Die Strömung - Rolf Börjlind - E-Book
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Die Strömung E-Book

Rolf Börjlind

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Beschreibung

Ein neuer Fall für Olivia Rönning und Tom Stilton.

In den Wäldern von Schonen im südlichen Schweden kommt es zu einem entsetzlichen Verbrechen. Ein kleines Mädchen wird ermordet, als es friedlich spielend im Sandkasten sitzt. Ein familiärer Hintergrund? Doch zwei Tage später der zweite Kindermord, diesmal in der Nähe von Stockholm. Was verbindet die beiden Fälle? Schnell fällt der Verdacht auf eine rassistische Gruppierung, die beide Elternpaare zuvor offen bedroht hat. Aber ist es wirklich so einfach? Und warum tauchen gerade jetzt Hinweise auf einen alten, nie geklärten Mord an einer hochschwangeren Edelprostituierten auf? Olivia Rönning, eine junge ehrgeizige Polizistin, und Tom Stilton, ein einst berühmter Kommissar, sind aus jeweils ganz persönlichen Gründen an der Aufklärung dieser Verbrechen interessiert. Sie kommen einer Geschichte aus auf die Spur, wie sie verquerer und abscheulicher nicht sein könnte…

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Seitenzahl: 645

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Zum Buch

In den Wäldern von Schonen im südlichen Schweden wird ein kleines Mädchen Opfer eines bestialischen Verbrechens. Zwei Tage später der zweite Kindermord, diesmal in der Nähe von Stockholm. Schnell fällt der Verdacht auf eine rassistische Gruppe, die die Eltern zuvor offen bedroht hat. Aber ist es wirklich so einfach? Und weshalb tauchen gerade jetzt Hinweise auf einen Cold Case auf, den Mord an einer schwangeren Edelprostituierten, der niemals aufgeklärt wurde? Olivia Rönning und Tom Stilton ermitteln.

Cilla und Rolf Börjlind gelten als Schwedens wichtigste und bekannteste Drehbuchschreiber für Kino und Fernsehen. Sie sind unter anderem verantwortlich für zahlreiche Martin-Beck-Folgen sowie für die viel gepriesene Arne-Dahl-Serie. Ihr Markenzeichen sind starke Charaktere und eine stringente Handlung. »Die Strömung« ist der dritte Teil der Serie um die junge Polizistin Olivia Rönning und den ehemaligen Kriminalkommissar Tom Stilton.

Cilla & Rolf Börjlind

Die Strömung

Kriminalroman

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag weist ausdrücklich darauf hin, dass im Text enthaltene externe Links vom Verlag nur bis zum Zeitpunkt der Buchveröffentlichung eingesehen werden konnten. Auf spätere Veränderungen hat der Verlag keinerlei Einfluss. Eine Haftung des Verlags ist daher ausgeschlossen.

Die schwedische Originalausgabe erschien 2014 unter dem Titel »Svart Gryning« bei Norstedts, Stockholm.

1. Auflage

Copyright © 2014 by Cilla & Rolf Börjlind by Agreement with Grand Agency

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016 by btb Verlag in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: semper smile, München

Umschlagmotiv: shutterstock

Autorenfoto: Thron Ullberg

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-15891-0V001

www.btb-verlag.de

www.facebook.com/btbverlagBesuchen Sie auch unseren LiteraturBlog www.transatlantik.de

verborgenin der Menschenmengedieses Böse bis über beide Ohren

Bruno K. Öijeraus: Schwarz wie Silber

Hotel Sheraton, Stockholm, 2005

Der Barkeeper hatte die vier Männer bereits taxiert, als sie hereingekommen waren, in einer Art und Weise, wie jeder routinierte Barkeeper seine Gäste taxiert. Vor allem wenn sie aus der Norm fallen.

Und das taten diese Männer.

Nicht durch ihre Kleidung – die war im Wesentlichen korrekt: dunkle Anzüge, weiße Hemden und Krawatten. Es war etwas anderes, was der Barkeeper unbewusst wahrgenommen hatte. Vielleicht die Homogenität. Die Männer waren fast im Gleichschritt und dicht beieinander hereingekommen, bewegten sich alle äußerst kontrolliert, fast im Gleichschritt. Sicherheitsbeamte?, fragte er sich. Möglicherweise. Alle vier hatten extrem kurz geschorenes Haar. Und alle vier sahen sehr, sehr schwedisch aus.

Die Männer verschwanden in einer Nische im hinteren Bereich.

Es war kurz nach neun, und an der Bar saß nur eine Handvoll Gäste. Die dahinperlenden Melodieschleifen des Pianisten legten sich wie ein dämpfender Schleier über die leisen Gespräche. Keine lauten Stimmen, eine neue Bestellung wurde nur durch einen Fingerzeig für den Kellner aufgegeben, die Stimmung war wie meistens in einer Hotelbar: anonym.

Draußen fiel leichter Regen.

Der Barkeeper fing den Blick des schlaksigen Kellners auf und machte eine Kopfbewegung zur Nische hin. Der Kellner nickte kaum merklich. Er mochte es nicht, wenn er herumdirigiert wurde. Die Tische waren sein Revier. Kamen neue Gäste, so war er derjenige, der entschied, wann er sich ihnen näherte. Er rieb kurz über den kleinen Goldring in seinem Ohr und schlenderte dann Richtung Nische, als wäre er ohnehin zufällig auf dem Weg dorthin gewesen. Noch im Laufen holte er ein kleines Feuerzeug heraus und zündete damit eine Kerze und das Windlicht auf dem Tisch an.

»Womit kann ich dienen?«, fragte er.

Ohne zu servil zu klingen. Diese Gäste luden nicht zu einer Konversation ein. Sie interessierten sich nicht im Mindesten für ihn.

Bis auf die Tatsache, dass er ihr Alkohollieferant war.

»Vier Whisky ohne Eis, Glenfiddich.«

Die Bestellung hatte der Mann übernommen, der ganz hinten saß. Der Kellner fragte sich kurz, ob er sich nach den Zentilitern erkundigen oder die üblichen vier servieren sollte.

»Erdnüsse dazu?«, sagte er stattdessen.

»Nein.«

Mit einer leichten Verbeugung wandte er sich vom Tisch ab und ging zur Bar. Die Männer in der Nische sahen ihm nach.

»Schwuchtel«, sagte einer von ihnen.

Von den anderen kam kein Kommentar. Der Mann, der die Bestellung aufgegeben hatte, zog vier weiße Zettel heraus und breitete sie auf dem Tisch aus. Mit einer Hand schob er die Zettel hin und her, als wollte er sie mischen.

»Ein Name für jeden?«

»Ja.«

Jeder der Männer zog einen, drehte ihn um und las den Namen, der darauf stand. Dann verbrannten sie die Zettel über der Kerze, einen nach dem anderen. Es dauerte eine Weile – gerade so lange, bis der Kellner mit der Bestellung wiederkam. Er stellte die vier Gläser auf den Tisch, platzierte kleine weiße Papierservietten daneben, dann verließ er die Nische wieder.

Als er weit genug entfernt war, hoben die Männer ihre Whiskygläser, sahen einander an und erklärten alle im gleichen gedämpften Ton:

»Ehre.«

»Hierarchie.«

»Disziplin.«

»Treue.«

Dann stießen sie miteinander an und nahmen einen Schluck. Einer von ihnen schob die Hand in die Jackeninnentasche und zog ein weiteres Blatt Papier heraus. Er faltete es auseinander, legte es vor sich auf den Tisch und zog die Kerze ein Stück zu sich herüber.

»Das hier ist ein Entwurf«, sagte er.

Die anderen beugten sich ein Stück vor. Einer von ihnen warf einen Blick in Richtung Kellner, doch der befand sich am anderen Ende des Lokals.

Der Mann mit dem Papier räusperte sich, bevor er zu lesen begann:

»›Richtlinien für das Neue Reich‹.«

»Ist das die Überschrift?«

»Ja, als Vorschlag.«

»Gut.«

Der Mann blickte wieder auf das Papier.

»›Die nationalsozialistische Revolution in Schweden soll durch Umschulung mit dem Volk erreicht werden. Das …‹«

»Des Volkes.«

»Des Volkes?«

»Umschulung des Volkes, nicht mit dem Volk.«

Der Mann mit dem Papier zog einen Kugelschreiber aus der Innentasche und korrigierte den Satz. Dann begann er noch einmal:

»›Die nationalsozialistische Revolution in Schweden soll durch Umschulung des Volkes erreicht werden. Das soll mithilfe starker, disziplinierter Menschen geschehen. Unsere Bewegung soll zu einem staatstragenden Orden umgebildet werden, einem Kontrollorgan. Ziel ist ein freier Staat unter unserer Führung.‹«

Der Mann las noch ein paar Minuten lang weiter. Der Text schloss mit:

»›Allein unser Weg kann Schweden retten‹.«

Dann sah er auf.

