Die Suche - Volker Castor - E-Book

Die Suche E-Book

Volker Castor

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Beschreibung

Bereits seit Jahrtausenden diente seine Familie den Chaldar. Generation auf Generation. Immer hatte es einen Ytras gegeben, der diente - bald hätte es einen neuen geben sollen. Seit Jahrtausenden bewegte sich die riesige goldene Sphäre der Chaldar als Wächter wie ein winziger Mond um den Planeten. Schutz und Zeichen zugleich. Die Sphäre schreckte jeden Marodeur ab. Niemand würde eine Welt überfallen, die so eindeutig unter dem Schutz der Chaldar stand. Nun war sie verschwunden. Es dauerte nur wenige Tage, dann kamen sie. Es war ein unbekanntes Schiff, das die Sensoren erfassten. Ein großer Marodeur. Schwarz, schlank und tödlich effektiv kam er aus der Tiefe. Eindeutig kein Handelsschiff. Ein Raubtier. Ein Mörder. Sie hatten keine Chance.

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Anhang:

Gebäudepläne, Karten und Zeichnungen sowie das Personenund Ortsregister finden Sie im Anhang ab Seite 597 und auf:

www.chaldar.de

Inhaltsverzeichnis

Erster Teil

1. Fiasko: Ein Anfang

2. Trauma: Geschenkte Zeit

3. Wandlung: Neue Frische

4. Requirierung: Auf den Knien

5. Sondierung: Ein Schauspiel

6. Schleichfahrt: Auf Abwegen

7. Ernte: Die Laichgründe

8. Applaus: Schwarz zu Rot

Zweiter Teil

9. Drift: In den Wogen

10. Nuramir: Beim Riesen

11. Tiefe: Blauer Regen

12. Trümmer: Wie Staub

13. Remission: Alle guten Gaben

14. Rhythmen: Schneller Wechsel

15. Arrest: Links oder rechts?

Dritter Teil

16. Proklamation: Mit neuer Stimme

17. Facetten: In den Weiten

18. Sturm: Roter Wahn

19. Gefolgschaft: Die Augen der Götter

20. Reißer: Was übrigbleibt

21. Antrium: Der Turm

22. Krypta: Goldene Siegel

23. Provinzen: Im Kern

24. Fiasko: Ein Ende

Epilog

25. Drora: Die Sanddistel

Anhang

Burg Antrium

Burg Morquon

Raumjäger

Raumjäger

Raumyacht

Raumyacht

Raumyacht

Raumyacht

Raumyacht

Ciaffé VI

Ytras-Welt

Morgan IV

Yor

Personen

Orte und Eigennamen

Erster Teil

Schwarz

1

Fiasko: Ein Anfang

1.1 Die arktische Wüste lag im rötlichen Schein der Abenddämmerung. Nur ganz leicht strich der eisige Wind um sein Gewand. Ytras fror in der bitteren Kälte. Rote, stille Einöde, soweit das Auge reichte. Geröll und totes Gestein bis zum Horizont – nur unterbrochen von den Rauchsäulen, die sich weit entfernt wie schwarze Finger in den Himmel hoben. Dutzende mussten es inzwischen sein.

Unten waren die Rauchsäulen schwarz und kompakt. Es mochte dort Flammen, geschmolzenes Metall und glühendes Gestein geben. Nach oben hin verbreiterten sie sich, bis sie vom Wind erfasst wurden und im roten Licht verwehten. Bald würde die Nacht das Bild des Schreckens verbergen.

Erschüttert schaute Ytras sich um. Die Rauchsäulen waren überall. Blakender Tod. Jede Rauchsäule die Trümmer eines Raumjägers – eines seiner Raumjäger.

Ytras fühlte nur noch dumpfen Schmerz. Der Hangar hinter ihm war nun leer und verlassen. Ytras wusste, dass sich die Bilder in den anderen Stationen glichen – niemand hatte überlebt.

Morgan war tot.

Wie lange hatte es gedauert? Minuten? Nicht lange. Er erinnerte sich an den Alarm und die lauten Sirenen. Hörte sie noch rennen und sah ihren Blick, als sie entschlossen in den Raumjäger stieg. Dachte an den Lärm, als sie mit den anderen startete. Jetzt war da nur noch Stille.

Licht. Es gab grelle Blitze am Horizont. Sie hatten nicht einmal Zeit, um zu schreien. Nur noch Rauchsäulen in der Wüste. Ytras nahm die Maske ab und die bitterkalte Luft stach ihm in die Lungen. Er brauchte das jetzt. Die trockene Kälte half dabei, klarer zu werden. Wie konnte das nur geschehen?

Er hatte »nein« gesagt.

Ja, damit hatte es wohl begonnen. Nur wenige Tage war es nun her, als er den Ruf des Nuntius der Chaldar ablehnte.

Jahrhunderte diente er nun. Jahrhunderte war er ein gutes Werkzeug gewesen. Irgendwann – so dachte er – war es genug. Er war alt und hatte seine Pflicht getan.

Die Chaldar sahen das wohl anders.

Die Sonne berührte bereits den Horizont und der eisige Wind frischte auf. Hinter ihm klaffte das Hangar-Tor wie ein heller Riss in der Bergflanke. Ytras warf einen einsamen Schatten in die menschenleere Wüste. Da war nichts mehr. Niemand hatte überlebt.

Er wandte sich um. Müde und gebeugt ging er in die große Halle und durchschritt den Schutzschleier, der die arktische Kälte abhielt. Doch in ihm blieb der bittere Frost.

Morgan war tot.

Unter den Schuhen knirschte der Wüstensand auf dem Betonboden – sonst war kein Laut zu hören. Er humpelte leicht und hielt den Blick gesenkt, als er den Hangar durchschritt. Rechts und links die roten Markierungen der Standplätze der Raumjäger auf dem Boden. Keiner von ihnen würde zurückkommen.

Als er die Rückwand erreichte, schaute er kurz zu den wenigen Gestalten, die dort standen. Einige Techniker und seine persönliche Wache. Sie hielten bewusst Abstand. Auch sie waren gezeichnet. Da war ein Ausdruck in ihren Gesichtern.

Sie schämen sich, dachte er bitter. Sie schämen sich dafür, nicht gut genug gewesen zu sein. Sie schämen sich – dabei liegt die Schuld doch nur bei mir. Ich allein trage die Verantwortung.

»Lasst uns hineingehen, meine Kinder«, nuschelte er und vermied, ihnen in die Augen zu blicken.

»Ja, Herr.« Die Wachen folgten ihm in die Station, als seien sie dankbar dafür, nun etwas zu tun zu haben.

Wie ein Schlafwandler schlurfte er durch die einsamen Gänge. Dort, wo vorhin noch Leben war, herrschte nun Stille. Die wenigen Diener, die ihm begegneten, wichen ihm aus. Hielten die Blicke gesenkt, wussten nicht, wie sie sich nun verhalten sollten.

Ytras erreichte mit den Wachen die kleine Einsatzzentrale. In der Mitte des Raumes schwebte das große Hologramm des Planeten. Es stellte nahezu die einzige Lichtquelle dar. Es herrschte ein Dämmerlicht im Raum. Die vier Operatoren saßen noch an ihren Plätzen. Angestrahlt von den Instrumenten auf den Pulten. Jeder verfolgte weiterhin seinen Quadranten ... obwohl es dort niemanden mehr gab, dem sie hätten Anweisungen geben können. Sie waren zu reinen Zuschauern geworden.

Die vier sahen kurz auf. In den Gesichtern der gleiche Ausdruck wie bei den Wachen. Scham und Entsetzen.

Die erste Operatorin setzte zum Sprechen an. Der Statusbericht. Doch Ytras schüttelte bloß den Kopf – was hätte sie ihm auch melden sollen? An den Wänden sah er doch die Übertragungen der anderen Stationen – Rauchsäulen in der Dämmerung. Rauchsäulen im hellen Tageslicht und Rauchsäulen im Morgengrauen. Und der große Marodeur im Orbit. Der Mörder.

Sie waren erledigt.

Müde schlurfte er durch den Raum, kümmerte sich nicht um das Hologramm und schritt durch die Projektion hindurch zu seinem Platz. Mehr ein Fallenlassen als ein Hinsetzen.

»Stellen Sie eine goldene Verbindung her«, forderte er leise.

Was bleibt mir noch?

»Ja, Herr«, kam die Bestätigung der Ersten. »Verbindung ist hergestellt.«

»Danke, meine Liebe.« Das ist der letzte Ausweg.

Was sollte er sagen? Der Schmerz lastete schwer auf ihm. Ytras verharrte lange schweigend. Morgan ist tot.

»Verbindung steht immer noch, Herr«, erinnerte sie ihn vorsichtig und sah ihn unsicher an.

»Ja, danke.«

Er setze sich aufrecht und starrte in den Raum. Wo vorhin das Hologramm des Planeten leuchtete, glänzte nun eine kleine goldene Kugel.

Mehr hatte er noch niemals von den Chaldar gesehen.

»Ich wage es, aus dem Schlamm heraus meine Stimme zu erheben. Hier spricht Ytras, der geringste Knecht. Voller Demut flehe ich um die Gunst, angehört zu werden.«

Die schwebende Kugel zuckte einmal ganz kurz. Es kam ihm wie ein Kopfnicken vor, also sprach er weiter: »Hier spricht Ytras, der geringste Knecht und fleht um die Gunst, dienen zu dürfen.«

1.2 Dichter Nebel waberte um die Baumstämme. Die Sicht betrug nur wenige Meter. Gegen Mitternacht hatte leichtes Schneetreiben eingesetzt. Inzwischen war der aufgewühlte und zerfurchte Matsch mit einer dünnen weißen Decke überzogen – als läge Kalk auf den Fichten, den gefrorenen Pfützen und den wenigen verstreuten Männern, die sich in ihren Löchern irgendwie gegen die Nässe und Kälte zu schützen suchten.

