Die stummen Wächter von Lockwood Manor - Jane Healey - E-Book

Die stummen Wächter von Lockwood Manor E-Book

Jane Healey

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Beschreibung

Manche Geheimnisse sind unausgesprochen. Andere sind unaussprechlich.

1939. Hetty Cartwright muss eine Sammlung des Londoner Natural History Museum vor dem heraufziehenden Krieg in Sicherheit bringen – ins verfallene Herrenhaus Lockwood Manor. Doch das Haus wirkt auf Hetty wie verflucht: Ihre geliebten Exponate, der ausgestopfte Panther, die Kolibris und der Eisbär, verschwinden, werden zerstört und scheinen nachts umherzuwandern. Zusammen mit der Tochter des tyrannischen Hausherrn, Lucy Lockwood, versucht Hetty, die nächtlichen Geschehnisse zu ergründen, und bringt ein tragisches Geheimnis ans Licht. Eine fesselnde und betörende Geschichte über eine große Liebe und den Wahnsinn einer Familie, ihre lang vergrabenen Geheimnisse und versteckten Sehnsüchte.

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Über das Buch

Manche Geheimnisse sind unausgesprochen. Andere sind unaussprechlich.1939. Hetty Cartwright muss eine Sammlung des Londoner Natural History Museum vor dem heraufziehenden Krieg in Sicherheit bringen — ins verfallene Herrenhaus Lockwood Manor. Doch das Haus wirkt auf Hetty wie verflucht: Ihre geliebten Exponate, der ausgestopfte Panther, die Kolibris und der Eisbär, verschwinden, werden zerstört und scheinen nachts umherzuwandern. Zusammen mit der Tochter des tyrannischen Hausherrn, Lucy Lockwood, versucht Hetty, die nächtlichen Geschehnisse zu ergründen, und bringt ein tragisches Geheimnis ans Licht. Eine fesselnde und betörende Geschichte über eine große Liebe und den Wahnsinn einer Familie, ihre lang vergrabenen Geheimnisse und versteckten Sehnsüchte.

Jane Healey

Die stummen Wächter von Lockwood Manor

Roman

Aus dem Englischen von Susanne Keller

hanserblau

Prolog

Große Häuser darf man keinen Moment aus den Augen lassen, sie sind schwer zu beherrschen, sagte meine Mutter immer zu mir, mit angespanntem Blick und gequältem Gesichtsausdruck, um gleich darauf aus dem Raum zu eilen, auf der Suche nach der Haushälterin oder dem Butler oder einem Dienstmädchen, und sich haarklein berichten zu lassen, wie es um die entfernten Winkel des Hauses bestellt war. Lockwood Manor hatte vier Stockwerke, sechs Treppenhäuser und zweiundneunzig Zimmer, und sie wollte zu jedem Zeitpunkt ganz genau wissen, was in jedem von ihnen vor sich ging.

Das Nicht-Wissen war, was ihr am meisten Sorgen bereitete, aber sie hatte auch viele sehr handfeste Befürchtungen: Schimmel, der sich ungestört hinter großen Möbelstücken ausbreitete, morsche Fensterrahmen, die eine unheilvolle Zugluft hineinließen, Mäuse, die an Sofas nagten und sich dort häuslich einrichteten, lose Dielen, wo Nägel sich durch Hitze oder Kälte verselbstständigt hatten, elektrische Drähte, die Funken sprühten, Vögel, die im Schrank eines vergessenen Dienstbotenzimmers nisteten und die Wände mit ihren Krallen bearbeiteten, Feuchtigkeit, die durch eine undichte Stelle in der Dachverkleidung eindrang, ein Teppich, an dem sich hungrige Motten gütlich taten, zischelnde Rohrleitungen, die zu bersten drohten, ein Schlickschwall, der dem Keller gefährlich nahe kam.

Meine Großmutter dagegen, die in einer Zeit aufgewachsen war, als jede einzelne Tätigkeit im Haus einem bestimmten Dienstboten zugewiesen war und das Klingeln nach dem Nachmittagstee eine ganze Armee in Gang setzte, schrieb das alles dem Unvermögen der Angestellten zu. Sie waren arbeitsscheu, nachlässig und neigten zum Stehlen, verbrachten ihre Zeit damit, zu faulenzen, Tagträumen nachzuhängen und allen möglichen Unfug anzustellen. Sie besaß eine stattliche Kollektion an hellen Handschuhen, die sorgfältig von ihrer Zofe gebügelt wurden und mit denen sie, wann immer es ihr gefiel, mit dem Zeigefinger über Kaminsimse oder Regale fuhr und umgehend die Haushälterin herbeizitierte, wenn sie auch nur den Hauch eines Stäubchens entdeckte. Denn meine Großmutter gehörte noch einer Generation an, in der die Dame des Hauses sich nicht dazu herabließ, mit irgendeinem Bediensteten außer der Haushälterin zu sprechen, sodass die Ärmste ständig alles stehen und liegen lassen musste, um durch die Dienstbotenkorridore des Hauses zu hasten und wie aus dem Nichts vor Lady Lockwood zu erscheinen.

Die Angestellten waren also durchaus erleichtert, als meine Mutter und meine Großmutter vor einigen Monaten bei einem Autounfall ums Leben kamen, und ich konnte es ihnen nicht verdenken — mir war bewusst, welch strenges Regiment die beiden Frauen geführt hatten. Aber auch die ehrlichen Tränen bei ihrem Begräbnis waren mir nicht entgangen und ich wusste, dass sie den Angestellten nicht gleichgültig gewesen waren. Ich schwor mir, mir nicht die Gewohnheit meiner Familie zu eigen zu machen, Unmögliches von den Bediensteten zu verlangen, und schlüpfte doch widerstrebend in die Rolle meiner Mutter und meiner Großmutter — immer ein waches Auge auf das Haus zu haben, ihm ständig die volle Aufmerksamkeit zu widmen —, wie in die Pelzmäntel, die sie mir ebenfalls hinterlassen hatten: kratzige, klobige Dinger, die noch die Klauen und Zähne der Tiere zeigten, die für ihre Herstellung gehäutet worden waren, und in denen ich in Unförmigkeit versank.

Seit meiner Kindheit litt ich an nervösen Zuständen und einer überbordenden Fantasie, die mich kaum schlafen ließ. Es war meine Lieblingsgouvernante, jene, die mir auch noch Schlaflieder sang, als ich eigentlich schon einige Jahre zu alt dafür war, die mir beigebracht hatte, wie ich dennoch in den Schlaf finden konnte: Ich solle mir vorstellen, sagte sie, dass ich durch Lockwood Manor gehe, einen Raum nach dem anderen durchquere und die Zimmer wie Schafe zähle — und ehe ich auch nur mit einem Stockwerk fertig wäre, wäre ich eingeschlafen. Die Methode funktionierte, ganz, wie sie gesagt hatte, doch sie konnte nichts gegen die grauenvollen Albträume ausrichten, die mich überfielen, sobald ich schlief — Träume, in denen ich von einem wilden Tier gejagt wurde und in denen ich manchmal verzweifelt die endlosen Gänge meines Zuhauses nach einem blauen Zimmer absuchte, in dem, wie ich wusste, eine schreckliche Kreatur eingesperrt war und mit den Krallen an den Wänden scharrte, was mich beim Aufwachen jedes Mal aufs Neue verwunderte, wusste ich doch, dass es auf Lockwood Manor keinen solchen Raum gab.

Aber nach dem Tod meiner Mutter und meiner Großmutter kam mir das Zählen nicht mehr vor wie ein Spiel oder wie ein Kniff, der mich beruhigen und zum Einschlafen bringen sollte. Es nahm eine neue, fieberhafte Dringlichkeit an. Ich konnte nicht einschlafen, bevor ich nicht im Geiste das komplette Haus durchschritten hatte, und machte ich einen Fehler — vergaß ich etwa die Vorratskammer oder das Badezimmer im zweiten Stock, in dem das Waschbecken herausgerissen war, oder das Schlafzimmer der Haushälterin mit seinen engen Dachschrägen —, so war ich gezwungen, mit wild klopfendem Herzen wieder ganz von vorn zu beginnen, während mir Schweiß über den Rücken lief und auf der Haut juckte.

Auch wenn es völlig verrückt war, dachte ich mitunter sogar, dass, wenn ich mich nicht richtig konzentrierte, wenn es mir nicht gelang, alle Räume zu zählen und sie ihm Kopf zu behalten, sich alle Befürchtungen meiner Mutter bewahrheiten würden, ja, schlimmer noch, dass die Ecken des Hauses auseinanderdriften und die Mauern bersten und zu Staub zerfallen könnten; dass etwas geschehen könnte, das so grauenvoll war, dass es sich jenseits meiner Vorstellungskraft befand.

In Lockwood gab es zu viele leere Räume. Sie waren einfach da, starrten still vor sich hin und warteten darauf, dass meine Fantasie sie mit Horrorgestalten bevölkerte — mit Gespenstern und Schatten und anderen unheimlichen, umhergeisternden Wesen. Und manches Mal war schon das furchterregend genug, was bereits vorhanden war: zurückgelassene Stühle, der wuchtige Umriss eines leeren Kleiderschranks, ein Bild, das von allein von der Wand fiel und auf dem Boden zerbrach, ein Vorhang, den ein verirrter Windstoß aufbauschte, eine flackernde Glühbirne, die eine Botschaft aus dem Jenseits zu übermitteln schien. In verlassenen Zimmern ist Raum für verborgene Gestalten — Herumtreiber, Eindringlinge, Geister. Und wenn genug Platz ist, seinen Gedanken freien Lauf zu lassen, kann man sich vorstellen, dass geliebte Menschen gar nicht tot sind, sondern nur in einem abgelegenen Raum warten, von dem man gar nicht mehr wusste, dass es ihn gibt, und das Verlangen, nach ihnen zu suchen und immer und immer wieder die Flure und Zimmer zu durchstreifen, bis man sie endlich gefunden hat, wird übermächtig.

