Die Suche nach Tony Veitch - William McIlvanney - E-Book

Die Suche nach Tony Veitch E-Book

William McIlvanney

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  • Herausgeber: Kunstmann, A
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
Beschreibung

Laidlaws zweiter Fall! Eck Adamson, ein vagabundierender Trunkenbold, ruft Jack Laidlaw an sein Sterbebett. In seinen letzten kryptischen Worten entdeckt Laidlaw einen Hinweis auf den Mord an einem Gangster und das Verschwinden eines Studenten. Mit der ihm eigenen Dickköpfigkeit kämpft sich Laidlaw durch das Geflecht an Korruption und Gewalt, das Glasgow von ganz oben bis ganz unten durchzieht.

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Seitenzahl: 363

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William McIlvanney

Die Suche nachTony Veitch

Aus dem Englischenvon Conny Lösch

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

Für Hilda, sie weiß warum

1

FREITAGNACHT, GLASGOW. Die Stadt der starren Blicke. Mickey Ballater stieg an der Central Station aus dem Zug und hatte das Gefühl, nicht in den Norden, sondern in die eigene Vergangenheit gereist zu sein. Als er in die Bahnhofsvorhalle trat, hielt er kurz inne, wie ein Forscher, der sich auf die der Region eigentümliche Fauna besinnt.

Und doch war hier nichts, das einem nicht auch andernorts hätte begegnen können. Vorübergehend fiel es ihm schwer, die Atmosphäre zu fassen. Im Grunde sagen alle Städte dasselbe, nur der Tonfall ist anders. An den von Glasgow musste er sich erst wieder gewöhnen.

Menschen standen in Trauben herum und schauten auf die Tafeln mit den Abfahrtszeiten. Offenbar glaubten sie, ihre Reiseziele allein durch drohende Blicke erscheinen lassen zu können. Auf den Bänken ihm gegenüber fühlten sich zwei Frauen zwischen Einkaufstüten heimisch. Nicht weit davon entfernt führte ein Säufer mit grell orangefarbenem Bart, der so lang war, dass er auch als Bettdecke hätte dienen können, eine hitzige Diskussion mit einem Guinness-Plakat.

»Von denen bekommen Sie nichts, Sir.« Ein kleiner Mann, der stehen geblieben war, um den Säufer zu beobachten, hatte das gesagt. Er war Mitte sechzig, aber sein Gesicht wirkte so schelmisch wie das eines jungen Hundes. »Hab’s letzte Woche auch über eine Stunde lang versucht.« Bevor er weiterging, warf er Mickey noch einen Blick zu. »Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.«

In diesem Augenblick kam Mickey in Glasgow an. Keine anonyme Stadt, sondern eine der Nähe, die trotz der Weitläufigkeit ihrer Elendsviertel so geräumig erschien wie ein Bus in der Rushhour. Erneut verstand er, welche Erwartungen ihn jedes Mal bei seiner Ankunft hier überfielen. Man konnte nie wissen, woher der nächste Einbruch in die eigene Privatsphäre kam.

Er erinnerte sich auch, warum er Birmingham einfacher fand. In Glasgow wimmelte es vor enthusiastischen Amateuren und Sonntagsrowdys. Man bekam ebenso schnell vom Busschaffner eine gescheuert wie von einem stillen Mann in einer Schlange, vor allem nachts. Der Text eines Songs über Glasgow fiel ihm wieder ein:

Going to start a revolution with a powder-keg of booze,The next or next one that I take is going to light the fuse –Two drinks from jail, I’m two drinks from jail.

Trotzdem war es gut, wieder zu Hause zu sein, wenn auch nur für kurze Zeit. Zumal er wusste, dass er mit sehr viel mehr Geld abreisen würde, als er mitgebracht hatte. Nur von Paddy Collins keine Spur.

Er ging zur »Royal Scot Bar« in der Bahnhofshalle und durch die Glastür. Auf den orangefarbenen Plastikschalen, die wohl das waren, was sich irgendein Designer mal unter einem Stuhl vorgestellt hatte, saßen drei oder vier Leute. Sie hatten nichts miteinander zu schaffen und wirkten dabei irgendwie abwesend, wie aus sich selbst vertrieben oder im Übergang zwischen zwei Inkarnationen. Hier herrschte die düstere Unaufgeräumtheit eines Ortes, der niemandem gehört, ein Abfalleimer verschwendeter Zeit.

Aber die Gespräche am Tresen – wo er nicht vergaß, ein Pint »Heavy« und kein »Bitter« zu verlangen – ließen vermuten, dass dies die Stammkneipe nicht weniger war. Die Barfrauen mochten die Erklärung dafür sein. Die eine war jung und hübsch und so bunt geschminkt wie ein Schmetterling. Die andere älter. Früher musste auch sie hübsch gewesen sein. Jetzt war sie besser als das. Dem Aussehen nach musste sie Mitte oder Ende dreißig sein, hatte anscheinend aber keine Zeit verschwendet. Ihre Augen suggerierten, Ali Babas Höhle könne sich dahinter verbergen, vorausgesetzt, man kannte das Passwort und kam den vierzig Dieben zuvor.

Mickey ließ sich sein Bier schmecken und dachte an Paddy. Er hätte hier sein müssen. Kein guter Anfang. Er konnte sich nicht vorstellen, dass es zu Komplikationen gekommen war, denn die Sache schien so riskant wie ein Überfall auf ein Baby im Kinderwagen.

Ein Mann mit Brille am Tresen war betrunken genug, um sich einzubilden, er habe einen privaten Draht zu der Barfrau mit den Augen. Auf dem Grund seines Glases hatte er magische Kräfte entdeckt, und nun starrte er sie auf eine Weise an, der keine Frau widerstehen konnte. Jedenfalls glaubte er das. »Das ist die Wahrheit«, sagte er. »Wenn ich’s dir doch sag. Du hast die schönsten Augen, die ich je gesehen hab.« Sie blickte stumpf an ihm vorbei und stülpte ein Pintglas über die Spülbürsten. Er hätte genauso gut geniest haben können.

»Ich sag’s dir. Die schönsten Augen, die ich je gesehen hab.«

Sie schaute ihn an.

»Verrätst du mir den Namen deines Optikers? Dann schick ich meinen Mann hin.«

Mickey fand, es reichte. Er trank aus und nahm seine Reisetasche. Anschließend ging er runter zu den Toiletten und knurrte, weil er am Drehkreuz zahlen musste. Heutzutage kostet alles. In der Kabine machte er die Tasche auf, kramte darin nach dem lose verpackten Messer, dessen Klinge keinen Griff hatte, sondern nur mit schwarzem Klebeband umwickelt war. Er steckte es in die Innentasche seines Jacketts. Dann zog er die Spülung.

Als er herauskam, sah er einen Mann, der wie ein Ölarbeiter aussah und seinen heftigen Bartwuchs gerade mit einem kleinen elektrischen Rasierer bändigte. Wie Sandpapier auf Rauputz. Ballater gab seine Tasche an der Gepäckaufbewahrung ab und trat hinaus auf die Gordon Street.

Das Gewicht des Messers fühlte sich gut an, ohne dieses Argument begab er sich nicht gerne an unvertraute Orte. Aus seiner anderen Innentasche zog er einen Zettel und las die Adresse. Am besten ging er die West Nile Street rauf und dann immer weiter.