Paul hockte hinter dem Schützen und fror erbärmlich. Verlaust, verdreckt, unglaublich müde. Irgendwo hinter ihm lag der getarnte Bunker mit dem schweren MG. Hier draußen hatten sie den Volkssturm und die Hitlerjungen in die Löcher verteilt. Zum Schutz der Flanken waren Minen und Sprengfallen im Wald verteilt. Paul und seinen Schützen hatten sie heute Nacht wieder an das linke Ende der ersten Kampflinie geschickt. Nicht weit entfernt begann das Minenfeld bei drei kleinen Fichten.

»Passt auf und bleibt wach«, hatte man ihnen gesagt. Am Morgen sollten sie abgelöst werden. In der Frühe würden die Amis wiederkommen. Pünktlich, wie ein Uhrwerk. Dann brauchte man richtige Soldaten.

Diese Nacht sollte es ruhig bleiben.

»Die haben noch von gestern die Schnauze voll«, hatte sein Schütze gemurmelt, als sie in Stellung gingen und in der Finsternis zwei erschöpfte Gestalten ablösten.

Der Feind hatte in der letzten Nacht durchzubrechen versucht. Paul erinnerte sich schaudernd daran. Sie wären überrascht worden, wenn die Gegner nicht links von ihnen ins Minenfeld geraten wären. Die Detonationen und die Schreie rüttelten sie rechtzeitig auf.

Doch diese Nacht sollte es ruhig bleiben.

Etwa zwei Monate war Paul nun am Westwall. Aktion »Heimat an die Front« hatte es geheißen. In den zwei Monaten hatte er gesehen, wie die Fronthelfer und der Volkssturm die immer größeren Lücken stopfen mussten. Inzwischen nannte man ihn zwar Volksgrenadier ... doch eine richtige Ausbildung hatte er immer noch keine. Zumindest lebte er noch.

Die »Zecken«, die ganz jungen, hatte ihr Feldwebel einigen älteren Landsern zugeteilt. Paul war so eine Zecke und hatte es mit Erich, seinem ersten Schützen, noch gut getroffen. Der war bereits uralt – wohl um die dreißig. Doch er hatte die Ostfront überlebt ... und half ihm dabei, der Unterkühlung und den Erfrierungen vorzubeugen. So gut es ging. Regelmäßig musterte er Paul und suchte nach den verräterischen weißen Stellen auf den Wangen, den Ohren und der Nase.

»Deine Finger und die Zehen – die wirst Du noch brauchen«, murmelte Erich dann immer.

Die Nacht blieb ruhig, doch der Nebel verdichtete sich und die eiskalte Nässe kroch immer tiefer in den Leib. Schwer, sich dabei wachzuhalten.

Stunden vergingen, und Paul hatte das Gefühl, dass es unmerklich heller wurde. Der Gedanke an die Ablösung gab ihm neue Kraft. Da spürte er, wie sich Erich versteifte.

»Scheiße.« Erich richtete das MG neu aus.

Ganz leise knirschte der Schnee. Da war etwas in dem dichten Nebel. Etwas, das er nicht sehen, aber spüren konnte. Bewegung, wo Stille hätte sein sollen.

Irgendetwas kroch da auf sie zu. Ein Waldtier? Ein kleiner Stoßtrupp? Oder kam da noch mehr?

Wie in der letzten Nacht, so auch in dieser. Erneut waren es die Detonationen im Minenfeld, die das Startsignal gaben.

»Die denken wohl, es sind keine mehr übrig.« Erich schüttelte den Kopf und feuerte in die Nebelsuppe hinein, aus der nun das Feuer heftig erwidert wurde. Das war nicht nur ein Stoßtrupp. Es kamen mehr von ihnen ... deutlich mehr als in der letzten Nacht.

Hinter ihnen setzten das schwere Maschinengewehr aus dem Bunker und die Werfer ein. Jaulend flogen die Granaten über sie hinweg, um weit voraus in die Baumwipfel einzuschlagen.

Das Krachen dieser Baumkrepierer, die im Nebel einen fürchterlichen Splitterregen auf die Angreifer schleuderten, und die Schreie der Verwundeten mischten sich mit dem Geknatter und Getöse der Waffen.

Schemenhafte Bewegungen im Nebel, Mündungsfeuer, Schreie, Explosionen – dabei immer wieder der Wechsel des heißen Rohres und das Öffnen der nächsten Munitionskiste mit zitternden, tauben Händen.

Minuten dehnten sich zu Stunden.

Inzwischen kamen manchmal andere Zecken mit bleichen Gesichtern zu ihnen gekrochen und brachten neue Munition. Wenig. Weniger, als sie brauchten.

Aufflackerndes Mündungsfeuer im Nebel. Die Angreifer zogen sich nun von links und rechts an sie heran. Dabei hatten sie einen Weg durch die Minen gefunden. Nun war ihre Flanke gegen die Gegner offen und ungeschützt.

Von links dann heftiges Feuer. – War das nicht schon hinter ihnen? Im Nebel nicht leicht auszumachen.

»Munition!«, knurrte Erich.

»Die Letzte«, rief ihm Paul zu, und seine Finger machten automatisch ihre Arbeit.

Paul schaute unruhig hinter sich, ob sich da nicht doch noch eine Zecke mit Nachschub näherte. Aber da war niemand. Nur das Mündungsfeuer um sie herum, das immer näher kam.

Der Gurt lief durch und das Knattern erstarb.

»Zurück!«, bestimmte Erich, nahm das unnütze MG und drängte Paul aus ihrem Loch.

Die Amis waren nun ganz nah. Handgranaten flogen. Der Nebel riss kurz auf, wenn eine Granate explodierte. Paul und Erich krochen von Baum zu Baum, von Loch zu Loch und erreichten die rückwärtige Stellung, doch die war verlassen. War vom Volkssturm bereits aufgegeben. Dort lag nur die verkrümmte Gestalt einer Zecke. Erste Schneeflocken bedeckten die Leiche.

Paul erstarrte. Er kannte den Jungen.

»Weiter!« Erich zerrte ihn mit sich. »Die sind schon weg. Wir dürfen nicht abgeschnitten werden!«

Langsam wurde es heller. Die Morgendämmerung brach herein.

Neben Paul schlugen Geschosse in den Waldboden. Granaten explodierten und der Dreck spritze hoch auf. Sie wurden umgerissen und rappelten sich wieder auf. Überall im Nebel waren Schreie und knatterten Maschinengewehre. Ducken, rennen, hinwerfen.

Halt Deinen Kopf unten!

Er stolperte weiter. Um ihn herum nur wabernder Nebel, dunkle Baumstämme mit frischen Einschussnarben, gefrorener Matsch und Wurzeln, die nach ihm griffen. Manchmal schienen da Gestalten im Nebel zu sein. Erich? Nein.

Die Schreie, die Schüsse und die Detonationen wurden leiser. Er musste vom Weg abgekommen sein, musste die Richtung verfehlt haben. Hatte er sich den Hügel hinauf – zu den eigenen Stellungen – oder hinab bewegt? Das war im Nebel nicht ganz sicher auszumachen. Er war allein.

Als er die gefrorenen Leichen in den fremden Uniformen sah, wusste Paul, dass er falsch war. Er stolperte weiter.

Weiter. Immer weiter.

In seinem Kopf hämmerten immer wieder die gleichen Gedanken: Du bist nur eine kleine Zecke. Diese Nacht wird es ruhig bleiben.

Mit dem zunehmenden Licht zerfaserte langsam der Nebel und Paul konnte weiter sehen. Die Welt entstand aus Grautönen. Er folgte vorsichtig einem schmalen Pfad oder einem Wildwechsel mit unberührter Schneedecke. Weit entfernt erklangen noch vereinzelte Schüsse und Explosionen im Wald. Manchmal war da auch das Brummen schwerer Fahrzeuge.

Bald sollten die eigenen Linien kommen. Geduckt bewegte er sich vorsichtig zwischen den Stämmen und lauschte immer wieder. Doch bis auf das Knirschen seiner Schritte im Schnee und den eigenen Atem konnte er nichts hören. Er war allein.

Weiter. Immer weiter.

Der Pfad stieg an und schlängelte sich einen steilen Hügel hinauf. Er wurde immer schmaler. Zu seiner linken wichen die Bäume einer Felswand, während sich rechts der Wald den Abhang hinab erstreckte. Er befand sich nun über dem Nebel.

Da waren Stimmen vor ihm. Paul konnte nichts verstehen, doch als er langsam näherkam, begriff er, dass nicht deutsch gesprochen wurde.

Wie angewurzelt blieb er stehen und lauschte. Ja, das waren fremde Stimmen in einer fremden Sprache. Er blickte sich um. Suchte nach einem Ausweg. Hatten sie ihn bereits gesehen? Hatten sie ihn gehört?

Die Stimmen wurden lauter und sie kamen auf ihn zu. Da erblickte er links von sich mehrere kleine Fichten, die etwas krumm und schief vor einer Felsspalte standen. Für ihn mochte diese Spalte gerade breit genug sein.

Paul dachte nicht länger nach. Zwängte sich hinter die kleinenStämme und kroch rückwärts in die Spalte hinein. Er lauschte angestrengt.