Doch nun erschien eine Atempause am Horizont, denn nicht mehr lange und das Haus würde nicht mehr leerstehen, und ich und mein Vater und die Dienstboten — nicht, dass wir noch viele hatten, denn wir hatten unsere liebe Not damit, sie zu halten — würden bald Gesellschaft bekommen. Es war August, und Lastwagen aus London waren auf dem Weg, um Evakuierte zu uns zu bringen, die in den Mauern von Lockwood Manor Schutz suchten. Bald würden hier neue Bewohner Quartier beziehen — mit ihren Federn, Pelzen, Schnäbeln, Hufen, Halskrausen und Kragen, Klauen und Krallen —, und wenn die Räume erst wieder bewohnt wurden, wenn sie wieder einen Zweck erfüllten und in ihnen drangvolle Enge herrschte, dann würden ich und das Haus wieder Ruhe finden. Keine verlassenen Zimmer mehr, in denen jeder Schritt widerhallte, keine nervösen Zustände mehr, keine Geister mehr. Da war ich ganz sicher.

1

Kapitel

Die Säugetiere wurden evakuiert. Als Erste waren die Füchse in ihrem Schaukasten dran, in dem der Staub so hoch lag, dass er wie Fell wirkte. Dann kamen der Jaguar mit seinen gefletschten Zähnen, die Sammlung von Hermelinen, die der um Originalität bemühte Tierpräparator liebevoll in Pose gesetzt hatte, das Gehäuse mit dem Schnabeltier, das seines eigenartigen Äußeren wegen anfangs als Scherzattrappe durchgegangen war, der Schädel des Amerikanischen Mastodons, das man aufgrund seiner großen Nasenhöhle früher für einen Zyklopen gehalten hatte, gefolgt von dem tintenschwarzen Panther, der eigentlich ein schwarz pigmentierter Leopard aus Java und mein Liebling war, seit ich das Museum als Kind besucht hatte. Mit großer Sorgfalt hatte ich ihn in Sackleinen gehüllt und gründlich verschnürt, damit er die Reise nach Norden heil überstand, und ihm dann sanft über die breite Nase gestrichen, als wollte ich uns beiden Mut zusprechen.

Die Tiere und die Fossilien, die Präparate dieses großartigen Museums, würden über das ganze Land verteilt, jede Abteilung an einen anderen Ort, um sie vor der Gefahr deutscher Bomben auf London zu schützen. Die Säugetiere wurden nach Lockwood Manor ausgelagert, und ich sollte sie als stellvertretende Abteilungsleiterin begleiten, eine Position, die ich einer Reihe rasch aufeinanderfolgenden Beförderungen zu verdanken hatte, nachdem zwei höherrangige Mitarbeiter sich freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatten. Dort würde ich dann die Verantwortung tragen, als De-facto-Direktorin meines eigenen kleinen Museums.

Noch vor einem Jahr hätte ich es nicht für möglich gehalten, jemals einen solchen Posten zu bekleiden, denn mir war eines dieser Missgeschicke passiert, die auf einen Schlag alles zunichtemachen können, was man sich mühselig aufgebaut hat. Eines Spätnachmittags hatte ich mich in einer der Werkstätten unterhalb der Ausstellungsräume aufgehalten, um einige verblasste Etiketten für eine Nagetier-Kollektion zu erneuern, die ein herausragender Evolutionstheoretiker auf seinen Reisen zusammengetragen hatte und die daher von ebenso historischer wie wissenschaftlicher Bedeutung war. Daneben hatte ich mir das letzte existierende Fossil einer ausgestorbenen Pferderasse zurechtgelegt, das ich reinigen wollte, wenn ich mit den Etiketten fertig war. An jenem Tag hatte ich das Mittagessen ausgelassen, was allerdings nichts Außergewöhnliches war — oft genug war ich so in meine Arbeit vertieft, dass ich vergaß, meine mitgebrachten Sandwiches zu essen —, und ich trug alte, ausgeleierte Schuhe, weil mein normales Paar beim Besohlen war.

Ich hatte frische Tinte geholt und war ausgerutscht. Mein Bein knickte ein, mein Schuh glitt auf dem über viele Jahre hinweg von unzähligen Füßen blank polierten Holzboden aus, und im nächsten Moment riss ich das Fossil mitsamt den Nagetierkästen zu Boden und knallte mit der Stirn an die Tischkante. Ob und welche Art von Verletzung ich mir zugezogen hatte, kümmerte mich nicht im Geringsten. Ich starrte mit blankem Entsetzen auf das Durcheinander aus Präparaten und Etiketten — Letztere hatte ich aus den Kästen geholt, um sie aus der Nähe studieren zu können, und nun waren sie von ihrem jeweiligen Objekt getrennt, sodass die Sammlung praktisch wertlos geworden war. Daneben, in tausend Stücke zersprungen, lag das Fossil. Außer mir war noch ein Säugetier-Kollege namens John Vaughan im Raum, der Letzte, den ich mir in einer derart peinlichen Situation als Zeuge gewünscht hätte, weil er nichts mehr liebte, als ständig in abfälligem Ton zweideutige Kommentare über die Tatsache von sich zu geben, dass ich eine Frau war, und der nun die Szene mit höhnischem Grinsen verfolgt hatte.

Das Schlimmste an meinem Unfall, wie mir Dr. Farthing, der Direktor der Abteilung, in unserer Unterredung am nächsten Tag ins Gedächtnis rief — und in der Art, wie er das Wort Unfall sagte, seine Zweifel daran verdeutlichte —, war jedoch, dass sich für den darauffolgenden Tag ein Besucher aus Amerika angekündigt hatte, der ebenjenes Fossil untersuchen wollte, das ich zerbrochen hatte. Ein Wissenschaftler, der nicht weniger vermögend war als all die hochwohlgeborenen Wissenschaftler des Viktorianischen Zeitalters und den das Museum als Gönner hatte gewinnen wollen.

An jenem Tag war ich mit einem Rüffel davongekommen — man hätte mich auch schwerlich hinauswerfen können, da das Museum Teil der öffentlichen Verwaltung war —, doch auch wenn meine Arbeit bis auf die katastrophalen Ereignisse an jenem Nachmittag stets beispielhaft gewesen war, wusste ich, dass damit jede noch so kleine Chance auf eine Beförderung dahin war. Es lag nur am Ausbruch des Krieges, daran, dass Dr. Farthing sich als Freiwilliger meldete, und der voraussichtlichen Einberufung der Mehrheit der männlichen Museumsmitarbeiter, dass ich mich als stellvertretende Abteilungsleiterin der evakuierten Sammlung wiederfand (und dazu kam die Tatsache, dass mein Gehalt niedriger war, weil ich eine Frau war, und die öffentliche Hand erpichter denn je darauf war, Mittel einzusparen). Doch wie Mr Vaughan mich persönlich ins Bild setzte, ehe er uns verließ, um wie schon seine Vorfahren im letzten Krieg in der Marine zu dienen, würden sich die Dinge nach dem Krieg wieder ändern: Im Handumdrehen finden Sie sich dann bei den Freiwilligen wieder, warten Sie nur ab, waren seine genauen Worte, womit er meinte, bei den anderen Frauen. Unter den festangestellten Mitarbeitern gab es nur eine Handvoll weibliches Personal, und ich und Helen Winters waren die einzigen, die höhere Positionen innehatten. Die übrigen Frauen, die für das Museum arbeiteten — die das Präparieren von Exponaten vorbereiteten und uns beim Aufstellen unterstützten, die katalogisierten, kopierten und forschten, die reisten und sammelten und für unzählige kleine Neuentdeckungen sorgten —, waren entweder ›inoffizielle Mitarbeiterinnen‹ und wurden mit einem Stundenlohn von einem Schilling abgespeist oder unbezahlte Freiwillige.

Meine Stelle als Direktorin der Sammlung, die auf Lockwood Manor vorübergehend Obdach finden sollte, war also nicht nur eine einmalige Chance für eine Vertreterin meines Geschlechts, sondern auch eine wichtige Gelegenheit, mich für die Zeit nach dem Krieg zu beweisen, wenn die Männer wieder auf ihre früheren Positionen zurückströmten.

Die Pläne für die Evakuierung der Säugetiersammlung lagen fertig in der Schublade, seit es erste Kriegs-Gerüchte gegeben hatte, sogar schon, als ich meine Stelle vor Jahren angetreten hatte, und wir hatten Wochen damit verbracht, alles in Kisten zu verpacken, die die Arbeiter dann auf die Lastwagen luden. Aber das Museum war zu groß, um alles zu evakuieren, und so mussten wir festlegen, welche Tiere, getrockneten Pflanzen, Steine, Vögel und Insekten auf die Reise gehen sollten und welche ihrem Schicksal überlassen blieben. Im Museum spielten wir andauernd Gott: Wir versahen die Dinge mit Namen und Klassifizierungen und gaben der Natur eine von uns erdachte Ordnung — Familie, Art, Gattung —, und nun war es an uns zu entscheiden, welche unserer Objekte es wert waren, gerettet zu werden.

