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William McIlvanney

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  • Herausgeber: Kunstmann, A
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2014
Beschreibung

Als die Leiche einer jungen Frau im Kelvingrove Park in Glasgow gefunden wird, beginnt für Detective Jack Laidlaw ein tödlicher Wettlauf mit der Zeit. Denn in dieser Stadt voll harter Männer, mächtiger Gangster und skrupelloser Geschäftemacher ist nicht nur der charismatische Detective auf der Suche nach dem Mörder. Hier will sich keiner die Geschäfte verderben lassen, hier haben die Gangster einen eigenen Begriff von Moral und hier schweigen die Väter und sinnen nach Rache. Und Jack Laidlaw weiß, dass er den Mörder zuerst finden muss, wenn er einen weiteren Mord verhindern will … William McIlvanneys Romane um den legendären Ermittler Jack Laidlaw sind in Großbritannien schon lange Kult und gehören schlicht zum Besten, was Kriminalliteratur zu bieten hat.

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Seitenzahl: 327

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William McIlvanney

LAIDLAW

Kriminalroman

Aus dem Englischenvon Conny Lösch

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Verlag Antje Kunstmann

1

RENNEN WAR SO EINE SACHE. Der Klang, wenn deine Füße auf den Gehweg klatschten. Die Lichter vorbeifahrender Autos, die dir in die Augen stachen. Deine Arme, die wie aus dem Nichts vor dir auftauchten, losgelöst voneinander und von dir. Wie die Hände Ertrinkender, sehr vieler Ertrinkender. Das alles half dir nichts. Wie nach einem Autounfall: der Fahrer ist längst tot, aber das Radio dudelt weiter.

Jemand mit Kappe sagte: »Wo brennt’s denn, mein Sohn?«

Rennen war eine riskante Sache. Eine riesengroße Plakatwand der Panik, eine Neonreklame der Schuld. Gehen war sicher. Einen Spaziergang konnte man wie eine Maske tragen. Schlendern. Spaziergänger sind normal.

Es hatte keine Vorwarnung gegeben. Du hattest noch denselben Anzug an, die Krawatte mit Bedacht ausgewählt, im Bus hat dir der Schaffner aus Versehen falsch rausgegeben. Eine halbe Stunde vorher hast du noch gelacht. Dann wurden deine Hände zum Hinterhalt. Wurden zu Verrätern an dir. Es ging so schnell. Deine Hände, die sonst Tassen anhoben, Münzen zählten und Leuten winkten, wurden plötzlich zum Aufruhr, zur vorübergehenden Raserei. Mit lebenslangen Konsequenzen.

Und plötzlich hatte alles eine andere Bedeutung. Keine mehr oder zu viele, auf jeden Fall rätselhaft. Dein Körper war ein fremder Ort. Deine Hände waren hässlich. In deinem Inneren waren lauter Verstecke, dunkle Winkel. Aus welchen Ritzen kamen die Kreaturen gekrochen, die dich missbrauchten? Gewiss von keinem dir bekannten Ort.

Aber welchen Ort kanntest du schon? Nicht mal diesen hier, an dem du dich zu Leuten gesellt hast, als wärst du ein Mensch. In der Milchglasscheibe konntest du sehen, für wen sie dich hielten. Sein Haar war schwarz, die Augen braun, sein Mund schrie nicht. Seine Hässlichkeit war dir zuwider. Da war eine grüne Flasche, darin etwas, das wie ein Farn aussah. Eine Nase mit riesigen Nasenlöchern. Auf der schwarzen Oberfläche waren Schmierstreifen, jemand hatte mit einem Tuch darübergewischt. Ein Mann redete.

»Meine Frau, weißt du?« Er sprach dorthin, wo du eigentlich stehen müsstest. »Weißt du, wenn ich heut Nacht nach Hause geh? Da gibt’s Krieg. War seit gestern Morgen nicht mehr da. Hab nach Feierabend einen alten Freund getroffen. Gott, was haben wir gesoffen, einen nach dem anderen. Hab ihm geholfen, über den Tod seiner Frau wegzukommen. Ist vor zehn Jahren gestorben.« Er nahm einen Schluck. »Ich glaub, ich lass mich überfahren. Hab ich wenigstens ne Ausrede.«

Früher hast du auch gedacht, so was könnte ein Problem sein. Hast geweint, weil du eine Vase kaputt gemacht hast, die deine Mutter sehr mochte. Hast die Scherben im Schrank versteckt. Hattest Angst, zu spät zu kommen, andere zu verärgern oder was Falsches zu sagen. Die Zeit wird nie wieder kommen.

Alles hat sich verändert. Du konntest in dieser Stadt herumgehen, so lange du wolltest. Sie hat dich nicht gekannt. Aber du kanntest jedes Viertel beim Namen. Doch keins hat geantwortet. St. George’s Cross, wo die vielen Autos fuhren und Ziele erfanden für die, die drinsaßen. Die Autos beherrschten die Menschen. Sauchiehall Street war ein Friedhof aus angestrahlten Grabsteinen. Buchanan Street eine Rolltreppe voll mit Fremden.

George Square. Du hättest es wissen müssen. Wie oft hast du dort auf einen der Busse gewartet, die die ganze Nacht durchfahren? Der Platz hat dich zurückgewiesen. Deine Vergangenheit bedeutete nichts. Selbst der schwarze Mann auf dem schwarzen Pferd stammte aus einem anderen Land und einer anderen Zeit. Sir John Moore. They buried him darkly at dead of night. Wer hat dir seinen Namen gesagt? Dein müder Englischlehrer. Yawner Johnson. Ständig hat er gegähnt und zwischendurch interessante Sachen erzählt. Nur die Wahrheit hat er dir nie gesagt. Niemand hat das getan. Und das war die Wahrheit.

Du bist ein Ungeheuer. Wie konntest du das nur so lange vor dir selbst verbergen? Ein Zaubertrick – du hast zwanzig Jahre lang jongliert mit deinem Lächeln, deinem Nicken, mit Messer und Gabel, dem Gang zum Bus und dem Umblättern der Zeitungsseiten, damit dein Leben im Nebel verschwamm, hinter dem du das, was du wirklich bist, verstecken konntest. Bis es vorstellig wurde. Ich bin du.

George Square hatte nichts mit dir zu tun. Er gehörte den drei Jungen, die auf der Rückenlehne einer Bank wie auf einem Drahtseil balancierten, den Schlange stehenden Menschen an den Bushaltestellen, auf dem Nachhauseweg. Du kannst nie mehr nach Hause.

