Das Dunkle bleibt - William McIlvanney - E-Book
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Das Dunkle bleibt E-Book

William McIlvanney

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Beschreibung

»Wenn die Wahrheit im Schatten liegt, geh mir aus dem Licht!« Jack Laidlaw muss in Glasgow den Mord an einem bekannten Anwalt der Unterwelt klären, bevor sich die rivalisierenden Gangs der Stadt deswegen bekriegen. Ein schottischer Noir vom Feinsten. Der Anwalt Bobby Carter hat ganz offensichtlich für die falschen Leute gearbeitet. Als seine Leiche in einer Gasse hinter einem Pub gefunden wird, das unter dem Schutz eines lokalen Gangsterbosses steht, gerät das fragile Gleichgewicht, das Glasgow seit Monaten zu einer relativ sicheren Stadt gemacht hat, ins Wanken. Außer einer verzweifelten Familie und einer ganzen Reihe mächtiger Freunde hinterlässt Carter auch viele Feinde. Wer profitiert von seinem Tod, wer ist dafür verantwortlich? Jack Laidlaws Reputation ist unbestritten. Er ist kein Teamplayer, aber er hat einen sechsten Sinn für die Straße. Für seinen Chef ist klar, dass hinter diesem Mord rivalisierende Gangs stecken. Laidlaw bezweifelt das. Auf jeden Fall muss er, bevor es zwischen den Gangs zum Krieg kommt, den Killer finden, sonst explodiert die Stadt. »Das Dunkle bleibt« ist ein von Ian Rankin vollendetes Laidlaw-Manuskript aus McIlvanneys Nachlass und ein literarisches Ereignis: »Laidlaw ist zurück in den dunklen Straßen von Glasgow«, schreibt der Autor Alan Parks, »und er ist so großartig, so schwierig, wie er immer war – einfach Kult.«

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WILLIAM MCILVANNEY | IAN RANKIN

DAS DUNKLE BLEIBT

Roman

Aus dem schottischen Englisch von Conny Lösch

Verlag Antje Kunstmann

INHALT

ERSTER TAG

KAPITEL 1

KAPITEL 2

KAPITEL 3

KAPITEL 4

ZWEITER TAG

KAPITEL 5

KAPITEL 6

KAPITEL 7

KAPITEL 8

KAPITEL 9

KAPITEL 10

KAPITEL 11

DRITTER TAG

KAPITEL 12

KAPITEL 13

KAPITEL 14

KAPITEL 15

KAPITEL 16

KAPITEL 17

KAPITEL 18

VIERTER TAG

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

FÜNFTER TAG

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

SECHSTER TAG

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

KAPITEL 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

KAPITEL 39

KAPITEL 40

OKTOBER 1972

ERSTER TAG

1

IN STÄDTEN wimmelt es von Verbrechen. In allen. Das ist einfach so. Kommen genügend Menschen an einem Ort zusammen, macht sich das Böse in irgendeiner Form bemerkbar. Liegt in der Natur der Sache. Und ist den Bürgern meist nur unterschwellig bewusst. Der Alltag lenkt sie ab, verschleiert das dramatische Gefühl von Bedrohung. Nur hin und wieder (wenn es zu einer Katastrophe im Ibrox-Stadion kommt oder ein Bible John Schlagzeilen macht) denken die Menschen daran, wie nah sie der Gefahr sind. Manchmal erwacht in ihnen die Erkenntnis, dass an den Rändern der scheinbaren Normalität etwas bedrohlich Fremdes lauert. Dann wird ihnen bewusst, wie dünn die Membran ist, auf der wir uns bewegen, dabei ständig Gefahr laufen, an dunklere Orte durchzubrechen. Und vielleicht fragen sie sich, ob die Sicherheit, in der sie sich wägen, nicht doch trügerisch ist.

Commander Robert Frederick vom Glasgow Crime Squad dachte über diese Dinge nach. Ihm war bewusst, dass das behagliche Gefühl von Sicherheit in seiner Stadt angekratzt werden könnte. Ein Mann namens Bobby Carter war verschwunden. Am Nachmittag hatte seine Familie die Polizei informiert, dass er seit zwei Tagen nicht mehr zu Hause gewesen sei. Das war aus Sicht von Frederick und seinen Leuten an sich kein Anlass zu tiefer Trauer. Bobby Carter war ein Berufsverbrecher. Oder besser gesagt, ein schlauer korrupter Anwalt, der nicht nur Umgang mit Verbrechern pflegte, sondern mit ihnen in ein und derselben Wanne saß, bis zum Hals eingetaucht in dieselbe dreckige Brühe. Carter war gebildet, stammte aus einer angesehenen Familie und hatte es sich beruflich zur Aufgabe gemacht, den Abschaum anzuleiten und zu beschützen, der sich insbesondere auf Fredericks Fleckchen Erde tummelte. Er verschob schmutziges Geld, entzog es der Reichweite der Finanzbehörden. Es wurde durch den Kauf legaler und lukrativer Unternehmen gewaschen und Carter achtete darauf, dass der Vertrag stets den Käufer, nicht den Verkäufer begünstigte.

Was den Commander beunruhigte, als er an seinem zwanghaft aufgeräumten Schreibtisch saß und ins Leere starrte, war das Vakuum, das Carters Verschwinden bei der kriminellen Bruderschaft Glasgows möglicherweise hinterlassen würde, und die gewaltbereiten Kräfte, die es schon bald füllen könnten. Carter war bekanntlich Cam Colvins rechte Hand gewesen, einer der wenigen, denen er vertraute. Colvins Name allein wirkte schon Angst einflößend, sein Ruf ging zurück auf seine Teenagerzeit, als er in eine Praxis spazierte und einen Arzt zu sprechen verlangte. Auf die Frage nach seinem Anliegen antwortete er nicht, sondern drehte sich um und zeigte der Sprechstundenhilfe die Klinge, die zwischen seinen Schultern steckte. Mit Cam Colvin legte man sich besser nicht an, mit dem war nicht zu spaßen, und das bedeutete, dass Carters Verschwinden möglicherweise Auswirkungen weit über die Unterwelt hinaus auf die unschuldige Bevölkerung haben könnte.