Der Abend war angenehm. Vorbei am Empire House, das ihm gut gefiel, und zwei Männern, die sich unterhielten. Der eine erzählte von den Trinkgewohnheiten seiner Frau. »Davon würden einer Natter Titten wachsen«, sagte er.

Der Eingang war schäbig. Den italienischen Namen, den er suchte, fand er im dritten Stock. Er drückte auf die Klingel. Der Elektrorasierer von vorhin hatte dagegen melodiös geklungen. Nichts passierte. Er drückte noch einmal, lange, und lauschte. Stöckelschuhe in einem teppichlosen Flur. Die Tür öffnete sich einen Spalt. Die Frau wirkte unkonzentriert, als wäre sie noch nicht vollständig von dort wieder zurückgekehrt, woher sie kam.

»Kannst du später noch mal kommen?«

Tatsächlich ein italienischer Akzent.

»Nein«, sagte er und stieß die Tür auf.

»Warte.«

Aber er war schon drin. Erschrocken hatte sie die Tür zuhalten wollen, dabei war ihr rosa Morgenmantel kurz aufgegangen. Darunter trug sie nur einen schwarzen Strapsgürtel, Strümpfe und Schuhe mit Stilett-Absätzen. Wer auch immer im Schlafzimmer wartete, er stand auf Schuhe. Mickey schloss die Tür.

»Ich bin ein Freund von Paddy Collins«, sagte er. »Wenn du keine Zeit hast, nimm dir welche.«

Er ging den Flur entlang ins Wohn- und Esszimmer, das irgendwann einmal mit guten Absichten eingerichtet worden war. Hier gab es einen Korbstuhl mit roten Kissen, einen bunt gemusterten Sessel und ein dazu passendes Sofa. Außerdem einen weißen, runden Tisch mit passenden Stühlen. Es war unaufgeräumt und staubig. Auf dem Tisch standen schmutzige Tassen, eine Kante vertrocknetes Brot lag daneben.

Sie war ihm gefolgt, hatte den Gürtel ihres Morgenmantels fest zugezogen, sie wirkte beunruhigt.

»Ich kann nicht«, sagte sie und glaubte ihren eigenen Worten nicht.

»Oh doch, du kannst.«

Ein Mann erschien im Türrahmen. Er hatte sich die Hose hochgezogen und sein Bauch schwabbelte über dem Bund. Seine nackten Füsse wirkten verletzbar. In seinem Gesichtsausdruck lag die Gereiztheit eines Kunden, der guten Service gewohnt und jetzt enttäuscht worden war.

»Verdammt«, sagte er. »Was ist hier los?«

»Zieh dich an«, sagte Mickey.

»Ich hab aber bezahlt.«

»Du willst doch nicht ramponiert nach Hause. Deine Frau wird sich fragen, was passiert ist.«

»Hör zu …«

»Ich hab zugehört, jetzt reicht’s. Schwing dich aufs Fahrrad. Sofort. Es sei denn, du willst deine Fresse im Taschentuch nach Hause tragen.«

Mickey setzte sich in den Korbsessel. Der Mann verschwand im Schlafzimmer. Die Frau wollte ihm hinterher, sah aber Mickey an. Er nickte sie zu dem bunten Sessel. Sie setzte sich. Nicht schlecht für eine Nutte, dachte Mickey, allmählich wird sie fett, aber aus dem Leim ist sie noch nicht. Die Schuhe taten ihren Beinen gut, sonst wären sie zu schwer gewesen. Sie nahm ein Päckchen Zigaretten vom Wohnzimmertischchen neben ihrem Sessel und bot es Mickey an. Er schüttelte den Kopf. Sie nahm sich Feuer und beide hörten, wie sich der Mann im Schlafzimmer anzog.

Dann tauchte er wieder im Türrahmen auf. Mit Kleidern wirkte er beeindruckender. Anscheinend hatte er mit ihnen auch Empörung angelegt.

Er sagte: »Ich denke …«

»Schön für dich«, erwiderte Mickey. »Weiter so. Jetzt verpiss dich.«

Der Mann ging. Mickey wartete, bis die Tür hinter ihm ins Schloss gefallen war, dann sprach er.

»Du bist also Gina.«

Sie nickte nervös.

»Ich bin Mickey Ballater.«

Sie riss die Augen auf und überschlug die Beine. Der Morgenmantel rutschte und Mickey ließ den Blick auf ihrem Schenkel ruhen.

»Wo ist Paddy Collins? Er wollte sich mit mir treffen.«

Sie zuckte mit den Schultern und blickte zur Decke. Mickey stand auf, ging zu ihr, beugte sich über sie und schlug ihr fest ins Gesicht. Sie fing an zu weinen. Dann ging er zurück und setzte sich wieder. Während sie sich langsam fing, sah er sich im Raum um.

»Wo ist Paddy Collins?«

»Im Krankenhaus.«

»Wieso?«

»Wurde niedergestochen.«

»Von wem? Weißt du das?«

»Sein Schwager war gestern da. Sehr wütend. Sagt, Paddy ist verletzt. Schlimm. Glaubt, Paddy wird sterben.«

Es dauerte nicht lange, bis der Gedanke an Paddy Collins Mickeys Bedauern in Energie verwandelte, wie wenn man alte Fotos ins Feuer wirft. Starb Paddy Collins, würde mehr für ihn abfallen, sobald er Tony Veitch gefunden hatte. Aber ganz unproblematisch war das nicht.

»Sein Schwager, Cam Colvin? Bist du sicher?«

»Mr Colvin.«

»Das hat uns noch gefehlt. Woher wusste der von dir?«

»Paddy hatte meine Adresse dabei.«

»Praktisch. Was hast du ihm gesagt?«

»Dass Paddy Tony Veitch sucht.«

»Sieht aus, als hätte er ihn gefunden. Was noch?«

»Sonst nichts. Ich weiß sonst nichts.«

Mickey fand die schottische Färbung ihres italienischen Akzents sexy. Allmählich nahm er sie wahr.

»Hast du ihm von mir erzählt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Sicher?«

»Paddy hat gesagt, ich darf nichts sagen. Sonst.«

Sie machte eine halsabschneidende Geste. Beinahe hätte Mickey gelacht. Das klang auf jeden Fall nach Paddy, Frauen einschüchtern, das konnte er, und zwar immer noch genau auf dieselbe Tour wie im Drehbuch eines alten Films mit Edward G. Robinson.

»Was hat Paddy noch gesagt?«

»Wenn ich mache, was er will, wird alles gut.«

Klang überzeugend. Paddy hatte auch Mickey nicht viel erzählt. Er wusste nur, dass Veitch Hook Hawkins’ Bruder kannte. Und so wie es aussah, würde Paddy Geheimnisse künftig noch viel besser für sich behalten können.

»Wo ist Tony Veitch?«

»Niemand weiß das.«

»Komm schon. Cam Colvin war doch im Krankenhaus.«

»Er liegt im, wie sagt man? Im Com-Como?«

»Verfluchte Scheiße. Was soll das heißen?«

»Como? Komma?«

Mickey starrte sie an.