»Klingt das gut?«

»Ja. Theoretisch. Die Frage ist nur, wie wir es populärer machen können. Wie wir die Botschaft so formulieren können, dass auch ganz normale Menschen verstehen, warum es notwendig ist.«

»Indem wir genau sagen, was Sache ist. Dass unser Volk dabei ist unterzugehen. Dass unsere Rasse vom Aussterben bedroht ist. Dass all das, was wir am meisten schätzen, entehrt wird.«

»Und ausgelöscht.«

»Exakt. Das müssten doch wohl alle verstehen, oder etwa nicht?«

»Natürlich. Außerdem ist Åkesson jetzt ja am Ball. Der wird uns schon den Weg freimachen, der ist glatt wie ein Aal. Wenn der erst mal den Fuß in der Tür hat, dann steht sie jahrelang für uns offen.«

»Sollen wir Beispiele anführen? Was genau unsere Existenz bedroht?«

»Ich glaube, das ist nicht nötig. Das ist doch auch so schon allen klar. Neger. Juden. Zigeuner.«

»Asylanten.«

»Schwule.«

Sie sahen zum Kellner hinüber. Er nahm ihre Blicke zur Kenntnis, begriff aber, dass dort in der Nische keine weiteren Getränke erwünscht waren. Die Blicke besagten etwas anderes.

»Die da hinten in der Nische«, wandte er sich an den Barkeeper.

»Ja?«

»Unangenehm.«

»Kunden.«

Der Barkeeper machte sich an ein paar schmutzigen Gläsern zu schaffen. Er war der gleichen Meinung wie der Kellner. Die Männer in der Nische strahlten etwas aus, was er nicht in Worte hätte fassen können, etwas Unangenehmes, aber er dachte nicht daran, seinem Kollegen zuzustimmen. Lieber behielt er seine Einschätzung für sich.

Das war meist besser so.

Die Männer in den schwarzen Anzügen verbrachten weitere zwei Stunden in ihrer Nische. Der eine oder andere Whisky wurde noch bestellt. Eigentlich hätten sie angesichts ihres Alkoholkonsums lauter werden müssen, doch das war nicht der Fall. Was dort am Tisch besprochen wurde, blieb auch dort. Als es auf Mitternacht zuging, zog einer der Männer ein eingewickeltes Päckchen aus der Tasche und schob es seinem Gegenüber zu.

»Für mich?«

»Du hast doch heute Geburtstag. Ist von uns allen.«

»Danke schön.«

Der Mann schob seine Brille zurecht und machte das Päckchen auf. Eine rote Schachtel. Er nahm den Deckel ab und zog eine kleine Plastikkarte heraus, einen Zimmerschlüssel des Hotels Continental. Eine Viertelstunde entfernt. Als der Mann aufblickte, sahen die anderen ihn schmunzelnd an.

»Zimmer 304, dritter Stock«, sagte einer von ihnen.

»Schließlich hast du seit einem halben Jahr keine Fotze mehr gehabt.«

Der Mann grinste und stand auf. Die anderen blieben sitzen. Erst als der Mann mit dem Schlüssel die Bar verlassen hatte, hoben sie erneut ihre Gläser.

»Wollen wir wetten?«

»Wann er zurück ist?«

»Ja.«

»Halbe Stunde.«

»Höchstens.«

Die Männer lachten laut auf – zum ersten Mal so laut, dass es auch der Barkeeper hörte. Er schielte zu der Nische hinüber und sah, wie einer der Männer ein leeres Glas in die Höhe hielt. Der Barkeeper klopfte mit dem Finger auf den Tresen, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. Sie wussten, was das hieß: noch mal das Gleiche.

Der Mann, der das Geschenk bekommen hatte, saß im dritten Stock am Fenster, nackt, und zwar schon eine ganze Weile. Lichter von draußen huschten über sein Gesicht, mal grün, mal rot. Sein Blick folgte einer kleinen hellbraunen Kakerlake, die an der Fußleiste entlanglief. Er hatte seine Brille abgenommen und aufs Knie gelegt. Ein Bügel war abgebrochen. Der Teppichboden wölbte sich zwischen seinen Zehen.

Schließlich stand er auf.

Die Männer in der Nische waren mit der neuerlichen Runde Whisky fast fertig, als einer von ihnen unvermittelt grinste.

»Da kommt er.«

Sie blickten auf in Richtung Tür. Ein Stück entfernt sahen sie den Mann kommen, der die Bar vor einer Dreiviertelstunde verlassen hatte; keine halbe Stunde also, aber ein so großer Unterschied war es nun auch wieder nicht. Der Mann gesellte sich zu ihnen und setzte sich auf seinen alten Platz. Sein Haar war nass vom Regen. Seine Stirn glänzte, und die Brille saß ein wenig schief.

»Was ist denn mit deiner Brille passiert?«, fragte einer von ihnen.

»Der Bügel ist abgebrochen. So, und jetzt kriegt ihr ein Geschenk von mir.«

Der Mann stellte die rote Schachtel, die er zuvor bekommen hatte, neben die Kerze auf den Tisch. Einer der Männer machte sie auf und starrte ein paar Sekunden lang auf den Inhalt.

»Scheiße, wie eklig.«

Er schob die Schachtel von sich.

»Verdammt, was hast du gemacht?«

Der Mann mit der kaputten Brille beugte sich vor und blies die Kerze aus.

Höganäs, Schonen, 2013

Sie fuhr mit dem Rad immer denselben Weg: vom Rand der Nyhamnsläge hinauf zum Naturschutzgebiet Östra Kullaberg und dann weiter zur Dorfstraße von Björkröd. Am Ende der Dorfstraße hielt sie an. An zähen Tagen machte sie eine kurze Pause, trank einen Schluck Wasser und radelte dann wieder zurück. An guten Tagen lief sie eine Runde durch den Wald.

Das wollte Olivia Rönning auch an diesem Morgen tun.

Ohne Eile fuhr sie die Hauptstraße entlang. Es war kurz nach sieben, ihr Dienst würde nicht vor zehn Uhr anfangen. Sie sah zum grauen Himmel hinauf, Regen hing in der Luft, doch so war es immer zu dieser Jahreszeit, kein Grund, seine Pläne zu ändern. Sie warf einen Blick auf den Straßengraben und ließ sich von ihren Gedanken treiben. Das war fast das Schönste an den frühen Radtouren: Sie stimulierten das Gehirn. Die Kombination aus Sauerstoff und Bewegung brachte in Schwung, was sonst brachliegen würde, und machte Platz für Gedanken, die nicht nur die Arbeit betrafen. Gerade kam ihr Ove Gardman in den Sinn. Er war der Grund dafür gewesen, dass sie hier gelandet war: als Streifenpolizistin in Höganäs. Sie hatte sich in Strömstad beworben, um näher bei Ove zu sein, der auf Nordkoster lebte, doch dort hatte sie keine Stelle bekommen. Dies hier war die Alternative gewesen. »Na, zumindest bist du jetzt auf der richtigen Seite Schwedens«, hatte Ove gesagt. Sie hatte einen Sechsmonatsvertrag unterschrieben. Die ersten zwei Monate hatte sie gerade hinter sich gebracht, und jetzt wurde Ove eine Forschungsstelle in Costa Rica angeboten, die er nicht ablehnen konnte.

Nun saß sie hier, in Höganäs, und das noch für weitere vier Monate.

Nicht gerade ihr Lebenstraum, eher im Gegenteil. Abgesehen von den neuen Kollegen – oberflächliche und anstrengende Kontakte – hatte sie bislang niemanden aus der näheren Umgebung kennengelernt. Auf dem Revier arbeiteten fast nur Männer, und der Jargon war dementsprechend.

Schwer verdaulich.

Besonders für sie.

Olivia war es nicht gewohnt, sich derart zurückzuhalten. In der ersten Zeit hatte sie mehr Energie darauf verwendet, Vorurteile gegenüber Migranten abzubauen, als auf die eigentliche Polizeiarbeit. Was zwangsläufig zur Isolierung geführt hatte. Nicht dass sie bei der Arbeit ausgegrenzt würde. Aber wenn es darum ging, nach der Schicht ein Bier zu trinken, wurde sie gar nicht erst gefragt. Was für sie aber in Ordnung war. Sie konnte sich lebhaft vorstellen, wie der Alkohol die Ressentiments gegenüber denen, »die nicht so sind wie wir«, beeinflusste – eine gängige Beschreibung im Übrigen, wenn man nicht unverblümt sagen wollte, was man dachte und meinte.

Von der Kockenhusallee bog sie auf die Dorfstraße ab. Hier standen die Häuser nicht mehr ganz so dicht beieinander. Auf den paar größeren Bauernhöfen war kein Mensch zu sehen. Als sie das Ende des Wegs erreicht hatte, stieg sie ab und lehnte das Fahrrad an eine dicke Kiefer. Ein zügiger Spaziergang war jetzt genau das Richtige. Sie zog das grüne Haargummi heraus und schüttelte ihr langes schwarzes Haar aus, schob das Gummi über den Lenker und betrat den Wald.