Ein Klopfen an der Tür unterbrach den Commander in seinen Gedanken. Detective Sergeant Bob Lilley trat ein, ohne eine Aufforderung abzuwarten, und schloss die Tür hinter sich.

»Was gibt’s für Vermutungen?«, wollte der Commander wissen.

Lilley holte tief Luft. »Immerhin besteht ja die Hoffnung, dass er von Außerirdischen entführt und in eine andere Galaxie verfrachtet wurde, vielleicht könnte man’s so betrachten.«

»Wer sagt denn so was?«

»Der Neue.«

»Laidlaw?« Lilley nickte. »Über den wollte ich sowieso mit Ihnen reden.«

»Jack Laidlaw ist kein Unbekannter, Sir. Sein Ruf eilt ihm voraus, deshalb ist er jetzt wohl auch bei uns gelandet. Wem ist er denn dieses Mal auf den Schlips getreten?«

»Wem denn noch nicht?« Frederick rutschte auf seinem Stuhl herum. »Trotzdem kommt immer wieder dieselbe Botschaft an – er macht seinen Job gut, besitzt offenbar einen sechsten Sinn für das, was sich auf der Straße abspielt.«

»Ich höre, da bahnt sich ein ›aber‹ an.«

»Nur insofern man vorsichtig mit ihm umgehen muss, wenn wir das Beste aus ihm herausholen wollen.«

»Ich eigne mich nicht zum Babysitter, Sir.«

»Nur für ein, zwei Wochen, bis er weiß, wie’s bei uns läuft.«

Lilley überlegte kurz, dann nickte er. Frederick entspannte sich ein bisschen.

»Sehen wir uns heute Abend, wenn Ben Finlay seinen Abschied feiert?«

»Auf jeden Fall, Sir – ich will sicher sein, dass der Mistkerl dieses Mal wirklich in Rente geht.«

»Sehen Sie zu, dass Sie Laidlaw mitbringen. Die Kollegen sollen ein Gefühl dafür bekommen, mit wem sie es zu tun haben.«

»Finlay hat ihn schon eingeladen. Anscheinend sind sie alte Freunde. Gleich ein Minuspunkt für unseren Neuzugang.« Lilley hielt inne. »Über Bobby Carter gibt’s wohl nichts Neues?«

»Das sollte ich Sie fragen.«

»Wir haben mit seiner Familie gesprochen. Und waren in seiner Kanzlei. Seine Frau hat ein paar Tage abgewartet, bis sie angerufen hat, weil es wohl nicht ungewöhnlich ist, dass er zwischendurch abtaucht.«

»Was heißt das?«

»Eine Nacht im Spielcasino, danach schläft er seinen Rausch aus, wo auch immer er gelandet ist.«

»Aber dieses Mal nicht?«

»Er hat keins der Etablissements aufgesucht, die wir auf dem Schirm haben.«

»Schon mit seinen Klienten gesprochen?«

»Ich hoffe noch, dass das nicht notwendig sein wird. Wenn wir erst mal mit Cam Colvin geredet haben, müssen wir auch mit dem gegnerischen Team reden.«

»Das heißt mit John Rhodes und Matt Mason.« Der Commander nickte langsam. »Immer schön mit der Ruhe, Bob, und nichts überstürzen, so wie’s die Polizei im Fernsehen macht.«

»Aber ein bisschen näher an der Wirklichkeit, Sir.« Lilley drehte sich um, wollte gehen.

»Behalten Sie Jack Laidlaw im Auge, Bob. Ich habe ihn lieber bei uns drin im Zelt, als dass er von draußen reinpinkelt, wie Lyndon B. Johnson so schön sagte – ich denke, Sie verstehen, was ich meine.«

Lilley nickte erneut und ging, überließ es seinem Chef, die geschlossene Tür niederzustarren.

Eine Entführung durch Außerirdische war auf jeden Fall eine für alle Beteiligten bessere Erklärung als manch andere, die ihm einfiel.

2

CONN FEENEY ZÄHLTE die Gäste. Dauerte nicht lange. Früher war im Parlour immer ordentlich was los gewesen. In der produktivsten Zeit der Werften standen am Zahltag manchmal die Leute in sechs Reihen vor dem Tresen und wollten bedient werden. Als er nach seinem Toto-Gewinn den Kauf des Pubs per Handschlag vereinbarte, hatte es nach einer guten Investition ausgesehen. Und natürlich war’s besser als die Arbeit in der Werft. Dort hatte er sich nie sicher gefühlt. Er erinnerte sich noch, wie er einmal mit Tara ins Kino gegangen war, als sie ungefähr acht war. Sie gingen Hand in Hand, als ein Mann ihm quer über die Straße nachrief: »Aye, Willie!«

»Aye, Tam«, rief er zurück. »Schönen Abend.«

Als sie weitergingen fragte Tara, warum der Mann ihn mit einem falschen Namen angesprochen hat.

»Er hat mich mit jemandem verwechselt«, erklärte er.

Er wollte sie nicht beunruhigen. In der Werft war er als Willie McLean bekannt, weil das der Name war, den er dort angegeben hatte. Hätte er Connell Feeney damals auf einen Bewerbungsbogen geschrieben, hätte er auch gleich ein Ave Maria druntersetzen und ein bisschen Weihwasser verspritzen können.

Katholiken waren im protestantischen Lehnswesen der Clydeside-Werften nicht willkommen.

»Lehnswesen« war ein gutes Wort. Die Bildung, die er sich vor langen Jahren selbst draufgeschafft hatte, war nicht umsonst gewesen. Oft dachte er bei sich, du bist zu gut für hier, aber dann fiel ihm wieder ein, dass ihm der Laden ja gehörte. Das Parlour war sein Lehen. Seine Schulzeit war kaum mehr gewesen, als die immerwährende Unterstellung, er und solche wie er seien ausschließlich für die körperliche Arbeit bestimmt. Am Ende hatte er seinen Lehrern aber gezeigt, dass sie sich irrten, in gewisser Weise jedenfalls.