»Koma. Du meinst, Paddy liegt im Koma?«

»Kann nicht reden.«

»Aber du kennst Tony Veitch.«

»Nicht gesehen seit dem Ärger mit Paddy. Seit zwei Wochen hat ihn niemand gesehen.«

»Ach!« Ballaters Augen bohrten sich in die Decke. Er zeigte auf sie.

»Hör zu, ich bin nicht wegen der schönen Aussicht hier. Egal, was du weißt, erzähl’s mir lieber.«

»Für Tony bist du mein Mann.«

Er betrachtete sie ganz genau. Sie wirkte nicht abgebrüht, eher wie eine Amateurin, die immer noch staunte, dass sie Geld dafür bekam. Als sie Veitch geködert hatte, muss sie sich schön gewundert haben, dass Paddy ihr plötzlich auch noch einen vermeintlichen Ehemann verpasste, von dem Veitch sie freikaufen sollte. Wahrscheinlich hatte sie am Anfang gar nichts davon gewusst.

Aber viel Zeit blieb nicht. Wenn Veitch Paddy auf dem Gewissen hatte, konnte der Erwerb einer Schachtel Streichhölzer schon eine unverantwortlich langfristige Investition für ihn sein. Mickey würde schnell, aber vorsichtig handeln müssen. Er kannte sich in der Stadt gut genug aus, um zu kapieren, dass er sich nicht mehr auskannte. Zwei weitere Zeilen des Songs kamen ihm in den Sinn:

They’re nice until they think that god has gone a bit too farAnd you’ve got the macho chorus swellingOut of every bar.

Durch Minenfelder hüpft man nicht. Er brauchte einen Sprengstoffdetektor. Ihm ging auf, dass Cam Colvin dafür infrage kam.

»In welchem Krankenhaus liegt Paddy?«, wollte er wissen.

»Victoria Infirmary.«

Ein Baby fing an zu weinen. Gina drückte die Zigarette aus, achtete dabei auf ihre Nägel. Sie stand auf und er hörte ihre Schritte auf dem Boden im Flur draußen, dann die vertrauten Geräusche, mit der eine Mutter ihr Kind beruhigt, als könne sie ihm ein Geheimnis verraten, das es beschützen wird, auch wenn sich die ganze Welt gegen beide verschwört.

Er verließ den Raum und fand das Telefon im leeren Schlafzimmer, wo das Licht noch brannte und das Bett zerwühlt war. Die Stimme am Telefon im Victoria Infirmary erklärte ihm, Mr Collins’ Angehörige seien bei ihm. Er rechnete sich aus, dass er noch ein bisschen Zeit hatte.

Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, stand sie unsicher am Kamin. Als er auf sie zuging, drehte sie sich um und zuckte leicht zusammen, als habe er sie schlagen wollen. Dann öffnete er den Gürtel ihres Morgenmantels und ließ ihn zu Boden gleiten. Er zeigte Richtung Schlafzimmer. Als sie unbeholfen dorthin stakste, fiel ihm auf, dass sie zitterte.

»Wenn du schon angeblich meine Frau bist«, sagte er. »Können wir auch in die Flitterwochen fahren.«

2

DER ANRUF WAR KAUM MEHR als eine belanglose Störung, aber schon ein einziger Stein kann eine Lawine ins Rollen bringen.

»Und dann«, hatte Ena gesagt. »Was glaubt ihr wohl? Der Wagen hat den Geist aufgegeben. Hoffnungslos abgesoffen. Mitten im Clyde Tunnel. Und wo war Jack? Natürlich mal wieder bei einem Fall. In Morecambe!«

Laidlaw kannte die Geschichte. Er hatte Ena schon einmal schonend beizubringen versucht, dass es vielleicht mit Ausnahme der Nordvietnamesen auf der ganzen Welt niemanden mehr gab, der sie nicht kannte. Seine Gereiztheit rührte daher, dass er inzwischen begriffen hatte, welche Bedeutung sie für Ena besaß: das Versagen des Verbrennungsmotors stand für seine Vernachlässigung ihrer Ehe.

»Tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte nebenherrennen sollen.«

Die anderen nahmen die Bemerkung amüsiert hin, wie einen anzüglichen Witz auf einer Beerdigung. Laidlaw spürte, dass sein Gefühl von Isoliertheit in Aggression umschlug. Das Telefon rettete ihn.

»Ich geh dran«, sagte er.

Er achtete darauf, sein Schritttempo zu zügeln, damit der Teppich nicht Feuer fing. Das Telefon stand im Flur.

»Hallo?«

»Ist da Detective Inspector Jack Laidlaw?«

»Genau.«

»Der Detective Inspector Jack Laidlaw? Leiter des Crime Squad? Beschützer der Armen? Anwalt der kleinen Leute?«

Zuerst erkannte Laidlaw den Stil, dann die Stimme. Es war Eddie Devlin vom Glasgow Herald.

»Du liebe Zeit, Eddie«, sagte er. »Deine Witze werden immer schlechter. Hättest du nicht deinen Korrektor mit ans Telefon holen können?«

»Das kommt davon, dass man der Öffentlichkeit ständig geben muss, was sie von einem erwartet. Hör zu, Jack. Im Royal liegt jemand in der Notaufnahme, der dich dringend sprechen will.«

»Heute noch? Hat er auch gesagt, ob ich Maltesers oder dunkle Trauben mitbringen soll? Was willst du, Eddie?«

»Nein. Im Ernst, Jack. Ich hab den Tipp von einem Pförtner bekommen. Ein alter Säufer, mit einem Kratzschwamm am Kinn. Stinkt wie ein Fass nach der Weinernte. Er ist gerade so noch bei Bewusstsein. Aber er hat immer wieder nach Jack Laidlaw gefragt. Will unbedingt Jack Laidlaw sprechen. Der Pförtner gehört zu meinen Informanten, weißt du? Na ja, er hat schon mal mitbekommen, dass ich von dir gesprochen habe. Deshalb dachte er, er sagt’s mir lieber. Für mich springt dabei nichts raus. Wahrscheinlich deliriert der Alte im Suff. Nichts für ungut, Jack, aber Errol Flynn bist du nicht gerade. Vermutlich trotzdem noch besser als Spinnen und rosa Elefanten.«

»Ist er verletzt?«, fragte Laidlaw.

»Anscheinend nicht. Aber ich hab nicht viel rausbekommen. Er gibt sich Mühe, aber mit dem Reden hat er’s nicht so.«

»Wann hast du den Anruf bekommen, Eddie?«

»Hier im Pub. Vor fünf Minuten. Dachte, ich sag dir lieber Bescheid, bevor ich gehe. Will noch mal im Vicky vorbei. Wegen Paddy Collins. Vielleicht bekomme ich ja ein paar berühmte letzte Worte. Egal, mach was du willst, Jack.«

»Danke, Eddie. Bin dir was schuldig.«

»Schon gut. Wenn die Revolution kommt, hätte ich gerne einen Presseausweis. Bis bald, Jack.«

»Bis bald.«

Laidlaw legte auf. Eddies Stimme hatte ihm das Trommelfell durchbohrt. In der Stadt war einiges los. Aber er hatte Gäste. Oder besser, Ena hatte Gäste. Er wollte fair sein, kam dann aber zu dem Schluss, dass sie ihn nicht vermissen würden. Wahrscheinlich würden sie seine Abwesenheit sogar als Erleichterung empfinden.

