eigentlichen Gewitter ein böiger Wind, der die Äste der Bäume stark schüttelte, wobei die Obstbäume ihre überflüssigen Früchte verloren.

„Gut so“, meinte der Obstbauer, Hinterding, der mit seiner Frau, Maria, auf seine Plantage schaute. „Wüörn een paar affallen, män de kleene Duuf un de met Wüörmkes sin dän wägg, biäter för dän Baum, de häw dän mähr Niährstoff.“

Seine Frau nickte ihm zu, sie war immer schon einsilbig gewesen, ganz im Gegensatz zu ihrem Mann und zur Tradition der mundfaulen Westfalen.

Der erste starke Wind legte sich und die Wolke stieg auf und wurde dabei immer gewaltiger. Von den Seiten rollten weitere Wolken zum Amboss, ein wunderschönes Schauspiel am Sommerhimmel über Münster. Jetzt zuckten die ersten Blitze in der Wolke, der Donner ließ noch etwas auf sich warten. Plötzlich riss die Wolke auf, so sah es zumindest der Bauer, und ein Blitz zuckte gen Erdboden.

„Rinn!“, schrie Hinterding und schob seine Frau ins Haus. „Dat Inferno gaiht loss, is biäter in’n Huuse, dao giwt keen Dunnerkiel!“

Hinterdings Frau war neugierig und schaute sich, bevor sie die Tür schloss, nochmal um. Die Naturgewalten waren grausam schön. Blitze jagten im und vom Himmel, es war zeitweilig taghell, dann wieder dunkel wie in mondlosen Nächten.

Nicht weit vom Hof ganz in der Nähe der Apfelplantage sah sie eine Person. „Hiärm schau mal! Da läuft einer, nä, zwei auf der Straße. Sollten wir denen nicht helfen?“

„Wao?“ Hermann, von seiner Frau Hiräm genannt, blickte hinaus in Richtung Straße. „Jau, wocht es. Dao mott ick hän, de küent dao nich bliewen!“ Er zog sich seinen alten Kleppermantel an, setzte den Strohhut auf und stapfte in den Regen, der plötzlich wie Sturzbäche vom Himmel kam. Kaum vor dem Haus und Hiärm war klitschnass.

„Schiete!“, murmelte er vor sich hin. Dabei schaute er zu den beiden Personen, die gut hundert Meter von ihm entfernt standen. „Kuemt hiär! Dao, wao he staiht, is et bannig gefäöhrlick!“ Nur sein Rufen erreichte die beiden nicht. Hermann stapfte weiter immer gegen den starken Wind, der jetzt wieder aufgefrischt war.

Er zog den Strohhut tief ins Gesicht, das Wasser tropfte hindurch, sodass er die beiden immer nur kurzzeitig sah.

Plötzlich hatte Hiärm das Gefühl, das der eine den anderen schlug. Der fiel hin und war damit aus seinem Gesichtsfeld verschwunden. Hiärm lief jetzt los und rief „Hallo, wat maakt ji dao?” Doch der Wind drückte ihn von vorne, hielt ihn nahezu fest. Jetzt waren die Personen verschwunden, und als er die Straße erreichte, sah er noch einen schwarzen Wagen im Regenschleier wegfahren.

Hiärm schimpft vor sich hin, als ein Blitz in unmittelbarer Nähe einschlug. Gut, dass Wind ihn jetzt antrieb, als er sich umdrehte und zum Haus zurückrannte.

Unterführung in Münster

Zur selben Zeit fuhr ein zwölfjähriger Junge am Hauptbahnhof in Münster durch die Unterführung Richtung Osten. Die ersten Regentropfen waren schon gefallen, als er die Mitte erreichte und der Sturzbach vom Himmel fiel. Der Junge freute sich, denn hier unter der Bahnbrücke stand er sicher und trocken.

Autos rasten jetzt an ihm vorbei, fuhren durch das ansteigende Wasser und die Gischt spritzte bis über den gesamten Bürgersteig. Kaum dass der Junge einen vor dem Regen schützenden Platz gefunden hatte, war er ein paar Minuten später klitschnass. Jetzt stieg auch der Wasserstand bedrohlich schnell, so schnell, dass der Junge keine Zeit mehr hatte, weder in der einen noch anderen Richtung vor den Wassermassen zu fliehen.