Auf dem schmalen Pfad waren die fremden Stimmen nun ganz nah. Er sah nichts, doch hörte er sie langsam näherkommen – bis sie direkt vor den kleinen Fichten stehen blieben und ganz aufgeregt durcheinander plapperten.

Sie haben meine Spuren gesehen, schoss es Paul durch den Kopf und er verfluchte sich für seine Dummheit.

Auch wenn er nichts sehen konnte, so spürte er doch, wie draußen mehrere Mann rechts und links vom Felsspalt in Stellung gingen. Waffen wurden entsichert. Ihm wurde in einer fremden Sprache – Englisch? – etwas zugerufen.

Selbst, wenn er gewollt hätte, hätte er nichts sagen können. Die Angst schnürte ihm die Kehle zu und sein Herz raste. Er saß hier in der Falle.

Paul kauerte sich zusammen und quetschte sich ganz vorsichtig nach hinten. Er stieß mit dem Fuß an ein Hindernis und merkte, dass sich der Felsspalt in eine andere Richtung fortsetzte. Paul folgte kriechend der Biegung und presste sich auf den Boden.

Der Grund war vereist und das Gestein war bitterkalt – doch die Angst ließ ihn nichts davon spüren.

Er hörte die Schüsse, die auf ihn abgegeben wurden. Über ihm splitterte das Gestein. Jaulend flogen kleine Steinbrocken und Querschläger umher. Die Krümmung der Felsspalte gab ihm etwas Schutz, doch verhinderte sie, dass er zurückschießen konnte – und würden sie dann nicht einfach eine Handgranate werfen?

Paul kroch weiter rückwärts. Dann ging alles ganz schnell. Sein linkes Bein fand keinen Halt mehr und er rutschte auf dem vereisten Boden nach hinten. Erst langsam, dann immer schneller. Der Fels verschluckte ihn regelrecht.

Schwärze um ihn.

1.3 Die kleine goldene Kugel schwebte noch immer unbewegt im Raum. Auf ihrer Oberfläche bewegten sich undeutliche Schlieren wie ein goldener Hauch. Sonst geschah nichts.

Ytras saß im Halbdämmer auf seinem Platz und beobachtete die glänzende goldene Murmel. Niemand konnte abschätzen, wie die Chaldar reagieren würden. Sie hatten ihre Macht demonstriert. Hatten ihm auf fürchterliche Weise gezeigt, dass sie seine Entscheidung nicht billigten. Konnte er wenigstens die verbliebenen Leben retten oder ließen sie den Marodeur gewähren und sie alle auslöschen?

Seine Gedanken rasten. Was konnte er ihnen noch sagen? Was konnte er ihnen noch anbieten?

Er trug die Schuld an hundertfachem Tod. Es war seine Entscheidung gewesen – und sie hatte sich als schrecklicher Fehler erwiesen. Vor seinem inneren Auge verschwammen die Bilder der letzten Tage und Stunden. Seine mutigen, seine entschlossenen Piloten. Die Männer und Frauen, die mit Morgan zu den Raumjägern rannten. Er sah sie starten mit bitteren und ängstlichen Gedanken. Blitze am Firmament. Rauchsäulen in der Wüste. Nie hatten sie eine Chance gehabt.

Vor wenigen Tagen hatte er den Ruf des Nuntius der Chaldar abgelehnt. Er sei zu alt für eine so schwierige und langwierige Mission. Es müsse doch andere, jüngere und bessere geben.

Der Nuntius verließ daraufhin den Planeten ohne ein weiteres Wort. Als die kleine Sphäre startete, hatte Ytras sich frei gefühlt. Jahrhunderte hatte er gedient – und nun war sein Dienst beendet. Ytras hatte sich in die kleine Station in der südlichen Wüste begeben. Um was zu tun?

Nachdenken. Ausruhen. Sterben, dachte er bitter. Ja, er war zum Tempel der Ahnen gegangen. Dem Mausoleum seiner Familie. Generationen von Ytranen wurden dort verehrt. Jeder von ihnen für die Ewigkeit zu einem kleinen Kristall geformt. Es war Zeit für den nächsten Ytras. Das war es, was er gewollt hatte. Das war es, was er hatte vorbereiten wollen.

Inmitten der Kapelle mit den unzähligen Kristallen der Familie erreichte ihn dann die Nachricht, dass nicht nur die goldene Sphäre des Nuntius, sondern auch der riesige goldene Wächter verschwunden war.

Bereits seit Jahrtausenden diente seine Familie den Chaldar. Generation auf Generation. Immer hatte es einen Ytras gegeben, der diente – bald hätte es einen neuen geben sollen.

Seit Jahrtausenden bewegte sich die riesige goldene Sphäre der Chaldar als Wächter wie ein winziger Mond um den Planeten. Schutz und Zeichen zugleich. Die Sphäre schreckte jeden Marodeur ab. Niemand würde eine Welt überfallen, die so eindeutig unter dem Schutz der Chaldar stand.

Nun war sie verschwunden.

Es dauerte nur wenige Tage, dann kamen sie. Es war ein unbekanntes Schiff, das die Sensoren erfassten. Ein großer Marodeur. Schwarz, schlank und tödlich effektiv kam er aus der Tiefe. Eindeutig kein Handelsschiff. Ein Raubtier. Ein Mörder. Sie hatten keine Chance.

Rauchsäulen am Horizont. Schwarze Finger, die nach seinem Herzen griffen. Seine Morgan war tot.

Der nächste Ytras war tot.

1.4 Zuerst war die Veränderung nur zu erahnen. Die Schlieren auf der kleinen goldenen Kugel begannen sich schneller zu bewegen. Wie ein kleiner Sturm in der goldenen Atmosphäre einer fremden Welt. Dann kam das Leuchten.

Aus der Kugel schossen Lichtstrahlen in den Raum und sie blähte sich langsam auf. Bald war die Einsatzzentrale in helles, goldenes Licht getaucht. Die Operatoren und die Wachen verschwammen zuerst im Licht und verschwanden schließlich. Alles war golden vor seinen Augen und löste sich auf.

Dann fiel er.

1.5 »Was ist denn jetzt?« Gereizt schaute sie auf den kleinen roten Punkt, der im Hologramm des Refugiums aufgetaucht war und aufgeregt blinkte. Ein leiser Alarmton summte, bis sie ihn ausschaltete. Von draußen schimmerte das erste Morgenlicht durch die Vorhänge. Arana saß in der Bibliothek und hatte mit ihrem ersten Kaffee in der Hand die Berichte der letzten Nacht durchsehen wollen.

Den Kaffee ließ sie nun stehen. Mit zwei Fingern strich sie am Rand des alten Schreibtischs entlang und ein Display erschien auf der ledernen Schreibtischunterlage. Schnell huschten ihre Finger über die projizierte Tastatur und das Bild des Hologramms veränderte sich. Es zeigte nun nicht mehr die Ansicht des gesamten Refugiums, sondern einen kleinen Ausschnitt des getarnten Drohnen-Hangars tief unter ihr im Felsgestein.

Neugierig beugte sie sich vor und veränderte die Einstellungen. Das Bild des Hologramms hellte sich langsam auf und die körnige Darstellung wurde besser. Sie sah die vielen kleinen Beobachtungs-Drohnen aufgereiht in ihren Gestellen. Irgendetwas hatte den Alarm ausgelöst.

Als diese behaarten Affen vor Monaten ihren Krieg hierher verlegten, hatte sie die meisten Pforten nach draußen schließen und versiegeln lassen. Nur die Drohnen-Tore standen noch für einige Stunden am Tag offen.

Dieses Refugium lag sehr gut, um die Endphase des Experiments zu beobachten. Deshalb hatte sie sich dazu entschlossen, persönlich hierher zu kommen. Eora, ihre Taktik-Beraterin, hatte ihr versichert, dass dieses Refugium völlig abgelegen und sicher sei – es sei völlig abwegig, dass irgendeine Armee in dieser Phase des Krieges ein Interesse an dem Waldstück zeigen könne, in dem das Refugium lag.

Nun gut, jetzt spielten diese behaarten Affen mit ihren altertümlichen Waffen direkt vor ihrer Haustür ... völlig abwegig, doch das war schon immer ihre besondere Spezialität – und das sollte das Experiment ja schließlich aufzeigen.

»Wo bist du, du kleine Ratte«, murmelte Arana, während sie weiterhin die Einstellungen des Hologramms veränderte. »Du verdirbst mir meinen ersten Kaffee.«

Manchmal verirrten sich Waldtiere in die Pforten. Eigentlich sollten die Geruchs- und die Geräuschs-Emitter sie fernhalten. Meistens halfen die Simulationen von Fuchs, Bär und Luchs ... sogar der Höhlenlöwe sprach bei vielen noch wirksam ihre urzeitlichen Ängste an. Doch die Kriegsspiele der behaarten Affen konnten eine solche Panik erzeugen, dass das alles nichts half.

Die Technik, die Arana in diesem Refugium zur Verfügung stand, war nicht mehr auf dem neuesten Stand. Das Refugium hatte lange vor sich hingeschlummert, bevor sie es im Sommer nach der Landung in der Normandie wieder aktivierte. Die Sensoren waren ungenau – und die Schutzsysteme weniger aktiv als passiv ausgelegt.

Inzwischen schwebte vor ihr das Bild der äußeren Kaverne – und dort sah sie ihn liegen. »Ein kleiner Affe«, murmelte sie überrascht. Das hatte sie nicht erwartet. So etwas hätten die Schutzsysteme automatisch erledigen müssen. Irgendetwas hatte nicht so funktioniert, wie es eigentlich sollte. Oder war beschädigt worden.