Du kannst nur gehen und dort, wohin du gehst, abgewiesen werden, aber von leer stehenden Häusern nicht. Sie waren große Dunkelheiten, bargen alte Trauer und entsetzliche Wut. Sie waren Gefängnisse der Vergangenheit. Sie hießen Geister willkommen.

Der Eingang war modrig. Die Dunkelheit wohltuend. Du hast dich durch Gerüche getastet. Das leise Huschen mussten Ratten sein. Da war eine Treppe, die gefährlich gewesen wäre für einen, der noch was zu verlieren hatte. Oben war eine Tür kaputt. Sie ließ sich zuziehen. Von der Straße drang trübes Licht herein. Der Raum war sehr leer, abgebröckelter Putz lag auf dem Boden.

Seltsam, wie wenig Blut da war, nur ein paar dunkle Flecken auf der Hose, man konnte sich vorstellen, es sei nie geschehen. Aber es war geschehen. Jetzt bist du hier. Als hättest du Lepra. Du bist der Aussätzige, die Seuche lauert huckepack auf deinem Rücken.

Die Einsamkeit war, was du aus dir gemacht hattest. Die Kälte war gerecht. Von jetzt an würdest du alleine sein. Das hast du verdient. Die Stadt draußen hasst dich. Vielleicht hat sie dich immer schon ausgeschlossen. Sie war sich ihrer selbst immer so sicher gewesen, so voller Menschen, die Türen nicht vorsichtig öffneten, vielmehr großspurig ausschritten. Eine harte Stadt. Jetzt wendet sich ihre ganze Härte gegen dich. Eine Menge aus verbitterten Gesichtern, die dich anstarren, ein wütender Mob, der dich umzingelt. Und du hast keine Chance.

Nichts zu machen. Setz dich, werde der, der du bist. Gestehe dir den gerechten Zorn aller ein. In der ganzen Stadt gibt es niemanden, der verstehen könnte, was du getan hast, niemanden, mit dem du es teilen kannst. Niemanden, niemanden.

2

LAIDLAW SASS AN SEINEM SCHREIBTISCH und empfand eine ihm nicht ganz unvertraute Trostlosigkeit. Zeitweise büßte er dafür, er selbst zu sein. Wenn ihn diese Stimmung packte, war ihm alles egal. Nichts, das er sich vorstellen konnte, hätte ihm Befriedigung verschafft, kein Erfolg, kein Lebensstil, kein Wunschtraum und auch nicht dessen Erfüllung.

Die vergangene Nacht und der heutige Morgen hatten es nicht besser gemacht. Irgendwann hatte er Bob Lilley und den anderen schließlich die Observierung in Dumfries überlassen. Aufgrund glaubhafter Informationen waren sie einem Wagen aus Glasgow gefolgt. Über verschlungene Umwege hatte er sie nach Dumfries geführt. Soweit Laidlaw wusste, parkte er dort immer noch – auf dem brachliegenden Gelände nebem dem Pub. Nichts war passiert. Anstatt die Verdächtigen auf frischer Tat bei einem Einbruch zu ertappen, folgten drei Stunden Nasebohren. Er hatte die Kollegen sitzen lassen und war ins Büro zurückgekehrt. Schwermut, süße Schwermut.

Seltsam, dass dieses wiederkehrende Gefühl seit jeher zu ihm gehörte. Schon als Kind hatte er es in besonderer Form verspürt. Er erinnerte sich an Nächte, in denen ihn die Schrecken der Dunkelheit ins Schlafzimmer seiner Eltern getrieben hatten. Er musste meilenweit gerannt sein in seinem Bett. Es hätte ihn nicht gewundert, hätte seine Mutter die Laken wechseln müssen. Da waren Fledermäuse und Bären, Wölfe schlichen an der Tapete entlang. Die Spinnen waren die schlimmsten, große haarige Biester, mit mehr Beinen als eine Truppe Revuetänzerinnen.

Heutzutage waren die Ungeheuer weniger exotisch, gleichzeitig aber unausweichlicher. Er trank zu viel – nicht aus Vergnügen, eher systematisch, als wär’s verschnittener Schierling. Seine Ehe war ein Labyrinth ohne Ausweg, eine Unendlichkeit an Gewohnheiten, Kränkungen und Betrügereien, die Ena und er getrennt durchirrten, dabei unterwegs ab und zu ihren Kindern begegneten. Er war Polizist, Detective Inspector, und fragte sich immer öfter, wie es dazu hatte kommen können. Und er war fast vierzig.

Er betrachtete das Durcheinander auf seinem Schreibtisch. Als hätte ihm das Schicksal auf der einsamen Insel seiner Gefühle nicht mehr gelassen: zwei Gesetzbücher mit schwarzem Einband, das Scottish Criminal Law und das Road Traffic Law, den roten MacDonald’s mit Präzedenzfällen und das blaue Buch mit den Kommentaren, außerdem der Ordner über britische Kriminalfälle und ein anderer mit Fallberichten. Er fragte sich, wie man daraus Erfüllung gewinnen sollte.

Ihm war bewusst, wie aufgeräumt Bob Lilleys Schreibtisch gegenüber wirkte. War Ordnung gleich Zufriedenheit? Er blickte auf die Pinnwand neben der Tür: Dienstpläne, Mitteilungen, ein Foto des »Totengräbers« – ein Hochstapler, für den Laidlaw etwas übrighatte –, Überstundenvergütung, die Teilnehmerliste einer Tanzveranstaltung des Crime Squad. Mit diesen Bruchstücken stützte ich meine Trümmer.

Im Kern dieser Stimmung waren Schuldgefühle, dachte er und staunte wieder einmal über die Erkenntnis. Das Bedürfnis, ständig die Asche der eigenen Vergangenheit zu durchsieben, hatten ihm gewiss nicht seine Eltern eingeimpft. Sie hatten ihr Möglichstes getan, ihn sich ihm selbst zum Geschenk zu machen. Vielleicht bekam man als gebürtiger Schotte Gewissensbisse gleich mit in die Wiege gelegt, und eine ordentliche Portion Calvinismus verhinderte, dass man je mündig wurde, sodass ein Großteil der aufgebrachten Energie in Form von Schuld auf einen selbst zurückschlug. Jedenfalls war das bei ihm so.