Autos rasten weiter in das über ein Meter tiefe Wasser, um noch die andere Seite zu erreichen. Doch keiner der Fahrer sah den Jungen. Alle waren damit beschäftigt ihren Wagen durch die Fluten zu lenken. Weg, nur schnell nach Hause oder zum Termin. Es dauerte nicht lange und die ersten PKWs blieben schon am Anfang der Unterführung stecken. Noch blieben die Fahrer in ihren Fahrzeugen, doch das Wasser stieg unaufhaltsam, sodass der eine oder andere die Fahrertür öffnete. Das war nicht einfach, weil noch wenig Wasser ins Innere eingedrungen war. Aber schon bald hatte der Wasserspiegel die Höhe der Seitenscheiben überschritten. Jetzt schoben sich die Wellen der Wasserfront über die Kühlerhauben der Wagen und drückten an den Schreiben ins Wageninnere. Panik kam auf, viele ließen die Seitenscheiben runter, was nur ging, solange die Elektrik der Autos noch intakt war. Dann schossen wahre Sintfluten in die Autos, aber danach konnten die Fahrer die Tür öffnen und durch das hüfthohe Wasser zu den höher gelegen Teilen der Unterführung waten.

Den Jungen im Zentrum der Unterführung sah keiner, oder wollte ihn keiner sehen? Waren alle mit sich selbst und ganz besonders mit ihren wertvollen Fahrzeugen beschäftigt? Erst nachdem das nach Stunden abfließende Wasser die Unterführung wieder frei gelegt hatte, fanden Mitarbeiter der Stadtwerke den Jungen, der dort jämmerlich ertrunken war.

Ariane Vogts

„Achten Sie auf Drohnenflüge! Fahren Sie nie Motorrad! Schauen Sie sich öfter um, es verfolgt Sie jemand!“

Sie fand diesen Zettel in ihrer Handtasche, kurz nachdem sie im Discounter einkaufen war. Sie suchte wie immer nach ihrem Portemonnaie. Ihre Handtasche war groß. Sie meinte, dass sie zu groß war, aber sehr modisch und recht teuer, von Gucci. Und ihre Freundinnen, gut sie musste es sich eingestehen, Frauen, mit denen sie verkehrte, also keine richtigen Freundinnen, hatten nur teure Handtaschen. Nach ihrem Naturell hätte eine Leinentasche gereicht.

Ariane, den Vornamen liebte sie auch nicht, Vogts war bodenständig, geboren in einem kleinen Nachbarort von Rheine. Nach dem Abitur am Kopernikus Gymnasium studierte sie BWL in Freiburg. Sie wollte weg aus ihrem Nest. Und da sie intelligent war, stellte das Studium keine großen Ansprüche an ihren Geist. Eigentlich war das nur eine Nebensache. In Freiburg hatte sie ein kleines Zimmer mitten in der Altstadt, ohne Bad und Toilette. Zu größeren Reinigungen ging Ariane ins Hallenbad, im Sommer ins Freibad.

Ariane Vogt war fast zwei Meter groß, schlank und überaus attraktiv. Nur daraus machte sie sich nichts. Vielleicht war es ihre Nonchalance, ihre Unbekümmertheit, denn sie fiel auf, ganz besonders bei jungen Männern und auch Frauen. Wenn Ariane den Hörsaal betrat, das Freibad im schwarzen Bikini oder nur durch die Fußgängerzone schlenderte, man musste hinschauen.

Im Winter war es ein abgetragener alter Dufflecoat, im Sommer knappe kurze kaputte Jeans, sie fiel immer auf. Doch bis sie ihre Ausstrahlung richtig erkannte, dauerte es noch bis zum Examen. Ihr Professor vermittelte einen Job in Kopenhagen, den sie sofort antrat. Doch irgendwie wollte sie zurück ins Münsterland. Und dann nach gut zehn Jahren bot sich eine Stelle in der Lebensmittelbranche an. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sie viele Beziehungen, männliche und auch mal eine weibliche.

Ariane Vogts Problem war nicht ihre Intelligenz oder Attraktivität. Sie war unnahbar, vielleicht autistisch. Doch davon wollte sie nichts wissen. Sie wunderte sich eben nur, dass sie weder einen festen Partner noch feste Freunde hatte. In ihrer alten Clique, die vor dem Abi, war sie nicht unwillkommen, besonders bei den Männern, aber beliebt war sie beileibe nicht. Bei den regelmäßigen Treffen fiel es kaum auf, wenn sie fehlte. Und das war ihr bekannt.