Jedes arbeitsfreie Wochenende war verplant. Ena hatte sich an die sozialunverträglichen Dienstzeiten bei der Polizei gewöhnt und gelernt, fehlende gemeinsame Stunden wieder wettzumachen. Wenn Laidlaw darauf bestand, mit dem Kalender umzugehen wie ein Alkoholiker mit Schnaps – lange Abwesenheiten, kurze Stippvisiten zur Ausnüchterung zu Hause –, so hatte sie beschlossen, seine Freizeit grundsätzlich gemeinsam mit ihm zu verbringen. Sie setzte Babysitter ein wie Schachfiguren – matt. Seinen Durst nach den Straßen Glasgows bekämpfte sie mit Ereignissen, so sorgfältig abgefüllt wie selbst gekelterter Wein, jede Flasche längst im Voraus etikettiert. »Freitag – Frank und Sally.« »Samstag – Party bei Mike und Aileen.« »Samstag – Film mit Al Pacino im La Scala. Babysitter schon bestellt.«

Heute war »Freitag – Donald und Ria«. Nicht ihr bester Jahrgang und mit einer starken Kohlsuppennote im Abgang, auf keinen Fall berauschend, aber vielleicht, hoffte Laidlaw, würden die zwischenmenschlichen Geschmacksknopsen langfristig so abstumpfen, dass er eine Binsenweisheit nicht mehr von einem Lebenselixier unterscheiden konnte. Er bemühte sich, nichts gegen Donald und Ria zu haben. Trotzdem hatte er, wenn sie zu viert zusammensaßen, das Gefühl, an einer Feldstudie über Gruppensedierung teilzunehmen.

Außerdem ging es vielleicht um jemanden, der ihm einen Gefallen getan hatte. Jemanden, der im Sterben lag. In dem Raum, den er gerade verlassen hatte, lag niemand im Sterben. Wahrscheinlich waren die dort Anwesenden längst tot. Im Sterben lagen sie jedenfalls nicht.

Er trug ein rotes Polohemd und eine schwarze Hose, holte seine Jeansjacke aus dem Schrank im Flur und zog sie über. Gerne hätte er das Komitee von seinen Absichten in Kenntnis gesetzt, aber dann hätten die Anwesenden Veto eingelegt. Seine Entscheidung stand fest. Er hatte ein schlechtes Gewissen, aber das Gefühl war ihm vertraut.

3

ES WAR NUR EINE KURZE FAHRT von Cathcart, wo Laidlaw lebte, bis zum Royal Infirmary in der Cathedral Street, aber ein Riesenunterschied. Zum Glück wandelte sich die Architektur stufenweise, wie in Druckkammern, sodass man keine Kopfschmerzen davon bekam.

Das erste Tor stand halb offen und er fuhr durch. Viele Autos parkten hier, aber es war noch genug Platz. Er schloss den Wagen ab, und wieder wurde ihm bewusst, wie groß das Gebäude war, drei riesige miteinander verbundene Einheiten, jede mit einem imposanten Kuppeldach, wie eine Burg aus schwarzem Stein. Krankheit erschien ihm hier weniger als ein Gleichmacher denn als Ritterschlag, die Voraussetzung für den Zugang zur gothischen Aristokratie.

Auf der anderen Seite des Hofs befand sich die Unfallstation, wie ein Torhaus, in dem zunächst die Referenzen geprüft werden. Er ging hinein, es war nach elf.

Im Flur parkten blaue Rollstühle, ungefähr dreißig. Auf einem saß ein Junge von vielleicht zwanzig Jahren. Aber er war nicht gelähmt. Er wirkte so krank, als könne er Gleise durchbeißen. Die kleinen Kratzer auf seiner rechten Wange unterstrichen nur die Härte seiner Erscheinung. Er hatte eine dünne Jacke umgelegt, deren Schultern schwarz waren vor Blut. Er wartete auf jemanden.

»Hey, du«, sagte er, als Laidlaw eintrat. »Hast du mal ne Kippe?«

Laidlaw sah neugierig zu ihm rüber. Er erkannte Alkohol, aber keine Betrunkenheit, dafür die Reste einer Aggression aus einem gewonnenen Kampf. Sein Adrenalinausstoß stand unter der Überschrift: »Wer ist als Nächstes dran?«

Laidlaw wandte sich zur Tür Richtung Notaufnahme.

»Hey, du! Großer. Ich rede mit dir. Rück mal ne Kippe raus!«

Laidlaw ging zu ihm.

»Schau mal, Kleiner«, sagte er. »Bis jetzt hast du nur ein paar Blessuren. Willst du unbedingt auf die Intensivstation?«

Der Junge guckte ratlos angesichts des fremden Wortes, aber der Tonfall war so universal wie Esperanto.

Er sagte: »Komm schon. Hab dich bloß um einen kleinen Gefallen gebeten.«

»Dann pass auf, dass deine Bitte nicht nach einer Drohung klingt.«

Laidlaw gab ihm eine Zigarette.

»Das Ende mit dem Filter steckt man in den Mund, das andere zündet man an.«

Der Junge grinste. Laidlaw wandte sich wieder Richtung Notaufnahme. Der Raum war lang, die Decke gewölbt, gleichzeitig schlicht und überladen, wie eine viktorianische Wellblechbaracke. Laidlaw begab sich hinein, als wär’s eine Zeitschleife.

Zuerst fielen ihm zwei Geister seiner Jugend auf, zwei Constables, deren Gesichter an frisch gelegte Eier erinnerten. Nicht weit von ihnen entfernt stand eine Gruppe in weißen Arztkitteln. Laidlaw hoffte, dass es Studenten waren. Die Polizisten und die Ärzte wirkten so jung, als hätten sie ihre Uniformen zu Weihnachten geschenkt bekommen. Plötzlich war Laidlaw Rip Van Winkle.

Er warf einen Blick in das Behandlungszimmer rechts. Unter der Aufsicht zweier Schwestern machte ein Arzt einem Jungen Vorhaltungen, der dort mit freiem Oberkörper saß. Er war von den Haarspitzen bis zum Gürtel blutüberströmt. Durch das Rot wirkte der Raum wie die Garderobe einer grotesken elisabethanischen Tragödie, Titus Andronicus vielleicht.

»Kein Problem!«, sagte der Junge.

Körperlich schien er recht zu haben. Laidlaw entdeckte eine längliche Platzwunde an seinem Nacken, aber sonst nichts. Ganz offensichtlich genoss er den Geschmack des Heroischen, den das eigene vergossene Blut vermitteln kann. Das wahrscheinlich Schlimmste, was man ihm antun konnte, war ihn sauber zu waschen. Danach würde er sich wieder mit sich selbst begnügen müssen. Laidlaw kannte ihn nicht, glaubte aber, dass er ihn vielleicht noch kennenlernen würde.