Obwohl die für Lockwood Manor bestimmte Auswahl sich eigentlich auf Säugetiere beschränken sollte, mogelten sich nach und nach auch andere Kreaturen in die Auslagerungspläne und auf die Lastwagen. Das Telefon stand nicht still vor Anrufen von Geologen und Ornithologen, die bereits evakuiert worden waren: Ob wir noch die Vitrine aus Raum 204 unterbringen könnten, ob noch Platz sei für die Kiste mit den nord- und südamerikanischen Nestern und die Straußeneier-Sammlung, für den Meteoritenklumpen, der beim Umzug vergessen worden war, oder den ausgestopften Papagei der ebenso verehrten wie spendenfreudigen Lady Soundso? In der letzten Woche wurden immer noch Objekte auf irgendwelchen Fluren und in lange nicht mehr betretenen Räumen entdeckt, die eilig mit der Hand den fein säuberlich getippten Listen hinzugefügt wurden, die wir zuvor erstellt hatten. Und im allerletzten Augenblick stellten wir fest, dass wir noch einen Laster übrig hatten, sodass die Arbeiter in aller Eile noch Ausstellungsstücke aus der Eingangshalle herbeischleppten, die alles andere als seltene Exemplare waren — die Füchse, die Wiesel, zwei Tiger, ein Eisbär, ein Wolf, ein Löwe und sogar eine ganz gewöhnliche Wanderratte.

Wie schnell sich die Räume leerten. Ich hatte erwartet, dass mir beim Anblick, wie dem Museum seine Bewohner entrissen wurden, angst und bange würde vor dem, was uns bevorstand, dass die nackten Räume aussehen würden, als hätten Grabräuber die Gelegenheit genutzt, um über das Gebäude herzufallen, aber ehrlich gesagt war ich so dankbar dafür, die Tiere fortbringen zu dürfen und immer noch Angestellte des Museums und Teil der einzigen glücklichen Familie zu sein, die ich je gekannt hatte, dass ich eigentlich nur Vorfreude empfand.

Außerhalb des Museums wusste niemand, dass ich fortging, denn es gab niemanden, dem ich es hätte erzählen können — mal abgesehen von meiner Zimmerwirtin, der es herzlich gleichgültig war, wohin ich aufbrach. Sie interessierte nur, dass sie einen neuen Mieter finden musste.

Ich hatte einmal Familie. Ich war noch ganz klein, als meine Eltern mich adoptierten, und es waren die einzigen Eltern, die ich kannte. Sie waren einigermaßen wohlhabend, und alt. Ihre drei Söhne waren im Burenkrieg gefallen, und ich war vermutlich als eine Art Ersatz gedacht. Aber ich enttäuschte sie, war eine Enttäuschung für meine Mutter.

Nach allem, was ich für sie getan habe, pflegte sie guten Freundinnen beim Tee oder am Telefon zu klagen. So ein mürrisches Kind, und immer mit der Nase im Buch, das undankbare Ding.

Wie hatte ein Kind zu sein, wie eine Mutter? Diese Fragen stellte ich mir allerdings erst viel später, und ich finde es immer noch befremdlich, darüber nachzusinnen. Meine Mutter war immer streng und unzufrieden mit mir, und in meiner Kindheit wurde ich oft bestraft. Aber müssen Kinder nicht bestraft werden, damit sie ihr Verhalten bessern, damit sie lernen, sich ordentlich zu benehmen, vor allem Waisen wie ich? Wir wissen rein gar nichts über deine richtigen Eltern, sagte eine Kinderfrau einmal zu mir (denn wie alle Kinder aus gutsituiertem Hause wurde ich von Kinderfrauen aufgezogen, einige nett, andere weniger), umso mehr müssen wir darauf achten, alle eventuellen Einflüsse auszumerzen. Das war dieselbe Kinderfrau, die mich auf dem Boden schlafen ließ, weil mein Bett ihrer Meinung nach viel zu weich war, die nichts davon hielt, dass Kinder zu Mittag aßen, weil sie dann als Erwachsene zu Zügellosigkeit neigen würden, und bei der ich Bibelverse abschreiben musste, bis ich einen Krampf in der Hand bekam.

Die Räume, in denen die Kinderfrauen mich betreuten, waren abseits vom Rest des Hauses, und so kam es, dass meine Mutter gelegentlich zu vergessen schien, dass ich überhaupt da war — aber vielleicht stimmte das auch nicht, vielleicht waren es nur Märchenfantasien eines Kindes, denn wie kann man vergessen, dass man ein Kind adoptiert hat?

Einmal, als meine Kinderfrau krank geworden war, hatte meine Mutter vergessen, dass ich Mahlzeiten brauchte, und herrschte mich an, als ich heimlich zwei Äpfel stahl, weil mir vor Hunger ganz schwindelig war. Und wenn sie mich doch einmal bemerkte, schimpfte sie oft, dass mein Gesicht so verdrießlich und kränklich und hässlich sei — dabei war es einfach nur ein blasses Gesicht, das nicht oft lächelte —, und schlug mir zur Strafe mit dem Feuerhaken gegen die Beine. Sie verglich mich oft mit ihren eigenen Söhnen. Ich hätte dich auch dort lassen können, ich hätte dich nicht adoptieren müssen, und noch jahrzehntelang später konnte ich hören, wie sie dann sagte, also reiß dich gefälligst zusammen.

Ich erinnerte mich an einen Anruf meiner Mutter, als ich in Oxford Zoologie studierte, und daran, wie begeistert sie anfangs schien. Wie ich höre, hast du bei Professor Lyle besonderes Interesse geweckt, sagte sie. Ja, er hat mich sehr bei meiner Arbeit zur Fortbewegung bei Säugetieren unterstützt, antwortete ich arglos. Oh, du dummes Ding, meinte sie schließlich nach einem Augenblick völliger Stille. Als dein Vater und ich zugestimmt haben, dass du zur Universität gehst, war das nur unter der Bedingung, dass du dir dort einen Mann suchst, und sei er auch von noch so bescheidenem Stand. Ich will von diesen Albernheiten nichts mehr hören. Du kannst mich wieder anrufen, wenn du verlobt bist, hatte sie gesagt und aufgelegt.

Als mein Vater an Altersschwäche starb, kam ich noch einmal nach Hause, um sie zu besuchen. Nach der Beerdigung und nachdem ich ihr erzählt hatte, dass ich gern eines Tages für ein Museum arbeiten würde, meinte sie, ich sei durch und durch boshaft. Sie verbot mir, meinen Doppelnamen zu tragen, sie würde mich ab sofort verleugnen. Ich will nicht, dass dich irgendjemand mit mir in Verbindung bringt. Von jetzt an bist du Miss Cartwright, sagte sie und spuckte das ›Miss‹ mit gehässigem Zischen aus. Seither war ich also Miss Cartwright, und auch wenn ich es gern zu Professor Cartwright gebracht hätte, hatte ich doch mehr erreicht, als ich mir je hätte träumen lassen.

Ich war erwachsen geworden und hatte einen starken Gerechtigkeitssinn entwickelt, ein ausgeprägtes Gefühl für Richtig und Falsch. Ich war entschlossen, mich nicht von meiner Kindheit unterkriegen zu lassen, von der ich vermutete, dass sie im Vergleich zu anderen eher unglücklich gewesen war. Auch wenn ich die Liebe noch nicht gefunden hatte und mich oftmals einsam fühlte oder manchmal den Waschraum aufsuchen musste, um zu weinen, wenn es zu einem unangenehmen Zusammenstoß mit einem Vorgesetzten oder Kollegen wie Mr Vaughan gekommen war, spornte mich diese Ablehnung nur noch mehr an, ihnen das Gegenteil zu beweisen. Ich war unendlich stolz auf meine Arbeit im Museum — jedenfalls bis zu jenem unglücklichen Zwischenfall — und hoffte inständig, mein Einsatz in Lockwood würde das Vertrauen in mich wieder vollständig wiederherstellen.

Ich würde mir von einem dummen Missgeschick nicht alles zunichtemachen lassen, schwor ich mir, als ich mich am Tag vor der Abreise in meinem Büro noch einmal davon überzeugte, dass ich auch nichts vergessen hatte, und legte mir den Mantel über den Arm. Ich war keineswegs das nichtsnutzige Ding, für das meine Mutter mich hielt, und meine Zeit draußen auf dem Land würde zeigen, was in mir steckte.