Nur warum? Mit dieser Frage beschäftigte sie sich immer häufiger. Und dann war da noch eine alte Geschichte. Die machte ihr manchmal Kopfzerbrechen. Wer wusste davon? Das war doch zur Abizeit gewesen, oder?

Ariane Vogts suchte in der großen Handtasche weiter. Jetzt kippte sie die Tasche aus. Das Portemonnaie fiel raus, der Hauschlüssel, Wagenschlüssel und Tempotaschentücher. Mehr war nicht in der Tasche, kein Lippenstift, keine Schminkutensilien.

Der Zettel! Drohnenflug, was sollte das? Ariane hatte mit diesem Spielzeug nichts am Hut. Motorrad ja. Sie besaß einen Führerschein und war auch kurz Motorrad gefahren. War lange her, in Kopenhagen. Hatte da eine Beziehung zu einer im wahrsten Sinn heißen Braut.

Das war lange her. Nein, auf ein Motorrad setzte sie sich nicht mehr. Das war ihr klar, nachdem die Frau in Kopenhagen unter einen Laster raste und seit der Zeit querschnittsgelähmt war. Ob die?, nein, Ariane meinte sich zu erinnern, dass die gestorben war.

Der Zettel ist ´n Fake, überlegte sie sich und steckte ihn in die Geldbörse. Dann zog sie sich aus und ging duschen. Heute Abend, es war der 21. Juni, Mittsommer, hatte sie Karten für den „Fliegenden Holländer“ in der Stadthalle in Rheine. Darauf freute sie sich, obwohl sie die Mittsommerabend in der freien Natur liebte. Dann eben morgen oder übermorgen den Sonnenuntergang genießen.

Auch wenn Ariane Vogts bei den meisten wichtigen Anlässen recht lässig gekleidet war, Theater, Oper, Konzert, das war anders. Sie zog ihr dunkelblaues Kostüm an, das mit dem rattenkurzen Rock. Ja, jetzt liebte sie die Blicke der Männer und Frauen, wenn sie ihren Auftritt zelebrierte. Mit ihrem Mini war sie ins Parkhaus gefahren und nicht durch den Keller in die Stadthalle gegangen. Sie nutzte den Weg draußen, dort, wo man sie sah.

Am Mittsommerabend ging die Sonne erst um 22 Uhr unter, sodass es taghell war, als Ariane aus dem Parkhaus trat. Autos von Opernbesuchern fuhren an ihr vorbei, andere gingen schon über den Platz zur Stadthalle. Ariane Vogts ging langsam, eigentlich hasste sie High-Heels, Richtung Eingang.

Irgendwie störte sie das seltsame Brummen hinter ihr. Wahrscheinlich die Lüftung der großen LKWs, die das Equipment der Schauspieltruppe gebracht hatten, überlegte sie kurz, als sie plötzlich einen unangenehm stechenden Schmerz in ihrer rechten Schulter spürte. Sie griff mit der linken Hand dahin und erfasste einen kleinen Stift. Das glaubte sie anfangs. Ariane zog daran und schrie auf. Der Schmerz durchzog den ganzen Körper, so stark, dass sie sofort in die Knie ging. Dann wurde es schwarz um sie.

Modesta von Gangesberg

Ihren Geburtsort verschwieg sie lieber, denn den kannte sowieso keiner. Und dass sie über 70 war, sollte auch keiner wissen. Nach vielen Jahren quer durch Deutschland fand sie nach ihrer Pensionierung in Ibbenbüren endlich den Ort, wo sie alt werden wollte. Warum das ausgerechnet dieser Ort im Norden von NRW wurde, verstand sie selbst nicht mehr. Hatte sie in ihrem Gedächtnis einfach gelöscht, so wie viele Dinge in ihrem Leben. Jetzt lebte sie hier in einem kleinen alten Fachwerkhaus, versteckt gelegen am Nordrand des Teutoburger Waldes, wo sie den Lebensabend genießen wollte. Doch noch hatte Modesta von Gangesberg Pläne.