Andererseits aber, wo war der Beweis? Heutzutage hätte man dem Namen des Pubs auch ein »funeral« voranstellen und es dadurch zum Beerdigungsinstitut erklären können, das hätte es ganz gut getroffen. Sein erfahrener Blick schweifte über die Gäste, alle fünf. Auld Rab saß an seinem gewohnten Platz, soff sich feierlich und schweigend um den Verstand. Vermutlich betäubte er, was auch immer ihn psychisch oder physisch quälte. Seine Frau war tot, seine Kinder waren weggezogen, riefen nie an und schrieben ihm auch nicht. Anscheinend wollte er einfach nur irgendwie die Zeit rumbringen, bis sie seine sterblichen Überreste abholen würden. Susie und Marion hatten einen ihrer regelmäßigen »Mädelsabende«. Sie hatten sich schick gemacht, aber es gab nichts zum Ausgehen, außer in ihrer Erinnerung und den Anekdoten aus ihrer Jugend. Manchmal zogen sie unscharfe Fotos aus ihren Umhängetaschen und hielten sie Conn vor die Nase, damit er sie bewunderte. Kurze Röcke, dicke Beine, ihre Augen strahlten zuversichtlich in die Zukunft. Sogar jetzt kicherten sie noch viel und tranken Cinzano mit Limonade und einer Zitronenscheibe, weshalb Conn einmal die Woche rüber in den Gemüseladen musste, um eine einzelne Zitrone zu besorgen.

Die anderen beiden kannte er nicht. Ein junger Mann und eine junge Frau. Den Mann mochte er auf Anhieb nicht. Er hatte einen Arm über die Rückenlehne des Stuhls seiner Begleiterin gelegt, den anderen vor ihr auf den Tisch geschoben. Als wollte er eine Mauer um sie herum bauen. Gleich würde er noch Stacheldraht oben draufsetzen und ein DURCHGANG VERBOTEN-Schild anbringen. Er sprach leise, aber eindringlich auf sie ein. Sie konnte kaum älter sein als achtzehn und er war höchstens zwanzig. Sie wirkte verunsichert, als hielte sie Ausschau nach dem geeignetsten Weg, der aus seinem Mund strömenden Lawine zu entkommen.

Conn wusste, was man in Glasgow unter Verführung verstand. Er war heilfroh, dass seine beiden Töchter verheiratet waren. Als das Pärchen plötzlich aufstand und sie sich nach ihrem Schirm bückte, konnte er sich eine Bemerkung nicht verkneifen, so wie man eine Münze in einen Wunschbrunnen wirft.

»Kommt gut nach Hause, alle beide. Ist ein Sauwetter da draußen.«

Der junge Mann grinste ihn an, Hoffnung und Erwartung lagen in seinem anzüglichen Blick. Als die Tür hinter ihnen zufiel und Conn die Gläser einsammelte, fiel ihm auf, dass die Kleine ihr Getränk kaum angerührt hatte. Vielleicht war das ein gutes Zeichen. Sie behielt einen klaren Kopf. Als er wieder hinter dem Tresen stand und das Wasser in der Spüle aufdrehte, bemerkte er, dass Rab den langen Marsch von seinem Tisch zum Tresen auf sich genommen hatte.

»Hättest mir ruhig Bescheid geben können«, sagte Conn. »Ich hätt’s dir auch gebracht.«

»Der Arzt sagt, ich soll mich mehr bewegen. Hab geantwortet, ich krieg genug Bewegung, wenn Sie die Praxis zumachen. Über eine Meile weit ziehen die weg. Ein halbes Dutzend Weißkittel, und du hast kein Wörtchen mitzureden, welcher dich behandelt. So was soll ein Fortschritt sein?«

»Wirst Sportschuhe brauchen, Rab.«

»Hast du schon mal versucht, welche zu putzen?«

»Kann ich nicht behaupten.«

»Deshalb zieh ich keine an. Mein Vater hat gesagt, trau niemandem, der keine guten Lederschuhe besitzt.«

Conn nickte und beschloss, heute Abend nichts mehr dazu zu sagen. Rab trug wie immer karierte Pantoffel, deren Gummisohlen sich allmählich auflösten. Stattdessen schenkte er einen doppelten Whisky ein und stellte das aufgefüllte Glas auf den Tresen, während Rab in seiner Tasche nach den nötigen Münzen kramte.

»Geht aufs Haus – aber verrat’s nicht der Geschäftsleitung.«

»Bist ein feiner Kerl, Conn.«

»Sag das mal meiner Frau.«

»Würde ich ja, aber sie kommt nie her.«

»Ist ihr hier ein bisschen zu vornehm.« Conn tat, als würde er die Umgebung mustern. »Der Knautschsamt und die Kerzenleuchter.«

Rab konnte ihm anscheinend nicht mehr folgen und drehte sich langsam um, machte sich bereit, den unendlich langen Weg zu seinem Tisch zurück zu nehmen. Die Eingangstür wurde geräuschvoll aufgerissen und Conn begriff, dass Ärger bevorstand. Aber es waren keine Skinheads oder sonst eine Bande aus der Gegend. Ein Schwall kalter Regenluft drang herein. Auf der Schwelle stand das junge Paar, völlig verunsichert. Sie schienen die Kneipe, die sie gerade erst verlassen hatten, kaum wiederzuerkennen. Schließlich traten sie ein und die Tür schlug hinter ihnen zu. Der Schirm war noch halb offen. Waren es Regentropfen oder Tränen im kreideweißen Gesicht der Frau? Conn war sich nicht ganz sicher. Vom arroganten Getue ihres Freundes keine Spur mehr. Als der seine Stimme wiederfand, war sie lauter als nötig.