Erneut erschien ihm sein eigener Charakter als verschlungenes Paradox. Er war ein potenziell gewalttätiger Mensch, der Gewalt verabscheute, ein untreuer Verfechter der Treue, ein umtriebiger Mann, der sich danach sehnte, verstanden zu werden. Er war versucht, die Schublade seines Schreibtischs zu öffnen, in der er Kierkegaard, Camus und Unamuno wie einen geheimen Schnapsvorrat verwahrte. Stattdessen atmete er geräuschvoll aus und ordnete Papiere. Ihm fiel nichts Besseres ein, als die Paradoxa mit Leben zu erfüllen.

Als das Telefon klingelte, sah er gerade den Bericht durch. Einen Augenblick starrte er es an, als könnte er es damit zum Schweigen bringen. Dann griff seine Hand zum Hörer, bevor er es wollte.

»Ja. Laidlaw.« Die Härte und Festigkeit seiner Stimme verwunderte die Person, die dahinter kauerte – ein sprechender Fötus!

»Jack. Bert Malleson. Du hast gesagt, wenn sich was Interessantes ergibt, willst du’s wissen. Also: Wir haben Bud Lawson hier.«

»Bud Lawson?«

»Kannst du dich an einen Fall von schwerer Körperverletzung erinnern? Ist jetzt schon eine Weile her. In der Innenstadt. War ein Fall der Central Division. Aber das Crime Squad hatte auch damit zu tun. In der Seitenstraße zwischen Buchanan Street und Queen Street Station. Das Opfer wäre fast gestorben. Bud Lawson stand im Verdacht, aber bewiesen werden konnte ihm nichts. Irgendeine Verbindung gab’s. Irgendeinen Streit.«

»Ja.«

»Na ja, jetzt ist er hier. Kommt mir ein bisschen komisch vor. Er will seine Tochter vermisst melden. Weil sie gestern Nacht nicht vom Tanzen nach Hause kam. Ist aber erst ein paar Stunden her. Gibt mir zu denken. Vielleicht willst du mit ihm reden.«

Laidlaw wartete. Er war müde, würde bald nach Hause gehen. Es war Sonntag. Am liebsten hätte er sich reingelegt wie in eine heiße Badewanne, hätte sich am Ego gekratzt, da wo’s juckte. Aber er verstand, was Sergeant Malleson meinte. In ihrem Bemühen, ständig alles zu durchschauen, neigen Polizeibeamte dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Wowie! Zowie! Der Mann mit dem Röntgenblick. Vielleicht war was dran.

»Okay. Ich will mit ihm reden.«

»Ich lasse ihn hochbringen.«

Laidlaw legte auf und wartete. Als er den Fahrstuhl hörte, stellte er Bob Lilleys Stuhl vor seinen Schreibtisch und setzte sich wieder. Stimmen kamen näher, eine verzweifelte, die andere ruhig, wie ein von Gewissensbissen geplagter Sünder und ein müder Priester. Was gesagt wurde, konnte er nicht verstehen. Und er hatte es nicht eilig, es herauszufinden. Dann wurde geklopft. Er wartete die unvermeidbare Pause ab. Was sollte er solange machen, Schmuddelzeitschriften verstecken? Die Tür ging auf und Roberts führte den Mann herein.

Laidlaw stand auf. Er erinnerte sich an Bud Lawson. Sein Gesicht ließ sich nicht leicht vergessen. Es lag so viel Wut darin, dass es an der Fassade einer mittelalterlichen Kirche nicht aufgefallen wäre. Laidlaw hatte ihn zornig und in Rage erlebt, damals hatte Lawson Beweise verlangt, als wäre er bereit gewesen, sich darum zu prügeln. Aber jetzt war er nicht zornig oder vielmehr dem Unzornigen so nah, wie er nur sein konnte – was lediglich bedeutete, dass er seine Wut beiseitegeschoben hatte. Er hatte sie abtransportiert wie eine Lasterladung voller Eisenschrott, und jetzt suchte er jemanden, auf dem er sie abladen konnte. Unter seiner Jacke trug er ein am Kragen offenes Hemd. Ein Schal der Rangers lugte heraus.

Als er ihn betrachtete, sah Laidlaw einen Mann, der glaubte, das Gesetz selbst in die Hand nehmen zu dürfen, einen, der auf Rache sann. Immer gab es einen Schuldigen, der für das Geschehene verantwortlich war, und er selbst wollte es sein, der sich dessen annahm. Laidlaw war sicher, dass Lawsons Zorn vor Menschen nicht haltmachte. Er konnte sich vorstellen, wie er Krawatten zerriss, weil sie sich nicht binden ließen, oder undichte Zahnpastatuben auf dem Boden zertrampelte. Seine Gesichtszüge wirkten wie ein Streit, der sich nicht gewinnen ließ.

»Setzen Sie sich, Mr Lawson«, sagte Laidlaw.

Er setzte sich nicht, er sackte hin. Die Hände umklammerten die Knie, zwei kleine Megalithen. Aber seine Augen waren schreckhaft. Laidlaw schien, sie versuchten den Überblick über all die Unwägbarkeiten zu behalten, die ihm durch den Kopf schossen. In diesem Moment war er sicher, dass Bud Lawson sich aufrichtig sorgte. Zum ersten Mal ließ er Sergeant Mallesons Verdacht in Gedanken gelten, um ihn dann allerdings zurückzuweisen.

Mit dieser Feststellung überkam Laidlaw auch ein Anflug von Mitgefühl mit Bud Lawson. Er erinnerte sich, wie viel Druck sie auf ihn ausgeübt hatten, und bedauerte dies jetzt. Bud Lawson stand im Zwist mit der Welt. Aber wer kannte schon die genauen Gründe? Zweifellos gab es Schlimmeres. Was auch immer er getan haben mochte, seine Tochter schien ihm viel zu bedeuten.

Laidlaw setzte sich an seinen Schreibtisch. Er zog den Notizblock näher zu sich heran.

»Erzählen Sie mir, Mr Lawson«, sagte Laidlaw.

»Kann auch gar nichts sein.«

Laidlaw beobachtete ihn.

»Ich meine, ich weiß es nicht. Verstehen Sie? Sadie, meine Frau, kommt um vor Sorge. Das ist noch nie vorgekommen. So spät war’s noch nie.«

Laidlaw sah auf die Uhr. Es war halb sechs Uhr morgens.

»Ihre Tochter ist nicht nach Hause gekommen.«

»Genau.« Der Mann sah aus, als würde es ihm selbst gerade erst richtig bewusst. »Als ich weg bin, war sie noch nicht da.«

Laidlaw sah eine neue Angst im Blick des Mannes andere Ängste verdrängen – er fürchtete jetzt, sich zum Narren zu machen, während seine Tochter inzwischen zu Hause im Bett lag.