Nachdenklich blickte sie zum Hologramm und ihre Finger huschten über das Display. In der Projektion bewegten sich lange Kolonnen von Schriftzeichen. Es hatte Beschädigungen an der äußeren Pforte gegeben. Unwahrscheinlich, doch nicht unmöglich. Die automatischen Reparaturen waren bereits im Gange und bald sollte der Fehler behoben sein.

»Na gut«, murmelte Arana und erhob sich vom Schreibtisch. »Dann kümmere ich mich mal um den kleinen Affen.« Die Sensoren hatten ihr gezeigt, dass er noch lebte. Und dass er bewaffnet war.

1.6 Alles war golden um Ytras. Er stürzte – und fühlte gleichzeitig den Sitz unter sich. Um ihn herum ein Wirbel. Goldene Schlieren. Übelkeit und das Gefühl des Fallens.

Im goldenen Wirbel ein Pulsen. Herzschlag. Der Sturz verlangsamte sich, während die Übelkeit stärker wurde. Seine Eingeweide sackten weiter ab. Druck auf den Ohren. Druck auf der Brust. Das Atmen fiel ihm schwer.

Stillstand. Die Beklemmung ließ nach und der goldene Nebel löste sich langsam auf. Er roch Räucherwerk und Kerzenwachs. Um ihn herum leises Stimmengewirr wie in einem großen Saal.

Ytras saß im uralten Sessel, dem Thron der Ytranen auf der niedrigen Empore. Er fühlte die vertraute Polsterung und die Bezüge mit den edlen Stickereien – hunderte Male erneuert und ausgebessert in den letzten tausend Jahren. Die prunkvollen Verzierungen des Saales nahm er nur undeutlich wahr. Im Dunst erkannte er Teile des kostbaren Deckengemäldes heroischer Ytranen vergangener Zeiten und die bunten, verschlungenen Arabesken des Mosaiks am Boden. Prunk und Protz, der Generationen von Bittstellern beeindruckt hatte. Der Empfangssaal?

Ytras war nicht mehr in der Ödnis des Südkontinents, der kleinen Station inmitten der arktischen Wüste, dem Mausoleum der Familie. Das hier war der Palast in der Metropole.

Er hörte die lauten Fanfaren und zuckte zusammen. Diese Fanfaren leiteten bereits seit Urzeiten das Ritual des Empfanges ein. Das geschah nur zu einem einzigen Anlass: der Visitation durch einen Nuntius. Der Besuch eines Vertreters der Höchsten. Ein Gott war auf dem Weg.

Gehetzt sah er sich um. Fühlte sich wie ein Tier in der Falle. Was war das? Da waren Menschen im Saal. Paradeuniformen. Kostbare Kleider. Zuerst noch undeutlich, doch langsam schärfte sich sein Blick und er erkannte Wachen, Piloten, Diener ... sie waren doch alle tot. Er hatte ihr Ende miterlebt.

Nur noch Rauchsäulen am Horizont.

»Gepriesen seien die Höchsten!«, proklamierte die Ehrengarde, als dieses kleine, humpelnde Wesen den Saal betrat. Es war ein Nuntius. Es war der Nuntius. Sein rechtes Bein schleifte er leicht nach. Er ging gebückt und schaute nur vor sich auf den Boden. Die Ehrengarde, die ihm folgte, ließ sich nichts anmerken. Sie waren gut geschult und geübt darin, den Ekel nicht zu zeigen, den sie empfanden, denn dieser Nuntius der Chaldar – so, wie alle Nuntien – stank fürchterlich. Faulig wie die Blähung eines verrottenden Sumpfes voller Ungeziefer und verendeter Tiere war der Geruch, der ihm bis zum Thron vorausging ... dabei waren es noch viele Meter.

Ytras Herz raste. Seine Blicke huschten unruhig durch den Saal. Neben ihm ... seine Kinder. Japsend brach er zusammen. Stürzte die zwei Stufen der Empore hinab. Bewegung zu seiner Linken. Hände, die nach ihm griffen. Aufgeregte Stimmen.

»Vater, was ist mit Dir?«

Ein erschrockenes Gesicht direkt vor ihm. Undeutlich zuerst. Seine Tochter, sein Augenstern. Kurze, schneeweiße Haare und blaugraue Augen. Zwölfter Paladin der Familie. Seine beste Kampfpilotin. Seine Morgan.

»Du lebst?« Wie kann das sein?

Stirnrunzelnd sah sie ihn an.

»Helft ihm!«

»Richtet ihn auf!«

Weitere Stimmen. Wirrwarr. Gesichter wie im Nebel. Arme halfen ihm auf. Endlich wieder das Gefühl des Sessels. Ytras war noch immer verwirrt. Schwarze Rauchsäulen, die aus der Wüste aufstiegen. Ein leerer Hangar. Sie hatten Morgan abgeschossen, seine Tochter war tot ... und doch stand sie vor ihm.

1.7 Erst in der Eingangshalle des Refugiums begegnete Arana den ersten Hütern. Die beiden kamen die große Prunktreppe hinuntergerannt. Es waren Nachzügler auf dem Weg zur Operationszentrale – ihnen war sichtlich unangenehm, gerade heute der ersten Hüterin in die Arme zu laufen.

»Guten Morgen, Herrin ... wir sind leider spät dran, weil wir ...« »Na los ... verschwendet keine Zeit mit Ausreden. Klayoc wartet bestimmt schon auf euch«, grinste sie und die beiden liefen mit dankbaren Gesichtern an ihr vorbei.

Arana war erst wenige Meter gegangen, da leuchtete vor ihr ein Rufzeichen in der Luft.

»Klayoc?«, nahm sie den Ruf ihres Stellvertreters entgegen und sein Gesicht schwebte im Hologramm vor ihr.

»Herrin, die Sensoren sagen mir ... «

»Dass wir wohl einen ungebetenen Gast im Keller haben. Ja, ich weiß«, unterbrach sie ihn.

»Ich stelle sofort ein Sicherheitsteam zusammen.«

»Das ist nicht nötig. Ich bin schon auf dem Weg.«

»Ja, Herrin ... « Verlegen sah er sie an.

Sie kannte diesen Blick. »Klayoc?«

»Seid Ihr wenigstens bewaffnet?«

»Für einen kleinen Affen? Natürlich nicht.«

1.8 Humpelnde, schlurfende Schritte kamen auf ihn zu. Der Gestank wurde unerträglich. Der Nuntius musste direkt vor ihm sein, doch die Bilder im Kopf waren stärker. Welten überlagerten sich. Ytras zwang sich dazu, sich aufrecht zu halten. Der Sessel war das einzige, das ihm in diesem Moment real war.

Eine Stimme zischelte ihm in einer fremden Sprache zu – und gleichzeitig hörte er deutlich die Worte im Kopf. Das war immer so, wenn ein Nuntius sprach. Ohren und Kopf schienen getrennt.

»Im Namen der Höchsten nehme ich den jämmerlichen Empfang entgegen.«

Das war die rituelle Eröffnung. Ytras reagierte ohne nachzudenken und sprach automatisch die uralten Worte der Erwiderung:

»Ich wage es, aus dem Schlamm heraus meine Stimme zu erheben. Hier spricht Ytras, der geringste Knecht. Voller Demut flehe ich um die Gunst, angehört zu werden.«

»So verpeste die Luft und verschwende meine Zeit.«

»Oh Erhabener. Nuntius der Höchsten. Sendbote der Götter. Wir preisen Euch und frohlocken über die Gnade, in Eurem Schatten existieren zu dürfen.«

»So vegetiert weiterhin.«

»Nur zu Eurer Lobpreisung.«

Langsam klärte sich sein Blick. Ytras sah den Nuntius vor sich stehen während er sich die rituellen Formeln sprechen hörte. Ein zweistimmiges Gebet.

Die uralte Litanei setzte sich zwischen ihm und dem Nuntius fort. Floskeln, die jedem Ytras von Kindesbeinen an beigebracht wurden – viele im Raum sprachen sie wohl in Gedanken mit.

Das Ritual nahm seinen Lauf, während seine Gedanken unentwegt kreisten. Was war das hier? Was war wirklich und was nur eine Täuschung? Was war in den vergangenen Tagen geschehen? Waren die vergangenen Tage geschehen?

Chaldar. Herren der Zeit. Herren der Ewigkeit. Was war für sie Leben? Was bedeutete ihnen der Tod?

Wie hatte er ihren Wunsch ablehnen können? Was war er nur für ein Narr gewesen! Er war für Jahrhunderte ein gutes Werkzeug gewesen – hatte er sich davon irgendetwas erhofft, ja erwartet?

Er hatte abtreten wollen. Der nächste Ytras stand doch längst bereit – zumindest fast. Unter den zwölf Paladinen gab es noch einige, deren Ausbildung noch nicht abgeschlossen war. Doch auch sie hätten nicht mehr lange gebraucht und zu den besten der ausgebildeten Paladine gehörten seine beiden Kinder. Einer der zwölf wäre schon würdig gewesen. Und was war schon Zeit für die Chaldar? Was konnte so dringend sein?