»Wir haben einen Toten gefunden«, verkündete er.

»Wo?«, wollte Conn wissen.

»Hinter dem Haus.«

»Ein Penner?«, meldete sich Susie zu Wort.

»Ein großer Mann, gut gekleidet. Mehr haben wir nicht gesehen.«

Conn überlegte. Die Polizei musste verständigt werden, aber gab es vorher noch etwas zu tun? Würden die seine Buchführung sehen wollen oder verlangen, dass er den Safe öffnete? Eher nicht. Sollte er John Rhodes warnen? Oder sähe das aus, als gäbe es einen Zusammenhang?

»Seid ihr sicher, dass er tot ist?«, fragte er, spielte auf Zeit.

»Wenn er nicht zum Spaß in einer Pfütze liegt und alle viere von sich streckt, dann schon …«

»Geh, schau’s dir an, Conn«, schlug Auld Rab vor.

Das Unvermeidliche ließ sich wohl nicht länger hinausschieben, dachte Conn. Wie mit einem Zaubertrick schnappte er sich seine Jacke vom Haken. Alle Blicke waren auf ihn gerichtet, Leben kam in den verschlafenen Raum.

»Ist es okay, wenn wir uns was zu trinken nehmen?«, fragte der junge Mann, als Conn an ihm vorbeiwollte.

»Wartet, bis ich wieder da bin«, sagte Conn warnend, öffnete die Tür und trat in die Dunkelheit.

Der Regen hatte nachgelassen, Conn musste Slalom um die Pfützen laufen. Die schmale Gasse hinter dem Haus war wirklich nicht mehr als das. Sie führte zu den Mülltonnen und leeren Getränkekisten. Die Tonnen waren verzinkt, die Deckel längst verschwunden, geklaut von Kindern, die sie als Schilde oder jeweils zwei zusammen als Schlagzeug-Becken benutzten. Dazwischen sah er die Leiche. Er überlegte, wann er das letzte Mal hier draußen gewesen war. Seit mehreren Tagen schon nicht mehr. Der Mann trug einen Anzug. Er lag auf dem Bauch, seine rote Krawatte ähnelte einem blutroten Band. Der Kopf war verdreht, sodass man sein Gesicht sah, das schüttere schwarze Haar klebte am Kopf.

»Bobby Carter, verdammt«, murmelte Conn. »Schönen Dank auch, Bobby. Das hat mir gerade noch gefehlt …«

Er kehrte in den Schankraum zurück. Offenbar hatte sich in seiner Abwesenheit niemand vom Fleck gerührt. Conn behielt seine Jacke an und schenkte sich einen Wodka ein, kippte ihn unverdünnt und in einem einzigen Zug herunter.

»Also was?«, sagte der junge Mann.

»Was willst du trinken?«, fragte ihn Conn Feeney.

3

MEISTENS GINGEN SIE in den Top Spot, eine Bar in der Hope Street. Als Bob Lilley dort eintraf, war sie schon voll. Trotzdem stach Jack Laidlaw heraus, war leicht zu entdecken, fast als würde er radioaktiv strahlen. Ben Finlay saß an einem Tisch, vor sich jede Menge Drinks, zu denen er noch nicht gekommen war, außerdem zerknülltes Geschenkpapier. Ein Abschiedsgeschenk, eine Ausgabe des Playboy, wurde mit ausgeklappter Panoramaseite herumgereicht. Die wenigen im Raum verteilten Frauen lächelten verkniffen, sie wussten, von ihnen wurde erwartet, dass sie mitspielten. Größtenteils waren sie Hilfskräfte – die berühmten Tippsen –, auch ein oder zwei Constables befanden sich darunter, aber geschminkt und in Zivil waren sie kaum wiederzuerkennen.

Lilley schlängelte sich durchs Gedränge bis zum Tresen, wo Laidlaw stand, Whisky trank und zwischendurch an seiner Zigarette zog. Er war ein gut aussehender Mann mit breiten Schultern und markantem Kinn, wirkte aber, als wäre er mit seinem Los nicht besonders zufrieden – als hätte ihn das Leben mit Ende dreißig bereits einem harten Verhör unterzogen. Er schleppte schweres Gepäck mit sich herum – Lilley kannte zumindest ein paar der Geschichten –, aber sein Urteil konnte er sich auch später noch bilden …

»Wollte dich eigentlich schon auf der Wache erwischen. Ich bin DS Lilley. Bob für dich.« Er streckte ihm die Hand hin, die Laidlaw annahm und eine Augenbraue hochzog.

»Mitglied in der Bruderschaft der Nicht-Freimaurer, wie du«, meinte er.

»Hab beim Vorsprechen gepatzt, als ich laut losgelacht habe. Was trinkst du?«

»Antiquary.«

Der Barmann stand jetzt vor ihnen, ein Schweißfilm bedeckte seine Stirn. »Das erste Getränk ist schon bezahlt, Bob«, sagte er.

»Dann zwei Antiquarys.«

»Offenbar haben wir das John Rhodes’ Großzügigkeit zu verdanken«, erklärte Laidlaw.