Als ich den Namen Lockwood Manor zum ersten Mal hörte, dachte ich an einen Ort wie aus einem Brontë-Roman — weite, raue Moorlandschaften und ein düsteres Haus voller Geheimnisse und schwelender Leidenschaft. Doch in den Grafschaften um London gab es kein Moor, und das Haus gehörte einem Major, der den forschen Briefen seiner Sekretärin zufolge für die Modernisierung des Anwesens keine Kosten gescheut hatte. Hätte ich meiner Mutter erzählt, wohin ich aufbrach, hätte sie unweigerlich Major Lord Lockwood im Who’s Who nachgeschlagen und später von ihren Freunden erfahren, dass er seit Kurzem verwitwet war, woraufhin sie im sehnlichsten Wunsch, er könne ein Auge auf mich werfen, bestimmt keine ruhige Minute mehr gehabt hätte. Ich hatte ein Foto von ihm in einer Zeitung gesehen, nachdem ich eine Bibliothekarin gefragt hatte, ob sie etwas über die Geschichte des Herrenhauses finden könnte: Er wirkte braungebrannt und schien für sein Alter gut in Form zu sein, und ihm zu Füßen lag ein Rudel magerer Jagdhunde. In dem Artikel war von seinen Kapitalanlagen und den Gewinnen aus dem Imperium seiner Waffenfabriken die Rede. Aber mich interessierte nur, dass er uns Platz für das Museum zugesagt und außerdem versprochen hatte, mir für die Dauer des Krieges Unterkunft zu gewähren und die zwei anderen Mitarbeiter des Museums — Helen Winters und David Brennan, der damit rechnete, jeden Moment eingezogen zu werden —, die mich zunächst begleiten und unterstützen sollten, bis alle Tiere an ihrem Platz waren, vorübergehend ebenfalls in seinem Haus unterzubringen. Außerdem war uns zugesichert worden, uns im gesamten Gebäude frei bewegen zu können, bei Bedarf doch bitte die Hilfe des Hauspersonals in Anspruch zu nehmen und auf Mitglieder seines alten Regiments, die bereits im Ruhestand und daher zu alt waren, um eingezogen zu werden, als Wachen zurückzugreifen. Der herrliche Grundbesitz, der das Haus umgab, die Ländereien, bildeten nur das Tüpfelchen auf dem i.

Eine Kadenz aus Knipsen und Klicken hallte durch das Museum, als der Aufseher die Lichter ausschaltete, doch das machte mir keine Angst — ich hatte noch nie Angst vor der Dunkelheit gehabt. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt worden, aber es war noch nicht stockfinster, es drang immer noch ein wenig Tageslicht durch die Ritzen. Ich betrachtete die riesenhaften Umrisse des Mammutskeletts, die in dem schwachen Licht aus etwas Dunklerem und Schwererem zu bestehen schienen als aus Luft, eine aus dem Nachmittag gestanzte Silhouette. Es war zu groß, um evakuiert zu werden, und würde mit Sandsäcken und allerlei schwerem Material gesichert werden, in der Hoffnung, dass es noch intakt war, wenn der Krieg vorbei war.

Wenn der Krieg vorbei war … Würde ich mich bis dahin sehr verändert haben, fragte ich mich, und was wäre dann aus dem Museum geworden? Wie viele seiner Mauern würden noch stehen?

2

Kapitel

Ich erreichte Lockwood Manor mit der Art von Kopfschmerzen, die man erwarten konnte, wenn man über viele Stunden in einem Lastwagen mit schlechter Federung gesessen und sich unentwegt Sorgen um die Ladung der übrigen Fahrzeuge unseres Konvois gemacht hatte, um die Tiere, die in Sackleinen und Strick vermummt und blind hin und her schwankten, durchgerüttelt wurden und in jeder Kurve gegeneinanderprallten. Es war ein warmer, sonniger Tag, doch konnte ich nicht behaupten, dass das Wetter dem Anwesen etwas besonders Einladendes verlieh, als wir auf der gewundenen Auffahrt den Rasen vor dem Haus umrundeten. Lockwood Manor stand seit vielen Jahrhunderten an dieser Stelle, aber der Großteil des Gebäudes war im neunzehnten Jahrhundert in einer Mischung aus Gotik und Klassik im Jakobethanischen Stil errichtet worden. Die Steinmauern waren zu einem tristen Grau abgestumpft, an der Fassade bildeten schmale, niedrige Fenster eine langgezogene, einförmige Reihe, die von zwei runden Türmchen eingefasst wurde, und darüber reckte sich eine von steinernen Spitzen gekrönte, durchbrochene Balustrade gen Himmel.

Aus den Plänen, die ich zuvor studiert hatte, wusste ich, dass sich hinter der Fassade eher willkürlich angeordnete Rückgebäude verbargen, ein neuerer Anbau, der der Küche im Erdgeschoss des Ostflügels hinzugefügt worden war, aber auch — und besonders wichtig für das Museum — eine langgestreckte Galerie. Der einstöckige Bau, der sich neben einem versteckten Innenhof an der Rückseite des Westflügels nach außen stülpte, stammte noch aus der Tudorzeit und war einmal Teil eines anderen Gebäudes gewesen, das einem dieser katastrophalen Akte von Zerstörung zum Opfer gefallen war, die offenbar das Schicksal sehr alter Bauwerke in diesem Land sind. Die Lange Galerie, wie sie genannt wurde, war seit vielen Jahren nicht mehr genutzt worden und bot genügend Raum für die vielen Kisten und Vitrinen aus dem Museum, ohne dass Möbel weggeräumt oder Bewohner umquartiert werden mussten. Andere Ausstellungsstücke, allen voran die Tierpräparate, die ständiger Beobachtung bedurften, um sie vor Luftveränderungen und Ungeziefer zu bewahren, sollten im Inneren des Hauptgebäudes untergebracht werden. Dem Major und seiner Tochter würden im Erdgeschoss nur wenige Zimmer zur privaten Nutzung bleiben. Das sollte ihr Beitrag zum Krieg sein: Während die Eigentümer anderer Herrenhäuser alles für die Aufnahme evakuierter Kinder und Babys vorbereiteten, würde bei den Lockwoods eine stille Menagerie einziehen, von der nicht zu befürchten war, dass sie umherrennen, mit klebrigen Finger an Wänden entlangstreifen und uns nachts mit ihrem Geschrei wecken würde.

Ich sprang aus dem Lastwagen auf die Auffahrt und landete mit den Füßen im Kies, über mir die drei Stockwerke des Hauses, die sich auftürmten, als wollten sie mich prüfend in Augenschein nehmen. Major Lord Lockwood erschien mit seiner Hundemeute am Eingangsportal, als wäre er geradewegs aus der Fotografie entstiegen, die ich von ihm in der Zeitung gesehen hatte. Die Hunde schwärmten über die Stufen auf mich zu und stupsten mir an die Beine. Bevor der Major dazu kam, sie zurückzurufen, begann einer von ihnen zu knurren, was dem ungehorsamen Tier augenblicklich einen Stockschlag auf den Rücken einhandelte. Ein zweiter Mann mit dem zerdrückten, faltigen Gesicht einer Bulldogge eilte in Tweedjacke die Treppe hinunter und führte die Hunde weg. Ich strich mein Kostüm glatt.

Mit nachlässigem Händedruck hieß mich der Major willkommen. »Wir hatten einen gewissen Dr. Farthing erwartet«, sagte er, »aber er ist nicht mehr im Dienst, wie ich höre.«

»Er hat sich als Freiwilliger gemeldet, ja«, antwortete ich.

»Tja.« Er klatschte in die Hände, und wir musterten einander. »Sie werden das schon machen. Kommen Sie, wir gehen hinein, die anderen haben schon mal mit dem Auspacken angefangen.«

»Dabei sollten sie doch warten, bis ich komme«, murmelte ich und folgte ihm. Das war kein vielversprechender Anfang für meine neue Rolle als Leiterin der Sammlung.

Eine Frau mit weißblondem Haar und pelzbesetzter Strickjacke stand im Eingang. Sie war ganz offensichtlich im Aufbruch begriffen und trug einen Koffer in der Hand, der zu wuchtig für ihre schmale Gestalt schien, doch es war nicht der Koffer, der mich stutzig machte — es waren die Tränenspuren in ihrem unglücklichen Gesicht und die dunklen Flecken auf ihrem Schal, die auf bereits vergossene Tränen schließen ließen. Ihr Atem stockte hörbar, als sie zur Seite trat, um uns vorbeizulassen, und während sie den Major flehentlich ansah, drehte diese Frau, die ich noch nie zuvor gesehen hatte, sich zu mir um und bedachte mich mit einem solch hasserfüllten Blick, dass mich unvermittelt ein Gefühl von Schuldbewusstsein überkam, als hätte ich ihr etwas Schreckliches angetan. Sie schniefte, die Oberlippe geschürzt, wischte sich mit einem hellen Handschuh die Tränen aus dem Gesicht, und ich machte unwillkürlich einen Schritt rückwärts. Wutschnaubend fuhr sie herum und kämpfte sich mit ihrem Gepäck die Stufen zum Vorplatz hinab.

»Nun kommen Sie schon«, mahnte der Major aus dem Dunkel der Eingangshalle und hüstelte ungeduldig.

Ich war noch ganz damit beschäftigt, das Bild von den Tränen der Frau und ihren Hass aus dem Kopf zu bekommen, als er mich von einem Raum in den nächsten führte, die mir im Vergleich zu dem Spätsommertag draußen alle düster und beengt vorkamen. Wir begannen mit Salon und Wohnzimmer links von der Eingangshalle, der auf den Rasen vor dem Haus hinausging und die Chiroptera und Insectivora beherbergen sollte, um deren Unterbringung uns andere Abteilungen gebeten hatten. Dann überquerten wir die Halle in die andere Richtung und betraten das Rauchzimmer neben dem Speisesaal, wo die Marsupialia wohnen sollten, dann wendeten wir uns nach rechts, wo wir am Ballsaal vorbeikamen, in dessen vergoldeten Spiegelwänden ich im Vorbeigehen einen Blick auf meinen überreizten Gesichtsausdruck erhaschte und der keine Museumsstücke aufnehmen würde, weil der Major hier Gesellschaften für das in der Nähe stationierte Regiment geben wollte.