Als sich vor einigen Tagen die riesige Chaldar-Sphäre im Orbit zu erkennen gab und den Besuch des Nuntius ankündigte, bestellte Ytras sofort die Paladine in die Metropole. Er glaubte, die Zeit der Ernte sei gekommen. Kurz darauf standen alle Paladine im Empfangssaal bereit. Im Rahmen der Zeremonie wäre dann normalerweise das Ritual der Ernte durchgeführt worden, bei dem die Chaldar wahrscheinlich seiner Empfehlung gefolgt wären und sich für eins seiner Kinder als neuen Ytras entschieden hätten – wahrscheinlich für Morgan. Ytras hatte sie bereits vor Jahren in die Stammrolle als »ersehnten Ytras« eingetragen und die Chaldar hatten diesem Wunsch niemals widersprochen.

Doch die Visitation war ganz anders verlaufen. Es war nicht die Ernte eines neues Ytras. Es war ein Ruf. Der Ruf der Götter nach dem alten Ytras. Damit hatte er nicht gerechnet und er hatte dem Impuls nachgegeben und war dem Ruf – das eine Mal ... das erste Mal – nicht gefolgt. Die Nachfolger standen doch alle bereit ... und was konnte so dringend sein?

Was konnte für die Chaldar so dringend sein?

»Hier spricht Ytras, der geringste Knecht und fleht um die Gunst, dienen zu dürfen«, hörte er sich sagen. Sie waren wohl inzwischen zum Ende des ersten Teils des Rituals gekommen.

Der Nuntius schaute ihm ruhig in die Augen. Dann griff er langsam in sein Gewand und nestelte unbeholfen darin herum. Der Gestank wurde etwas stärker. Noch stärker. Als der Nuntius die Hand ausstreckte, lag darin eine kleine goldene Kugel.

Das war neu. Der zweite Teil des Rituals hätte anders verlaufen sollen. Nein: hätte anders verlaufen müssen! Ytras spürte die Anspannung im ganzen Saal. Sein Herz pochte aufgeregt.

Eine Zeit lang geschah nichts, dann begann sich von der goldenen Kugel ein Leuchten auszubreiten. Eine golden schillernde Blase entstand und wurde größer. Die Unruhe im Saal stieg an. Die Blase wuchs so lange an, bis Ytras und der Nuntius darin eingeschlossen waren. Der Gestank war schier unerträglich.

Dann sprach der Nuntius mit fremdartigen, zischelnden Lauten und Ytras vernahm die Worte klar im Kopf: »Niemand darf hören, was nun gesprochen wird.«

1.9 Ein kleiner Affe. Verlaust, abgerissen ... in einem geflickten Uniformmantel, der ihm zu groß war. Klare, blaue Augen blickten aus einem verdreckten Gesicht im Schatten des Stahlhelms in ihre Richtung.

Zitternd vor Kälte – oder Angst? – kroch er zurück, bis er das Felsgestein im Rücken hatte. Im Halbdunkel der äußeren Kaverne schaute sie interessiert auf ihn hinab.

Die Augen halb zugekniffen. Sehen konnte er sie wohl nicht – oder nur sehr undeutlich. Für einen Menschen war es hier viel zu dunkel. Hörte wohl ihre Schritte. Das Äffchen kauerte sich auf, während seine zitternden Finger an einem Schultergurt nestelten. Erstaunlich schnell brachte es seine Waffe in Anschlag.

Na so was ... Arana brach in schallendes Lachen aus.

Mündungsfeuer erhellte zuckend die Kaverne. Ein unglaublich lauter Krach ertönte, als aus der Waffe mehrere Schüsse abgegeben wurden.

Belustigt folgten ihre Augen der Flugbahn der Geschosse, die auf sie zurasten ... jedoch immer langsamer wurden und in der Stille nach den Schüssen mit einem überlauten »ping« auf den Boden fielen.

»So, genug gespielt ... leg‘ das Ding weg«, sprach sie ihn an.

Was mache ich jetzt mit Dir? Ist hier noch Platz für ein Haustier oder jage ich das Äffchen wieder hinaus zu den anderen bewaffneten Affen?

»Eine Frau?«, keuchte der kleine Affe und riss erschreckt das Sturmgewehr nach oben, aus dem noch ein Schuss folgte, der in die Decke ging. Dort Steine löste, die zusammen mit dem Krach des Querschlägers polternd hinunterfielen.

»Oh Gott, ich hätte Sie beinahe ... «

»Bestimmt nicht. Jetzt ist aber wirklich genug.«

Seine Reue gefiel ihr. Nachdenklich sah Arana ihn an. Irgendwie zu schade, es da draußen totschießen zu lassen. Also behalten wir es ... zumindest eine Weile.

Arana konzentrierte sich auf ihn und brach mühelos seinen Geist. Sofort legte er die Waffe auf den Boden. Eine Weile stand er unbeweglich da und schaute sie nur an.

»Ich werde Euch dienen.«

»Ich weiß.«

2

Trauma: Geschenkte Zeit

2.1 Paul war ihm lange gefolgt. Ein lebendiger Schatten. Hatte über Monate hinweg beobachtet und regelmäßig Bericht erstattet. Sein Ziel hatte mehrere Reisen unternommen und dabei fleißig Proben gesammelt – Paul befand sich oft in direkter Nähe.

Vor zwei Tagen landete der Wilderer in München-Riem und bezog dasselbe Hotel, in dem er früher einmal abgestiegen war. Paul bekam wieder ein Zimmer in der kleinen Pension am anderen Ende der Innenstadt. – Nachdem er mit ihm im Flieger gesessen hatte, wäre es zu verdächtig gewesen, Paul sofort wieder auf ihn anzusetzen. Arana wollte wissen, was der Kerl eigentlich hier wollte und hielt ihn bewusst an der langen Leine. »Es gibt noch kein Muster. Bleib‘ an ihm dran.«

»Ja, Herrin.«

Und dann heute Mittag: »Zugriff. Sofort. Komm‘ zum Sammelpunkt.«

»Ja, Herrin.« Paul drückte die Zigarette aus. Heute wäre er erst sehr viel später an der Reihe gewesen, sich um den Wilderer zu kümmern. Am Flughafen hing ein Kinoplakat zu »La Dolce Vita« und Fellinis neuen Film hatte er sich unbedingt ansehen wollen. Daraus wurde nun nichts. Stattdessen stellte er schnell die Ausrüstung zusammen.

Die meisten Geräte und Waffen sortierte er aus. Verstaute sie im abgeschirmten Koffer, den er am Sammelpunkt einem Hüter übergeben sollte. Das technologische Niveau musste diesmal besonders niedrig sein – die Sensoren des Wilderers würden sonst sofort Alarm schlagen. Nur als »Affe« hatte er so lange unentdeckt bleiben können. Jeder Wilderer wusste, dass er den Hütern der Zoos und Gärten aus dem Weg gehen musste, wollte er die Mission überleben. Auf die Zootiere achtete niemand – es sei denn, sie sollten als Proben entnommen werden.

Paul überprüfte den kleinen Schildgenerator der Armbanduhr. Den winzigen Energieschild – nicht viel größer, als ein Platzteller – durfte er erst im letzten Moment einschalten, wollte er nicht entdeckt werden. Den Schild konnte er sowieso nur etwa zehn Minuten gebrauchen. Danach wäre die Energie erschöpft. Zum Schluss nahm er die Aktentasche mit dem zerlegten Handlaser und schob das Energiepack des Lasers und drei Ersatzladungen für den Schild in das besonders abgeschirmte Fach der Tasche.

Mehr hatte er nicht. Eigentlich blieben ihm nur Stichwaffen.

»Bereit?« Der Hüter nahm Paul den großen Koffer ab und ließ ihm die Aktentasche mit dem Laser. Sie standen am Kopfende der Bahnhofshalle vor den Bahnsteigen der Fernzüge.

»Ja, Herr. Alles müsste nach Plan verlaufen.«

»Das tut es nie – aber wir werden sehen. Sobald ich aus der Stadt heraus bin, aktiviere ich einen Teil der Ausrüstung ... das wird genügend Aufmerksamkeit erregen. Du hast dann freies Feld.«

»Gut. Viel Glück, Herr.«

Der Hüter grunzte. Was bildete sich der kleine Affe ein? »Du wirst es eher brauchen. Mach‘ Dich jetzt auf den Weg.«

Fast hätte Paul aus alter Gewohnheit salutiert. So drehte er sich nur um und verließ die große Bahnhofshalle. Der Zug nach Hamburg sollte sich bald in Bewegung setzten. Jeder Wilderer wäre misstrauisch geworden, hätten ihn die Sensoren nicht hin und wieder vor der Anwesenheit eines Hüters gewarnt. Dann verkrochen sie sich und beobachteten. Warteten in ihrem Versteck, bis die Gefahr vorüber war. ... Irgendwie waren alle Wilderer gleich. Paul hatte das in den letzten sechzehn Jahren bereits oft erlebt – und das Versteck dieses Wilderers war bekannt.

Die Bauarbeiten am neuen mittleren Ring verursachten oft lange Staus, doch heute hatte er Glück und die Fahrt vom Münchner Hauptbahnhof zum Hotel des Wilderers verlief ruhig. Die Luft flimmerte in der Mittagshitze. Der August verabschiedete sich mit einigen sehr heißen Tagen und die Menschen zog es ins Freie. Fast alle Kriegsschäden waren aus dem Stadtbild verschwunden – gaben der Stadtplanung Gelegenheit, neue Wunden zu schlagen. Paul hatte sich mit dem neuen Deutschland arrangiert. Hatte sich zurechtgefunden – sowohl in der Welt der »Affen« als auch in der wirklichen, der Welt seiner Herrin.