»Wie lange ist das her?«

»Zwei Stunden vielleicht.«

»Sie haben eine Weile gebraucht bis hierher.«

»Hab sie gesucht. Hab ein Auto, verstehen Sie? Bin ein bisschen rumgefahren.«

»Wo?«

»In der Gegend. Überall. Durch die Stadt. Bin fast durchgedreht. Als ich dann in der Stadt war, ist mir die Wache hier wieder eingefallen.« Es klang wie eine Kampfansage. »Und ich bin reingekommen.«

Laidlaw dachte, ein Fahrraddiebstahl wäre konkreter gewesen. Bud Lawson hatte übereilt und aller Wahrscheinlichkeit nach trotzig reagiert. Er brauchte die Polizei, zur Beruhigung. Was Laidlaw jetzt sagte, diente vor allem laienhaften therapeutischen Zwecken.

»Erzählen Sie lieber mal von Anfang an.«

Der wirre Bericht des Mannes floss wie durch einen Filter auf Laidlaws Notizblock.

Jennifer Lawson (18 Jahre). 24 Ardmore Crescent, Drumchapel. Hat am Samstag den 19. um 19 Uhr das Haus verlassen. Trug Jeansanzug, gelbe Plateauschuhe, ein rotes T-Shirt mit gelber Sonne vorne drauf, dazu eine braune Schultertasche. Sie ist 1,73 m groß, schlank, hat schulterlanges schwarzes Haar. Ein Muttermal auf der linken Schläfe. (»Das weiß ich, weil sie sich Sorgen gemacht hat, als sie klein war. Hat gedacht, damit hätte sie keine Chancen bei den Jungs. Sie wissen ja, wie Mädchen sind.«) Beruf: Verkäuferin (Treron’s). Angegebener Zielort: das »Poppies«, eine Disco.

Auf dem Papier wirkte es übersichtlich. In Bud Lawsons Gesicht herrschte dagegen Chaos. Laidlaw hatte getan, was er konnte. Er hatte ihm zwei professionell geschulte offene Ohren geschenkt.

»Also, Mr. Lawson. Im Moment können wir nichts weiter tun. Ich habe die Beschreibung. Wir werden sehen, ob sich was ergibt.«

»Sie meinen, das war’s?«

»Ist noch ein bisschen früh für einen landesweiten Ausnahmezustand, Mr Lawson.«

»Mein Mädchen ist verschwunden.«

»Das wissen wir noch nicht, Mr Lawson. Haben Sie Telefon?«

»Nein.«

»Vielleicht hat sie den Bus verpasst. Dann hätte sie keine Möglichkeit gehabt, Bescheid zu sagen. Oder sie übernachtet bei einem Freund.«

»Bei einem Freund? Das soll sie mal versuchen …«

»Mr Lawson, sie ist erwachsen.«

»Was Sie nicht sagen! Achtzehn ist sie. Und wann sie erwachsen ist, bestimme ich. Das ist das Problem heutzutage. Alle sind sie klüger als ihre Eltern. In meinem Haus gibt’s das nicht. Also, was zum Teufel unternehmen Sie jetzt?«

Laidlaw sagte nichts.

»Ach ja, ich hätt’s wissen müssen. Ist wegen mir, oder? Wär’s ein anderer, würden Sie sich ein Bein ausreißen.«

Laidlaw schüttelte den Kopf. Sein Mitgefühl war allmählich aufgebraucht.

»Ich lass mich nicht abwimmeln. Ich will, dass was passiert. Verstanden? Ich will, dass Sie was unternehmen.« Er wurde lauter. »Das ist das Problem heute überall auf der ganzen Welt. Niemand kümmert sich um irgendwas.«

»Halt!«, sagte Laidlaw und hob die Hand. Der Verkehr kam zum Stillstand.

Laidlaw beugte sich über den Tisch. »Ich bin Polizist, Mr Lawson. Kein Müllsack. Schreiben Sie Ihre Lebensphilosophie auf eine Postkarte und schicken Sie sie an wen Sie wollen. Aber verschonen Sie mich.«

Lawsons Schweigen war reine Konfrontation.

»Hören Sie«, fuhr Laidlaw fort. »Ich kann Ihre Sorge nachvollziehen. Aber im Augenblick werden Sie damit leben müssen. Kann gut sein, dass Jennifer heute Morgen noch nach Hause kommt. Ich denke, Sie sollten zu Ihrer Frau gehen und warten.«

Bud Lawson stand auf. Er wollte zur Tür, ging aber in die falsche Richtung. Eine Sekunde lang wirkte er seltsam verletzlich, und Laidlaw glaubte, durch den Spalt seiner Unschlüssigkeit eine andere Person unter der rauen Schale zu entdecken. Er erinnerte sich an seine eigene Zerbrechlichkeit von vor nur wenigen Minuten. Eine Schildkröte braucht ihren Panzer, weil ihr Fleisch so weich ist. Laidlaw hatte Mitleid mit ihm.

»Kommen Sie«, sagte er. »Ich zeige Ihnen den Ausgang.« Er hatte die Seite aus seinem Notizblock gerissen, hielt sie in der Hand. »Hier rauszufinden ist schlimmer als Kreuzworträtsel lösen.«

An der Tür fiel Laidlaw wieder ein, was Bob auf dem Tisch liegen hatte – eine beschriftete Kassette, die als Beweismittel in einem Fall dienen sollte. Er schloss das Büro ab und legte den Schlüssel auf den Türrahmen.

Bud Lawson ließ sich hinausführen. Über die Treppe gingen sie drei Stockwerke nach unten. Als sie am Empfang vorbeikamen, war sich Laidlaw der Blicke des Desk Sergeant bewusst, erwiderte diese jedoch nicht. Auf der Straße war der Morgen kühl. Würde ein schöner Tag werden.

»Hören Sie, Mr Lawson«, Laidlaw berührte ihn am Arm, »ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Wir wollen erst mal abwarten. Vielleicht sollten Sie sich darauf konzentrieren, Ihrer Frau zu helfen. Sie muss außer sich sein vor Sorge.«

»Pah!«, sagte Bud Lawson und ging zu seinem Triumph Baujahr 70, ein Mammut mit Fanschal.

Laidlaw war versucht, ihn zurückzurufen und das, was er zu sagen hatte, noch einmal anders zu formulieren, zum Beispiel mit den Händen am Jackettaufschlag. Aber er ließ den Moment verstreichen. Er dachte daran, was er unter Bud Lawsons Schutzpanzer entdeckt hatte. Als wäre er ihm zum ersten Mal begegnet und wollte die Bekanntschaft nicht verderben. Er atmete die von Abgasen und Fabrikgestank freie Luft und ging wieder rein.