Sie war schon oft hier gewesen und kannte verschiedene Wege. Die meisten war sie mindestens schon einmal gegangen. Diesmal entschied sie sich, nach rechts abzubiegen, zwischen die Kiefern. Diesen Weg nahm sie gerne, er führte durch abwechslungsreiches Terrain, dichten Wald, unterbrochen von felsigen Hügelketten, eine schöne Mischung aus Hängen und ebenem Gelände. Hin und wieder waren hier auch andere Spaziergänger unterwegs.

Heute nicht.

Vielleicht liegt es am Wetter, dachte sie. Immerhin war Regen vorhergesagt. Oder an der Uhrzeit? Ihr Atem ging regelmäßig, der Weg war nicht sonderlich schwer zu gehen, und sie erreichte den Punkt, an dem er sich teilte, schneller als sonst. Hier blieb sie kurz stehen. Geradeaus ging es zu einem steilen Felshang, rechts zur Küste. Vielleicht sollte ich mir mal dieses berühmte Kunstwerk ansehen? Diese Skulpturen, Nimis, drüben bei Håle?

Sie entschied sich also für den Weg zum Wasser.

Es dauerte eine Weile, immer wieder musste sie sumpfige Abschnitte überqueren, teils fast undurchdringliches niedriges Stachelgestrüpp. Als sie schließlich das Meer vor sich sah, war sie außer Atem. Wo genau das Kunstwerk lag, wusste sie nicht, also ging sie einfach die Steilküste entlang und hoffte, bald darauf zu stoßen. Wahrscheinlich lag es ein Stück weiter gen Westen. Und tatsächlich entdeckte sie nach einer Weile die Spitzen sonderbarer Holztürme. Das musste es sein.

Sie ging bis zum Rand des Steilhangs und entdeckte einen Trampelpfad, der zum Wasser hinunterführte, einen abschüssigen Weg, der fast senkrecht nach unten verlief. Gehen die Leute ernsthaft hier hinunter? Ist das nicht ziemlich schwierig? Aber augenscheinlich war dies die einzige Möglichkeit, den Skulpturenpark zu erreichen.

Mit einer Hand stützte sie sich am Boden ab und stolperte und rutschte den Pfad hinunter. Nach ein paar Minuten erreichte sie eine lange, halb überbaute Holztreppe aus Planken und Zweigen. Das war offensichtlich der Eingang. Sie hatte schon mehrfach über Nimis gelesen. Der Künstler Lars Vilks hatte hier unten sein ganz eigenes Reich erschaffen und es Ladonia genannt. Inzwischen war Vilks eher dafür bekannt, dass er den Propheten Mohammed zum Rondellhund gemacht hatte und die Säpo daraufhin gezwungen gewesen war, in einem Wohnwagen auf seinem Grundstück Tag und Nacht Wache zu halten.

Hier in Kullabygden.

Olivia ging die Holztreppe hinunter und erreichte den Strand. Dort erwartete sie eine wahre Geisterlandschaft. Der Künstler sammelte seit fünfunddreißig Jahren Treibholz, Äste und Zweige am Ufer und baute daraus gigantische Türme mitsamt Gängen und begehbaren Räumen. Einer von ihnen erstreckte sich ganze fünfundzwanzig Meter in die Höhe. An einem anderen hing ein schwarzes Tuch, das der Wind zerfetzt hatte. Die gesamte Anlage war mehr als hundert Meter lang, und alles sah grau und sperrig aus – vermutlich das Sperrigste, was Olivia in ihren sechsundzwanzig Jahren je gesehen hatte.

Vorsichtig kletterte sie zwischen den Formationen herum. Der Wind heulte in den dunklen, wacklig erscheinenden Türmen, das Haar peitschte ihr ums Gesicht. Sie blickte hinüber zu den runden Uferfelsen, sah, wie das Meer Wasserkaskaden gegen das Land warf. Und mit einem Mal wollte sie nur noch fort von hier. Dieser Ort hatte etwas Kaltes, Totes an sich. Sie lief auf den größten Turm zu. Gab es denn keine andere Möglichkeit, zum Anfang der langen Holztreppe nach oben zu gelangen, als dort hindurch?

Als sie gerade in den Turm klettern wollte, meinte sie, in der Ferne zwischen ein paar Planken eine Bewegung wahrzunehmen. Sie blieb stehen.

»Hallo?«

Statt einer Antwort hörte sie nur das Heulen des Windes und das trockene Klappern loser Holzteile. Einen Moment lang hielt sie reglos inne. Dort hinten bewegte sich nichts mehr, allerdings konnte sie einen Hauch von Zigarettenrauch riechen. Olivia drehte sich um und sah direkt vor sich den Zugang zur Treppe. Er war verhältnismäßig schmal. Prompt blieb sie an ein paar hervorstehenden Holzteilen hängen und riss Maschen aus ihrem Pullover. Dann rutschte ihr Fuß schmerzhaft unter eine Planke. Das letzte Stück der überdachten Treppe konnte sie nur noch mithilfe beider Hände bewältigen – aber dann hatte sie das Schlimmste hinter sich. Jetzt lag nur noch der steile Aufstieg vor ihr. Sie arbeitete sich nach oben, und als sie das letzte Stück des Steilhangs erreichte, sank sie zu Boden und tastete ihren Knöchel ab. Der ganze Fuß tat weh. Verdammt, was hab ich hier auch zu suchen? Sie blickte auf die Geisterlandschaft hinunter. Nur das schwarze zerrissene Stück Stoff auf der Spitze eines der Türme bewegte sich dort unten.

Olivia stand auf, machte sich auf den Weg. Was nicht gerade einfach war. Unter Schmerzen hinkte sie zwischen den Bäumen hindurch, und schon nach ein paar Minuten musste sie eine Pause einlegen. Sie lehnte sich an einen krumm gewachsenen Baum mit dicken schwarzen Ästen und holte tief Luft. Wie aus einem Reflex, einem Gefühl heraus, nicht allein zu sein, dass jemand hier war, zwischen den Bäumen, im Wald, schnellte sie plötzlich herum. Doch das Einzige, was sie sah, waren Bäume und noch mehr Bäume und in der Ferne ein paar dunkle Findlinge. Hinkend machte sie sich wieder auf den Weg. Sie hatte keine Ahnung, wo der Pfad verlief, der zurück zur Straße führte. Sie hatte ihn verlassen, als sie sich zuvor in Richtung Küste gewandt hatte, doch jetzt war sie ein gutes Stück weiter oben unterwegs. Aber sie ahnte, in welche Richtung sie gehen musste, und sie wusste auch, dass das gesamte Gelände von Pfaden durchzogen war. Früher oder später würde sie auf einen stoßen.

Es dauerte fast zwanzig Minuten, bis sie zwischen ein paar Bäumen hervorkam und einen dieser Pfade entdeckte. Der flache festgetrampelte Boden erleichterte ihr das Gehen, und sie konnte ein bisschen schneller marschieren. Sie hielt den Blick fest auf die Bäume gerichtet, sie musterte Zweige, die sich bogen, und Gestrüpp, das sich im Wind bewegte – und plötzlich sah sie das Fahrrad. Es stand immer noch an der dicken Kiefer, genau dort, wo sie es abgestellt hatte. Sie humpelte das letzte Stück auf den Baum zu und schob das Rad zurück auf den Weg. Als sie gerade aufsteigen wollte, sah sie ein Stück Papier am Boden. Sie bückte sich. Ein ausgerissenes Stück Stadtplan. Sie stopfte es in die Jackentasche, stieg auf und radelte davon, ohne sich noch einmal umzudrehen.

Erst als sie sich Mölle näherte, entdeckte sie, dass ihr grünes Haargummi verschwunden war.

Hätte sie doch nur den Schatten gesehen – oder gehört, wie Zweige hinter der dichten Hecke zerbrachen. Doch das tat sie nicht. Sie war viel zu beschäftigt mit dem Spiel. Mit ihrem geliebten Enkelkind Emelie, in einem kleinen Sandkasten mitten auf dem Rasen.

Sie spielten Krokodil.

Emelie lag bäuchlings im Sand und robbte ein wenig ungelenk vorwärts, und Judith lachte vergnügt. Wann immer sie allein mit Emelie und somit selbst wieder Kind sein durfte, kam es ihr wie ein Fest vor. Leider passierte es nicht allzu oft, obwohl sie gar nicht so weit weg wohnte. Emelie war mittlerweile drei und ging tagsüber in den Kindergarten, abends standen Mama und Papa auf dem Plan, und an den Wochenenden unternahmen diese fast immer Ausflüge mit anderen Familien und deren Kindern. Doch ab und zu kam es vor, dass Judith als Babysitterin gebraucht wurde, wie heute: Emelies Mama war verreist, und ihr Papa war der Meinung gewesen, Emelie sehe ein wenig kränklich aus und solle lieber nicht in den Kindergarten gehen. Judith hatte sich gerne bereit erklärt. Sie betrieb ein kleines Café in ihrer Gärtnerei, doch darum konnten sich für ein paar Stunden auch andere kümmern. Deshalb saß sie jetzt hier, im Garten des hübschen kleinen Holzhauses in Arild. Der regennasse Morgen war einem klarblauen Tag gewichen, und die Sonne schien vielleicht nicht direkt sommerheiß, wärmte aber ein wenig.