Der Osten war abgeriegelt. In Berlin hatten die kommunistischen Affen vor zwei Wochen sogar eine Mauer errichtet. Sperrten ihr eigenes Volk ein. Mit den Bonner Affen hatte es der Rest der Deutschen womöglich besser getroffen. Paul hörte, dass sie seinen Oberbürgermeister zum Kanzler gemacht hatten und erinnerte sich daran, wie der Mob mit Fackeln durch die Gassen marschierte und »Adenauer an die Mauer!« brüllte, als Paul noch ein kleiner Knirps war und die braune Pest sich ausbreitete.

Doch er nahm das nur aus der Distanz wahr – wirklich berühren tat es ihn nicht. Er fühlte sich fremd. Seine Arbeit hatte ihn inzwischen auf alle Kontinente geführt und er sah die Welt mit anderen Augen. Paul war auf der Erde und den beiden Außenstationen gewesen. Sprach fließend ihre Sprache ... mit rheinländischem Akzent. Der Irrsinn, der ihm als Kind eingebläut worden war, erschien ihm schon sehr bald als völlig absurd. Ein Affe, ein Zootier im Eigentum Fremder, der sich für besser hielt als die anderen Affen im Zoo? ... Wie blöde war denn so etwas?

Innerlich war er nun gereifter. Auf einen Beobachter hätte er jedoch bestenfalls wie ein Mensch in den frühen Zwanzigern gewirkt. Das lag an den Lebensquellen, die ihm Arana schenkte.

»Lassen wir das«, sagte sie einmal im Bett neben ihm, als sie ihn

kritisch musterte. Paul war da vielleicht fünf Jahre bei ihr.

»Was denn, Herrin?«

»Das mit dem Älterwerden. Du wirst mir sonst noch schrumpelig und hässlich – so wie die anderen Affen auf Ciaffé III.«

Arana löste eine Perle aus der Kette. – Ihre Perlenkette hatte er in den ersten Jahren nur beachtet, wenn sie ihm mal auf die Nase rutsche. Nachts, wenn sie wollte, dass er dicht bei ihr lag und ihr mit seiner Gegenwart die Träume vertrieb, die sie so oft quälten. Im Bett duldete sie ihn nur nackt, trug selbst nichts als diese Perlen. – Warum sich einem Haustier gegenüber genieren?

»Schlucken.«

»Die Perle, Herrin?«

»Die Perle.«

Achselzuckend nahm er sie in den Mund – spürte noch, wie sich die Lebensquelle schnell auf der Zunge auflöste und sackte neben ihr im Bett zusammen. – Danach war für ihn zunächst alles unverändert. Unter der Dusche sah er zwar, dass einige Narben und Kratzer verschwunden waren, doch er fühlte sich gut und dachte nicht weiter darüber nach – alterte jedoch nicht mehr.

Etwa zehn Jahre nach der ersten Perle schluckte er vor wenigen Monaten die zweite.

Trotz der schrecklichen Bombennächte hatten viele aus seiner Familie den Krieg in Köln überlebt – doch sein neues Wissen um die Welt isolierte ihn. Bei den wenigen Besuchen hatte er sich nur fremd gefühlt ... und inzwischen sah er viel zu jung aus, um noch »ihr Paul« zu sein. Manchmal schickte er ihnen Postkarten, wenn er als »Pressefotograph« in der Welt unterwegs war. Einladungen lehnte er immer ab. – An solchen Tagen fühlte er sich oft verloren. Es war gut, dass dann seine Herrin da war, an die er sich ankuscheln konnte. Dann war sie es, die ihm bereitwillig Wärme gab und ihm mit ihrem Leib seine Träume vertrieb. Nur in ihren Armen war er sicher, fühlte sich zuhause.

Einmal hatte er sie nach Erich, seinem Schützen, gefragt und Arana hatte tatsächlich für ihn nachforschen lassen – doch Erich blieb – wie so viele – selbst für die Hüter im Nebel und Matsch, im Schnee und der erbarmungslosen Kälte des Hürtgenwaldes verschwunden. Sie fanden nur seine Witwe in Bremen. Zwei seiner drei Kinder hatten den Krieg überlebt.

Das Taxi setzte ihn vor dem Hotel ab. Paul zahlte, nahm die Tasche mit dem zerlegten Strahler und betrat die Halle. Sein Herz raste und er war sehr nervös, doch er schlenderte scheinbar seelenruhig zur Rezeption. Unauffällig musterte er die Umgebung.

Nein, das Ziel war nicht hier.

Paul bekam ein Zimmer im zweiten Stock in direkter Nähe des Wilderers und füllte den Meldezettel aus. Dabei huschte sein Blick zur Wand hinter dem Concierge – der Schlüssel zu Zimmer 211 hing nicht am Haken. Bisher hatte sich der Wilderer penibel an alle Regeln gehalten und den Schlüssel immer abgegeben, wenn er das Hotel verließ. Er war wohl noch hier. Gut.

Paul betrat das Treppenhaus. Bereits auf den ersten Stufen spürte er, wie sich das Armband der Uhr einige Male zusammenzog – das war das Zeichen, dass der Hüter im Zug nach Hamburg die Geräte eingeschaltet hatte. Wenn selbst Pauls einfacher Sensor so deutlich reagierte ... wie musste das erst dem Ziel erscheinen, dessen Ausrüstung doch erheblich besser war?

Die Antwort erhielt er wenig später, als ihm der Wilderer mit einem großen Koffer in jeder Hand entgegengestürzt kam. Das war so nicht geplant. Paul musste ihn irgendwie aufhalten.

»Aus dem Weg, Du blöder Affe!«, brüllte der ihn an, als sich Paul scheinbar zufällig in seine Laufbahn bewegte. Um den Wilderer tanzten Staubflocken in der Luft und ein kaum sichtbares Glühen umgab ihn. Für ein ungeübtes Auge wären diese Zeichen nicht erkennbar ... und für einen normalen Affen auch gar nicht zuzuordnen gewesen. Ein Prallfeld!

Paul ließ die Aktentasche mit dem zerlegten Laser fallen, zückte das Stilett und warf sich dem Wilderer entgegen. Der befand sich noch im vollen Lauf und prügelte im ersten Reflex mit den Koffern auf ihn ein. – Wären die nicht mit den wertvollen Proben gefüllt, hätte er sie wohl sofort losgelassen ... und genügend Raum, Zeit und Gelegenheit gehabt, um einen der lahmen Affen von Ciaffé III zu überwältigen. So jedoch konnte Paul die Uhr erreichen und der Prallschild errichtete sich. Funken, elektrische Entladungen und ein lautes Knistern, als sich die beiden Felder überlagerten. Überraschung auf dem Gesicht des Wilderers, das dann vor Schmerz verzerrt wurde. Paul stemmte sich gegen ihn, schob den Mann an die Wand des Treppenhauses. Mit aller Kraft drückte er, spürte die warme Nässe auf der Hand, fühlte, wie das Stilett langsam immer tiefer in den Leib des Gegners fuhr. Trieb es tief in ihn hinein.

Sie hatten bisher nicht herausfinden können, welcher kosmischen Rasse der Wilderer eigentlich angehörte. Sollte er während der letzten Monate Nachrichten versendet haben, so hatten sie die nicht abfangen können. Seine Auftraggeber waren noch immer unbekannt. Vielleicht entstammte er einer menschenähnlichen Spezies – das war bei vielen so, die zur Erde geschickt wurden. Doch sicher sein konnten sie nicht – wo ihn also wirksam verletzen?

Der Wilderer ließ die Koffer fallen. Er hatte seinen tödlichen Fehler erkannt und griff nach Paul, bevor der die Klinge in der Wunde umdrehen konnte. Er schob Paul grunzend von sich. Schleuderte ihn mit ungeheurer Kraft gegen die Wand. Paul behielt den Dolch in der Hand, der nun blutig und glitschig war.

Das Hemd des Wilderers schimmerte von bläulichem Blut. In seiner Rechten lag jetzt eine Waffe. Er stand gekrümmt, atmete schwer und presste die linke Hand auf die Brust – Paul musste ihn stärker verletzt haben, als es zuerst schien.

Paul warf sich zur Seite und aus der Waffe des Wilderers schoss ein dünner Strahl, der ihn knapp verfehlte. Im letzten Moment riss Paul den Arm mit dem Schild nach oben. Der nächste Schuss streifte den Rand und wurde abgelenkt. Paul warf sich herum, sah den Wilderer aus dem Augenwinkel. Wollte sich erneut mit dem Stilett auf ihn stürzen. Doch der Wilderer senkte die Waffe. Sein Gesicht war verzerrt, die Muskeln traten hervor und die Bewegungen erlahmten. Schließlich deaktivierte er unbeholfen das Prallfeld.

Er ist im Bann, dachte Paul und richtete sich auf.

Fast schien es, als würde sie leicht den Kopf schütteln, als sie die Treppe hinunterschlenderte und dem Wilderer einen metallisch schimmernden Kragen umlegte. »Du musst besser auf Dich aufpassen«, tadelte sie ihn. »Was ist mit Deinem Training? Du hättest ihn vorbeilassen und dann von hinten erledigen müssen.«

»Ja, Herrin. Das ist mir jetzt auch klar.«

»Na gut, nimm das hier«, Arana deutete auf die Koffer, »und folge mir. Lass‘ uns nachsehen, was er wirklich hier gewollt hat, woher er kommt und wer ihn geschickt hat.«

Das Ziel tappte ihnen unbeholfen hinterher. Befreien konnte er sich nicht mehr. Sie ignorierten in der Hotelhalle die verwirrten Blicke – da hatte sich jemand aber gründlich das Hemd mit Tinte versaut – und verfrachteten ihn vor dem Hotel in den bereitstehenden Wagen. Im Refugium würde man sich um ihn kümmern müssen, bevor er verhört werden konnte.