Der Desk Sergeant sagte: »Nichts, Jack? Na ja, du hast es so gewollt. Ich wäre auch mit ihm klargekommen. Sei mir nicht böse, aber wieso willst du immer alles selbst in die Hand nehmen?«

»Wenn du den Kontakt zur vordersten Front verlierst, Bert, bist du tot«, erwiderte Laidlaw.

»Und du glaubst, du hast ihn verloren?«

Laidlaw sagte nichts. Er stützte sich auf den Tisch und notierte etwas auf einen Zettel, als Milligan hereinkam, ein wandelndes Scheunentor. Zurzeit war er ziemlich behaart, wollte zeigen, was für ein Freigeist er war. Sein fast vollständig ergrauter Kopf wirkte dadurch übergroß, wie ein öffentliches Denkmal. Laidlaw fiel wieder ein, dass er ihn nicht leiden konnte. Laidlaws Zweifel an seiner Tätigkeit hatten sich in letzter Zeit immer wieder auf ihn konzentriert. War es möglich, mit Milligan zu tun zu haben, Polizist zu sein und nicht zum Faschisten zu werden? Er zog sich in sich zurück, errichtete ein Absperrung um sich herum und hoffte, Milligan würde einfach weitergehen. Aber an Milligan führte kein Weg vorbei. Seine Laune war ein Spektakel.

»Was für ein Morgen!«, sagte Milligan. »Was! Für! Ein! Morgen! Ich komme mir vor wie der heilige Georg. Der Drache kann was erleben! Lieber Gott, führ mich zu den Bösewichtern, alles Weitere erledige ich selbst. Hab ich da gerade Bud Lawson auf der Straße gesehen? Was wollte der denn?«

»Seine Tochter ist nicht nach Hause gekommen.«

»Wer kann es ihr verdenken, bei dem Vater? Wenn sie auch nur halbwegs nach ihm geraten ist, hat sie wahrscheinlich ihren Freund verprügelt. Und wie sieht’s aus im hohen Norden, ehemaliger Kollege? Ich komme gerade von der Central Division, falls du Hilfe brauchst.«

Laidlaw schrieb weiter. Milligan legte ihm eine Hand auf die Schulter.

»Was ist los, Jack? Du wirkst gequält.«

»Du quälst mich.«

»Ah-ha!« Milligan lachte überheblich von seinem Bulldozer der geistreichen Bemerkungen herab.

»Aus dir spricht ein Magengeschwür. Schau, ich hab gute Laune. Was dagegen?«

»Nein. Aber würde es dir was ausmachen, deinen Maibaum woandershin zu schieben?«

Milligan lachte erneut.

»Jack! Mein in die Jahre gekommener Teenager. Manchmal überfällt mich das dringende Bedürfnis, deine Visage neu zu sortieren.«

»Dagegen solltest du ankämpfen«, sagte Laidlaw, ohne aufzublicken. »So was bezeichnet man auch als Todessehnsucht.«

Er steckte den Zettel zusammengefaltet in seine Innentasche.

»Hör mal, wenn du was über ein junges Mädchen erfährst, lass es mich wissen.«

»Was Persönliches, Jack? Hast du was damit zu tun?«

Der Sergeant grinste. Laidlaw nicht.

»Ja«, sagte er. »Ich kenne ihren Vater.«

3

SEINE HÄNDE, BLEICH IM VORÜBERZIEHENDEN LICHT, hoben sich und fielen hilflos auf das Lenkrad zurück. Sie waren riesig, hatten dreißig Jahre lang in der Werft Metallblech vernietet. Hilflosigkeit waren sie nicht gewohnt. Jetzt strahlten sie eine Wut aus, die sich in Ermangelung eines Angriffsziels gegen alles und jeden richtete. Bud Lawson war wütend auf Laidlaw, die Polizei, seine Tochter, seine Frau, die Stadt.

Er verabscheute die Strecke, die er nach Hause fahren musste: über die Autobahn zum Kreuz am Clyde Tunnel, Richtung Anniesland weiter und dann links ab auf die Great Western Road. Der erste Teil erinnerte ihn zu sehr an das, was sie der Stadt angetan hatten, die er einmal gekannt hatte. Riesige Autobahnauffahrten hatten die Vergangenheit verdrängt. Als würde man die Eingeweide eines Menschen durch Plastikschläuche ersetzen. Wieder dachte er an die Gorbals, die übervölkerte Wohnsiedlung, den Lärm, das Gefühl, seinen Nachbarn am Kopf kratzen zu können, wenn man sich im Bett nur genug streckte. Für ihn war’s ein verlorenes Paradies. Er wünschte sich dorthin zurück, als könnte er Jennifers Verschwinden dadurch ungeschehen machen.

Er wusste, dass es ernst war, schon weil sie ihm so etwas niemals freiwillig antun würde. Sie kannte die Regeln. Nur ein einziges Mal hatte sie je versucht, dagegen zu verstoßen: Als sie sich mit dem Katholiken traf. Aber dem hatte er ein Ende gemacht. Er hatte es nicht vergessen, und vergeben gleich gar nicht. Schon von Natur aus bewegte er sich auf eingefahrenen Gleisen. Für ihn gab es nur eine Linie. Wollte man anders fahren, hatte man in seinem Leben nichts zu suchen.

Diese Unbeweglichkeit wurde ihm jetzt zum Verhängnis. In gewisser Weise hatte er Jennifer längst verloren. Selbst wenn sie heute noch zurückkäme, hatte sie seiner Auffassung nach bereits genug verbrochen, um ihr Verhältnis zu ihm für immer zu zerstören. Mit brutaler Sentimentalität dachte er an vergangene Zeiten, als sie noch so war, wie er sie haben wollte. Er erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Ausflug ans Meer, da war sie drei gewesen. Der Sand hatte ihr nicht gefallen. Sie hatte die Füße eingezogen und geweint. Er erinnerte sich an Weihnachten, als er ihr ein Fahrrad geschenkt hatte. Sie war darübergefallen, weil sie zu der Stoffpuppe wollte, die Sadie für sie genäht hatte. Er erinnerte sich, wie sie angefangen hatte zu arbeiten. Und wie er abends auf sie gewartet hatte, bis sie zu Hause war.