»Krokodil! Oma, du sollst auch ein Krokodil sein!«

Emelie zog Judith zu sich herunter und erwartete, dass die Zweiundsechzigjährige sich ebenfalls bäuchlings in den Sand legte und umherrobbte. Aber das wäre für Judith jetzt doch ein Stück zu weit gegangen. Sie raffte ihren hellblauen Batikrock zusammen und ging auf die Knie.

»Ich bin ein Flusspferd«, erklärte sie.

Als Emelie auflachte, kamen die dunklen Grübchen in ihren Wangen zum Vorschein. Am liebsten hätte Judith sie hochgehoben und geküsst.

Im selben Moment klingelte das Telefon in der Küche.

Vor einer Weile hatte es schon mal geklingelt, aber Judith hatte sich nicht darum gekümmert. Vielleicht ist es ja Sebastian?, dachte sie jetzt. Womöglich sollte ich rangehen.

Sie stand auf, klopfte sich den Sand von den Knien und bat Emelie, schön im Sandkasten zu bleiben. »Oma ist gleich zurück. Ich muss nur schnell ans Telefon.«

Judith sprang die Treppe hinauf und marschierte in die Küche. Sie nahm den Hörer ab – am anderen Ende war ein Telefonverkäufer. Vergebens versuchte sie, ihm so höflich wie möglich zu erklären, dass sie kein Interesse an einem Wärmetauscher hatte, der dem Verkäufer zufolge ihre Heizkosten um erstaunliche elf Prozent senken würde. Erst als der Verkäufer kurz in seinem Vortrag innehielt, witterte sie Morgenluft. »Sie müssen entschuldigen. Das ist nicht mal mein Anschluss. Rufen Sie einfach später noch mal an.«

Sie legte auf, durchquerte die Küche, lief die Treppe hinunter. Neben dem Sandkasten stand Emelies Vater Sebastian.

»Hallo!«, rief sie. »So früh schon wieder da?«

Sebastian antwortete nicht. Er starrte auf seine Tochter im Sandkasten. Emelie lag flach auf dem Bauch, als spielte sie noch immer Krokodil, doch ihr Kopf war zur Seite gedreht. Sie blickte geradewegs zu ihrem Vater hoch – mit weit offenen, toten Augen.

*

Eigentlich war an Frans Jönsson nichts auszusetzen, mal abgesehen von seinen naiven und nur schlecht verhohlenen Vorurteilen gegenüber diversen Dingen. Er war nun mal ein Produkt des Milieus, in dem er schon immer gelebt hatte, und womöglich fehlte ihm auch die Fähigkeit zu reflektieren. Er war Anfang dreißig, sah gut aus, hatte freundliche braune Augen und einen athletischen Körper. Vielleicht etwas zu schmale Lippen für Olivias Geschmack, doch das war wohl kaum Frans’ Schuld. Allerdings redete er unaufhörlich – über alles und nichts. Wenn man zu zweit in einem Streifenwagen saß, konnte das binnen kurzer Zeit verdammt nervig werden, besonders wenn man kein Interesse an seinen Themen hatte. Gerade ließ er sich mal wieder über die abfällige Meinung der Bevölkerung über Polizisten aus.

»Dabei sind wir es doch letztendlich, die die Drecksarbeit erledigen«, predigte Frans. »Wer sonst würde sich in eine Messerstecherei einmischen oder einen Mann, der seine Frau verprügelt, zur Ordnung rufen?«

Olivia nickte bloß.

»Und was ist der Dank dafür? Gemecker. Immer nur Gemecker … Ich bin es so verdammt leid. Du etwa nicht?«

Als Frans sich zu ihr umdrehte, zuckte Olivia nur mit den Schultern. Sie hatten gerade erst eine – wie Frans meinte – völlig sinnlose Radarkontrolle kurz vor Jonstorp erledigt. Es war so heiß im Wagen, dass Olivia die Uniformjacke hatte aufknöpfen müssen, und jetzt spürte sie wieder seinen Blick. Er sah sie oft so an, auf diese Art, wie Männer sie schon immer angesehen hatten: ein wenig zögerlich, sehnsüchtig, als versuchten sie, etwas in ihr zu sehen, was sie jedoch nicht zu sehen bekamen.

»Ich meine, nimm nur diese Sache mit dem Zigeunerarchiv«, sagte Frans. »Die Debatte darüber ist doch total schiefgelaufen! Was ist uns da alles um die Ohren gehauen worden. Und warum? Führen wir nicht schon immer ein Register über Prügeleien? Wie sollten wir denn sonst arbeiten?« Frans schüttelte den Kopf. Sein braunes gewelltes Haar fiel ihm in die Stirn. »Ich finde ja, wir könnten darüber hinaus noch diverse gleichgeartete Register brauchen.«

»Gleichgeartet?«

Manchmal hatte Frans eine merkwürdige Art, seine Sätze mit veralteten, nicht immer passenden Worten und Ausdrücken zu spicken.

»Findest du nicht?«

»Doch, doch, auf jeden Fall«, erwiderte Olivia. »Wir sollten auch Register über geistig Behinderte und Homosexuelle führen. Dann könnte man sie mit dem Roma-Register vergleichen und vielleicht den einen oder anderen entwicklungsgestörten, schwulen Zigeuner aufspüren, der irgendwann mal einen Apfel im Supermarkt geklaut hat. Das würde uns dann endlich den verdienten Beifall bescheren.«

Frans lachte.

»Du, vielleicht sollten wir das wirklich in Angriff nehmen!«

»Ist das dein Ernst?« Olivia sah Frans einen Moment lang verunsichert an. Dann legte sie die Hand auf seinen Arm und fing ebenfalls an zu lachen.

Im selben Moment kam die Meldung über Funk.

Aus Arild.

»Dreijähriges Mädchen tot aufgefunden.«

Aditi ließ ihren Blick über die Frauen vor sich schweifen. »Jetzt atmen wir tief ein. Lasst die Augen geschlossen. Die Hände langsam drehen. Und lasst das Herz pulsieren.«

Liv Andersson saß im Lotussitz mit geschlossenen Augen da und hörte, wie sich Aditis weiche Stimme mit den tiefen Atemzügen der anderen Frauen vermischte.

»Glaubt an euch selbst. Ihr habt so viel Kraft – indem ihr euer Herz öffnet, könnt ihr euch selbst heilen und damit auch andere.«

Unter den Frauen in dem schönen, dezent dekorierten Raum in Aditis Aschram, einem Retreat in Chiang Rai im nördlichen Thailand, waren die Ruhe und die Konzentration geradezu vollkommen.

»Und jetzt möchte ich, dass ihr ganz langsam eure Augen öffnet und die Kraft spürt, die das Anahatachakra euch verleiht. Atmet noch einmal tief ein und spürt, wie Energie und Liebe durch euer Herz strömen.«

Aditi führte die Hände vor der Brust zusammen.

»Namaste!«

Langsam schlug Liv die Augen auf. Ihr Körper war wirklich zur Ruhe gekommen, ein vollkommen neues Gefühl für sie. Harmonie. Reinheit. Genau deshalb war sie hergekommen.

Die anderen Frauen standen nach und nach auf, legten die Matten, auf denen sie gesessen hatten, zurück und verließen still den Raum. Liv zögerte noch. Sie wollte das Gefühl, das sie beherrscht hatte, so lange wie möglich bewahren. Sie sah die Yogalehrerin an, die auf dem Weg hinaus leise mit ein paar Frauen sprach. Heute war Aditi ganz in Grün gekleidet – Anahata, die Farbe des Herzchakras. Das blonde Haar hatte sie zu einem eleganten Knoten zusammengebunden, und nur die winzigen Fältchen um die grünen Augen verrieten ihr wahres Alter.

Die schöne Aditi. Ihr ganzes Wesen strahlte Harmonie und Liebe aus.

Liv wünschte sich, sie würde das ebenfalls, wenn sie eines Tages die Fünfziger erreicht hätte. Dass sie die Balance behalten könnte, die sie hier gefunden hatte. Dank Aditi. Liv streckte den Rücken, setzte die Füße auf die Matte und stand bedächtig auf. Mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen kam Aditi auf sie zu.

»Wie fühlst du dich, Liv?«

»Fantastisch.«

Aditi legte ihren Arm um Liv.

»Gut. Nimm dieses Gefühl jetzt mit dir – und das hier ebenfalls.«

Sie reichte Liv eine Wasserflasche. Liv nahm sie dankbar entgegen.