Der Hüter, der Arana hergebracht hatte, untersuchte bereits das Zimmer 211. Vielleicht hatten sie Glück und der Wilderer hatte bei der überstürzten Flucht irgendetwas zurückgelassen.

Arana lehnte sich am Steuer des Wagens zufrieden zurück. Ihr Plan hatte gut funktioniert. Der wirkliche Plan ... nicht der, den sie ihrem Haustier aufgetragen hatte. Für einen Affen von Ciaffé III hatte er – als kleine Störung – seine Rolle wirklich gut gespielt. In der entscheidenden Phase war er eigentlich nur als eine Art Stolperdraht gedacht gewesen, der für einen wichtigen Augenblick die Aufmerksamkeit des Ziels auf sich lenken sollte.

Sie dachte an den Moment, als es für Paul kurz gefährlich wurde. Arana hätte bedauert, ihn zu verlieren – nachts war er artig und hielt sie warm ... und war auch erfreulich folgsam, wenn sie ab und zu ein wenig mehr von ihm erwartete ... und sie hatte bereits einiges an Zeit investiert in den kleinen Affen.

Zwei ihrer kostbaren Perlen.

2.2 Der Nuntius sprach lange und Ytras kämpfte gegen die Übelkeit. Der Gestank war unerträglich. – Doch bedachte man den Auftrag, den er für die Chaldar erledigen sollte ... da war selbst der Gestank noch besser zu ertragen.

»Für diesen speziellen Ruf sehen Dich die Höchsten als ihr hinreichendes Werkzeug an.« Das war als besonderes Lob und Auszeichnung zu verstehen – bisher war noch keinem seiner Vorfahren das Prädikat »hinreichend« verliehen worden. »Inzwischen wirst Du verstanden haben, dass die Höchsten nicht die Absicht haben, für diesen speziellen Ruf ein neues Werkzeug einzusetzen. Die Höchsten werden erst dann einen neuen Ytras bestimmen, wenn Deine Mission endgültig gescheitert ist.« Der Nuntius sah ihn kalt an.

Ytras nickte. Er hatte verstanden. Der Auftrag klang jedoch danach, dass sie recht bald auf einen der Paladine zurückgreifen mussten. »Ich diene in dankbarer Demut ... doch selbst für die Ytranen ist Yor nur ein blasser Mythos aus uralten Zeiten.«

Und Myrddin suchte dereinst Yor in der Kälte, suchte Yor im roten Schatten. Erblickte es endlich in der Kälte, sah Yor im roten Schatten. Wurde eingelassen ins Heim des Verschlingers, willkommen geheißen auf Yor, erinnerte sich Ytras schaudernd an den Beginn der alten Saga, die das Ende der blutigen Revolte der Kriegsknechte auf Yor schilderte.

»Sei versichert, dass Yor nicht nur ein ›blasser Mythos‹ ist, wie Du sagst. Zu gegebener Zeit wird Dir offenbart werden, wo und wann es existiert.«

Wo und wann? Was soll das? Eine Mission vorbereiten ... für einen unbekannten Ort? ... Schwierig, doch nicht unmöglich. ... Aber für eine unbekannte Zeit? Wie soll ich das schaffen?

Ytras blieb ruhig. Ihm war zu gut bewusst, dass eine Ablehnung des Rufs keine Option darstellte. Nie dargestellt hatte.

Während des Gesprächs wirkte der Nuntius völlig gelassen – das hier, das war für ihn nur eine normale Beauftragung, bei der er irgendwen auf Geheiß der Höchsten in eine tödliche Schlangengrube stieß. Nichts als reine Routine. Seine Zischlaute waren gleichmäßig und die Stimme in Ytras Kopf klang geschäftsmäßig. Nun verzerrte sich das Gesicht des kleinen Wesens.

Der Nuntius griff sich an den Hals und krächzte in der allgemeinen Verkehrssprache: »Ess issst wichtick ... ess issst wichtick, dasss derr Kontackt wähhrrend des Ruufs nicht verrlorn gehht.«

Der Nuntius litt eindeutig. Diese Laute entsprangen einer Kehle, die dafür nicht geschaffen war. Ytras schien es, dass nun nicht mehr der Nuntius, sonders etwas oder jemand anderes durch den Nuntius direkt mit ihm sprach. Dem Nuntius verursachte diese merkwürdige Art der Kommunikation offensichtlich Schmerzen – und er war eindeutig nicht an einen solchen Übergriff gewöhnt.

»Voo, unssser Dieenerr wird Dich begleiitn. Alss Nuuntiuuss wieerd err Dieer dieenen und Dieer zzur ggegeebenen Zeiit die Toore zu Yor offenbaaren und weiit öfffnen. Scheiiterst Duu, wird err den näächzten Ytras eerntn.«

Daraufhin beklagte sich der Nuntius aufgebracht mit lauten Zischlauten, die nicht übersetzt wurden. Schweißperlen bildeten sich auf dem Gesicht und dem kahlen Kopf. Ytras konnte sehen und riechen, dass sich sein Gegenüber in einem merkwürdigen Streit befand ... und plötzlich zusammenzuckte – wie nach einem heftigen Schlag. Es folgte ein leises Zischeln, das von aufgeregten Nickbewegungen begleitet wurde. Tränen standen dem Nuntius in den Augen und der Gestank verstärkte sich.

Der Nuntius soll mich nach Yor begleiten? Soll mir dienen?

Ytras war seit Jahrhunderten im Dienst der Chaldar. Er hatte geheime und diplomatische Missionen durchgeführt. Doch so etwas hatte er bisher noch nicht erlebt ... und kannte auch keinen ähnlichen Fall aus den geheimen und selbstverständlich verbotenen Aufzeichnungen der Ytranen.

Ihm waren von den Chaldar – oder ihrem Nuntius? – unglaubliche Schrecken zugemutet worden. Die Last all der Toten wog schwer auf ihm. Was war in den vergangenen Tagen geschehen? Waren die vergangenen Tage geschehen? Hatte man ihm mit einem Trugbild nur eine schreckliche Möglichkeit aufgezeigt oder ihm – nachdem diese dann eingetreten war – eine zweite Chance gegeben? Ytras wusste es nicht – für ihn war die Katastrophe real gewesen. Ja, er war dankbar, dass seine Kinder und alle, die ihm dienten, am Leben waren. Ja, er sah diese zweite Chance – für ihn selbst, seine Familie, die Paladine und Diener ... aber da war diese empörte Stimme in ihm, die sehr wütend war und nach Vergeltung rief ... wenn schon nicht an den allmächtigen Chaldar – wie denn auch? – dann zumindest an ihrem sichtbaren Sprachrohr, dem Nuntius. Doch jetzt offen Genugtuung zu zeigen ... ein Erhabener, ein nahezu göttliches Wesen, sei ihm unterstellt, sollte ihm bei dieser merkwürdigen Mission dienen ... dafür war er zu sehr Diplomat. Äußerlich blieb er ruhig und beobachtete nur.

Der Nuntius fasste sich und zischelte in gewohnter Weise. Diesmal verstand Ytras ihn wieder: »Die besondere Mission erfordert die höchste Stufe der Diskretion. Du wirst den Höchsten bei diesem Ruf als geheimer Legat dienen.«

Und Du mir, ergänzte Ytras in Gedanken. Der Nuntius warf ihm einen bösen Blick zu – so, als hätte er ihn verstanden.

Die meisten Missionen, die Ytras bisher für die Chaldar bestritten hatte, waren offene Missionen gewesen. Er war offiziell als Legat der Chaldar aufgetreten. Doch geheime oder verdeckte Legationen waren ihm nicht fremd. Sie bedurften jedoch einer besonders gründlichen Vorbereitung.

Yor ... und die Revolte im Heim des Verschlingers.

Ytras dachte nach und sprach vorsichtig seine Sorgen aus: »Dieser geheime Ruf und die besondere Verantwortung – auch in Bezug auf Euch – ehren mich sehr und erfreuen mein Herz. Doch möchte ich zu bedenken geben, dass es wohl unmöglich sein wird, Eure Anwesenheit geheim zu halten.«

»Du wirst geeignete Maßnahmen zu ergreifen wissen.«

»Es gibt wahrscheinlich keine Verkleidung, die das erhabene

Geschlecht eines Nuntius verbergen kann.«

»Wie ist das zu verstehen?« Das Zischeln klang empört, während sich die Stimme im Kopf nicht verändert hatte.

»Man wird Euch immer riechen können.«

Das war ein erneuter Schlag für sein schmächtiges Gegenüber. Ihm waren sowohl Verwirrung als auch so etwas wie Demütigung anzusehen. Er sah Ytras böse an und zischelte zornig etwas, das nicht übersetzt wurde. Kurz darauf war er wieder zu verstehen: »Ich werde einen Schutzanzug der Kremm tragen.«

»Das ist eine Möglichkeit«, nickte Ytras. Wirklich eine gute Idee ... und lässt mir Luft zum Atmen. »Eine solch ambitionierte Mission bedarf natürlich der gründlichen Vorbereitung. Deshalb bitte ich um die Gunst, die Legation um einige Seelen erweitern zu dürfen. Für diese Mission werden ganz besondere Befähigungen notwendig sein.« Wo und wann.

»Die Herde ist groß. Der Wunsch nach weiteren Seelen sei Dir gewährt – solange er nicht mit dem Gebot der erforderlichen Diskretion kollidiert ... und betrachte Dich bereits jetzt in der Erfüllung Deiner geheimen Legation.«

Wie? Ohne Planung ... wie soll ich denn?