»Lassen wir uns jetzt von Gangstern Drinks spendieren?«

»Warum mit alten Gewohnheiten brechen? Außerdem ist es nett, nett zu sein – John versteht das.«

»Kennst du ihn?«

»Hatte ein paar Mal das Vergnügen.«

»Und Cam Colvin?«

»Mit dem weniger. Der ist ein Verbrecher, der sich mit Leuten umgibt, die ihn an sich selbst erinnern.«

»John Rhodes nicht?«

»John mag Menschen, die innen genauso viele Narben haben wie außen, aber er selbst ist nicht so.« Laidlaw leerte sein Glas, als der zweite Whisky kam. Er sah sich in der Kneipe um. »Ist dir schon mal aufgefallen, dass Polizisten nie einfach nur so in ein Pub gehen? Es ist eher, als würden sie’s vorübergehend besetzen.«

»Für mich sieht’s aus, als würde sich die Studentenvereinigung der Uni Stirling auf den Besuch der Königin vorbereiten.« Lilley zeigte auf Finlays Tisch. »Hab ich die Reden verpasst?«

»Gab nur eine – Commander Frederick. Er hat die ganzen Sprüche runtergeleiert, ›pflichtbewusst‹, ›hochgeschätzt‹, ›unersetzlich‹.«

Lilley schnaubte. »Sein Nachfolger ist längst auf dem Posten.«

»Du bist wohl kein Fan?«

»Ben ist nett, ein Teamplayer und alles. Aber er könnte nicht mal aufklären, wer im Kuhstall gekackt hat.«

»Hab ihn immer gemocht. Einmal hat er mir einen guten Rat gegeben.«

»Ach ja und welchen?«

»Wenn er an einem Fall arbeitet, hat er gesagt, übernachtet er oft in einem Hotel in der Stadt. Dadurch spart er sich die Fahrerei und bleibt mit dem Kopf bei der Sache.«

»Na ja, da kann was dran sein«, räumte Lilley ein. »Wie ein Chirurg, der die OP-Handschuhe in den Müll schmeißt, bevor er nach Hause fährt. Du willst den Job ja nicht mitnehmen und dir das Abendessen vergiften.«

»Ich würde jeden Tag einen neuen Kopf brauchen, Bob, und nicht mal auf dem Barras gibt’s welche zu kaufen.« Laidlaw nahm eine neue Zigarette aus dem Päckchen. Er bot Lilley eine an, der schüttelte den Kopf. Eine Hand landete schwer auf Lilleys Schulter. Als er sich umdrehte, stand der grinsende Ernie Milligan hinter ihm.

»Alles klar, Bob?«, fragte Milligan.

»Das ist DI Milligan«, sagte Lilley zu Laidlaw.

»Jack kennt mich«, fiel Milligan ihm ins Wort. Demonstrativ musterte er Laidlaws Aufmachung. »Geh zu Rowan, Mann, sag denen, ich hab dich geschickt. Du siehst aus wie das Gegenteil von professionell, was auch immer das ist.« Dann zum Barmann: »Zwei Lager, zwei Heavy.«

Milligans Gesicht war gerötet, seine Krawatte gelockert. Sein Haar wurde bereits grau und er trug es länger, als dem Commander lieb war, angeblich weil er damit in der Öffentlichkeit unauffälliger wirkte – so wie ein Scheunentor auf einem Festival von Gartenrechen unauffällig wirkt. Lilley hatte die Veränderung an Laidlaw beobachtet, sein ganzes Gefüge verspannte sich in Milligans Gegenwart wie eine Falle, deren Tarnung aufgehoben war.

»Vor Urzeiten haben wir mal als DCs zusammengearbeitet«, fuhr Milligan fort, ohne sich dabei bewusst zu sein, wie nah er Feindschaft in ihrer reinsten Form gekommen war. »Einer von uns beiden ist die Karriereleiter immer weiter aufgestiegen, und der andere hockt immer noch ganz unten, hat schreckliche Höhenangst.«

Das Tablett mit dem Bier kam jetzt, Milligan packte es fest, zwinkerte Laidlaw kurz zu, bevor er wieder durch die Menge pflügte.

»Weißt du, ich hab nichts gegen Polizisten wie Ben Finlay«, sagte Laidlaw leise. »Mag sein, dass er kein Genie ist, aber er kennt den Unterschied zwischen richtig und falsch.«

»Willst du sagen, Ernie Milligan kennt ihn nicht?«

»Ich sage nur, in einer Uniform mit Hakenkreuz am Ärmel wäre er genauso zufrieden. Solange man ihn den Job machen lässt, wie er es für richtig hält, beklagt er sich nicht und denkt nicht drüber nach.«

»Wieso hab ich das Gefühl, dass du ihm das schon mal ins Gesicht gesagt hast?«

»Manchmal muss man ein Buch eben doch nach dem Umschlag beurteilen. Bei Milligan steht alles auf dem Deckel.« Laidlaw trank seinen Whisky aus

»Apropos Bücher, ich bin zufällig an deinem Schreibtisch vorbeigegangen. Nicht gerade das sonst übliche Strafrecht und die Straßenverkehrsordnung, was da liegt …«

Laidlaw hätte fast gegrinst. »Unamuno, Kierkegaard und Camus.«

»Sollte uns wohl dran erinnern, dass du an der Uni studiert hast?«

»Nur ein Jahr, das muss man nicht an die große Glocke hängen.«

»Wozu liegen die denn sonst da?«

»Wir wissen, womit ein Verbrechen endet«, erklärte Laidlaw. »Vielleicht mit einer Leiche, einer Gerichtsverhandlung oder damit, dass jemand ins Gefängnis kommt. Aber womit fängt es an? Das ist eine viel heiklere Frage. Wenn wir an solche Ursprünge zurückdenken, könnten wir Verbrechen vielleicht von vornherein verhindern.«

»Verbrechensprävention gibt es schon.«

Laidlaw schüttelte den Kopf. »Wir brauchen weniger Cops wie dich und mich und mehr Soziologen und Philosophen. Deshalb die Bücher.«

»Sokrates auf Streife nach einem Spiel der Rangers gegen Celtic in Gallowgate, das würde ich gerne mal sehen.«

»Ich auch. Ehrlich.«

Hinter dem Tresen klingelte das Telefon schon seit ein paar Minuten, endlich hatte der Barmann eine kurze Verschnaufpause und ging dran, die Hand auf sein freies Ohr gepresst, um den Lärm abzuwehren. Er sah sich im Raum um, sagte etwas in den Hörer und ließ ihn dann einfach herunterhängen, während er jemanden suchen ging. Wenig später kam er mit dem Commander wieder. Welche Information Robert Frederick auch erhielt, sie schien ernüchternd zu wirken. Lilley und Laidlaw standen in seiner nächsten Nähe und er fixierte sie mit seinem Blick. Nachdem er aufgelegt hatte, sah er sie über den Tresen hinweg an, als wollte er ihnen eine ungewöhnlich hohe Rechnung zuschieben.