Jetzt hatte er die Goodyear-Reifenfabrik hinter sich gelassen und befand sich inmitten der dreistöckigen grauen Wohnhäuser von Drumchapel. Zu Hause fühlte er sich hier nicht. Er hielt an, stieg aus und schloss den Wagen ab.

Als er reinkam, saß Sadie am Kamin. Sie trug den Morgenmantel, den sie aus dem Klub-Katalog ihrer Schwester Mary bestellt hatte. An ihr wirkten die aufgedruckten Blumen verwelkt. Sie blickte zu ihm auf, wie sie es immer tat, mit seitlich geneigtem Kopf, als wäre er so groß, dass sie sich nur noch an den Wänden entlang in die Räume schieben konnte. Mit ihrer puren Anwesenheit flehte sie auf eine Art um Entschuldigung, die ihn reizbar machte.

»Was gehört, Bud?«, fragte sie.

Er starrte auf das Spitzendeckchen, das vom Kaminsims hing, dort wo King Billy auf seinem Paradepferd thronte.

»Bin zur Polizei.«

»Ach nein, bist du nicht, oder?«

»Was zum Teufel soll ich machen? Mein Mädchen ist verschwunden.«

»Was haben sie gesagt?«

Er setzte sich und starrte ins Feuer.

»Jetzt wo ich da war, hoffe ich, dass wirklich was los ist.« Er sah auf die Uhr. Es war Viertel vor sieben. »Wenn jetzt nichts ist, schwör ich dir, es wird was sein, wenn ich sie in die Finger kriege.«

»Sag so was nicht, Bud.«

»Halt den Mund, Frau.«

Sein Schweigen erfüllte den schäbigen Raum. Er zog seinen Schal aus und warf ihn auf den Sessel hinter sich. Sadie schaukelte sachte, machte eine Wiege aus ihren Sorgen. Er blickte zu ihr rüber. Sie sah so unbedarft aus, dass ganz allmählich ein Verdacht in ihm Gestalt annahm.

»Du weißt doch nichts, das ich nicht weiß, oder?«

»Wie meinst du das?«

»Du weißt, was ich meine. So was hat sie in ihrem ganzen Leben noch nie gemacht. Die hatte doch nichts vor, wovon ich nichts weiß, oder?«

»Bud. Wie kannst du bloß so was denken? Ich verheimliche dir doch nichts.«

»Hast es schon mal versucht. Als sie mit dem Katholiken rumgemacht hat. Bis ich’s beendet hab.«

»Hab nichts davon gewusst. Erst als du’s rausgekriegt hast.«

»Jaja, hast du behauptet. Und du bleibst dabei. Bei euch weiß man nie, ob ihr nicht unter einer Decke steckt. Ich warne dich.«

Er starrte sie an, sie brachte ihn mit ihrer dürren Unterwürfigkeit auf. Ein einziges Kind. Mehr zu produzieren war sie nicht imstande gewesen. Dazu vier Fehlgeburten, kleine Bündel aus Blut und Knochen, die nicht genug von ihr bekommen hatten, um menschliche Wesen zu werden. In ihr war kein Platz, um weitere Kinder auszutragen. Sie sah seinen Blick und sprach zu einer Nebelwand.

»Willst du Tee, solange wir warten, Bud? Soll ich einen machen?«

Da er nicht Nein sagte, stand sie auf.

Eine ratlose Wut gärte in ihm. Normalerweise stürzte er sich frontal auf was auch immer ihm bedrohlich erschien. Diesmal war es anders. Der Dunst verdichtete sich. Und das, was anders war, ließ seine Wut ins Ungeheuerliche wachsen.

Sadie hatte immer wieder nachgelegt. Jetzt drohte das Feuer auszugehen. Er nahm den Schürhaken und hielt inne. Jennifer hatte eine Gasheizung einbauen wollen. Aber er mochte Kohle. Über diesen nebensächlichen Gedanken verlor er sich in einsamer Raserei.

Als er sich wieder beruhigt hatte, starrte er auf den jetzt völlig verbogenen Schürhaken in seinen Händen. Ein Schuldschein, ausgestellt auf einen Unbekannten.

4

DER JUNGE HATTE GESCHLAFEN. Dieser ungeheuerliche Umstand alleine versetzte ihn zurück in seinen eigenen Körper. Ein beängstigender Ort. Er wachte unbequem an der Wand liegend auf, dort wo ihn die Erschöpfung hingeworfen hatte. Sein Bewusstsein war plötzlich erloschen wie eine elektrische Birne. Jetzt hatte es sich abrupt wieder eingeschaltet. Er war noch er selbst.

Die schmutzige Tapete, an der sein Kopf lehnte, schien sich gegen ihn zu stemmen, als wollte sie vornüberkippen. Er hatte das Gefühl festzustecken, aufstehen und etwas zu unternehmen schien ihm unmöglich. Die Tragweite dessen, was er getan hatte, hatte sich im Verlauf der Nacht zur Tatsache verfestigt. Er wusste, dass es sie gab und sie unausweichlich war.

Und trotzdem war sie seltsamerweise noch nicht in ihn übergegangen. Dem Gefühl nach hatte er weniger etwas getan, als dass er Teil von etwas außerhalb seiner selbst geworden war, einer Explosion zum Beispiel. Er sah ihren Körper, ihre seltsam gespreizten Beine, der Kopf absurd menschlich geneigt, die Stellung, in die sie der Aufprall geworfen hatte. Sie tat ihm leid.

Aber er fragte sich, was sie da machte. Etwas hatte sich ereignet und er war nur ein Teil davon gewesen. Aber was war es gewesen? Er wusste es nicht. Er wusste, dass er sich in einem fremden Raum befand, dass er schmutzig war, dass er sehr fror. Von hier, wo er war, zu dem Geschehenen zu gelangen schien ihm unmöglich. Aber genau das musste er.

Es half nichts, die Augen zu verschließen und sich zu verstecken. Das schreckliche Fieber war vorbei. Der Luxus, von Schuld überwältigt zu werden, war verflogen. Er hatte geglaubt, darin zu ertrinken, aber stattdessen war er hier gestrandet. Jetzt musste er weitermachen, herausfinden, wie er mit dem Geschehenen leben würde.

Er versuchte aufzustehen und stellte fest, dass er es konnte. Der Schmerz in seinen Beinen kam daher, dass wieder etwas möglich war. Er betrachtete seine Hände, die automatisch den Staub von seinen Hosenbeinen klopften. Er ging los. Die Treppe, die ihm vollständig fremd war, vermittelte ihm das Gefühl, einen Ort zu verlassen, den er nie betreten hatte. An dem kaputten Geländer musste er vorsichtig sein. Licht fiel durch die verrostete Blechverkleidung draußen, wo er die Tür aufgestemmt hatte. Sie ließ sich mit der Hand beiseitebiegen und er spähte hinaus.