Modesta, den Vornamen hasste sie, wer von ihren Eltern konnte nur auf diesen Namen kommen, war gut eins siebzig groß, schlank und noch sehr sportlich. Schon als junges Mädchen war sie gelaufen, besser gerannt, wie sie es sich eingestand. Denn, sie lief vor allem und jedem weg. Lag an ihrer Jugend. Das bildete sie sich ständig ein. Jetzt, um die Mitte 70, war sie froh, immer Sport getrieben zu haben. Sie sah noch gut aus, eher 60, hatte eine topp Figur. Da konnten sich die jungen Frauen eine Stange von abschneiden, glaubte sie, wenn sie im Laufdress um den Aasee joggte.

Ihre ehemals schwarzen Haare, jetzt als Kurzhaarschnitt, waren jetzt schlohweiß. Ein Stirnband in Neonfarbe und eine kurze Jogginghose, das macht mich jünger, glaubte sie.

Ihre Stärke war die Esoterik. Damit hatte sie sich als Kind schon beschäftigt. Später als Lehrerin ließ sie der Hexenkult nicht mehr los. Eigentlich passte das nicht zu ihrem Auftritt, kurze Haare, Joggen und Attraktivität. Aber es gab auch schöne Hexen, schlussfolgerte sie. Wicca, das war´s, was sie gesucht hatte, der Hexenkult aus dem vorletzten Jahrhundert.

Vielleicht, so hatte sie mal mit Freunden ihr Faible resümiert, lag ihre Affinität zum Hexenkult an ihren Eltern. Die lebten bis zur Vertreibung 1945 im Erzgebirge in Böhmen, in einem so kleinen Ort, der in keiner Karte aufgeführt war und heute nicht mal im Internet mit einem Eintrag gewürdigt wurde.

Patrik Klüttermann

„Steigen Sie nie in einen Heißluftballon! Schauen Sie nie über die Reling eines Kreuzfahrtschiffs! Schauen Sie sich öfter um, es verfolgt Sie jemand!“

Was soll das, dachte er, als er den Zettel in einer Drucksache auf seinem Schreibtisch fand. Ach, die Jungs seiner Clique, die kamen immer auf so blöde Ideen. In einen Heißluftballon wollte er sowieso nicht steigen, denn er hatte Höhenangst. Und Kreuzfahrten, vielleicht, aber nicht jetzt. Nein. Auf was für blöde Ideen seine Jungs schon kamen?

Seine Jungs waren seine Freunde aus den 1990er Jahren. Jetzt, als er den Zettel in der Hand hielt, fiel ihm ein, dass er immer noch von Jungs sprach, die aber alle schon über 40 waren. Wie kann ich die zur Rede stellen?, grübelte er. So einfach ließ er sich das nicht gefallen. Er wollte denen einen Denkzettel verpassen! Gute Idee, das mit der Ballonfahrt. Er wollte die einladen.

Zum Startplatz der Heißluftballone in Recke hatte Patrick Klüttermann seine fünf Freunde einbestellt. Natürlich wussten alle nicht, um was es ging, nur dass sie pünktlich um fünf Uhr morgens da sein müssten. Zu seinem 40. Geburtstag wollte er sie nachträglich noch einladen.

Patrik Klüttermann war ein stattlicher Mann, groß fast zwei Meter, schlank, sportlich. Leider kam er, wenn er neue Menschen kennen lernte, überheblich rüber. Das sahen seine Freunde anders.

Klüttermann war selbstsicher und attraktiv, was er wusste. Sein schmales Gesicht wurde von langen schwarzen Haaren eingerahmt, deren Mittelteil als Zopf hinten zusammengebunden war. Der Unternehmer hatte einen natürlichen braunen Teint. Warum er als Norddeutscher eher als Südeuropäer durchging, wollte er schon als Jugendlicher wissen. Jahre später ließ sich das leicht klären. Er bestellte bei einem Institut in den USA ein DNA-Untersuchungs-Kit. Die Firma versprach aus gut 40 verschiedenen Ethnien in der Welt seine herauszufinden. Bei ihm kam, wie bei allen Menschen, ein Gemisch aus vielen Ethnien heraus, nämlich Mitteleuropa, Schottland und Schwarzafrika. Auch wenn Schwarzafrika mit nur wenigen Prozenten in seiner DNA nachweisbar war, jetzt wusste er, woher sein dunkler Teint kam. Nur wer von seinen Vorfahren wann mal was mit einem dunkelhäutigen Menschen gehabt hatte, das ließ sich aus seinen Familienunterlagen nicht mehr herausfinden.