»Du bist noch nicht sehr lange da, Bob, oder?«, vergewisserte er sich.

»Tut mir leid, dass ich Ihre Rede verpasst habe, Sir. Jack hat mir schon die Highlights berichtet.«

Frederick ignorierte die Bemerkung. »Ihr müsst in ein Pub namens The Parlour. Hinter dem Haus wurde eine Leiche gefunden. Könnte vielleicht Bobby Carter sein.«

»Das ist in Calton«, stellte Laidlaw fest. »John Rhodes’ Gebiet.«

»Deshalb müssen wir behutsam vorgehen. Wird eine Weile dauern, bis die alle hier wieder zu gebrauchen sind, aber wir sind da, sobald es geht.«

»Botschaft angekommen«, sagte Lilley.

»Auch verstanden?« Fredericks Blick galt Laidlaw.

»Absolut«, erwiderte Laidlaw, sah dabei aber den Aschenbecher an, in dem er seine Zigarette ausdrückte.

4

EIN BLICK AUF DEN Toten genügte Lilley und Laidlaw. Sie zogen sich ins Parlour zurück und ließen die Spurensicherung ihre Arbeit machen. Ein Kranken- und zwei Polizeiwagen parkten mit blinkendem Blaulicht am Straßenrand. Wie Rauchzeichen hatte es die Ureinwohner der Gegend aus ihren Tipis gelockt. Im Parlour herrschte plötzlich Trubel. Einem Tisch jedoch hatte man ein bisschen Platz gelassen. Dort saß das junge Paar, das der Körpersprache der beiden nach zu urteilen nicht mehr lange ein Paar sein würde. Während Lilley zum Tresen ging, setzte Laidlaw sich zu ihnen.

»Ich bin DC Laidlaw«, erklärte er. »Ihr seid die beiden, die den Toten gefunden haben?«

Beide nickten, die Blicke starr auf die Batterie unberührter Getränke vor sich gerichtet. Anscheinend wollten alle in der Kneipe später sagen können, dass sie ihnen was ausgegeben hatten. Das waren ihre fünfzehn Minuten Ruhm, aber die Uhr tickte bereits.

»Ein Wagen bringt euch auf die Wache, damit wir eure Aussage aufnehmen können. Habt ihr niemanden gesehen?«

»Niemanden, der noch geatmet hat«, sagte der junge Mann, ließ einen Hauch der Großspurigkeit durchscheinen, die ihn wie Laidlaw vermutete, auch sonst eigen war. Er trug ein kariertes Sakko und ein Jeanshemd mit offenem Kragen. Seine Handrücken waren voller selbst gestochener Tattoos, wahrscheinlich noch aus seiner Schulzeit.

»Wie heißt du, junger Mann?« Laidlaw machte sich nicht die Mühe, sein Notizbuch herauszuziehen. Die beiden würden die ganze Geschichte schon bald in einem Vernehmungszimmer noch mal erzählen. Er wollte hier nur kurz einen ersten Eindruck gewinnen.

»Davie Anderson.«

»Und was machst du beruflich, Davie?«

»Kfz-Mechaniker.«

»Sicherer Job, denke ich. Und du, Liebes?«

»Ich bin Moira.«

»Konnten sich Moiras Mum und Dad auch noch einen Nachnamen leisten?«

»Macrae«

»Moira ist Kellnerin im Albany Hotel«, ergänzte Anderson.

»Vornehmer Laden. Habt ihr euch dort kennengelernt?«

»Ich reparier normalerweise keine Rolls-Royces. Wir sind uns in der Disco begegnet.«

»Ist das eure erste Verabredung?«

»Die zweite.«

Laidlaw tat, als würde er seine Umgebung mustern. »Alle Achtung, Davie, du weißt, wie man eine Lady verwöhnt.«

»Wir waren vorher beim Chinesen.«

»Und dann lieber hierher auf ’nen Absacker als zu Joanna oder ins Muscular Arms.« Laidlaw nickte verständnisvoll. »Anschließend hast du an die Gasse hinter dem Haus gedacht, oder? Ihr wohnt beide noch zu Hause, da ist drinnen nichts zu machen. Vom Wetter her nicht gerade der ideale Abend, aber was sein muss …«

»Er hat gesagt, er kennt eine Abkürzung«, fauchte Moira Macrae und verschränkte die Arme, schuf eine Barrikade, die sich nicht durchbrechen ließ.

»Wollte nur ein bisschen knutschen«, sagte Anderson.

»Weil man nur in einer dunklen Gasse, aber nicht an einer Bushaltestelle knutschen kann?«

Der junge Mann funkelte Laidlaw böse an. »Wir haben einen Toten gefunden, falls Sie das interessiert.«

»Mich interessiert alles, junger Mann. Kann man auch als Fluch bezeichnen. Ihr habt das Opfer nicht erkannt?«

»Ist er denn eins?« Moira Macrae starrte ihn an. »Wir waren nicht sicher.«

»Er wurde erstochen, so wie’s aussieht. Nach der Autopsie morgen erfahren wir hoffentlich mehr. Wir denken, er hieß Bobby Carter. Sagt euch das was?«

Laidlaw sah sie die Köpfe schütteln. Hinter ihm stand jetzt ein anderer Gast und stellte zwei frische Gläser auf den Tisch.

»Für den Schock.«

Laidlaw drehte sich zu dem Mann um. »Den beiden droht Herzversagen, wenn sie auch nur die Hälfte von dem trinken, was hier schon steht.«

Sein Blick wirkte wie Insektenvernichter, der Mann verzog sich torkelnd in die sichere Geborgenheit seines Wespenschwarms. Zwei Streifenpolizisten nahmen an verschiedenen Tischen Kontaktdaten auf. Laidlaw winkte einen mit gekrümmtem Finger zu sich.