»Und dann gehst du in den Garten. Nimm all die Farben und Düfte in dir auf. Genieß die Stille und die Liebe, die du in dir trägst.«

Plötzlich wurde eine Tür geöffnet, und Aditis Assistentin kam herein. Eine Spur schneller, als es hier im Retreat üblich war, in dem für gewöhnlich Ruhe und Harmonie herrschten. Liv spürte, wie Aditis Arm um ihre Taille sich verspannte, ehe sie sie losließ, um Sirikit entgegenzugehen. Die beiden Frauen sprachen leise auf Thai miteinander, und Liv sah, wie Sirikit über Aditis Schulter hinweg zu ihr herüberschaute. Redeten die beiden über sie? Dann drehte Aditi sich um, kam zu ihr zurück. Liv versuchte, den Gesichtsausdruck der Lehrerin zu deuten. War irgendwas passiert?

»Liv …«

Vorsichtig nahm Aditi Livs Hände in ihre und drückte sie.

»Ja?«

»Du musst zu Hause anrufen.«

»Aber ein Handy dürfen wir hier doch gar nicht benutzen …«

»Wir machen eine Ausnahme. Offenbar ist es wichtig.«

Wichtig? War etwas geschehen? Liv spürte, wie die Balance in ihrem Körper ins Wanken geriet. War jemand krank geworden? Hatte jemand einen Unfall gehabt? Ihre Mutter? War sie jetzt doch von dieser klapprigen Leiter gefallen?

»Und sie haben nicht gesagt, worum es geht?«

»Nein. Du kannst gerne auch von meinem Apparat aus anrufen. Komm.«

Wieder legte Aditi den Arm um Liv und führte sie behutsam aus dem Raum und weiter den langen Bogengang entlang. Liv registrierte den Geruch der weißen Blumengirlanden, die um die Buddhastatuen am Rand des Weges hingen. Jasmin. Sie liebte den schweren Duft, doch mit einem Mal erschien er ihr aufdringlich, fast wurde ihr schlecht davon.

Leise zog Aditi die Tür hinter sich zu. Liv machte ein paar Schritte auf den Schreibtisch zu, setzte sich auf den weichen orangefarbenen Schreibtischstuhl. Mittlerweile war ihr Gleichgewicht vollkommen dahin: Ihre Hände zitterten, als sie die Nummer wählte.

Nicht Sebastian meldete sich am anderen Ende der Leitung – und was die fremde Stimme ihr mitteilte, war einfach nur schrecklich. Durfte nicht sein, konnte nicht sein, war aber dennoch passiert. Nichts auf der Welt konnte Livs Körper mehr daran hindern, auf das, was sie soeben gehört hatte, zu reagieren.

Sie übergab sich.

Geradewegs auf den dunklen, hübsch geschnitzten Schreibtisch. Direkt auf die kleinen, lächelnden goldfarbenen Buddhafigürchen, die aufgereiht neben dem Telefon standen.

Mit einem Satz war Aditi bei ihr und nahm sie fest in die Arme, als wollte sie verhindern, dass Liv kollabierte. Die Tür ging auf, und Sirikit eilte erschrocken herein. In diesem Moment fing Liv an zu schreien, aus vollem Hals, ein Urschrei aus der abgründigsten Tiefe. Aditi hielt sie weiter fest umarmt und wiegte sie leicht hin und her.

Irgendwann hatte Liv keine Kraft mehr. Ihr zum Zerreißen angespannter Körper erschlaffte, und das Schreien ging in Schluchzen über.

Lange blieben die beiden Frauen beieinander sitzen. Wiegten einander. Unbemerkt huschte Sirikit aus dem Zimmer und machte die Tür hinter sich zu. Erst nach einer ganzen Weile richtete Aditi sich ein wenig auf und strich vorsichtig das Haar, das auf Livs Gesicht klebte, zur Seite.

»Liebste, liebste Liv. Was ist passiert? Geht es um Judith?«

Liv versuchte, tief einzuatmen, um Kraft zu sammeln, um die Worte auszusprechen, die ihr so unwirklich erschienen.

»Emelie … Es geht um Emelie. Sie ist tot.«

Arild liegt in der Gemeinde Brunnby direkt am Meer, ein altes Fischerdorf mit einer großen Hafenmole und zahlreichen kleinen, malerischen Fachwerkhäusern, die schmale Gassen säumen. Ein beliebter Touristenort im Sommer, im Winter Zuflucht für gut fünfhundert Ortsansässige.

Der Mord an Emelie Andersson erregte dort sofort riesiges Aufsehen.

Das ganze Gelände um das Haus herum war abgesperrt worden. Schaulustige standen in kleinen Grüppchen hinter dem Absperrband, und Gerüchte darüber, was angeblich passiert sein sollte, waren bereits bis in die hintersten Winkel des kleinen Ortes vorgedrungen. Hier kannte schließlich jeder jeden – auf irgendeine Art und Weise. Der Schock war immer noch greifbar, man unterhielt sich leise miteinander, und wenn irgendjemand hinüber auf den Garten zeigte, dann diskret. Die etwas Dreisteren hatten sich vorgetraut und stellten Fragen, erhielten aber von der Polizei die immer gleichlautende Antwort:

»Darüber können wir noch keine Auskunft geben.«

Im Garten waren Techniker dabei, eventuelle Spuren zu sichern. Emelies Vater Sebastian Andersson war zunächst vor Ort von Sanitätern versorgt und schließlich ins Krankenhaus gebracht worden. Olivia und Frans hatten versucht, ihm ein paar Fragen zu stellen, ehe er vollends zusammenbrach, aber sie hatten keine Antworten erhalten. Sebastians Schwiegermutter saß auf einer Holzbank unter einem alten Apfelbaum ein Stück entfernt. Ein breitschultriger Mann hielt sie im Arm.

Olivia machte ein paar Schritte auf den kleinen Sandkasten zu. Ein Polizeifotograf lief um sie herum und schoss aus allen erdenklichen Blickwinkeln Fotos. Emelies Körper war bereits weggebracht worden. Olivia starrte auf den Sandkasten. Ein Mordopfer sollte in einer Blutlache auf regennassem Asphalt liegen, dachte sie, nicht zwischen leuchtend gelben, sonnenbeschienenen Spielsachen. Und es sollte erst recht kein kleines Kind sein. Ein Kind mit entsetzlich verdrehtem Kopf.

Frans und sie waren fast zeitgleich mit einem zweiten Streifenwagen angekommen. Sie alle waren zunächst an der Pforte stehen geblieben, als hätte keiner als Erster hineingehen wollen. Irgendwann waren sie schließlich doch zu dem Sandkasten hinübergegangen, in dem Sebastian gekauert und seine tote Tochter in den Armen gewiegt hatte. Judith hatte direkt hinter ihm gestanden und am ganzen Leib gezittert. Beide hatten keinen Ton herausgebracht – was Olivia als Erstes aufgefallen war. Die ganze Szenerie war wie eine erstarrte Tragödie, ein stummes Stillleben des Schreckens. Keiner der Polizeibeamten hatte es gewagt, die Stille zu durchbrechen, bis schließlich Sebastian einen verzweifelten, rauen Schrei ausgestoßen hatte. Da erst hatte sich die makabre Szene in einen Tatort mit Opfer und Angehörigen verwandelt, und mit einem Mal hatten sie wieder gewusst, was zu tun war.

Olivia ließ den Sandkasten hinter sich und marschierte auf die Bank zu. Vor der zusammengesunkenen Gestalt ging sie in die Hocke. Sie wusste, dass Judith ein Beruhigungsmittel verabreicht worden war. Sie hatte nicht ins Krankenhaus gebracht werden wollen. Die arme Frau hob kaum merklich den Kopf und sah Olivia mit verweinten, verzweifelten Augen an, als versuchte sie, eine Erklärung in deren Blick zu finden. Olivia hatte keine Ahnung, was sie sagen sollte. Was sagt man einer Frau, deren Enkelkind gerade ermordet worden ist?

»Wenn Sie wollen, kann ich Sie nach Hause fahren.«

Judith wandte den Blick ab – weg von dem Sandkasten, wo sie Emelie nur für wenige Minuten allein gelassen hatte, um ans Telefon zu gehen. Der große Mann neben ihr, Judiths Lebensgefährte Curre, lehnte sich leicht vor.

»Das wäre wirklich nett. Ich bin nämlich mit dem Motorrad hier. Wissen Sie, wo Judith wohnt?«

»Nein.«

»Ich weiß selbst, wo ich wohne«, platzte es barsch aus Judith heraus, und sie stand auf.

Curre erhob sich ebenfalls und legte einen Arm um sie.

»Außerdem kannst du doch wohl im Auto mitfahren.«

Curre nickte, und Olivia deutete zur Straße. Dann ging sie vor dem Paar her auf die Pforte zu, hielt sie ihnen auf. Gerade als Judith über die Schwelle treten wollte, drehte sie sich noch einmal um und blickte zum Sandkasten zurück. Ihr Kopf begann, unkontrolliert zu zittern.