»Hier spricht Ytras, der geringste Knecht und fleht um die Gunst, dienen zu dürfen«, antwortete er resigniert. Man gab ihm nichts. Man gestattete ihm keine Zeit, um wenigstens eine einfache Planung zu durchdenken ... man erlaubte ihm zwar die notwendige Unterstützung ... doch sie gaben ihm keine Zeit, die »Seelen« auch zu sammeln. »Die für diese Mission benötigten Seelen befinden sich nicht hier vor Ort. Ich flehe deshalb um die Gunst, dass man mir – in der unermesslichen Gnade der Höchsten – gestattet, die Seelen während der Reise nach Yor zu requirieren. Deshalb flehe ich um die Gnade, mir zumindest den ersten Teil der Wegstrecke zu offenbaren.«

Es folgte ein aufgeregtes Zischeln. Ytras schien es, als beobachte er erneut ein Zwiegespräch des Nuntius mit einem unbekannten Gesprächspartner. Die schmächtige Gestalt schwitzte und der Gestank verbreitete sich stoßweise innerhalb der goldenen Blase. Besonders deutliches Zischeln wurde von stärkeren Ausdünstungen begleitet.

Durch den Mund!, befahl sich Ytras. Atme nur durch den Mund! Ihm war übel und er war kurz davor, sich zu übergeben. Angeblich gewöhnte man sich an starke Gerüche ... doch entweder hatte die Zeit noch nicht ausgereicht, oder die Ausdünstungen des Nuntius waren einfach zu stark. Es gab noch vieles zu besprechen und zu bedenken – doch an eine Fortführung des Gesprächs wollte Ytras gar nicht erst denken. Ihm grauste davor.

»So sei es.« Der Nuntius trat dicht neben ihn und führte Ytras Hand zu der goldenen Kugel auf der Handfläche.

Eine wahre Geruchsexplosion, sein Zwerchfell zuckte ... doch irgendwie hatte er sich im Griff und unterdrückte den Brechreiz. In ihm wirbelten Bilder umher. Er spürte starken Druck auf den Schläfen und hatte ein taumelndes Gefühl. Dann entstanden aus dem Wirbel undeutliche Strukturen. Inseln aus Licht. Nebel und Schlieren ... eine Sternenkarte. Er stand inmitten der unendlichen Tiefe. Nach einiger Zeit erschien vor ihm ein dünnes goldenes Band. Ihre Wegstrecke?

Gedanklich folgte er der goldenen Linie. Ytras konzentrierte sich auf den einen oder anderen der leuchtenden Punkte und er wusste ... wusste plötzlich, um welchen Stern es sich handelte.

Aber ... da war nichts! Dieser Kurs führte ins Nichts. Die Namen der Sonnen, Planeten und Stationen waren ihm unbekannt. So viele – und alle so unnütz! Dieser Sektor war ihm fremd.

In seiner Verzweiflung ging er den Weg zurück. Es musste doch wenigstens im Nahbereich etwas geben ... doch als er den Anfang der Wegstrecke erreichte, sah er, dass der nicht in der Nähe seiner Heimatwelt lag. Das Vertrauen der Chaldar war also begrenzt. Das hier war ein Ausschnitt, der irgendwo im Nichts begann und sich in unbekannte Tiefen fortsetzte.

Aber halt ... da gab es einen winzigen Punkt, der löste irgendetwas in ihm aus. Eine uralte Erinnerung. Ciaffé ... davon habe ich doch bereits gehört. Was war das noch einmal? Ytras konzentrierte sich auf den unbedeutenden Fleck im Nichts und das Bild veränderte sich. Gleichzeitig erhielt er von irgendwoher genauere Informationen zu Ciaffé.

Das gesamte System lag unter der Kontrolle einer der vielen unbedeutenden Handelsgesellschaften ... ein Nichts, das einem Niemand gehörte. Es gab dort nur einen bewohnten Planeten. Ciaffé III. Der wurde wohl für Seuchenexperimente verwendet – Grippe, Cholera, Pest, Röteln, Fleckfieber. Manchmal verpachtete die Handelsgesellschaft ihn als Labor für sozialpolitische Studien – Religiöser Wahn, Fanatismuslehre, Extremismusstudien, Massakerkunde ... und ähnlicher Quatsch. Wenige einheimische Pflanzenarten waren interessant – der Rest nicht viel mehr als armseliger Müll. Von Ciaffé III stammte eine Pflanzenart, aus der ein schwarzes, koffeinhaltiges Getränk extrahiert wurde, das im Outback sehr selten war. Der Name dieser Pflanze war gleichzeitig der Name des gesamten Systems.

Aber was hatte ihn hellhörig werden lassen? Was war das nur mit Ciaffé? Angestrengt dachte er nach.

Es folgten weitere Informationen zu der kleinen Sonne, der einzigen bewohnten Welt, der Handelsgesellschaft und der winzigen Garnison der wenigen Hüter ... und dann erinnerte er sich.

Oje, schwierig. SIE war auf Ciaffé III ... als erste Hüterin – er hatte mit ihr intensive Zeiten erlebt, die jäh endeten ... sie verschwand damals ohne ein einziges Wort, während er eine Mission für die Chaldar zu erfüllen hatte. Nach vielen Jahrzehnten hörte er zufällig, sie sei in einem fremden System mit dem Namen Ciaffé. Irgendwie hatte es sie in dieses Loch verschlagen.

Was bleibt mir? Das »Feenkind« – so nannte er sie ... vor langer Zeit ... vor Jahrhunderten. Eine zierliche Morganoide. Seine Arana! Er hatte ihr lange nachgetrauert. Sie war eine seiner schmerzhafteren Erinnerungen. Doch sie hatte ihre ganz eigenen Talente und er konnte nun wirklich nicht wählerisch sein.

»Ich wüsste da eine Seele mit einer besonderen Befähigung ... und erbitte die Gunst, eine Morganoide, die als erste Hüterin in der Garnison von Ciaffé III ihr unbedeutendes Dasein fristet, während der Mission zu requirieren.«

»Die Herde ist groß«, bestätigte der Nuntius verdächtig schnell mit den rituellen Worten. Ytras hatte den Köder geschluckt. Der Nuntius grinste und verbreitete zufriedenen Gestank.

Ytras sah ihn prüfend an. Das wird ihr nicht gefallen.

2.3 Das Leuchten der kleinen goldenen Kugel erstarb und die Blase löste sich auf. Endlich strömte Ytras frische Luft entgegen und der Fäulnisgeruch verflüchtigte sich ... löste Husten in der näheren Umgebung aus. Hinter Ytras brach jemand zusammen. Der Nuntius begab sich wieder vor den Thron.

»Als Nuntius der Höchsten vernehme ich Dein Begehren. Dein lästiges Flehen um die Gnade, den Chaldar mit Deinem Leben dienen zu dürfen, wurde von den Höchsten in Betracht gezogen. Jämmerliches Tier der Herde – versinke im Staub!« Nun konnten ihn wieder alle verstehen. Es war die übliche Litanei.

Ytras erhob sich und der Nuntius nahm den Thron ein, wie es für diesen Teil des Rituals überliefert war. Ytras stieg die zwei Stufen hinab, fiel auf die Knie und verneigte sich, bis die Stirn den Boden berühre. Er konnte noch sehen, wie die Augen des Nuntius für einen Moment zufrieden aufblitzten. Deutlich länger, als es für die Zeremonie üblich war, ließ ihn der Nuntius in dieser Position verharren und Unruhe breitete sich im Saal aus. Heute verlief so vieles in ganz anderen Bahnen, als es das uralte Ritual eigentlich bestimmte.

»So erhebe Dich. Tier der Herde. Legat Ytras. Beginne nun endlich mit der Erfüllung all Deiner versäumten Pflichten.«

»Ich eile. Mein Herz schmilzt in Dankbarkeit.«

»So erwarten es die Höchsten von Dir.«

»Ich diene. Mein Herz schmilzt in Dankbarkeit.«

»Die Chaldar gewähren Dir die großherzige Gunst, dass ich nun huldvoll Deine jämmerlichen Dienste taxiere.«

»Oh, Erhabener. Ich wage es, aus dem Schlamm heraus meine Stimme zu erheben. Hier spricht Ytras, der geringste Knecht. Ytras, der Legat. Ich lobpreise die Chaldar. Ich werde jede angemessene Gabe mit unermesslicher Freude entgegennehmen.«

Unruhe und Anspannung im Saal. Der Nuntius schaute ihn kritisch an. Das war nicht der überlieferte Text. Ytras war eigenmächtig von der Litanei abgewichen. Anstatt »jede Gabe« hatte er »jede angemessene Gabe« gesagt.

Ytras dachte daran, was er gerade miterlebt hatte. Das Gespräch in der privaten Blase hatte sein Bild des göttlichen Nuntius stark verändert. Ytras konnte ihm seine Gedanken deutlich ansehen: Er war der Erhabene. Der Nuntius der Chaldar – sollte er hier öffentlich mit diesem Kriecher feilschen?

»Die Chaldar gewähren Dir die großherzige Gunst, dass ich Deine jämmerlichen Dienste huldvoll auf Fünfhundert taxiere.«

Ein Aufstöhnen im Saal. Das war eine Summe, die noch niemals einem Ytras für ein einziges Legat gewährt worden war.

»Ich diene. Mein Herz schmilzt in Dankbarkeit und ich nehme freudig sowohl die fünfhundert freien als auch die fünfhundert gebundenen Lebensquellen für diese Legation entgegen.«