Von da aus nahmen wir den westlichen Korridor, von dem das Billardzimmer, die Bibliothek, der Morgensalon, das Musikzimmer und das frühere Wohnzimmer der Mutter des Majors abgingen, gefolgt von dem Schreibkabinett, in dem die den Cetacea zugeordneten Knochen gelagert werden sollten, und meinem Büro, das vorher ebenfalls ein Salon gewesen war und das direkt neben dem Büro des Majors und seiner daran angrenzenden Privatbibliothek lag, die er mir beide nicht zeigen wollte und die zu betreten strikt untersagt war.

Neben dem Büro des Majors war der Eingang zu einem Flur, der zur Langen Galerie führte. Wie ihr Name schon vermuten ließ, bestand sie aus einem langgestreckten, breiten Gang mit Teakholzverkleidung und einer niedrigen Kassettendecke, zu dessen beiden Seiten sich ein halbes Dutzend Räume befanden, die untereinander verbunden waren, sodass in die Wände der Galerie selbst nur vier Türöffnungen geschnitten waren. Die Arbeiter schleppten Kartons und Kisten den Flur entlang, und als wir durch die Räume gingen, stellte ich befriedigt fest, wie voll sie aussahen, wie viele Objekte wir in Sicherheit hatten bringen können.

Wir verließen die Lange Galerie und gingen zurück ins Hauptgebäude und durch die Eingangshalle.

»Dr. Farthing wollte auch die anderen Räume sehen — um sich mit der Bauweise des Hauses und den Fluchtwegen vertraut zu machen, wenn ich mich recht erinnere. Das Hausmädchen wird mit Ihnen einen Rundgang machen«, sagte der Major und wedelte mich mit einer Handbewegung auf eine junge Frau in gestärktem Grau und Weiß zu.

Dr. Farthing war für seine Neugier bekannt und hatte sich das wahrscheinlich nur ausgedacht, um sich gründlich umsehen zu können. Schließlich hatten wir in London bereits einen Plan des Gebäudes gehabt, der nur wenige Jahre alt war, sodass größere Überraschungen kaum zu erwarten waren. Aber dennoch war ich sehr gespannt darauf, das mächtige Rückgrat eines Landsitzes sehen zu dürfen, seinen Motor, der einen ganzen Flügel des Erdgeschosses für sich beanspruchte: Küche, Spülküche, Blumenzimmer, Bürstenzimmer, Destilleriezimmer — in denen einst Salben, Tinkturen und Arzneien hergestellt worden waren —, drei Vorratskammern, Butlerzimmer, Lampenzimmer, unzählige Türen und Regale und winzige, meist fensterlose Vorräume, aber auch all die Bediensteten, die überall mit Eimern und Tüchern und Tabletts und Kisten umherliefen. Irgendwann im Verlauf der Hausführung verlor ich völlig die Orientierung und hätte nicht sagen können, ob ich nach Süden oder Norden blickte oder überhaupt noch im selben Gebäudetrakt war. Das Hausmädchen brachte mich durch dieselbe Tür in die Eingangshalle zurück, durch die ich hineingegangen war, obwohl ich hätte schwören können, dass es eine andere wäre, und dort stand immer noch der Major und unterhielt sich mit dem Mann, der die Hunde weggebracht hatte.

»Und, wie war die Tour?«, erkundigte sich der Major.

»Interessant«, antwortete ich, doch die kleine Grimasse, die er zog, sagte mir, dass es das falsche Wort war. Vielleicht verriet es zu viel von meinem Wunsch, im Haus herumzuspionieren — was man einem Dr. Farthing zweifellos durchgehen lassen konnte, aber wohl kaum einer wie mir.

»Wollen wir uns dann in den Salon begeben?«, fragte er.

Dort blieb er stehen, neben den in Tücher gehüllten Tieren, die gerade erst aus dem Lastwagen entladen worden waren und nun darauf warteten, ausgewickelt zu werden, und stemmte die Hände in die Hüften.

»Dieses Gut ist in vollem Betrieb, Mrs Cartwright — ich hoffe, dass es keine Probleme geben wird und das Museum und mein Haus in Harmonie miteinander auskommen werden«, sagte er.

Offenbar hatte ihn mein Interesse an den Räumen der Angestellten verärgert. Oder er hatte etwas zu verbergen. War das eine versteckte Warnung?

»Miss Cartwright«, korrigierte ich, »und ich bin zuversichtlich, dass es keinerlei Probleme geben wird. Ich kann Ihnen nicht sagen, wie dankbar das Museum für Ihr großzügiges Angebot ist, der wertvollsten Säugetiersammlung unseres Landes in Ihrem Haus vorübergehend Obdach zu gewähren, solange London unter Bedrohung steht, und wie die Korrespondenz zwischen dem Museum und Lockwood in den letzten beiden Jahren gezeigt hat, bin ich ganz und gar davon überzeugt, dass unsere Kooperation beispielhaft sein wird.« Vielleicht konnte ich ihn ja mit langen Wörtern und etwas Lobhudelei schwindelig reden.

»Ausgezeichnet«, sagte er, die Hände in den Taschen vergraben und mit den Augen bereits an der Tür, um mir zu entkommen. »Wenn Sie mich nun bitte entschuldigen wollen, die Haushälterin wird jeden Moment bei Ihnen sein.« Er sprach mit der aalglatten Arroganz des Landadels.

Kaum hatte er mich im Salon zurückgelassen, wurde mein Blick von etwas silbrig Glänzendem angezogen, und als ich an dem brokatbezogenen Sofa vorbeiging, machte ich eine verstörende Entdeckung. Ein abgenutztes Küchenmesser steckte eine gute Daumenbreite tief in einem mit filigraner Furnierplatte versehenen Beistelltisch. Das Missverhältnis zwischen dem schäbigen alten Messer und all dem Gold und den edlen Stoffen in diesem Zimmer, aber auch seine aufrechte Position, als würde es von einer unsichtbaren Hand gehalten, brachte mich ganz aus der Fassung, und so zog ich es ohne nachzudenken aus dem Tisch und ließ es gleich wieder fallen, sodass es scheppernd zur Seite fiel. Das Holz seines Griffs war so abgegriffen, dass es sich an meiner Handfläche ganz weich angefühlt hatte. Ich ging wieder auf die andere Seite des Sofas und rieb mir die Arme, an denen sich die Härchen aufgestellt hatten.

»Hallo-o«, rief eine angenehme Stimme von der Tür her. »Sind Sie Miss Cartwright?«

»Das bin ich, ja.«

»Lady Lockwood, aber Sie können Lucy zu mir sagen«, sagte die Frau, die hereinkam und, während ich ihr die Hand entgegenstreckte, rasch auf mich zutrat und mir einen Kuss auf die Wange gab. Ihr Parfüm war so leicht, dass es teuer sein musste, und ihr schwarzes Haar war bemerkenswert kurz geschnitten und nur wenige Zentimeter lang. Es war kürzer als ein Jungenhaarschnitt, aber so sorgfältig gekämmt und festgesteckt, als wollte sie darüber hinwegtäuschen. Als hätte sie sich im Fieberwahn die Haare geschnitten, dachte ich, wie in einem Jane-Austen-Roman. Oder hatte es einen Unfall mit den Lockenwicklern gegeben? Reiche Leute konnten es sich vermutlich leisten, exzentrisch zu sein und alberne Frisuren zu tragen. Unter ihren dunklen Augen lagen müde Ringe, die das leichte Puder, das sie verwendete, kaum verdeckte, ihre Wangen waren mit Sommersprossen übersät, ihr Kinn war eckig und ihr roter Lippenstift makellos aufgetragen. Sie gehörte zu jenen schönen Frauen, die jeder Makel noch schöner macht — eine kleine Narbe an ihrem Kinn, das linke Ohr bog sich um eine Winzigkeit weiter nach außen als das rechte —, und aus irgendeinem Grund überraschte es mich, ausgerechnet jemanden wie sie in dieser gesetzten Umgebung anzutreffen, aber da man ja nie wusste, wem man an welchem Tag zum ersten Mal begegnet, verstand ich nicht recht, weshalb sie mich derart aus dem Konzept brachte.

»Also hier ist ein Zettel mit den Essenszeiten und anderen Informationen, zur Wäsche zum Beispiel«, sagte sie, während ich noch dabei war, mich wieder zu sammeln, »und Schlüssel für die Museumsräume und die Lange Galerie. Dieser hier ist der Schlüssel zum Hauptportal — mir ist es lieb, dass Sie einen haben, für den seltenen Fall, dass niemand da ist, der Ihnen öffnet, oder ein Notfall eintritt oder sonst irgendwas.« Sie überreichte mir den großen, massiven Schlüssel, den ich zu den anderen steckte, die schwer in meiner Jackentasche lagen.

In dem Briefwechsel mit dem Major und seiner Sekretärin hatte er erwähnt, seine Tochter könne uns während unseres Aufenthalts auf Lockwood möglicherweise zur Hand gehen, doch in welcher Weise, war nicht genauer umrissen worden. Ich hatte den Eindruck gewonnen, dass sie entweder noch sehr jung oder eine dieser Grazien war, die ständig von ihrem Chauffeur von einem gesellschaftlichen Ereignis zum nächsten kutschiert wurde und deshalb nur wenig Zeit hatte. Nun sah ich, dass sie in etwa in meinem Alter war und sich offensichtlich sehr für das Museum begeisterte. Ich fragte mich, ob Lord Lockwood einfach zu den Männern gehörte, die nicht wollten, dass ihre Tochter arbeitete.