Gegenüber dem Behandlungszimmer befand sich eine Reihe mit Betten, durch Vorhänge voneinander getrennt. Hier bot sich Laidlaw eine Abfolge von Anblicken, die aus einem zeitgenössischen Mysterienspiel hätten stammen können. Ein Mädchen mit weit aufgerissenen Augen umklammerte ein blutbeflecktes Bettlaken und wartete auf jemanden oder etwas. Ein junger Mann mit einem linken Auge, das verfaultem Obst glich, beschwerte sich hysterisch über irgendeine Ungerechtigkeit, während der Arzt ihn versorgte. Eine Frau weinte, der Arm wurde ihr verbunden. »Schlimme Prügel bezieh ich von dem«, sagte sie. Ein Mann mittleren Alters erklärte einer Schwester im Beisein zweier Polizisten: »Das ist so ein wandernder Schmerz.« Laidlaw erkannte die ihm vertraute Kunstfertigkeit der Festnahmeverzögerung durch plötzliches Erkranken an geheimnisvollen Leiden.

Kabine E, von der Laidlaw wusste, dass sie früher zur Entlausung genutzt wurde, war allem Anschein nach eben noch in Benutzung gewesen, jetzt aber leer. Abgesehen vielleicht von den beiden zivil gekleideten Männern, die gerade hereinkamen, erkannte er niemanden hier. Begegnet war er ihnen noch nicht, aber ihre konzentrierte Art, sich in professionellen Bahnen zu bewegen, war ihm vertraut. Sie verschmolzen ebenso unauffällig mit ihrer Umgebung wie Mormonen.

Als Laidlaw zum Schluss noch einen Blick zurück warf, fiel ihm nichts Besonderes auf. Die Stadt durchlitt dieselben Schmerzen wie jede Freitagnacht. Hier war ihr Beichtstuhl. Man kam her, um zu gestehen, um sich zu Gebrechlichkeit, Dünnhäutigkeit oder organischer Anfälligkeit zu bekennen – der jämmerlich unzureichenden Maschinerie, der wir die Last unserer Ansprüche aufbürden.

Vor allem aber kam man her, um sich dem Blut zu ergeben. Überall war es hier, an Verletzten, Tupfern, dem Boden und den Kitteln der Ärzte. Verräterisch tropfte es aus unserem unhaltbar sicheren Selbstverständnis. Wie der Anblick von Ehrlichkeit ließ sich auch der von Blut nur schwer ertragen.

Laidlaw empfand hier noch stärker, was ihn so aufgebracht hatte gegen den Raum, aus dem er gerade kam und in dem Ena, Donald und Ria noch saßen. Er erzählte Lügen. Dieser dagegen versuchte es auch, aber er kam um das Eingeständnis seiner allgemeinen Menschlichkeit nicht herum. Der andere war exklusiv. Er fußte auf unzutreffenden Einschätzungen. Laidlaw fiel ein, dass elitäres Denken zu den Dingen gehörte, die er am allermeisten hasste. Entweder wir teilen mit allen oder wir verlieren uns.

»Hallo, Captain.«

Der Mann war schon älter, hatte eine kleine Platzwunde am Auge und mehr als nur ein bisschen was getrunken. Laidlaw hatte gesehen, wie er umhergewandert und hier und da Leute angesprochen hatte, wie Tennysons alter Seefahrer auf der Suche nach einem Hochzeitsgast.

»Sind Sie der Arzt, Sir? Geht um mein Auge hier. Hab Kopfball mit dem Gehweg gespielt. Und eins zu null verloren. Wäre ich nicht blau gewesen, hätte ich gewonnen.«

Laidlaw grinste und zuckte mit den Schultern.

»Tut mir leid«, sagte er. »Bin selbst fremd hier.«

Der Mann ging an der Trennwand vorbei. Dahinter lag das sagenumwobene Zimmer neun, der Reanimationsraum des Royal, in dem sich so ziemlich alles abgespielt hatte, was auf dem Gebiet der körperlichen Katastrophen möglich ist. Der Mann wurde sofort wieder von einem Arzt herausgeführt und Richtung Notaufnahme zurückgeschickt.

»Verzeihung«, sagte Laidlaw. »Ich suche jemanden.«

Laidlaw zeigte seinen Dienstausweis. Der Arzt warf einen Blick darauf, seine Zunge lag auf den Schneidezähnen, dann nickte er, ohne diese zu entblößen. Er konnte nicht älter als Ende zwanzig sein, mit der Brille und den strubbeligen Haaren sah er aber jetzt schon aus wie einer, der bei einem Erdbeben lediglich die Augenbrauen hochzieht. Sein Kittel war braun gesprenkelt, darauf die standesgemäßen Blutflecken.

»Harte Nacht?«, meinte Laidlaw.

»Nein. Heute ist es ruhig. Obwohl wir zwei VUPs und einen AMI hier hatten.« Er nickte Richtung Zimmer neun. »Wen suchen Sie?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Laidlaw.

Der Arzt verriet weder Erstaunen noch Belustigung oder Interesse. Er wartete einfach ab. Dann folgte er dem älteren Mann mit Blicken. Laidlaw wusste, dass ein VUP ein Verkehrsunfall mit Personenschaden war. Nach dem AMI wollte er sich lieber nicht erkundigen. Der Arzt schien nicht in Stimmung, ein medizinisches Wörterbuch zu ersetzen.

»Ich hab gehört, hier wurde jemand eingeliefert, der nach mir gefragt hat. Jack Laidlaw. Ein Mann. Unrasiert. Wahrscheinlich betrunken.«

Der Alte hatte Zuflucht bei einer Schwester gefunden. Der Blick des Arztes ruhte jetzt auf dem Boden. Er sah zu Laidlaw auf, als wollte er ihn auf eine unwahrscheinliche Verbindung prüfen.

»Sie meinen den alten Säufer?«

»Kann sein.«

»Ja. Ich glaube, das war tatsächlich der Name, den er erwähnt hat. Hat ihn ständig wiederholt. Ich dachte, dass er vielleicht selbst so heißt. Hab sonst nichts aus ihm rausbekommen. Er hat Probleme mit den Atemwegen. Gott war der dreckig. Wusste nicht, ob ich ihn erst an die Dialyse hängen oder kauterisieren soll. Eine wandelnde Beulenpest.«

»Was ist passiert?«

»Es ging ihm immer schlechter. Anscheinend hat er sich mit letzter Kraft hergeschleppt. Wir haben ihn erst mal gewaschen.«

»Und was fehlt ihm?«

Der Arzt schüttelte den Kopf.

»Alles?« Sein Blick wanderte erneut im Raum umher. »Eine bessere Diagnose, als dass er sterben wird, haben die Kollegen nicht hinbekommen. Seine Atmung verschlechtert sich rapide. Anstatt ihn hier zu intubieren, haben wir ihn auf die Intensivstation verlegt. Ist gerade eben weg.«

»Wo ist die Intensivstation?«

»Neben der chirurgischen Abteilung, das ist …«

»Ich weiß.«

»Wahrscheinlich sind Sie dort nicht erwünscht.«

»Macht nichts«, sagte Laidlaw.

Auf dem Weg nach draußen warf er dem jungen Mann im Rollstuhl noch eine Zigarette zu. Um die Götter zu besänftigen.

4

DRAUSSEN WAR ES KALT. Laidlaw musste sich erst mal orientieren. Im mittleren, jetzt dunklen Teil des Hauptgebäudes war die Verwaltung untergebracht. Rechts, nicht weit vom Tor, die medizinische Abteilung. Er ging nach links.