»Komm jetzt, Judith.«

Curre führte seine Partnerin durch die Pforte und weiter auf den Streifenwagen zu. Gerade als er die Tür aufzog, fing es an zu regnen. Irgendwie fühlt sich das richtig an, dachte Olivia. Sonne und Trauer gehören einfach nicht zusammen.

Judith Boelsdotter wohnte in Stora Görslöv. Dort führte sie gleich neben ihrem Wohnhaus eine kleine Gärtnerei und das Café. Von Arild aus war es nicht weit. Zunächst war es still im Auto. Judith saß hinten, Curre hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt, und ab und zu warf Olivia dem Paar im Rückspiegel einen verstohlenen Blick zu. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich bereits trauen konnte, die Fragen zu stellen, die ihr auf der Seele brannten. Manchmal war es entscheidend, an einem Verbrechen Beteiligte so schnell wie möglich zu befragen, ehe sich ihnen neue Gedanken aufdrängten und der erste Eindruck verwässert wurde. Doch sie wusste nicht, ob Judith bereits in der Lage war zu antworten.

»Liv ist in Thailand.«

Ausgerechnet Judith selbst durchbrach die Stille. Ihre Worte waren auf den Vordersitzen kaum zu verstehen, und Olivia vermochte nicht zu sagen, ob dies nun eine Information für sie gewesen war oder einfach eine Feststellung.

»Das ist Ihre Tochter?«, hakte sie nach.

Es kam keine Antwort. Olivia wusste, dass Emelies Mutter Liv hieß, aber nicht, dass sie sich derzeit in Thailand aufhielt.

»Ist sie schon benachrichtigt worden?«

Olivia spürte selbst, wie unglaublich formell das klang. Benachrichtigt? Als könnte man sich hinter derlei Ausdrücken verstecken. Um nicht allzu persönlich zu werden. Um nicht selbst in die Sache hineingezogen zu werden.

»Sie weiß es«, antwortete Curre.

»Ist das nicht entsetzlich! So etwas zu erfahren, während man auf Reisen ist! Fast auf der anderen Seite der Welt! Was hab ich nur gemacht!«

»Du hast gar nichts gemacht«, entgegnete Curre.

»Aber ich war diejenige, die auf Emelie hätte aufpassen sollen. Ich war ihr Babysitter!«

Curre drückte Judith fest an sich und strich ihr sanft über die tränennasse Wange. Olivia konnte ihre Reaktion verstehen. Und sie glaubte, sich auch den Schock der Mutter ausmalen zu können, als sie erfahren hatte, was geschehen war. Oder vielleicht auch nicht. Es gab schließlich Grenzen im Einfühlungsvermögen eines Menschen, und vermutlich verlief eine dieser Grenzen genau an dieser Stelle. In das Empfinden einer Mutter, die erfuhr, dass ihr Kind ermordet worden war, konnte sie sich beim besten Willen nicht hineinversetzen.

»Was macht sie in Thailand?«

Olivia hatte in erster Linie gefragt, um das Gespräch am Laufen zu halten. Um im nächsten Schritt auf andere Dinge zu sprechen zu kommen. Im Rückspiegel sah sie, wie Judith sich mit ihrem hellblauen Ärmel das Gesicht abwischte. Als sie antwortete, schien ihr die Stimme tief in die Brust gerutscht zu sein.

»Sie besucht dort das Retreat einer Freundin von mir. Liv ist sehr interessiert an Meditation und Yoga.«

»Geht sie hier irgendeiner Arbeit nach?«

»Sie hilft mir in der Gärtnerei.«

»Ach so. Und Sebastian?«

Statt zu antworten, ließ Judith den Kopf auf Curres Brust sinken.

»Er arbeitet in einer Flüchtlingsunterkunft in Hässleholm«, erklärte Curre an ihrer Stelle.

»Wissen Sie, ob es irgendwelche Drohungen gegen die Familie gegeben hat?«

Jetzt war es raus. Was sie unbedingt hatte fragen wollen, was zu weiteren notwendigen Fragen führen konnte. Haben Sie vielleicht jemanden vor dem Haus gesehen? Ein fremdes Auto auf der Straße? Wie lange war Emelie ohne Aufsicht? Haben Sie Sebastian kommen sehen? Fragen, von denen Olivia wusste, dass sie zu irgendeinem Zeitpunkt ohnehin gestellt werden mussten. Sie wollte gern so schnell wie möglich eine Antwort darauf erhalten.

»Danach fragen Sie besser Sebastian direkt«, erwiderte Curre.

Olivia nickte und bog nach Stora Görslöv ab. Gleich würde die Gelegenheit verstrichen sein. Sie wollte gerade die nächste Frage stellen, als Judith ihr zuvorkam, in einem Tonfall, der einem Flüstern ähnelte: »Warum bringt man ein Kind um?«

Der Arzt war um die fünfunddreißig, trug eine kleine ovale Brille und hatte eine abheilende Herpeswunde auf der Unterlippe. Die Frau, die ihm gegenübersaß, war Kriminalkommissarin beim Landeskriminalamt und hieß Mette Olsäter. Sie stand kurz vor ihrer Pensionierung und hatte in letzter Zeit siebzehn ihrer sechsundneunzig Kilo Körpergewicht verloren – gezwungenermaßen.

Die Altersdiabetes hatte sie erwischt.

Vor vier Monaten war sie während laufender Ermittlungen zusammengebrochen und hatte ins Krankenhaus gebracht werden müssen. Dort hatte man im Handumdrehen festgestellt, dass ihre Blutzuckerwerte aufgrund einer alarmierend niedrigen Insulinproduktion katastrophal hoch gewesen waren. Der Arzt, der sie nun von der anderen Seite des Schreibtischs anlächelte, hatte ihr Metformin verschrieben, ein Medikament, das die körpereigene Insulinproduktion ankurbelte, und es hatte tatsächlich funktioniert. Die Werte hatten sich stabilisiert – und sie hatte sichtlich an Gewicht verloren, allerdings nicht aufgrund der Tabletten, sondern weil sie ihre Ernährungsgewohnheiten radikal umgestellt hatte.

Der Arzt nahm die Brille ab und sah Mette an. »Und wie geht es Ihnen allgemein?«

»Bestens. Ich muss in einem fort pinkeln, hab abends Probleme mit den Augen und werde müde, sobald ich morgens aufgestanden bin.«

»Aber Sie haben mächtig abgenommen«, entgegnete der Arzt lachend.

»Verdammt mächtig. Ja, ich hab abgenommen, und das ist gut so. Aber auch anstrengend.«

»Sich zurückzuhalten?«

»Mein Mann ist auf alles versessen, was ich nicht länger essen darf. Eigentlich haben wir momentan am Esstisch nur noch einen gemeinsamen Nenner.«

»Und der wäre?«

»Schnaps und Wein.«

Mårten hatte ihr erzählt, dass Alkohol in Maßen den Blutzuckergehalt senke, und für diese Information war sie ihrem Mann überaus dankbar. Er war ein Genießer, wie er im Buche stand, und litt sichtlich darunter, dass Mettes Mahlzeiten nurmehr spartanisch ausfielen. Dass er ihre Kasteiungen mit ansehen musste, versüßte er sich zumindest halbwegs mit ein wenig Alkohol. Was medizinisches Wissen betraf, war er ihr haushoch überlegen, wann immer sie anfingen, über die Diabetes zu sprechen. Mårten hatte jahrelang versucht, Mette Einhalt zu gebieten, und sie gebeten, nicht jeden Fall, der auf ihrem Schreibtisch landete, wie ein Bulldozer in Angriff zu nehmen. Vergebens. Mette war nun einmal, wie sie war, und gerade ihre zupackende Art hatte ihr mehr oder weniger einen Heldenstatus bei der Polizei beschert – am Ende eben aber auch die Diabetes. Die war nämlich durch Stress hervorgerufen worden. Zumindest glaubte das der freundliche Mann, der ihr gegenübersaß.

»Sofern die Krankheit nicht erblich ist – das wäre ebenfalls ein Grund –, bricht sie normalerweise aufgrund von Stress aus.«

Hatte er behauptet.

In Mettes Familie gab es keine weiteren Diabetiker, also hatte sie die Diagnose »Stress« wohl oder übel akzeptieren müssen. Ein Wort, das sie im Übrigen tunlichst vermieden hatte, als sie Mårten erklärte, was mit ihr los war und warum.

»Der Arzt weiß auch nicht genau, warum«, hatte sie gesagt.

»Ist so was nicht auch manchmal stressbedingt?«

»Warum sollte es?«

»Weil das ein ziemlich gängiger Auslöser für Diabetes sein soll – sofern es nicht erblich bedingt ist.«

»Und seit wann beschäftigst du dich mit Erbkrankheiten?«

Und dabei war es geblieben. Doch Mette wusste nun, dass Mårten Bescheid wusste, und das störte sie.