Patrik Klüttermann war immer leger gekleidet, weißes T-Shirt ohne Emblem dazu dunkelblaue Stoffhose. Bei ganz wichtigen Besprechungen trug ein graues Jackett, meistens dann über dem Arm gehängt.

Verheiratet war Patrik nur einmal, ein paar Wochen, wie er gerne erzählte. Dann war ihm seine Frau abgehauen. Danach zeigte er sich mit wechselnden Damen, die aus Sicht seiner Freunde immer jünger wurden.

Mit dem Vertrieb von billigen Plastik-Waren aus China machte er schnell viel Geld. Ihn interessierte nicht, wer diese Plastikdinge produzierte, Kinder oder Frauen, ihn interessierte auch nicht, ob das Plastik giftige Substanzen enthielt, ihn interessiert nur die Marge, die am Ende übrigblieb.

Die Büroräume der Firma Chi-Plast konnten natürlich nicht in Ibbenbüren, Rheine oder noch kleinerem Ort angemietet werden. Klüttermann hatte am Prinzipalmarkt in Münster die erste Etage bezogen. Auch wenn er vor dem Haus seinen Porsche nicht parken durfte, was er doch hier und da doch tat, wichtig war die Adresse. War Besuch von Kunden oder Händlern angesagt, mietete Klüttermann lieber einen Raum im Schloss an.

Selten war der Selfmademan zuhause in Hörstel. Am Südhang des Huckbergs besaß er ein Haus, Toplage. Der Berg schütze vor den Lärmimmissionen der Autobahn A 30 und die Südlage brachte im Frühling frühzeitig Wärme. Meistens blieb Klüttermann in Münster in einem angemieteten Apartment nähe Aasee in der Offenbergstraße gelegen.

Doch jetzt dachte er nur an seine kleine Rache. Ihn wollten sie aufziehen, er, der ja Angst vor Höhen hatte, sonst vor nichts, wie Patrik Klüttermann immer wieder betonte. Aber jetzt waren sie reif, Tobias Huber, Kevin Magner, Gerd Schuhmacher, Jürgen Sprinkhof und Friedhelm Stubendorf.

Pünktlich bis auf Jürgen standen alle vor dem Startplatz der Heißluftballon-Freunde in Recke. Jürgen war noch nie pünktlich gewesen. Wussten alle, aber akzeptiert hatten sie es nie. Wir sind doch die Blödmänner, die warten müssen! Doch eine doofe Ausrede hatte der immer. Aber Jürgen war der netteste und älteste Freund in der Clique. Fehler hat doch jeder von uns, Patrik eben die Höhenangst.

„Hier mein Geschenk an euch! Freifahrt mit dem Ballon!“ Patrik grinste, nur seine Freunde waren mehr überrascht denn enttäuscht. Ja, fragte Klüttermann sich in diesem Moment, was hab ich eigentlich erwartet?

Auf der Wiese stand ein Bulli mit Hänger, mehr nicht.

„Wo ist unser Geschenk?“, Kevin Magner schaute sich fragend um.

„Da auf dem Hänger!“ Der Pilot grinste. „Alle müssen anpacken! Holt zuerst den Korb runter!“

Dahinter lag die große Tasche mit der Hülle, die mit vereinten Kräften kurz darauf auf der Wiese lag, gut 30 Meter lang. Der Pilot befestigte das Brennergestänge auf dem Korbrand, dann legte er das Gebilde auf die Seite. Zwei Freunde hielten die Öffnung der Hülle hoch, während ein Ventilator Luft hineinblies. Nach gut zehn Minuten kletterte der Pilot in die Hülle, sortierte ein paar Bänder und kontrollierte die Außenhaut.

„Jetzt können wir den Brenner anwerfen!“ Langsam hob sich die Hülle und der Korb richtete sich auf, der noch am Bulli mit einem Seil befestigt war. „Der Ballon soll ja nicht ohne uns aufsteigen!“, schrie der Pilot, was wegen des Lärms des Brenners kaum zu verstehen war.

Während der Pilot alle Instrumente prüfte, durften die ersten den Korb besteigen.