Beim Überqueren des Hofs dachte er an den Arzt. Wahrscheinlich war es wirklich eine ruhige Nacht. Alles ist relativ. Laidlaw hatte einen einfachen Stoßdämpfer, der ihm half, fertig zu werden mit dem, was er zu Gesicht bekam. Er erinnerte sich an Glaister’s Medical Jurisprudence and Toxicology – ein unauffälliger Name für eines der grauenvollsten Bücher, in denen er je geblättert hatte. Darin wurden die entsetzlichsten ungewöhnlichen Todesarten sachlich beschrieben, dazu Abbildungen erstklassig fotografierter Enthauptungen, Strangulationen und Genitalverstümmelungen. Die Darstellung willkürlicher und vorsätzlicher Brutalität ließ den Marquis de Sade wie den Touristen erscheinen, der er war. Hat man erst einmal verstanden, in was für einer Welt wir leben, muss man sich auch den Dingen stellen, die man lieber nicht sehen möchte.

Laidlaw hatte das akzeptiert. Er stieg die gewundene Treppe hinauf in den ersten Stock. Auf einem blauen Schild mit weißen Buchstaben las er »Intensivstation«. Er trat durch die Schwingtüren und stand in einem kurzen, breiten Gang vor einer weiteren Schwingtür. Sofort schaute eine Frau aus einem Zimmer. Ihr Gesichtsausdruck wurde zum Verbot, zeugte von der Verärgerung einer Fachkraft über das unbeholfene Eindringen eines Laien. Laidlaw kam sich vor, als hätte er eine Kamera um den Hals. Sie kam heraus und richtete sich wie eine Schusswaffe auf ihn.

»Ja?«

»Entschuldigung. Ich glaube, hier wurde gerade jemand herverlegt. Er hat darum gebeten, mich zu sprechen. Mein Name ist Laidlaw. Detective Inspector Laidlaw.« Er zeigte seinen Ausweis.

»Und?«

»Ob ich den Patienten wohl sehen kann?«

Sie stieß ein knappes, einsilbiges Lachen aus, es klang wie das weit entfernte Bellen eines Wachhunds und ebenso humorvoll. Anschließend schüttelte sie auf Beamtenart den Kopf und setzte den strengen, herablassenden Blick auf, der alle Uneingeweihten zu den Rettungsbooten fliehen lässt.

»Ist das Ihr Ernst?«

»Ich gebe mir Mühe«, sagte Laidlaw.

»Das hier ist eine Intensivstation.«

»Für ein Café habe ich es nicht gehalten. Und ich hab’s eilig.«

Sie starrte Laidlaw an, schätzte ihn vermutlich neu ein: kein Durchschnittsidiot – vielmehr ein Ärgernis ersten Grades. In solchen Fällen mag es notwendig sein, eine Fassade aus minimalen Fakten aufzubauen, vorzugsweise unverständlichen.

»Der Ventilator wird vorbereitet. Möglicherweise ist eine Dialyse unerlässlich.«

»Ist er bei Bewusstsein?«

»Er ist sehr durcheinander.«

»Aber bei Bewusstsein.«

»Im Augenblick, ja.«

»Na, dann«, sagte Laidlaw. »Wenn er mich sprechen will, muss es ihm wichtig sein. Ich gehe davon aus, dass er trotz allem gewisse Rechte hat. Wenn Sie nicht wollen, dass ich zu ihm reingehe, überlegen Sie sich lieber, wie Sie’s verhindern.«

Er ging an ihr vorbei. Sie holte ihn ein, bevor er die Schwingtür erreicht hatte.

»Warten Sie bitte hier«, sagte sie und ging weiter. Wenige Augenblicke später kam sie heraus und nahm einen frisch gewaschenen Krankenhauskittel von einem Stapel. Es machte ihr Spaß, Laidlaw zu beobachten, der dahinterzukommen versuchte, wie man den Kittel anzog. Da er die richtigen Filme gesehen hatte, zog er den Kittel falsch herum an. Sie bot ihm nicht an, ihm beim Zubinden zu helfen, weshalb er ihr mit den Händen auf dem Rücken folgte und dabei fürchtete, die Urheberrechte des Duke of Edinburgh zu verletzen.

Hinter der zweiten Schwingtür sagte sie: »Warten Sie hier, bitte.«

Das Licht im Raum war gedämpft. Rechts befanden sich mit Glasscheiben voneinander getrennte Kabinen. Aus manchen drangen leise Geräusche. Man hatte das Gefühl, hier auf Zehenspitzen zu leben. Zwei Schwestern bewegten sich beinahe geräuschlos hin und her, Vestalinnen dieses Allerheiligsten.

Die Geräte waren Gott. Auf einem Monitor zuckten drei gezackte Linien. In der Mitte lag der für Laidlaw einzig sichtbare Patient, wie auf einem Altar. Er war entsetzlich bewegungslos und an eine Beatmungsmaschine angeschlossen, ein belüfteter Leichnam. Als er ihn betrachtete, erinnerte sich Laidlaw, dass er irgendwo einmal gehört hatte, dass sich solche Patienten wund liegen, wenn sie nicht alle zwei Stunden eingeölt und umgebettet werden. Von seinem neuen Standpunkt aus, hielt er die Leute in der Notaufnahme für größenwahnsinnige Statisten. Ihre Einschätzungen wirkten jetzt unerhört grob. In ihrer Unerbittlichkeit waren sie Anfänger. Dieser Mann legte Zeugnis für uns alle ab, ohne Melodram. Er war auf das Atmen reduziert und stellte keine weiteren Ansprüche, seine Demut war absolut. Zog man den Stecker, starb er.

Aus der ersten Kabine ganz rechts drangen Geräusche. Laidlaw nahm an, dass dort sein Mann sein musste. Und tatsächlich, die Schwester, die ihn wie ein Bakterium behandelt hatte, winkte ihn nun heran.

Als er beklommen einen Bogen um die Trennwand machte und in die Nische trat, ereilte ihn derselbe Schrecken, wie wenn man einen Bekannten sterben sieht. Alle vorangegangenen Momente der Zuversicht zählen nicht mehr. Der Tod soll anonym bleiben, das wird jetzt klar. Sonst nimmt er einen ins Visier.

Er sah einen Verdacht bestätigt, den er längst geschöpft hatte. Es war Eck Adamson. Und wenn er nicht so gut wie tot war, dann war Laidlaw unsterblich.

Ein Arzt schob sich zwischen Laidlaw und das Bett. Er war Inder, jung, zart und hübsch. Seine Stimme bildete einen erstaunlich angenehmen Kontrast zu den Glasgower Kehllauten, seine Konsonanten waren weich und die Aussprache originell.

»Sie dürfen mit Ihrem Freund reden, wenn Sie wollen. Wir werden ihn gleich an ein Beatmungsgerät anschließen. Im Moment ist es vor allem wichtig, die Lungenfunktion zu stabilisieren. Wenn Sie zu ihm durchdringen, versuchen Sie herauszufinden, was passiert ist.«

Laidlaw nickte. Zuerst fiel ihm auf, dass er Eck nie zuvor so sauber gesehen hatte. Sie hatten ihn zum Sterben schön gemacht. Nur der mehrere Tage alte Bart ließ darauf schließen, aus welchem Winkel des Lebens Eck stammte; der Bart und sein Blick. Schreckhaft war er immer schon gewesen, aber jetzt spielte er komplett verrückt, sprang mal hierhin, mal dorthin, als wüsste Eck endlich mit Sicherheit, dass es die Welt auf ihn abgesehen hatte. Der Arzt und die Schwestern warteten darauf, ihn von sich selbst zu erlösen.