»Unsere beiden Zeugen hier müssen zur Wache gebracht werden. Und wir brauchen sie relativ nüchtern, hol ein Tablett und schaff das Zeug hier weg.« Er nickte in Richtung der Getränke.

»Wahnsinnsverschwendung.«

»Ein Gedanke, der mir häufig kommt, wenn ich eine Uniform sehe.« Laidlaw war schon aufgestanden. Mit vier Schritten war er am Tresen, wo Bob Lilley sich vor gebannt lauschendem Publikum mit dem Barmann unterhielt.

»Wär nicht schlecht, wenn wir den Laden räumen könnten«, meinte Laidlaw.

»Sie machen Witze«, sagte der Barmann. »Hier war seit Monaten nicht mehr so viel los.«

»Vielleicht können Sie ja veranlassen, dass hier regelmäßig jemand ermordet wird. Kündigen Sie’s draußen auf einer Tafel an. Wenn Sie Hilfe brauchen, ist John Rhodes sicher zur Stelle. Ist sein Gebiet, das heißt, Sie werden ihm einen Anteil Ihrer Einnahmen abtreten. Kann mir vorstellen, dass doppelte Buchführung da ganz praktisch ist.«

Während Laidlaw sprach, zog eine beeindruckende Bandbreite an Gefühlsregungen über das Gesicht des Mannes.

»Weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er.

»Was Besseres fällt Ihnen nicht ein? Wie heißen Sie?«

»Das ist Conn Feeney«, schaltete sich Lilley ein. »Der Laden gehört ihm.«

»In Calton ›gehört‹ niemandem was«, korrigierte ihn Laidlaw. »Alle drücken an John Rhodes ab.« Dann wandte er sich wieder an Feeney. »Haben Sie den Toten gesehen?«

Feeney nickte.

»Auch erkannt?«

Wieder nickte er.

»Darf ich fragen wieso?«

»Viele kennen Bobby Carter.«

»War er hier schon mal was trinken?«

»Glaube kaum.«

»Nein, weil er zu Cam Colvin gehörte und der sich jetzt fragen wird, wie’s kommt, dass sein guter Freund und Geschäftspartner aufgespießt wie ein Schaschlik hinter einem Pub von John Rhodes liegt.«

»Das ist mein Pub, hab’s gekauft und bezahlt.« Allmählich sträubten sich Feeneys Nackenhaare. Laidlaw zündete sich eine Zigarette an, ließ sich Zeit dabei.

»Und ich wette, Sie zahlen trotzdem.« Der Rauch quoll aus seiner Nase. Ihm fiel auf, dass Lilleys Notizbuch auf dem Tresen lag, ein Stift auf einer leeren Seite. »Hast du schon genug zum Weitermachen?«, fragte Laidlaw.

»Schwer zu sagen«, erwiderte Lilley.

»Lass dich von mir nicht aufhalten. Ich warte im Wagen.«

Fünf Minuten später fand Lilley ihn wieder, allerdings nicht im Wagen. Lilleys Triumph Toledo parkte auf der gegenüberliegenden Straßenseite, niemand saß drin. Laidlaw ging daneben auf und ab, betrachtete die dunklen Fenster der Anwohner.

»Was hat er hier gewollt, Bob?«, fragte er, als Lilley zu ihm stieß. »Das ist erstens feindliches Gebiet und zweitens ein schwarzes Loch, in Hinblick aufs Nachtleben. Es gibt das Parlour, einen Chinesen ganz hinten an der Ecke zur Hauptstraße und einen schmierigen Imbiss. Wohnungen für Leute, die wünschten, sie könnten sich anderswo eine leisten. Ein paar Bauhöfe und brachliegende Grundstücke für Investoren mit mehr Geld als Verstand.«

»Spielst du jetzt Sokrates?«

Laidlaw hörte nicht hin. Lilley war eine Wand, von der seine Worte zu ihm selbst zurückprallten. »Hat er sich im Pub mit jemandem getroffen? Das hätte er sich zweimal überlegt – es ist zu klein, zu viele Neugierige –, also lieber hinter dem Haus? Heißt das, es war jemand, den er kannte und dem er vertraute?« Laidlaw schnippte seinen Zigarettenstummel auf den rissigen Asphalt.

»Fragen für morgen«, schlug Lilley vor, der plötzlich demonstrativ seiner Armbanduhr Aufmerksamkeit schenkte. »Soll ich dich nach Hause fahren?«

»Nicht nötig.«

»Wo wohnst du überhaupt?«

»Simshill.«

»Verheiratet?«

»Drei Kinder.«

Lilley schien drauf zu warten, dass Laidlaw sich umgekehrt auch nach seinem Familienstand erkundigte, aber stattdessen drehte er sich um und ging wieder in Gedanken verloren Richtung Hauptstraße. Auf halbem Weg blieb er stehen und betrachtete noch einmal die Fassade des Pubs. Dort stand er immer noch, als Lilley an ihm vorbeifuhr.

»Komischer Kerl«, sagte Lilley leise zu sich selbst. Und fragte sich, ob die Abschiedsfeier noch im Gange war …

ZWEITER TAG

5

AM NÄCHSTEN MORGEN schloss Lilley gerade den Toledo ab, als er Laidlaw zu Fuß auf die Central Division zukommen sah. Sie war untergebracht in einem roten Backsteingebäude in der St. Andrew’s Street Ecke Turnbull Street. Laidlaw beäugte es misstrauisch, als würde er Sprengfallen vermuten. Als er auf die Gestalt aufmerksam wurde, die die Straße überquerte und auf ihn zukam, reagierte er sichtlich alarmiert, entspannte sich aber wieder, als er seinen Kollegen erkannte.

»Hast du keinen Führerschein?«, fragte Lilley ihn.