„Na“, sagte Tobias Huber, „dann wollen wir mal einsteigen. Du, Patrik natürlich als erster!“

„Ich, nein! Das ist mein Geschenk an Euch!“

„Entweder alle oder keiner. Und schau mal“, Kevin Magner zeigte zum Parkplatz. „Jetzt ist auch Jürgen da, dann kann´s ja losgehen!“

Gerd Schuhmacher hatte Patrik vor sich hergeschoben und einfach über den Korbrand in die Gondel gedrückt. Die anderen Freunde folgten direkt dahinter und der Korb hob sich langsam vom Boden ab. Das Sicherungsseil hatte der Ballonfahrer längst gekappt.

„So schnell hätte ich das nicht erwartet“, meinte Friedhelm Stubendorf.

„Wieso, ihr seid doch alle da. Wenn ich richtig zählen kann, fünf plus einer. Dann mal los!“ Der Pilot öffnete das Ventil und die Flamme blies heiße Luft in den Ballon, der jetzt langsam an Höhe gewann.

Das kann nicht wahr sein? Patrik Klüttermann glaubte seinen Augen nicht, was da gerade mit ihm passierte. Er stand in dem Korb eines Heißluftballons, und der fuhr mit ihm gen Himmel. Er beugte sich vorsichtig über die Kante. Noch war die Höhe erträglich, glaubte er. Er erinnerte sich an Goethe, oder war es Schiller? Der soll seine Höhenangst besiegt haben, indem er den Turm des Straßburger Münster bestieg und nach jedem Treppenabsatz hinausgeschaut hat. Und als er oben ankam, war die Angst vorbei.

Nein, jetzt zog sich Patrik vom Korbrand zurück. Er fing an zu zittern.

„Was ist los? Du hast doch kein Problem mit der Höhe? Du hast doch die Einladung ausgesprochen und wolltest unbedingt mit!“ Der Pilot war zu ihm rüber gegangen. „Trink ´nen Sekt! Ist zwar für die Taufe, aber du musst dich entspannen!“

Plötzlich wurde ihm schlecht. Patrik Klüttermann sprang auf, lehnte sich über den Korbrand und erbrach sich. Dass sich jemand hinter ihn stellte, bemerkte er nicht. Ihm war schlecht, er schaut hinunter, dorthin, wo die Reste seines Frühstücks segelten. Von hinten griff ihm jemand unter die Arme und drückte ihn langsam hoch. Nach wenigen Sekunden hatte Klüttermann sein Körpergewicht unabsichtlich so verlagert, dass er drohte, hinabzufallen.

Klüttermann schrie aus Leibeskräften.

Sabine Stratmann

„Gehen Sie nie in einen Bunker! Vermeiden Sie geschlossene Räume! Schauen Sie sich öfter um, es verfolgt Sie jemand!“

Sie fand diesen kleinen Zettel in ihrer Handy-Tasche. Sie hatte einen langen Spaziergang im Wald gemacht. Sie musste unbedingt einen klaren Kopf bekommen. Und das ging nur, wenn sie allein war, hier im Wald oder zu Hause unter der Dusche. Vielleicht noch auf der Toilette, aber im Wald, das wusste sie schon lange, war der beste Ort für so etwas. Einige fanden Wälder beängstigend, sie nicht. Der Wald war nach allen Seiten offen, was für sie wichtig war, aber eben auch geschlossen. Oben war das Blätterdach, unten der Weg und rechts und links Bäume. Dazwischen, sie grinste, als sie darüber nachdachte, Zwischenräume. Da gab es doch dieses Kindergedicht. Spätfrühling oder nennt man das Frühsommer? Sie wusste nicht einmal das Datum, Montag, 3. Juni 2019, wichtig für spätere Recherchen, aber das konnte ihr egal sein, weil sie den Tag nicht überlebte.

Aber jetzt brummte ihr Handy. Sie zog es aus ihrer Handy-Tasche und hielt diesen Zettel in der Hand. Bunker?, überdachte sie. Freiwillig würde sie nie einen Bunker betreten. Warum auch? Und geschlossene Räume? Klar, zu Hause schloss sie abends die Haustür zu. Machte doch jeder. Gerade wollte sie den Zettel wegwerfen, als ihr in den Sinn kam, nicht in den Wald! Also wieder in das Täschchen und jetzt den Anrufer annehmen.