Sie sah von ihrer Liste auf und hielt inne. Ihr höfliches Lächeln verschwand und ihre Miene wurde ernst.

»Verzeihen Sie«, meinte sie, »aber als ich hereinkam, wirkten Sie für einen Augenblick ganz durcheinander … Geht es Ihnen gut?«, fragte sie und berührte mich leicht am Arm.

»Ja, doch, alles bestens.« Ich nickte bekräftigend, aber sie blickte mich immer noch unverwandt an, und ich hatte das Gefühl, etwas sagen zu müssen. »Ich hatte mich etwas im Zimmer umgesehen und wollte mich an diesem Tischchen festhalten, als mir kurz schwindelig wurde, und da hätte ich mich fast an dem Messer dort geschnitten«, erklärte ich. »Ich fürchte, ich bin manchmal schrecklich ungeschickt«, fügte ich hastig hinzu. Was würde sie bloß von mir denken? Wo ich doch unbedingt kompetent und beherrscht wirken wollte.

»Ach, du liebe Güte, was um alles in der Welt hat das denn hier zu suchen?«, rief sie verwundert aus und starrte es stirnrunzelnd an. »Sie haben sich doch hoffentlich nicht verletzt?«, fragte sie, nahm meine Hand und drehte sie prüfend um.

Ich zuckte zusammen, als ihre Finger über meine Handfläche glitten. Mit großer Ernsthaftigkeit überzeugte sie sich von meiner Unversehrtheit, und ich fühlte eine Welle von Zärtlichkeit in mir aufsteigen.

»Oh nein, mir ist nichts geschehen, ich konnte mich im letzten Moment noch fangen.« Es war völlig idiotisch, eine solche Lüge aufzutischen, aber genauso idiotisch war es gewesen, das Messer aus dem Tisch zu ziehen.

»Gott sei Dank«, sagte sie und ließ meine Hand los. »Mir ist völlig rätselhaft, was es hier zu suchen hat. Ich werde der Haushälterin Bescheid geben. Hoffentlich hat es Ihre Ankunft bei uns nicht zu sehr überschattet.«

»Nein, ganz und gar nicht«, versicherte ich. »Ich bin ja selbst schuld, wenn ich nicht achtgebe, wohin ich gehe. Ziemlich tollpatschig für jemanden, der bei der Arbeit täglich von Tieren mit scharfen Zähnen umgeben ist.« Der Witz war reichlich lahm, aber sie lachte dennoch, und ich konnte die kleinen Grübchen um ihre Mundwinkel sehen.

»Dann hoffe ich, dass Sie sich hier auf Lockwood Manor wohlfühlen werden. Es ist eine solche Ehre, die Säugetiersammlung des Museums bei uns aufnehmen zu dürfen.«

»Sie haben ein prachtvolles Haus«, sagte ich.

»Und Ihre Tiere werden es erst so richtig zum Strahlen bringen, Miss Cartwright«, gab sie zurück und berührte kurz meinen Arm. »Also — wir haben Sie im Ostflügel untergebracht, im Roten Zimmer, wie wir es nennen. Ich hoffe, das ist Ihnen recht. Es ist ein ganz reizender, gemütlicher Raum mit Blick auf die Gärten vorm Haus. Ich habe ihn als Kind selbst ein paar Mal genutzt, wenn ich krank war, weil er näher am Zimmer meiner Amme lag, und ich kann Ihnen versichern, ich habe dort wie ein Murmeltier geschlafen.« Sie lächelte, doch ihre Lippen zitterten ein wenig.

Ich hätte ihr am liebsten gesagt, dass ich mich auch mit einem Wandschrank zufriedengeben würde und dass es nicht nötig war, sich solche Gedanken um meine Nachtruhe zu machen. Ich war es nicht gewohnt, dass sich jemand um mein Wohlergehen sorgte. Ich war an Vermieterinnen gewöhnt, die eine Grimasse schnitten und müde seufzten, wenn ich darum bat, einen tropfenden Wasserhahn zu reparieren, und sich beschwerten, dass ich beim Nachhausekommen zu viel Lärm machte.

»Nennen Sie mich doch bitte Hetty«, bat ich.

»Lucy!«, rief der Major, der in den Salon geschlendert kam. »Da bist du ja, mein Täubchen«, sagte er. »Die Köchin will den Speiseplan mit dir besprechen.«

»Vater …«

»Nun geh schon«, drängte er und machte eine Armbewegung in Richtung Tür. »Die Räume füllen sich allmählich mit Tieren«, fügte er hinzu und blickte sich mit Genugtuung um, während ich Lucy nachsah. Sie lächelte mir zu, und in ihren Augenwinkeln bildeten sich kleine Fältchen.

»Sie regen meine Tochter doch nicht etwa auf?«, wandte sich der Major an mich, kaum dass sie das Zimmer verlassen hatte. Ich begriff den veränderten Tonfall nicht. Mit einem Schlag war seine Begeisterung erloschen, und eine völlig andere Seite, hart und forschend, trat zum Vorschein.

»Ich habe nur über das Museum gesprochen …«

»Lucy ist sehr verletzlich, müssen Sie wissen. Sie sollte auf keinen Fall mit zu vielen Problemen oder Dramen belastet werden. Und nachdem sie noch dazu erst vor wenigen Monaten Mutter und Großmutter verloren hat …« Er verstummte. »Sie ist sehr sensibel, wissen Sie. Sollte es wirklich einmal irgendwelche Schwierigkeiten geben, wenden Sie sich an mich oder die Wirtschafterin, oder an Jenkins, meine rechte Hand.«

Bei Letzterem musste es sich wohl um den Mann mit dem Bulldoggengesicht handeln, dem ich zuvor in der Eingangshalle begegnet war. »Selbstverständlich«, bestätigte ich.

Wir hatten im Vorfeld damit gerechnet, dass die Unterbringung der Kollektion heikle Momente mit sich bringen würde, und viele unserer Diskussionen waren immer wieder um den allumfassenden Begriff ›Diplomatie‹ gekreist, doch ich hätte nicht gedacht, dass es auf diese Weise geschehen würde. Als wir erfuhren, dass die vormalige Lady Lockwood und ihre Schwiegermutter verstorben waren, hatte es Überlegungen gegeben, einen anderen Standort zu wählen, doch nachdem wir ein dementsprechendes, umsichtig formuliertes Schreiben an den Major geschickt hatten, hatte er darauf beharrt, dass die Sammlung trotz allem auf Lockwood Manor unterkommen sollte. Die zwei Frauen hatten ihr Leben bei einem tragischen Autounfall im Dunkeln auf einer Landstraße verloren, eine furchtbare Sache. Ich erinnerte mich, wie David — einer von der Sorte ›raubeiniger Rugbyspieler‹, die einen dann mit unerwarteter Belesenheit und enzyklopädischem Wissen auf dem Gebiet von Detektivgeschichten überraschen — berichtet hatte, er habe einen Journalistenfreund zu dem Unfall befragt, auch, ob es Verdächtige gebe, und von ihm erfahren, dass die Polizei das Ganze für einen Unfall hielte. Ich erinnere mich so gut daran, weil alle im Raum verstummten, nachdem er das gesagt hatte. Keiner von uns hatte bis dahin angenommen, dass es sich um etwas anderes als einen Unglücksfall handeln könnte. Danach war ich so sehr mit der praktischen Seite des Umzugs und mit meinen Tieren beschäftigt, dass ich kaum noch einen Gedanken daran verschwendet hatte, doch nun, da ich hier war, musste ich an die verstorbene Lady Lockwood, Lucys Mutter, denken und fragte mich, was in jener Nacht wohl passiert war.

Ein Arbeiter schleppte ein sperriges Paket an der Tür vorbei und verlangte nach Anweisungen, und ich wandte mich wieder meinen eigentlichen Aufgaben zu.

»Das ist ein Schaukasten mit Schmetterlingen, der kommt zu den anderen in den Sommersalon. So, wie wir es besprochen hatten«, sagte ich knapp. Schon in London hatte ich den Eindruck gehabt, dass es mit diesem Mann nur Ärger geben würde. Die ganze Truppe war ein wild zusammengewürfelter Haufen, denn viele Männer hatten sich bereits freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet.

Als ich mich wieder dem Major zuwandte, war der finstere Ausdruck aus seinem Blick verschwunden. »Ich sehe schon, Miss Cartwright, Sie sind eine ausgesprochen verständige Person, und ich muss mich entschuldigen, wenn vorhin ein wenig die Pferde mit mir durchgegangen sind. Junge Frauen sind manchmal flatterhaft, wissen Sie, aber es ist offensichtlich, dass Sie eine von der vernünftigen Sorte sind. Ich kann mir vorstellen, dass Sie meiner Tochter sehr guttun werden — in den letzten Monaten hat sie nur mich und die Angestellten zur Gesellschaft gehabt und ist einsam gewesen.«

»Ich werde tun, was ich kann«, antwortete ich schließlich, nachdem ich zunächst nicht wusste, was ich erwidern sollte. Flatterhafte Frauen? Vernünftige Sorte? Ich hoffte inständig, dass hier alles ohne größere Reibereien abgehen und er sich nicht als einer dieser verbohrten Langweiler entpuppen würde, die um nichts in der Welt auf das Wort einer Frau hörten. Mir kam der etwas abwegige Gedanke, ob er wohl vorhatte, mich dafür zu bezahlen, dass ich seiner Tochter Gesellschaft leistete, oder wäre diese Dienstleistung durch das Gehalt abgedeckt, das das Museum mir zahlte?