Die Straße war leer. Er trat hinaus. Einen Augenblick lang vertrieb das Sonnenlicht sein Vorhaben. Verwirrt stand er auf der leeren Straße, wurde Teil des Schmutzes und der Stille. Schwer zu sagen, ob er nach rechts oder links gehen sollte. Er ging nach rechts. Nach nur wenigen Metern gelangte er an eine Kreuzung. Jetzt erkannte er, wo er war.

Gegenüber lag Glasgow Green. Der Clyde floß hundert Meter weiter rechts. An einem echten Ort zu sein bedeutete, an einem Ort zu sein, wo man von Menschen gefunden werden konnte. Dieses Wissen erschreckte ihn, und die Angst setzte ihm ein zwiespältiges Ziel. Er überquerte die Straße.

Draußen vor dem Park stand eine Telefonzelle. Er ging hinein. Die Tür schlug hinter ihm zu, schubste ihn in die enge Kabine. Er hob den Hörer und hielt ihn an sein Ohr. Das Telefon funktionierte. Er hängte wieder ein. »Cumbie« war mit schwarzem Stift auf den Metallkasten gemalt, da wo man das Geld einwarf. Darüber stand »Blackie«. War »Blackie« der Name einer Gang? Ein Spitzname? Er nahm Kleingeld aus der Tasche und legte es auf die schmale schwarze Leiste. Er hob erneut den Hörer und hielt ihn wieder an sein Ohr.

Dann wählte er eine Nummer, ohne überlegen zu müssen. Als er es tuten hörte, staunte er, dass er etwas bewirkt hatte. Mit ängstlicher Geduld, gefangen im Schweigen der Stadt, wartete er, während das Telefon in die Ferne vorstieß, seine Isolation durchbrach.

5

DER RAUM WAR EIN EINZIGES SCHÄDELBRUMMEN. Wenn er hier aufwachte, musste Harry Rayburn immer erst mal mit sich selbst klarkommen. Hier verbrachte er den Großteil seiner Zeit, überall standen die Trümmer vergangener Standpunkte, die sich wiederum in einem unauflöslichen Zwist miteinander befanden, in dem er als äußerst erschöpfter Vorsitzender fungierte. Die beiden Beardsley-Drucke wirkten neben den gerahmten Boxerfotos verlegen. Das größte zeigte Marcel Cerdan. Der kunstvoll gemusterte Lampenschirm prallte auf die asketische Weißheit der Wände, gab dem Raum etwas von einem calvinistischen Bordell. Das runde Bett entsetzte ihn, verpflichtete ihn, nächtens in der eigenen Beschämung zu versinken. Sein Morgenmantel war ein Kimono.

Mehr als einmal hatte er hier gelegen und über seine Anmaßung gelacht. Der Raum war ein Schrank voller psychischer Verkleidungen. Aber an diesem Morgen hatte er keine Zeit, von seinen Versuchen Abstand zu nehmen, sich mit der eigenen Natur zu arrangieren. Das Telefon zog ihn aus dem Bett, und ohne weiter nachzudenken, warf er sich den Kimono über. Er stolperte in einer Verwirrtheit auf das Telefon zu, die teilweise seinem Kater geschuldet war, teilweise seinem Lebensstil. Augenblicklich packte ihn das schlechte Gewissen, in einem solchen Durcheinander ans Telefon zu gehen. Als er den Hörer abnahm, fuhr er sich mit der anderen Hand durchs Haar.

»Hallo?«

»Harry? Hier ist Tommy. Tommy Bryson.«

Der Name stach wie ein Speer.

»Tommy! Wo bist du? Willst du kommen?«

Ihm fiel auf, dass das letzte Wort seltsam klang, es sei denn, es bedeutete, nach oben, ins Zimmer. Wieder fingerte er in seinen Haaren herum.

»Ich kann nicht, Harry.«

So wie er den Namen aussprach, spaltete er Harrys Gefühle. Es war eine Bitte und Harry hatte sich danach gesehnt, aber sie war so mit Schmerz befrachtet, dass ihm davor graute, worin sie bestehen mochte. Er wartete ab, was er zu fühlen hatte.

»Es ist was passiert. Was Schreckliches.«

»Was denn, Tommy?«

»Ich brauche deine Hilfe. Ich hab ein Mädchen umgebracht.«

Die Aussage legte eine Wüste zwischen sie.

»Tommy«, sagte Harry.

Sie lauschten hoffnungslos ins Schweigen des anderen.

»Tommy.«

Der Name verklang. Harry war erstaunt, dass seine Stimme wusste, was sie sagen musste.

»Was soll ich machen? Was willst du?«

»Bring mir einen Zettel und einen Stift. Ich muss es aufschreiben. Ich muss wissen, was passiert ist.«

Erbärmlich, wie einer, der nach Hustenpastillen verlangt, obwohl er längst an Rachenkrebs stirbt.

»Aber würdest du bitte zuerst zu meiner Mutter gehen? Erinnerst du dich an die Adresse?«

»Ja, ich erinnere mich.«

»Erzähl ihr was. Denk dir was aus. Ich will nicht, dass sie zur Polizei geht. Das will ich nicht.«

»Du kannst herkommen, Tommy. Hier suchen sie dich nicht.«

»Nein, ich kann nicht«, sagte Tommy, »Nein, ich kann nicht.«

»Wo bist du?«

Die Pause diente der Selbsttäuschung, als gelte es über Vertrauen zu entscheiden, dabei war die Entscheidung längst gefallen.

»Ich bin in der Bridgegate. In der Nähe vom Jocelyn Square. Ein leer stehendes Haus. Über Alice’s Restaurant. Der Eingang ist mit Blech vernagelt, aber ich hab’s zurückgebogen. Komm noch nicht. Erst wenn sich alles beruhigt hat. Aber geh zu meiner Mutter. Jetzt gleich.«

»Tommy«, sagte Harry.

»Wirst du’s machen?«

»Ich mach’s.«

»Gut.«

»Ich liebe dich, Tommy. Vergiss das nicht.«

Aber er hatte schon aufgelegt. Erst als er es gesagt hatte, wurde Harry bewusst, dass es wirklich stimmte. Er legte ebenfalls auf und wusste, dass das Gespräch ein Ende markierte. Es war eine Art Ankunft. Er musste nicht mehr so tun, als würde es ihm nichts ausmachen, dass er Tommy seit zwei Wochen nicht mehr gesehen hatte. Alle falschen Vorspiegelungen, mit denen er sein Haus ausstaffiert hatte, waren hinfällig, oder zumindest ihre Zwangsläufigkeit. Sollte er irgendeine dieser Rollen noch einmal bemühen, dann nur um Tommy zu helfen.