»Eck«, sagte Laidlaw. »Ich bin’s, Jack Laidlaw.«

Als er es noch mal wiederholte, streifte ihn Ecks Blick mehrmals, kehrte immer wieder zu ihm zurück, bis er auf ihm ruhte, noch unstet, aber immerhin auf derselben Umlaufbahn wie Laidlaw. Er blieb nicht auf seinem Gesicht haften, sondern schien unterschiedliche Körperteile abzusuchen, als wollte Eck Laidlaw wie ein Puzzle zusammensetzen. Eck wollte etwas sagen.

»Gut«, hörte Laidlaw.

»Gut«, erwiderte er.

»Gut.«

»Gut.«

Eck zuckte vor Anstrengung mit dem Kopf.

»Schreib auf«, glaubte Laidlaw verstanden zu haben. Er fand einen Umschlag in seiner Tasche und nahm einen Stift.

»Was ist passiert, Eck?«

Aber er hätte sich genauso gut mit einem Fernschreiber unterhalten können. Eck empfing keinerlei Nachrichten mehr. Mit dem letzten Rest, der von ihm übrig war, sandte er Informationen aus. Dass er Schmerzen hatte, war offensichtlich. So wie er die Worte daran vorbeipresste, mussten sie ihm sehr wichtig sein. Laidlaw hörte zu und fragte sich, warum.

Eck redete unzusammenhängend. Er sprach wie jemand, der einen Schlaganfall erlitten hatte, in Zeitlupe und unterbrochen von den Knacklauten des Betrunkenen, was das physische Trauma verschlimmert, weil es die Betroffenen zu Idioten macht. Laidlaw glaubte, aus den verzerrten Äußerungen, die einer zu langsam abgespielten Platte ähnelten, eine ständig wiederholte Aussage herauszuhören. Er schrieb mit, mehr aus Respekt vor der in Auflösung befindlichen Person denn aufgrund einer Bedeutsamkeit, die er den Worten beimaß: »Der Wein, den der mir gegeben hat, das war gar keiner.«

Das war alles, was er verstand. Als würde man einen Aufruhr belauschen. Eck wurde in seiner Not immer verzweifelter und der Arzt trat dazwischen.

»Der Herr kann in meinem Zimmer warten«, sagte er.

Die Schwester führte Laidlaw in einen kleinen abgetrennten Bereich am Ende der Station. Hier war gerade genug Platz, um sich hinzulegen. Laidlaw setzte sich auf das Einzelbett.

Er betrachtete die Rückseite des Umschlags, der Letzte Wille und das Testament von Eck Adamson. Er erinnerte sich an einen Artikel über eine Putzfrau in einer Anwaltskanzlei. Auf ihrem Totenbett hatte sie Juristenlatein vor sich hin genuschelt. Eck war nicht weit davon entfernt.

Vielleicht passte es, dass Ecks letzte Information wie Sanskrit rüberkam. Als Spitzel war er nie besonders wertvoll gewesen. Aber Laidlaw hatte ihn immer gemocht, und einmal, im Fall Bryson, hatte Eck ihm unwissentlich sehr geholfen.

Hinter der Trennwand war es still geworden und der Arzt tauchte wieder auf. Er schüttelte den Kopf.

»Tut mir leid«, sagte er mit der förmlichen Getragenheit, die einem eine fremde Sprache zu schenken vermag.

Laidlaw steckte den Umschlag ein.

»War er ein Freund?«

Laidlaw dachte nach.

»Möglich, dass er keinen besseren hatte. Woran ist er gestorben?«

»Kann ich im Moment noch nicht sagen. Wer war er?«

»Alexander Adamson. Ein Penner. Im Winter hat er in billigen Absteigen gehaust. Im Sommer da, wo er konnte. Angehörige nicht bekannt. Tolle Grabinschrift.«

Laidlaw erinnerte sich, dass er Eck eines Nachts schlafend auf einem Belüftungsgitter draußen vor der Central Station gefunden hatte. Er hatte sich die Wärme zunutze gemacht, die aus der Küche des Central Hotel aufstieg. Jetzt fand hier die Totenfeier am Ende eines trostlosen Lebens statt, sie beschränkte sich auf wenige zwischen Fremden gewechselte Sätze.

»Zum Schluss war es nicht mehr schlimm für ihn«, sagte der Arzt. »Er ist friedlich gestorben.«

Laidlaw nickte. Wie ein Blatt.

»Ich will eine staatsanwaltliche Obduktion.«

»Natürlich. Das ist Vorschrift.«

»Heute noch? Ich hätte das Ergebnis gerne heute.«

»Wir werden sehen.«

»Ja, das werden wir.«

Auf dem Weg zum Wagen schaute Laidlaw noch einmal in der Notaufnahme vorbei. Der Junge mit der blutverschmierten Jacke war weg. Eine Schwester zeigte Laidlaw Ecks Habseligkeiten in einem braunen Umschlag; eine leere Dose mit krümeligen Tabakresten, eine stehen gebliebene Armbanduhr, sieben einzelne Pfund und ein schmutziger Zettel. Laidlaw strich den Zettel glatt und las die handschriftliche Botschaft.

Der puritanische Trugschluss besteht darin zu glauben, Tugendhaftigkeit würde von alleine erreicht. Man macht das Richtige, weil man es nicht anders kennt. Das ist die Woolworth-Moral der Gesellschaft, ein billiger Ersatz. Wahre Moral beginnt mit einer Entscheidung: je größer die Entscheidungsvielfalt, desto größer die Moralität. Nur diejenigen können wahrhaft gut sein, die ihre Fähigkeit, Böses zu tun, genau überprüft haben. Idealismus ist Zensur der Realität.

Fein säuberlich notiert, darunter eine Adresse in Pollokshields und die Namen Lynsey Farren und Paddy Collins in schwarzem Kugelschreiber, außerdem »The Crib« und die Nummer 9464 946.

Laidlaws erste Reaktion war eine praktische. Ihm fiel auf, dass die Handschrift dieselbe, der Text aber mit blauem Stift notiert worden war. Er vermutete, dass die hausgemachten philosophischen Überlegungen bereits auf dem Zettel gestanden hatten, als deren Verfasser weitere Informationen hinzugefügt hatte. Für wen aber? Für Eck?

Der erste Teil war sicher nicht für ihn bestimmt gewesen. Aber auch die Adresse schien nicht zu passen. Pollokshields, wo das Geld auf Bäumen wächst, war wohl kaum Ecks Gefilde. Die Nummer sagte Laidlaw nichts. Nur »The Crib« ergab Sinn.

Dann überkam Laidlaw ein leichter Schauder, als er den Zettel in Händen hielt und Menschlichkeit seine Professionalität zu verdrängen drohte. In dem Versuch, diesem Gefühl auf den Grund zu gehen, las er den Absatz noch einmal. Vielleicht lag es an der hier spürbaren, gefährlich verzerrten Form jener calvinistischen Selbstgerechtigkeit, die sich in den Herzen vieler Schotten wie Eiszapfen herausgebildet hatte. Er fragte sich, von wem Eck diese seltsame Botschaft bekommen hatte.