Es spielte keine Rolle. Lucy hatte mich neugierig gemacht, ohne dass ich hätte sagen können, woran es lag, und sie hatte mich sehr viel herzlicher willkommen geheißen, als es eine meiner Vermieterinnen je getan hatte. Es schien mir eine schöne Abwechslung, unter einem Dach mit ihr und meinen Tieren und den Vitrinen aus London zu leben, anstatt in einer Pension in Kensington ein einsames und trostloses Dasein inmitten sauertöpfischer Mitbewohner zu führen.

Als Kind hatte ich die zugegebenermaßen unsinnige Angewohnheit, die Leute in meiner Umgebung mit Tieren zu vergleichen, denn die zog ich meinen Mitmenschen in aller Regel vor. Peinlicherweise war es mir immer noch nicht gelungen, diese Angewohnheit abzulegen. Es hatte nur eine Person gegeben, der ich von meiner Marotte erzählt hatte — ein Mädchen aus meiner Schule namens Constance, die mich immer an einen Mungo erinnerte und daraufhin allen anderen erzählte, dass ich sie beleidigt hätte, obwohl das gar nicht meine Absicht gewesen war. Danach wurde ich wie eine Aussätzige behandelt, was ich durch nichts in der Welt wieder hatte ungeschehen machen können. Ihr Vater hatte Lucy als Taube bezeichnet, doch bei meiner Vorliebe für Säugetiere erinnerte sie mich eher an eine Katze, ihres Zaubers und warmen Lächelns wegen — auch wenn ich natürlich wusste, dass derlei Attribute mit einer echten Felis catus nichts gemein hatten. Bei Lord Lockwood hingegen dachte ich an einen Königstiger mit all seiner gelassenen Autorität, oder an einen eurasischen Wolf. Mich selbst sah ich als Europäischen Dachs, der im Dunkeln vor sich hin tappte, und manchmal als Goldmulle: farblos, eigenbrötlerisch, fleißig und nicht unbedingt der Liebreiz in Person.

Ich folgte dem jungen Hausmädchen, das mich zu dem mir zugewiesenen Zimmer führte, den langen Korridor ein Stockwerk höher entlang, und spürte, wie der dichte Teppich förmlich an meinen Füßen klebte, wie hoher Schnee, in dem man nur mühsam vorankommt. Der Flur schien nicht enden zu wollen. Ich rechnete jeden Moment damit, plötzlich an eine Spiegelwand zu stoßen, und war fast in Versuchung, sicherheitshalber die Hände ausgestreckt zu halten. Das Museum beschränkte sich ausschließlich auf das Erdgeschoss. In den oberen Etagen war nur eine Handvoll Zimmer bewohnt, die meisten der vielen Räume standen leer. Bei drei der fünf leeren Zimmer, an denen wir bisher vorbeigekommen waren, waren die Türen verschlossen, doch bei den anderen beiden warf ich einen neugierigen Blick hinein, und das Hausmädchen nannte mir deren Namen — das Gelbe Zimmer mit einem riesigen Himmelbett, dessen Vorhänge fest zugezogen waren, und auf der anderen Seite das Purpurfarbene Zimmer mit einer schwindelerregend wildgemusterten Tapete und mehreren Spiegeln, die gegenüber dem Eingang angebracht waren und mir einen Schrecken einjagten, weil ich die verwaschene Gestalt darin für einen anderen, unverhofften Gast hielt.

Im Haus erzähle man sich, sagte das Hausmädchen nervös und machte ein paar Schritte von der Tür weg, dass ein Fluch auf diesem Raum laste und Gäste, die hier geschlafen hatten, nachts eigenartige Geräusche wahrgenommen hätten.

»Ich sollte wirklich wieder in die Küche, Ma’am«, fügte sie hastig hinzu. »Es ist gerade furchtbar viel zu tun. Sie können Ihr Zimmer gar nicht verfehlen, es ist das einzige mit roter Tapete in diesem Flügel.« Mit einem Knicks eilte sie davon und verschwand in einem Alkoven, wo eine riesige Vase mit einem gewaltigen Trockenblumenstrauß die Tür zur Dienstbotentreppe verbarg, sodass die Angestellten das Stockwerk betreten und verlassen konnten, ohne einen Fuß auf die Prunktreppe zu setzen.

In den nächsten zwei Räumen waren die Fenster bereits verdunkelt, doch ich konnte im Halbschatten erkennen, dass alle Möbelstücke mitsamt den Kronleuchtern mit Laken verhüllt waren, was ihre ausladenden Formen fremdartig und bedrohlich wirken ließ. In dem Zimmer, das meinem gegenüberlag, standen zwei identische Einzelbetten zu beiden Seiten des efeuüberwucherten Fensters. Auf dem Fensterbrett tickte laut eine Uhr, die ich noch mehrere Zimmer weit entfernt hören konnte. An mein Zimmer grenzten ein Bad und zwei weitere Räume, deren Türen geschlossen und die vermutlich leer waren, und die abgesperrten Zimmer des Erkerturms. Ich war als einzige im Ostflügel untergebracht — David und Helen würden im Westflügel wohnen, und die Suite des Majors befand sich in dem runden Erkerturm am Ende jenes langen Flurs.

Ich war keine abergläubische Person und neigte — abgesehen von meinem Hang zu Tiervergleichen — auch nicht zu irgendwelchen Fantastereien. Fakten waren mir lieber als Fiktion. Doch diese vielen unbewohnten Räume hatten etwas Beunruhigendes, als wäre ich der einzige Gast in einem Hotel oder ein Kind, das, wenn es ganz still im Haus ist, auf einmal die irrationale Angst packt, dass niemand mehr da ist und es allein zurückgelassen wurde.

Doch es gab keinen Anlass zur Besorgnis — als ich zu meinem Zimmer kam, nahm ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahr. Dieses Haus war alles andere als verlassen, solange geschäftige Dienstboten ständig umherhuschten.

Ich drehte mich um. Am anderen Ende des Korridors stand jemand. Der Korridor war zu weitläufig, als dass die vielen Wandlampen ihn richtig hätten ausleuchten können, und die Gestalt war so weit entfernt, dass ich das Gesicht nicht sehen konnte oder hätte sagen können, ob es ein Mann oder eine Frau war. Dennoch wusste ich, dass dieser Jemand mich anstarrte und etwas Feindseliges, vielleicht sogar Zorniges ausstrahlte. Der Gang schien anzuschwellen und sich auszudehnen, während ich dastand und zurückstarrte, bis der Schemen schließlich nach links verschwand und eine Tür so heftig zuknallte, dass ich zusammenfuhr.

Eine wütende Gestalt, eine tränenüberströmte Frau, die mich mit unverhülltem Hass betrachtet hatte, ein Gutsherr, der mich davor warnte, seine Tochter aufzuregen, und ein angeblich verfluchtes Zimmer. Wo war ich hier nur hingekommen? Ich ging in mein Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Jedes Zuhause, jeder Arbeitsplatz hatte unterschwellig seine ganz spezielle menschliche Färbung, Geschichten und Groll und andere Eigenheiten, und der einzige Unterschied bestand darin, dass sich hier alles vor einer prächtigen Kulisse abspielte. Ich würde mich einfach wie immer ganz auf meine Arbeit und die Tiere konzentrieren, und die lebendigen Bewohner von Lockwood Manor sollten tun, was ihnen beliebte.

3

Kapitel

In den letzten Jahren ihres Lebens kränkelte meine Mutter immer mehr, und die unerklärlichen Anfälle, an denen sie seit meiner Geburt gelitten hatte, nahmen um ein Vielfaches zu. Sie misstraute allem und jedem, sah überall Feinde und deponierte im ganzen Haus Ferngläser, mit denen sie aus dem Fenster sah und die Gärtner beobachtete oder nach Besuchern Ausschau hielt, und manchmal eilte sie auf allen Etagen die Flure entlang und riss die Türen auf, als ob sie erwartete, dass dahinter jemand lauerte. Zu diesem Zeitpunkt war meine Großmutter bereits sehr gebrechlich und wollte nichts davon wissen, dass mit ihrer Schwiegertochter irgendetwas nicht stimmen könnte. Ihrer Ansicht nach war auf Lockwood Manor nur Platz für eine Verrückte, und das war ich — ungeachtet der Tatsache, dass ich nur noch gelegentlich Albträume hatte und es mir so gut ging, dass ich darüber nachdachte, Lockwood zu verlassen und nach London zu gehen. Wo ich mein eigenes Leben führen könnte, weit weg von meiner Mutter, die mich keinen Moment aus den Augen ließ.

Erst im Rückblick fiel mir auf, dass sich der Zustand meiner Mutter in dem Maße verschlechterte, wie sich der meine besserte, aber als sie noch am Leben war, empfand ich ihre ständige Besorgnis um mich als so erdrückend und ihr übergeschnapptes Verhalten so beängstigend, dass ich nur fort von ihr wollte und uns nichts mehr miteinander verbinden sollte als die Tatsache meiner Geburt.