Nichts mochte sie weniger als ein »Hab ich es nicht gesagt?«.

Jetzt aber war sie Mårten erst einmal los. Zumindest vorübergehend. Sie hatte ihn und die jüngste Tochter Jolene zum Flughafen gebracht. Die beiden waren zusammen mit einem engen Freund der Familie, Abbas el Fassi, nach Marrakesch geflogen, und endlich einmal hatte sie ein bisschen Zeit für sich – für sich und ihr Büßerhemd. Außerdem gönnte sie Mårten von Herzen, zur Abwechslung mal alles genießen zu dürfen, was sie sich verkneifen musste, ohne einer dünneren, aber auch langweiligeren Mitesserin gegenübersitzen, die argwöhnisch jede mit Knoblauch gewürzte Kartoffelscheibe beäugte, die zwischen seinen Lippen verschwand.

»Dann wünsche ich weiterhin viel Glück.«

Der Arzt war aufgestanden und streckte ihr die Hand entgegen. Mette ergriff sie. Glück – wobei denn?

»Sie meinen die Diät?«

»Ja. Je länger Sie durchhalten, umso mehr Gewicht verlieren Sie und umso besser werden Ihre Werte. Das hängt alles miteinander zusammen.«

Was für ein bescheuertes Klischee, dachte Mette.

Als sie das Krankenhaus durch die gläserne Drehtür verließ, hatte es angefangen zu regnen. Sie sah zum Parkplatz hinüber. Und was mache ich jetzt? Vor einem halben Jahr wäre sie auf direktem Weg zur Hötorgshallen gefahren und hätte dort diverse Tüten mit Leckereien aus aller Herren Länder gefüllt und ihren Mann damit in der großen Küche in Kummelnäs überrascht. Doch nun war der Mann weg, und stattdessen hatte sie Diabetes.

Im nächsten Augenblick klingelte ihr Handy.

Oskar Molin, ein Kollege von der Kripo, erkundigte sich danach, ob sie schon von dem brutalen Kindesmord in Schonen gehört hätte, genauer gesagt in Arild. Nein, hatte sie nicht. Sie war erst am Flughafen und dann im Krankenhaus gewesen, und jetzt stand sie im Regen auf einem Parkplatz und starrte auf einen Strafzettel über 700 Kronen.

»Möglich, dass wir hinzugezogen werden«, sagte Molin.

»Warum sollten wir?«

»Nur so ein Gefühl.«

Mette beendete das Gespräch und dachte an Olivia. Lag Arild nicht in ihrem Bezirk?

Noch ehe Olivia das Polizeirevier von Höganäs erreichte, hatte der Abend die Landschaft in schweres Dunkel gebettet. Sie stellte ihren Wagen vor dem Eingang ab. Auf dem Parkplatz standen ungewöhnlich viele Autos – extra herbeigerufenes Personal, schoss es ihr durch den Kopf. Für die Zeugenbefragungen, die Fahndung, die anstehenden Vernehmungen. Sie lief die Treppe hoch und warf im Vorbeigehen einen Blick in die Kaffeeküche. Fast nur Männer, davon aber eine ganze Menge. Sie atmete tief durch und ging weiter.

Frans und sie teilten sich ein Stück weiter einen Raum. Der Flur dorthin war menschenleer, alle schienen sich in der Küche versammelt zu haben. Auch ihr Arbeitszimmer war verwaist. Olivias Schreibtisch war übersät mit Unterlagen und Zeitschriften, Frans’ Tisch dagegen war wie immer klinisch rein. Sie setzte sich, wusste jedoch nicht, ob sie mit ihrem Bericht loslegen sollte oder lieber noch ein bisschen warten. Sie hätte nicht einmal sagen können, wie sie den bisherigen Stand der Ermittlungen zusammenfassen sollte. Allerdings verspürte sie starken Kaffeedurst, und den konnte sie lediglich in der Küche stillen.

»Wie ist es bei dir gelaufen?«, rief Frans ihr entgegen, sowie sie eintrat.

»Ich hab sie nach Hause gebracht, dann bin ich noch eine Runde gefahren.«

»Und wohin?«

Darauf war sie ihm keine Antwort schuldig. Wortlos marschierte sie auf die Kaffeemaschine zu. Die Küche war relativ groß, einer der größten Räume im Gebäude, trotzdem war es im Augenblick verdammt eng hier drinnen. Leute saßen auf Stühlen, auf Tischen und Bänken, viele in grauem Unterhemd, und der Geruch von Achselschweiß und Snus waberte durch den Raum. Als sie die Kanne aus der Kaffeemaschine zog, spürte sie die Blicke in ihrem Rücken und hatte das Gefühl, irgendein Gespräch wäre verstummt, als sie hereingekommen war.

Doch da irrte sie sich.

Es lag nicht an ihr, dass sie schwiegen. Eine merkwürdige Stimmung herrschte in der Küche. Kaum jemand sagte etwas, und denjenigen, die sich trotz allem äußerten, war anzumerken, wie betroffen sie waren. Mehrere Männer hatten in irgendeiner Weise eine Verbindung zur Familie Andersson: Der eine spielte Unihockey mit Sebastian, ein anderer war mit Liv zur Schule gegangen – und sie alle fühlten sich betroffen, emotional angeschlagen, das konnte man ihnen an den Gesichtern ablesen.

Olivia schenkte sich einen Schluck der schwarzen Brühe aus der Kaffemaschine ein. Dann stellte sie fest, dass es keine Milch mehr gab. Sie hasste schwarzen Kaffee, aber es gab Schlimmeres. Mit dem Plastikbecher in der Hand überlegte sie, ob sie zurück in ihr Büro gehen sollte. Doch irgendwie nahm die Stimmung in der Küche sie gefangen. Es herrschte eine Art kollegialer Schwere, sie bedrückte diese eingeschworene Gruppe von Menschen. Alle wussten, warum sie hier waren und welche Aufgabe ihnen bevorstand.

»Wann kommen die Ermittler?«, fragte jemand.

»Sind schon auf dem Weg.«

»Aus Helsingborg?«

»Nee, die haben genug mit anderen Dingen zu tun. Es wird Malmö.«

»Und wer soll das Ganze leiten?«

»Sven Svensson. Er ist gut, aber politisch verdammt korrekt.«

»Woher willst du das wissen?«

»Tja, zumindest in dieser Debatte über unterschiedliche Register hat er sich nicht groß hinter uns gestellt.«

Wahrscheinlich hat er die Register total daneben gefunden, dachte Olivia, ahnte aber, dass dies nicht der richtige Moment war, um die Diskussion neu anzufachen. Nicht hier, nicht in dieser Situation. Nicht mit diesen Männern.

»Ich hab vor einer Weile mal mit Svensson gearbeitet«, warf ein blonder Beamter in Zivil ein. »Er ist schon ziemlich eigen.«

»In welcher Hinsicht?«

»Na ja, du weißt schon, er hat so seine Macken … Immer wenn er eine Pressekonferenz gibt, zieht er sich so einen alten gelben Pullunder über.«

»Ist er nicht auch mit einer Dänin verheiratet?«

»Ja.«

Irrsinnig eigen, dachte Olivia. Aber sie wusste auch, dass es eigentlich bloß darum ging, nicht darüber sprechen zu müssen, was so schwierig war: über den Mord an einem dreijährigen Mädchen. Wofür sie vollstes Verständnis hatte.

Als wieder Schweigen einkehrte, verließ Olivia die Küche. Sie ging in ihr Arbeitszimmer zurück und beschloss, noch einmal die Fakten durchzugehen, die auf ihrem Notizblock standen. Name. Alter. Zeitpunkt. Als Letztes hatte sie sich notiert, dass Emelie Andersson 2011 aus Ghana adoptiert worden war.

Irgendwann machte sie kurz entschlossen das Fenster auf und kippte den Großteil ihres Kaffees nach draußen. Hätte es ein Blumenbeet dort unten gegeben – die Pflanzen wären unter Garantie eingegangen. Davon war sie überzeugt.

»Machst du dich in nächster Zeit auf den Heimweg?«

Frans war in der Tür aufgetaucht.

»Ja.«

»Mit dem Fahrrad?«

»Ja, wieso?«

»Ich könnte dich mitnehmen.«

»Warum denn das?«

»Na ja, immerhin läuft dort draußen ein verrückter Mörder herum.«

»Das wissen wir doch gar nicht.«

»Was wissen wir nicht?«

»Ob er noch hier ist. Er könnte inzwischen genauso gut in Kopenhagen oder Stockholm oder wer weiß wo sein.«

»Oder auch nicht. Das wissen wir genauso wenig.«

Olivia zuckte mit den Schultern und ging zur Tür. Frans ließ ihr den Vortritt. Sie nahm den Weg zum Hinterhof, wo sie ihr Fahrrad abgestellt hatte, und war überrascht, als Frans ihr folgte. Er blieb stehen, als sie die Tür aufstieß, zu ihrem Rad hinüberging und es in Richtung Ausgang drehte.