Er wusste noch, was er Tommy beim letzten Mal gesagt hatte. »Du hast Angst, schwul zu sein. Aber ich weiß, dass ich’s bin.« Und obwohl er sich seine Homosexualität bereits vor langer Zeit eingestanden hatte, hatte er dies nur getan, um sich wirksamer vor anderen zu schützen. Sein ganzes Leben lang hatte er sich Eigenschaften zugelegt, die ihm nicht angeboren waren, ihm aber überleben helfen sollten. Die Härte seiner eigenen Erfahrungen ließ ihn Tommy augenblicklich vergeben, egal was er getan hatte. Ginge es nach Rayburn, so hätte jeder andere es verdient, für Tommy zum Sündenbock zu werden.

Die antrainierte Härte würde jetzt einem ehrenwerten Zweck dienen. Er würde Tommy helfen zu entkommen. Das war seine Rache an der eigenen Erfahrung.

6

EIN SONNTAG IM PARK – ein herrlicher Tag. Die Glasgower Sonne stand am Himmel, leuchtete stumpf, ein getrübtes Auge. Ein paar Leute im Park taten, als sei es warm, übten sich in der notwendigen schottischen Knickrigkeit, die ihnen befahl, jeden Schönwettertag zu horten, in der Hoffnung, irgendwann einmal einen Sommer zusammenzubekommen.

Das sich bietende Schauspiel war wetterbezogenes Method Acting – viele versuchten, einen subjektiven Glauben an die Wärme aufzubauen, hofften, sich gegenseitig zu überzeugen. Der Vater, der seine Kinder mit Blicken beisammenhielt, trug den Hemdkragen offen und ließ Sonne an seine Gänsehaut. Zwei Mädchen, die von drei Jungs angesprochen wurden, gelang es, eher romantisch zerzaust als schlotternd auszusehen. Ein alter Mann auf einer Bank hatte die beiden oberen Knöpfe seines Mantels aufgeknöpft, saß dort als Vorbote einer Hitzewelle. Irgendwo dudelte ein Transistorradio, das an Strände denken ließ. Die Menschen bewegten sich ohne Eile durch den Park, als wäre die Luft drückend heiß.

Die Kinder waren am überzeugendsten. Sie rannten umher, stromerten durchs Gebüsch, sie hatten eine Beschäftigung gefunden, die ein privates Klima schafft. Eines von ihnen stieß auf die Realität, die sich hinter der Farce von Wärme verbarg.

Ein ungefähr elfjähriger Junge mit Chrysanthemenhaar war allein unterwegs. Er lief durch den Park, beachtete niemanden, im Gesicht jenen abwesenden Ausdruck, den Kinder aufsetzen, wenn sie den Korridoren ihrer heimlichen Fantasien folgen. Er teilte das Gestrüpp, schlich um Bäume herum. Erkundete dicht gewachsene Sträucher, dann blieb er plötzlich stehen. Sein Kopf tauchte auf, sein Mund sperrangelweit geöffnet. Er sah aus, als sei ihm der Tag im Hals stecken geblieben.

Dann schrie er: »Mister! Hey, Mister, Mister. Mister!«

Der Mann mit dem offenen Kragen kam im Laufschritt angerannt. Andere ebenfalls. Die Stimmen ballten sich und flogen wieder auseinander wie Möwen. Der Park wurde zum Strudel, das Gebüsch dessen Zentrum, es zog einige an, stieß andere ab, die wiederum die Kinder verscheuchten.

Der Lärm wurde lauter und reichte nun über die Grenzen des Parks hinaus. Die panischen und erschrockenen Schreie übersetzten sich in gleichmäßige, professionelle Stimmen.

7

»ES WAR EINMAL EIN MÄDCHEN namens Margaret. Sie war zwölf. Hatte keine Geschwister. Sie lebte alleine mit ihrer Mammy und ihrem Daddy. Ooooh! Eines Abends wollte ihr Vater ins Kino gehen. Ihre Mutter war einverstanden. Aber es war ein Film für Erwachsene, also konnte Margaret nicht mit. Sie beschlossen, dass sie einen Babysitter brauchten. Margaret war eingeschnappt. ›Ich bin schon zwölf‹, sagte sie. ›Ich bin kein Baby mehr. Ich kann auf mich selbst aufpassen.‹ Aber ihre Mutter bestand darauf, dass ein Babysitter kam. Anne wohnte in derselben Straße, sie war neunzehn und passte gerne auf Margaret auf. Zufällig wusste Margarets Mutter, dass Anne am Abend nichts vorhatte. Und Margarets Vater sagte, außerdem sei es verboten, Kinder in Margarets Alter alleine zu lassen. Aber Margaret bestand darauf. Sie hatte einen Wutanfall. Genau wie unser Jack, wenn er an den Tischbeinen knabbert. Also gingen Margarets Eltern ins Kino. Und Margaret saß am Kamin und sah fern. Hatte das Haus ganz für sich allein.

Sie dachte: ›Das ist toll! Wie eine Erwachsene.‹ Aber plötzlich? …«, Laidlaw schnippte mit den Fingern, »ging das Licht aus. Der elektrische Kamin erlosch. Der Bildschirm wurde schwarz. Es herrschte vollkommene Dunkelheit. Als wäre Margaret blind. Sie hatte große Angst.«

Laidlaw genoss die Pause. Dies war der Moment, den sie alle mochten. Deshalb nannten sie das Spiel: »Was geschah dann?« Er hatte die Geschichte absichtlich erzählt, um einen Luftschutzbunker gegen Enas Vorwürfe zu errichten. Ihre Angriffe auf ihn hatten in letzter Zeit ihre moralische Berechtigung eingebüßt. Früher hatte sie die Kinder davon ausgenommen. Jetzt bombardierte sie Dresden. Nur um ihn zu treffen, feuerte sie vor den Kindern Geschosse ab wie: »Kein Wunder, dass du letzte Nacht schlecht geträumt hast, Jack. Dein Daddy war nicht hier, um dich zu beschützen, mein Sohn.« Die Wut, die Laidlaw angesichts eines solchen Missbrauchs seiner Kinder empfand, erschreckte ihn selbst.