Kinder können grausam sein, befand mein Vater, als er von meinen Plänen erfuhr. Man gibt ihnen alles, was man hat, und dann lassen sie einen im Stich, sagte er halb im Scherz mit übertriebenem Pathos, aber ich wusste, er wollte nicht, dass ich ging, wusste, wie sehr er mich liebte.

Er war es gewesen, der mir die Nachricht überbrachte, dass sie ums Leben gekommen waren. Ich hatte im Salon Radio gehört, war gerade dabei gewesen, erste Ideen zu meinen Zukunftsplänen zu Papier zu bringen, und wollte ihm nicht glauben. Sie seien bei Freunden zum Tee und bald wieder da, entgegnete ich störrisch, während mir der Stift aus der Hand rutschte und das Notizbuch auf dem Boden landete. Sie müssten jeden Moment zurück sein, sagte ich, er solle sich keine Gedanken machen, und er meinte nur, Oh, Lucy, jetzt sind nur noch wir übrig, und als ich die Tränen in seinen Augen sah, kam ein Klagelaut aus meiner Kehle.

Meine Pläne waren plötzlich bedeutungslos, vor meine Zukunftsvision schob sich ein Vorhang. Mein Vater brauchte mich, die Angestellten brauchten mich, das Haus brauchte mich. Hinzu kam, dass durch den Tod meiner Mutter und meiner Großmutter die stetige Besserung meiner Nervosität zu Ende war.

Ungefähr eine Woche nach dem Doppelbegräbnis und dem Grauen, das ich empfunden hatte, als ich den kleinen Sarg meiner Mutter sah und mir vorstellte, wie sie nun für immer darin eingesperrt war, hatte ich in den Spiegel gesehen, während ich mir die Haare bürstete und mir die Tränen über die Wangen liefen, und mich erinnert, dass sie mehr gute als schlechte Tage gehabt hatte, solange ich noch klein war. Und wie, je älter ich wurde, die glücklichen Tage zu seltenen Nachmittagen zusammengeschmolzen waren und in der übrigen Zeit eine andere Mutter an ihre Stelle getreten war: ein schreckhaftes, ängstliches Wesen. Ich hatte mein Spiegelbild betrachtet, die dunklen Augen und das dunkle Haar, den unverwechselbaren Höcker auf dem Nasenrücken, und war zu dem Schluss gekommen, dass ich meiner Mutter zu ähnlich sah und immer wenn ich mich im Spiegel sah, an sie denken müsse — wie sehr ich sie liebte und sie doch verlassen wollte, wie sehr ich fürchtete, eines Tages so zu werden wie sie. Also griff ich zur Schere und schnitt mir die Haare ab, bis der Boden mit Locken bedeckt war und es aussah, als hätte ich das Winterfell abgeworfen.

Mein Vater war starr vor Entsetzen gewesen, als ich kahlgeschoren aus meinem Zimmer kam. Er konnte es nicht ertragen, wenn ich meine nervösen Zustände hatte, vielleicht, weil sie ihn an die meiner Mutter erinnerten, und wenn es irgendwie ging, tat er meine Albträume als Hirngespinste ab. Wir alle träumen mal schlecht, pflegte er zu sagen, deshalb muss man nicht gleich ein Drama daraus machen. Doch als ich an jenem Tag aus meinem Zimmer kam und Trauer und Wahnsinn nicht zu leugnen waren, telefonierte er mit dem Arzt auf der Harley Street in London, den er immer für meine Mutter gerufen hatte, weil er das Gerede der örtlichen Ärzte fürchtete. Kurz darauf hatte man mir Beruhigungsmittel verabreicht und mich ins Bett gepackt. Der Berg von Daunendecken, der auf mich getürmt wurde, war so hoch und schwer, dass ich das Gefühl hatte, in die Erde gedrückt und regelrecht begraben zu werden.

Aber es gab doch Kulturen, in denen sich trauernde Menschen auch die Haare schoren, überlegte ich, während ich dalag und sich alles um mich drehte, meine Augen vom Schlafmangel brannten und das Herz in meiner Brust auf und ab sprang, als wollte es davonlaufen. War das nicht eine völlig natürliche Reaktion?

Es war nicht das erste Mal gewesen, dass ich mein Haar mit der Schere bearbeitet hatte. Ich hatte mir schon einmal eine dicke Strähne abgeschnitten, eines Sommers, als ich noch sehr jung war und meine Mutter das Bett hüten musste, weil sie — wie ich später erfuhr — eine Fehlgeburt erlitten hatte, und ich mich halb verwildert mit den Dorfkindern im Garten herumtrieb. Mary, die Nichte der Köchin von Lockwood, und ihr Bruder waren die Wildesten von allen, zusammen mit einem Mädchen namens Lillian, die sich wie ein Junge kleidete und ihre Mutter anbettelte, ihr auch einen Jungenhaarschnitt zu erlauben. Die Tage in jenen Sommermonaten schienen nie zu Ende zu gehen. Wir bauten uns Verstecke in den Wäldern und Hecken, aßen gestohlene unreife Äpfel, bis uns der Bauch wehtat, rissen uns die Kleider vom Leib und schwammen im See, kletterten auf Bäume und Dächer, erfanden komplizierte Sportarten mit immer neuen Regeln und spielten kichernd Küssen. Ich machte nicht bei allen Mutproben mit — hundert Meter mit geschlossenen Augen rennen, auf die morsche Hütte mit den losen Dachziegeln klettern, vom obersten Ast der Birke springen, stachelige Rosen mit der Hand umklammern, Eier stehlen, ohne dass der Bauer etwas merkte —, aber ich war an jenem Tag dabei, als sich alle mit einer Gartenschere die Haare abschnitten, weil ich es gründlich leid war, von Mary ständig als eitle Schönheit verspottet zu werden.

Als ich die dicke Locke dann in der Hand hielt, hatte ich nicht gewusst, was ich damit tun sollte. Die anderen bewarfen sich gegenseitig mit ihren abgeschnittenen Haaren oder schmissen sie ins Gebüsch, aber ich traute mich nicht, sie wegzuwerfen, als wäre sie immer noch ein Teil von mir, obwohl sie nicht mehr an meinem Kopf war. Würde ich sie dort draußen wegwerfen, kämen die Vögel und würden ein Nest daraus bauen, und der Gedanke an nackte, runzelige Vogeljunge, die sich in meine Haare schmiegten, verstörte mich. Stattdessen behielt ich die Strähne in meiner Hand, bis sie ganz feucht von Schweiß wurde, und als die Abenteuer für den Tag vorüber waren, nahm ich sie mit ins Haus und legte sie in die Schublade meines kleinen Frisiertischchens.

Der Sommer war vorüber, als meine Mutter die vergessene Haarlocke gefunden hatte. Ich hatte ein wenig geschlafen und sie war in mein Zimmer gekommen, um mich zum Abendessen zu rufen.

Ich wachte auf, als sie fragte, wo meine Haarbürste sei, eine Schublade öffnete und vor Schreck so scharf die Luft einzog, dass ich im Bett hochschnellte und mich an die Bettdecke klammerte.

»Was ist das?«, fragte sie und hielt die Strähne mit spitzen Fingern in die Höhe, als ginge eine Gefahr von ihr aus. »Gehört die dir? Was willst du damit? Du weißt doch, dass du auf der Hut sein musst«, sagte sie mit versagender Stimme. »Sie kann damit einen Zauber über dich aussprechen, sie kann das gegen dich verwenden. Habe ich dir nicht gesagt, du sollst dich in Acht vor ihr nehmen, vor der diablesse, der Frau in Weiß mit den wilden Tieren?«

Ich hatte schon öfter von dem Gespenst, der geisterhaften Frau gehört, die meine Mutter die Teufelin nannte und von der sich verfolgt fühlte, die es ihr zufolge auf die ganze Familie abgesehen hatte. Wir hatten gerade Verstecken gespielt, als sie mir zum ersten Mal von ihr erzählte — denn so unerreichbar meine Mutter sein konnte, wenn es ihr schlecht ging, so unbeschwert war sie an guten Tagen, und dann war es, als wäre sie wieder Kind und wir Spielkameraden und nicht Mutter und Tochter. Ich hatte mir die Augen zugehalten und gezählt, während sie sich versteckte, und als ich sie suchen ging und die letzte Tür auf dem Gang öffnete, die zum Purpurfarbenen Zimmer, und dachte, dass sie auf der anderen Seite wartete und mich mit freudigem Lächeln in die Arme schließen würde, als hätte sie mich gefunden und nicht umgekehrt — Da ist es ja, mein Mädchen, sagte sie immer, meine kleine Alice im Wunderland —, da stand sie im Zimmer und war wie in Trance.

»Hier war es«, sagte sie. »Hier habe ich sie das erste Mal gesehen.«

»Wen hast du gesehen?«

»Die Frau in Weiß«, sagte sie mit dünner Stimme. »Als Kind habe ich von ihr geträumt, wie sie in den Sträuchern hinter unserem Haus oder im Wald darauf wartete, mich mit ihren Bestien zu jagen.« Wie zum Schutz verschränkte sie die Arme. »Sie hat mich verfolgt, und ich wünschte mir nichts mehr, als ihr zu entkommen. Dann kam dein Vater, er war meine Rettung und hat mich hierhergebracht.«