»In deiner Gegend ist es ziemlich dunkel«, stellte er fest.

»Ja.«

»Und du wohnst doch ganz allein in diesem Häuschen, oder?«

»Ja. Aber das ist für mich kein Problem. Trotzdem vielen Dank. Und tschüss!«

Sie zog den Reißverschluss ihrer Jacke zu, trat kräftig in die Pedale und verließ den Hof. Frans blickte ihr nach.

»Das ist für mich kein Problem.«

Sie hatte locker klingen wollen und es lediglich gesagt, um Frans gegenüber das Gesicht zu wahren. Um ihm zu zeigen, wie tough sie war. Jetzt war sie allein auf ihrem Fahrrad unterwegs und sich nur zu bewusst, dass Frans recht gehabt hatte. Emelies Mörder konnte sich immer noch in der Nähe befinden. Niemand wusste, wer es gewesen war – Mann oder Frau, Fremder oder Einheimischer. Wer auch immer, der sich wo auch immer befand. Olivia spähte in die Dunkelheit am Straßenrand. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, was sie am Morgen drüben am Kullaberg erlebt hatte – die Bewegung, die sie in einem der Holztürme zu sehen geglaubt hatte –, und das unheimliche Gefühl, später im Wald, war schlagartig wieder da. War wirklich irgendjemand dort gewesen? Sie trat ein wenig kräftiger in die Pedale und versuchte, an etwas anderes zu denken. Aber es half nichts. Ihre Gedanken wanderten immer wieder zurück zu dem kleinen Sandkasten, zu dem verzweifelten Vater mit dem toten Kind im Arm, zu der sonderbaren Stille, die im Garten geherrscht hatte. Wo war der Mörder zu jenem Zeitpunkt gewesen? Immer noch in der Nähe?

Mittlerweile fuhr sie, so schnell sie konnte.

Je länger der Abstand zwischen den Straßenlaternen wurde, umso schneller ging ihr Puls. Den letzten Kilometer fuhr sie in vollkommener Dunkelheit, mit Gegenwind und Böen. Der kleine Lichtkegel ihrer Fahrradlampe tanzte nur wenige Meter vor ihr über die Straße. Als sie um eine Ecke bog, drehte sie sich unwillkürlich um. Ein Auto fuhr hinter ihr her, ein gutes Stück entfernt, doch aus irgendeinem Grund schien es sich ihrem Tempo angepasst zu haben. Es war nicht mehr allzu weit bis zu ihrem Haus, bei Gegenwind vielleicht noch eine Viertelstunde. Wurde sie verfolgt? Aber warum sollte sie das? Direkt vor sich entdeckte sie zwei große steinerne Torpfosten, bremste ab, zog das Fahrrad von der Straße und versteckte sich damit hinter einem der Pfosten. Der Wagen näherte sich, die Scheinwerfer huschten über sie hinweg. Als der Wagen auf ihrer Höhe war, erkannte sie Frans’ Auto – mit Frans am Steuer und einer weiteren Person auf dem Beifahrersitz, die in der Dunkelheit nicht zu erkennen war. Brachte er jetzt jemand anderen nach Hause? Aber warum fuhr er so langsam? Sie ließ den Wagen weiterfahren, ohne sich zu erkennen zu geben. Ein Stück weit schob sie ihr Rad noch, dann stieg sie wieder auf und radelte im Eiltempo das letzte Stück nach Hause.

Zu Hause, das war ein stattliches Haus von der Jahrhundertwende aus grauem Stein mit einem großen, gepflegten Garten, der von einer hohen Hecke umsäumt wurde. Weiter hinten im Garten stand ein kleineres Gästehaus aus weißem Klinker. Und dieses Gästehaus hatte Olivia gemietet: zwei Zimmer und eine kleine Küche, genau passend für sie. Momentan waren die Hausbesitzer in Spanien, und Olivia kümmerte sich um ihre Post.

Doch diesmal war der Briefkasten leer. Sie schloss die Pforte hinter sich und schob das Fahrrad weiter zu ihrem kleinen Gästehaus. Die Besitzer des Haupthauses hatten hier und da von einer Zeitschaltuhr gesteuerte Lampen auf dem Grundstück verteilt, die ein schwaches Licht über den Rasen warfen. Olivia stellte ihr Fahrrad an die Hauswand und kramte ihren Haustürschlüssel heraus. Plötzlich hatte sie wieder Frans’ Stimme im Ohr: »Du wohnst doch ganz allein in diesem Häuschen, oder?« Eilig öffnete sie die Tür und trat ein.

Und da fiel ihr ein, was sie vergessen hatte.

*

Die große grüne Hexenburg gehörte zu den beeindruckendsten Gebäuden in Kummelnäs auf Värmdö. Nicht allein aufgrund ihrer Architektur, ihrer Schnitzereien, sondern auch wegen ihrer Lage. Sie stand auf einer Anhöhe mit Blick über die Einfahrt nach Stockholm. Badeplatz und Fähranleger waren zu Fuß erreichbar.

Doch das war nicht der Grund, warum Familie Olsäter ihr Haus so liebte. Vielmehr lag es an dem speziellen Interieur. Nichts in diesem Haus folgte geraden Linien. Kleine sechseckige Räume wurden von drei Meter hohen Sälen abgelöst, schmale Flure wanden sich zwischen Treppen und Nischen entlang, die Küche war geradezu ein Meer aus Schnitzereien und Kacheln – und alles hatten die Besitzer mit zahlreichen Funden von diversen Reisen rund um den Globus dekoriert. Irgendeine Stelle im Haus, wo man ein neues Fundstück platzieren konnte, hatte sich immer gefunden. Wodurch mit der Zeit ein regelrechtes Kuriositätenkabinett entstanden war. Außerdem waren hier fünf Kinder geboren worden, von denen vier bereits selbst Kinder hatten. Sie alle sahen das Haus als Allgemeinbesitz an, solange sie zur Familie Olsäter gehörten. Eine Weile lang hatte es eine Art Wohngemeinschaft beherbergt, die jedoch lediglich aus Familienmitgliedern bestanden hatte.

Und das war auch der Grund, warum Mette an diesem Abend so heftig reagierte. Sie war es einfach nicht gewohnt. Normalerweise herrschten hier Lärm, Lachen, Schritte, Musik, Kinder – und Mårten. Doch jetzt war es vollkommen still im Haus. Sie war allein. Auch das war sie nicht gewohnt. Solange sie sich erinnern konnte, war Mårten immer da gewesen, als eine Art menschliches Inventar. Äußerst selten, vielleicht zwei-, dreimal im Laufe der Jahre, war er alleine fortgefahren, aber damals waren die Kinder noch hier gewesen. Oder Mårtens alte Mutter Ellen, die unter dem Dach gewohnt hatte. Inzwischen war Ellen tot. Mårten war mit Jolene im Ausland und Mette somit mutterseelenallein in diesem großen Haus. Wo die Kinder und Enkel sich gerade aufhielten, wusste sie nicht so genau. Jedenfalls waren sie nicht hier. Und das war ein merkwürdiges Gefühl.

Nachdem sie aufgeschlossen hatte, war sie zunächst in den Räumen herumgegangen und hatte versucht, sich einzureden, wie schön es wäre – so still und leer. Wie schön, dass sie allein hier war. Doch es hatte nicht lange funktioniert. Spätestens als sie die Küche betrat, das Herz des Hauses, hatte sie die Trostlosigkeit übermannt. Sie machte Licht über dem Spülbecken, angelte eine tote Maus aus einer Falle und warf sie auf den Müll. Dann schenkte sie sich ein Glas Wein ein.

Natürlich als Teil ihres Diätplans.

Als sie sich an den großen, abgewetzten Holztisch setzte und an die magere Ausbeute dachte, die sich heute in ihren Einkaufstüten befand, hätte sie am liebsten losgeheult. So sah es also aus, das Leben allein. Was, wenn Mårten starb? Und Jolene in eine dieser betreuten Wohngemeinschaften zog? Jolene hatte das Downsyndrom. Inzwischen war sie zwanzig Jahre alt. In letzter Zeit hatten sie häufiger darüber gesprochen, dass Jolene ausziehen wollte, um allein zu leben, in einer betreuten Gemeinschaft. Eine geradezu traumatische Vorstellung für Mette. Sie verstand Jolene natürlich und wollte, dass so gut wie möglich für sie gesorgt würde, aber die Medaille hatte auch eine Kehrseite: Mette wurde nicht länger gebraucht. Zumindest nicht in der Art, wie sie zwanzig Jahre lang gebraucht worden war. All die Jahre hatten sie außerordentlich geprägt, und jetzt sollte sie ihre Rolle einfach abgeben? Wer würde sie dann überhaupt noch brauchen? Mårten? Nicht in der gleichen Weise wie Jolene. Er war ihr Mann. Er hatte andere Bedürfnisse.

ENDE DER LESEPROBE