Als er aufblickte, löste sich seine Schwermut angesichts des freundlich runden Gesichts der Schwester, die sich praktischen Dingen widmete. Durch sie wurde ihm bewusst, dass er es am besten genauso machen sollte.

»Verzeihung«, sagte er. »Den Zettel brauche ich. Muss ich was dafür unterschreiben?«

5

SCHANKGESETZE KÖNNEN SPASS MACHEN. Ohne käme man nie in den Genuss der geheimnisvollen Freuden des verbotenen Trinkens nach Kneipenschluss – und des Gefühls der Dazugehörigkeit zu einem sehr kurzlebigen Klub. Romantisch wie eine Holzhütte in Yukon, doch die Zeit sabbert schon wie ein zahnloser Wolf vor verschlossener Tür.

Genau solch eine Atmosphäre herrschte im »Crib«, einem Pub, das trotz seines Namens für Kinder kaum geeignet war. Es war nach halb eins. Draußen auf den Straßen von Saracen, einem ruppigen Viertel nördlich des Zentrums, war es ruhig. Drinnen hatten fünf Menschen spontan ein Pentagramm gebildet und dazu aufgerufen, sich selbst zu feiern.

Einer von ihnen war der ständige Barkeeper Charlie, der von einem Pub in Calton hierhergekommen war. Er war Mitte fünfzig und seinem Alter an Klugheit weit voraus. Obwohl er den Großteil seines Lebens zwischen gewalttätigen Männern verbracht hatte, waren seine schlimmsten Auseinandersetzungen solche mit Bierfässern gewesen.

Das Geheimnis seines narbenfreien Gesichts war ein feines Gespür für Hierarchien. Wie ein Glasgower Knigge kannte er exakt die für jede beliebige Situation angemessene Form der Ansprache. Außerdem arbeitete er für einen Mann, dessen Namen andere sich überzogen wie eine Livree aus Panzerstahl. Hatte man Beziehungen zu John Rhodes, war das ein bisschen, als hätte man Securicor als Taxiunternehmen verpflichtet.

Ein Vorteil, den Charlie nie ausnutzte. Selbst jetzt, in der sicher abgesperrten Kneipe, zügelte er sich, weil er wusste, dass Ausgelassenheit angreifbar macht. Er hatte zwei nicht allzu große Whisky getrunken und leise in den Refrain eines Lieds eingestimmt.

Dass er genau wusste, wo er war, war weniger entscheidend als dass er wusste, wo er nicht war, nämlich im Krankenhaus. Dies hier war Dave McMasters Veranstaltung. Charlie begnügte sich damit, einer weiteren von Daves Geschichten zu lauschen.

»Die gehen also auf den Barras, den Markt, okay? Einer ist als Nikolaus verkleidet. Ein Zentner Baumwolle und Gummistiefel von der Armee. Der andere schleppt die Spielsachen, kleine Modellautos und angesabbertes Kaugummi. Nikolaus lockt sie an, und sein Helfer nimmt ihnen das Geld ab. So machen die das den ganzen Tag, verziehen sich nur ab und zu zum Aufwärmen ins Pub. Gut. Als dichtgemacht wird, sind sie auch wieder drin. Teilen die Beute. Nur dass der Helfer zwei Drittel haben will und der liebe Nikolaus nur eins bekommen soll. Nikolaus ist stinkig. Und zack! Könnt ihr euch das vorstellen? Er präsentiert ihm ein Geschenk. Dann tätowiert er ihm die Rippen mit den Stiefeln. Flucht so laut, dass sein Bart Feuer fängt. Am lustigsten war’s, als der Türsteher die beiden rausgeschmissen hat. Nikolaus liegt auf dem Gehweg und der Rausschmeißer schreit: Du hast Hausverbot, Nikolaus! Hausverbot. Nikolaus hat Hausverbot.«

Charlie lachte mit, aber nicht mit derselben Unbekümmertheit wie die anderen. Er hatte begriffen, worum es ging. Die anderen drei hofierten Dave.

Das Mädchen war seine Freundin. Jedes Mal, wenn er etwas sagte, fraß sie ihn mit Blicken auf. Lachte über seine Witze, als gelte es einen Wettstreit zu gewinnen.

Mit ihrem vornehmen Akzent, ihren schicken Klamotten und ihrer blonden Eleganz gehörte sie hierher wie eine Jungfrau ins Bordell. Aber wahrscheinlich steckte mehr dahinter, als der erste Eindruck vermuten ließ. Sie war jetzt schon seit einem Monat ständig in Daves Nähe. Was auch immer sie an ihm anziehend fand, seine zuvorkommenden Manieren konnten es nicht sein.

Dave McMaster war die neue Version eines alten Typs. Charlie hatte schon einige von seiner Sorte erlebt, Rabauken mit der Ambition, sich einen Ruf über den eigenen Freundeskreis hinaus aufzubauen und das eigene Hobby, Gewalt, zum Beruf zu machen.

Bei einer Schlägerei mit zwei jungen konkurrierenden Banden aus Possil war Dave ausgetickt, hatte ein Bajonett geschwungen und mehr als sechs Gegner in die Flucht geschlagen. Charlie konnte sich vorstellen, wie er am nächsten Morgen aufgewacht war und plötzlich einen Ruf zu verteidigen hatte, der ihm ebenso viel abverlangte wie eine Heroinsucht. Seither hatte er sich weiterentwickelt, aber Charlie zweifelte immer noch. Dave war sehr schnell aufgestiegen. Jetzt war er die rechte Hand von Hook Hawkins, der im Auftrag von John Rhodes vier Pubs in Saracen führte, darunter auch »The Crib«. Dave war ehrgeizig. Charlie fragte sich nur, ob er sich in seinem Ehrgeiz nicht übernahm.

Keiner der anderen schien Charlies Bedenken zu teilen. Sie waren so kritisch wie ein Fanklub. Außer dem Mädchen saßen dort Macey, ein kleinkrimineller Einbrecher, und ein Junge namens Sammy, den Charlie nicht kannte. Wahrscheinlich wollte sich Macey in Daves Fahrwasser hocharbeiten.

Sammy war Tourist, Macey hatte ihn hier eingeführt. Er sah aus wie ein Vetter vom Land. Seine Augen glänzten vor Bewunderung für Daves Unerbittlichkeit. Vermutlich gehörte er zu der Sorte von Schwachköpfen, die Eintrittskarten für Verkehrsunfälle kaufen. Er wollte unbedingt dazugehören, konnte sich aber selbst nicht helfen.

Er hatte eine lustige Geschichte zum Besten geben wollen, war damit aber rübergekommen wie einer, der eine Partie Golf Loch für Loch nacherzählt. Zum Glück konnte er singen, seine helle, schöne Stimme hatte ihn nicht verdient. Charlie ging durch den Kopf, dass Sammy besser zu Hause geblieben wäre und nur Kassetten von sich geschickt hätte.

»Das ist wahr«, sagte Dave. »Als die bei ihm waren, stand eine Drechselbank im Schlafzimmer. Und er wusste nicht mal, was man damit macht. Hat sie nur mitgehen lassen, falls sie was wert ist. Wofür das Ding gut sein kann, hat er erst aus der Anklageschrift erfahren.«