»Ich fahr lieber Bus. Das öffnet einem die Augen für die Umgebung und die Stadt. Manchmal nehm ich aber auch einen Glasgower Krankenwagen, wenn’s das Budget erlaubt oder notwendig ist.«

Lilley wusste, dass er Taxis meinte. Er musterte Laidlaw von oben bis unten: derselbe Anzug, dasselbe Hemd und dieselbe Krawatte wie am Vortag. »Du warst gestern Nacht nicht zu Hause«, stellte er fest.

»Kein Wunder, dass die dich zum Sergeant gemacht haben.«

»Wo hast du geschlafen?«

»Im Burleigh. In dem Hotel, das mir Ben Finlay gezeigt hat. Und um deine nächste Frage zu beantworten, manchmal kommt’s mir vor, als wär zu Hause zu weit weg.«

»Macht das deiner Frau nichts aus?«

»Sie heißt Ena.«

»Meine heißt Margaret. Wir haben zwei Töchter, beide schon so erwachsen, dass sie ausgezogen sind.«

Laidlaw hätte fast gegrinst. »Hat dir keine Ruhe gelassen, dass ich dich nicht danach gefragt habe.« Gemeinsam stiegen sie die Stufen zur Wache hinauf. »Also, was haben wir heute auf dem Zettel?«

»Werden wir gleich erfahren. Aber da täuschst du dich, dass es mir keine Ruhe gelassen hat.«

»Ist aber doch so, oder?« Laidlaw zog die Tür auf und trat vor Bob Lilley ein.

Das Glasgower Leichenschauhaus, in unmittelbarer Nachbarschaft zum High Court und gegenüber dem Glasgow Green, war ein Paradebeispiel für Anonymität, anders als sein prachtvoller Nachbar nur ein Stockwerk hoch und ausschließlich von trauernden Angehörigen oder Menschen frequentiert, die beruflich dort zu tun hatten. Die Ehefrau des Verstorbenen war in den frühen Morgenstunden nach Mitternacht hergebracht worden, um den Leichnam zu identifizieren. Als Laidlaw und Lilley den Obduktionsraum erreichten, stellten sie fest, dass die Untersuchung bereits abgeschlossen war. Ein Mitarbeiter flickte den Toten gerade wieder zusammen, hielt die Nase dabei merkwürdig dicht an dessen Fleisch. Laidlaw hoffte, Kurzsichtigkeit sei der alleinige Grund und keine makabren Vorlieben. Sie traten gerade noch rechtzeitig wieder in den Gang hinaus, um den Pathologen zu erwischen. Er trug seinen Krankenhauskittel, darüber eine knielange, blutverschmierte Schürze. Die grünen Gummistiefel an seinen Füßen reichten ihm knapp über die Knöchel. Er trocknete sich die Hände ab, als die beiden Detectives näher kamen.

»Punkt zehn, hat man uns gesagt«, fing Laidlaw an.

»Da wurden Sie falsch informiert.«

»Das wird unserem Chef nicht gefallen«, setzte Lilley nach.

»Was Ihrem Chef gefällt, hat bei mir nicht oberste Priorität, DS Lilley. Wollen Sie die frohe Botschaft hören oder nicht?« Keiner der beiden antwortete, eine Antwort war nicht nötig. »Fünf Stichwunden, alle vom selben Messer. Vermutlich eine zweieinhalb Zentimeter breite Klinge. Der tiefste Einstich misst zehn Zentimeter, beginnt unterhalb des Brustkorbs und reicht bis ins Herz. Das war mit fast hundertprozentiger Sicherheit auch die Todesursache. Der wievielte Stich es war, kann ich nicht feststellen. Keine Anzeichen dafür, dass er sich gewehrt hat – keine Schnittwunden an den Händen, zum Beispiel. Eine Machete, ein Teppichmesser oder ein Rasiermesser kann es nicht gewesen sein.«

»Also keine Gang von Jugendlichen«, konstatierte Laidlaw.

»Fürs Spekulieren seid ihr zuständig; ich bleibe bei den Fakten.«

»Wie lange war er tot?«

»Zwei oder drei Tage. Der Inhalt seiner Taschen ist auf dem Weg ins Labor, genauso wie seine Kleidung und die Schuhe.«

»Hatte er Geld dabei?«

»Knapp sechzig Pfund.«

»Dann kommt ein Raubüberfall wohl nicht infrage«, meinte Lilley.

»Außerdem hatte er eine gute Armbanduhr um – eine Longines. Das Hemd und die Jacke waren von Aquascutum. Soweit ich weiß, wohnt die Familie in Bearsden.«

»Manchmal müssen sogar Leute mit Geld dran glauben.«

»Vor allem solche, die mit Cam Colvin befreundet sind.« Der Pathologe schien mit der Wirkung seiner Worte zufrieden.

»Er hat die Witwe zur Identifizierung begleitet. Ist sehr behutsam mit ihr umgegangen, muss ich schon sagen.«

»Hat er mit Ihnen geredet?«, erkundigte sich Laidlaw.

»Ich habe mich respektvoll ferngehalten.«

»Respektvoll im Sinne von ängstlich? Wer war von uns da?«

»Unser gemeinsamer Freund.« Dieses Mal galt sein Blick Laidlaw allein.

»Milligan?«, riet dieser.

»DI Milligan hat mir gesagt, ihm wurde die Leitung der Ermittlungen übertragen. Das muss Sie doch mit ebenso großer Zuversicht erfüllen wie mich, DC Laidlaw.«

»Hat Milligan mit Colvin gesprochen?«

»Ein paar Worte im Rausgehen.«

»Wie kam Ihnen die Frau vor?«

»Völlig am Boden zerstört. Sowas ist der Grund, warum wir einen Schallschutz angebracht haben.«

Die drei Männer verstummten, als die Bahre mit Bobby Carters Leiche an ihnen vorbei ins Kühlhaus geschoben wurde. Sie war vollständig von einem Laken bedeckt. Laidlaw hatte gute Lust, den Mitarbeiter zu bitten, kurz stehen zu bleiben, damit er einen Blick auf das Gesicht des Toten werfen könnte, tat es aber nicht.