Die Sünde In Mir - A.C. Hurts - E-Book

Die Sünde In Mir E-Book

A.C. Hurts

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Beschreibung

Nicole, Mutter von zwei Kindern, wird am Tatort eines abscheulichen Verbrechens aufgefunden. Sie hat keine Erinnerung an die Tat und hält sich für sechs Jahre alt. Die Psychiatrie, in die man sie bringt, ängstigt sie, denn sie befürchtet, in dem Heim zu sein, mit dem ihre Mutter ihr immer gedroht hat. Die Ärzte versuchen alles, um ihr zu helfen. Aber kann das gelingen? Nach und nach wird die Geschichte von Nicole enthüllt.

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Inhaltsverzeichnis

Die Sünde in mir

REDRUM

Die Sünde in mir

2. Auflage

Copyright © 2018 dieser Ausgabe bei

REDRUM BOOKS, Berlin

Verleger: Michael Merhi

Lektorat: Lisa Schwerber, Lektorat Klein & Schwer

Korrektorat: Jasmin Kraft / Silvia Vogt

MIMO GRAPHICS unter Verwendung einer

Illustration von Shutterstock

ISBN: 978-3-95957-052-7

E-Mail:

www.redrum-books.com

YouTube: Michael Merhi Books

Facebook-Seite: REDRUM BOOKS

Facebook-Gruppe:

REDRUM BOOKS - Nichts für Pussys!

A.C. Hurts

Die Sünde in mir

Zum Buch:

Nicole, Mutter von zwei Kindern, wird am Tatort eines abscheulichen Verbrechens aufgefunden. Sie hat keine Erinnerung an die Tat und hält sich für sechs Jahre alt. Die Psychiatrie, in die man sie bringt, ängstigt sie, denn sie befürchtet, in dem Heim zu sein, mit dem ihre Mutter ihr immer gedroht hat. Die Ärzte versuchen alles, um ihr zu helfen. Aber kann das gelingen? Nach und nach wird die Geschichte von Nicole enthüllt.

Zum Autor:

A.C. Hurts wurde 1970 im Ruhrgebiet geboren, wo sie noch heute mit ihrem Mann, zwei Kindern und einem Hund lebt. Schon als Kind sah sie heimlich Horrorfilme und las begierig Bücher von Stephen King. Ihre ersten Geschichten entstanden im zarten Alter von elf Jahren und befinden sich immer noch in ihrem Besitz.

Nach der Ausbildung zur Krankenschwester arbeitete A.C. Hurts bis zur Geburt ihres ersten Kindes in diesem Beruf, zuletzt auf der Intensivstation. Vor allem der Einsatz in der Landesklinik für Psychiatrie bewegte sie dazu, sich mit der menschlichen Psyche näher zu befassen. Mit vierzig Jahren erfüllte sich die Autorin den Wunsch nach einem Schreibstudium, welches sie nach dreijähriger Studienzeit erfolgreich abschloss.

A.C. Hurts ist seit 2017 Autorin bei REDRUM BOOKS. Sie gehört zu den erfolgreichsten Horror-Autorinnen Deutschlands. In überarbeiteter Fassung bei REDRUM BOOKS erschienen sind:

Gone Mad

All Beauty Must Die

Love Of My Life

Carnivore – Fleischeslust

Kontakt: www.facebook.com/a.c.hurts1970

Inhalt

Die Sünde in mir 10

Prolog 12

Kapitel 1 13

Kapitel 2 18

Kapitel 3 20

Kapitel 4 22

Kapitel 5 25

Kapitel 6 28

Kapitel 7 31

Kapitel 8 34

Kapitel 9 39

Kapitel 10 42

Kapitel 11 45

Kapitel 12 48

Kapitel 13 52

Kapitel 14 55

Kapitel 15 58

Kapitel 16 61

Kapitel 17 65

Kapitel 18 68

Kapitel 19 71

Kapitel 20 74

Kapitel 21 77

Kapitel 22 80

Kapitel 23 84

Kapitel 24 86

Kapitel 25 89

Kapitel 26 91

Kapitel 27 94

Kapitel 28 98

Kapitel 29 102

Kapitel 30 105

Kapitel 31 109

Kapitel 32 112

Kapitel 33 115

Kapitel 34 119

Kapitel 35 122

Kapitel 36 126

Kapitel 37 129

Kapitel 38 133

Kapitel 39 137

Kapitel 40 141

Kapitel 41 145

Kapitel 42 149

Kapitel 43 154

Kapitel 44 157

Kapitel 45 160

Kapitel 46 163

Kapitel 47 166

Kapitel 48 168

Kapitel 49 172

Kapitel 50 175

Kapitel 51 179

Kapitel 52 183

Kapitel 53 186

Kapitel 54 189

Kapitel 55 192

Kapitel 56 196

Kapitel 57 199

Kapitel 58 203

Kapitel 59 207

Kapitel 60 211

Kapitel 61 215

Kapitel 62 219

Kapitel 63 221

Kapitel 64 226

Kapitel 65 230

Kapitel 66 232

Kapitel 67 236

Kapitel 68 239

Kapitel 69 242

Kapitel 70 246

Kapitel 71 250

Kapitel 72 253

Kapitel 73 256

Kapitel 74 259

Kapitel 75 263

Kapitel 76 267

Kapitel 77 271

Kapitel 78 274

Kapitel 79 278

Kapitel 80 282

Kapitel 81 285

Kapitel 82 288

Kapitel 83 291

Kapitel 84 294

Kapitel 85 297

Kapitel 86 302

Kapitel 87 306

Kapitel 88 311

Kapitel 89 315

Kapitel 90 318

Kapitel 91 322

Kapitel 92 327

Kapitel 93 330

Kapitel 94 334

Kapitel 95 338

Kapitel 96 343

Kapitel 97 347

Kapitel 98 351

Verlagsprogramm 355

A.C. Hurts

Die Sünde in mir

Thriller

Prolog

Blind und taub schlage ich zu, bis meine Arme gefühllos sind. Ich habe kaum noch Kraft, doch aufhören kann ich nicht. Immer wieder lasse ich meine Fäuste vorschnellen. Wo sie eben noch auf Widerstand trafen, befindet sich nur noch eine weiche Masse. Knochen sind längst gebrochen und Blut fließt. Vermutlich schreie ich, aber das kann ich nicht hören.

Kapitel 1

Früher

Mein Name ist Nicole und ich bin sechs Jahre alt. Im Sommer komme ich in die Schule und kurz danach werde ich sieben.

Heute hat Mama gesagt, ich solle meinen Schrank ausmisten. Alles Jammern hat nichts geholfen. Mama stemmte nur die Hände in die Seiten, sah mich ernst an und sagte in ihrem strengsten Ton: »Sofort«. Da ich weiß, dass sie es selbst macht, wenn ich mich weiter stur stelle, habe ich mich in unser Kinderzimmer getrollt. Das teile ich mir mit meiner großen Schwester. Die muss nie etwas von ihren Sachen aussortieren. Das finde ich gemein. Sabine ist fast sechs Jahre älter als ich und wenn ihr ihre Sachen nicht mehr passen, bekomme ich sie. Natürlich darf sie immer alles behalten. Ich bekomme dann irgendwann die alten Anziehsachen und das kaputte Spielzeug.

Einmal habe ich mir eine Barbiepuppe gewünscht, damit ich mit den anderen Kindern spielen kann. Die bringen ihre Barbies oft mit zum Spielplatz. Die Puppen sind so schön! Sie haben lange blonde Haare und man kann ihnen wunderschöne Kleider anziehen. Meine Schwester Sabine musste mir dann eine Barbie abgeben. Sie hatte nämlich drei! Natürlich gab sie mir eine kaputte und die hatte auch noch schwarze Haare.

»Ein Hai hat ihr Bein gefressen«, sagte Sabine und drückte mir die hässliche Puppe in die Hand. Mama zog der Barbie ein langes, selbst gehäkeltes Kleid an, damit man das mit dem Bein nicht so sah. Ich liebte die Puppe trotz allem und nahm sie stolz mit auf den Spielplatz.

»Was ist denn das für ein hässliches Ding?«, fragte Birgit vom Haus nebenan.

»Mit so einer spielt meine Petra nicht«, meinte Britta aus dem obersten Stockwerk unseres Hauses. Sie nahm ihre schöne blond gelockte Barbie und spielte in einer anderen Ecke weiter. Birgit folgte ihr.

Ich traute mich nicht, zu ihnen zu gehen und spielte eine Weile alleine, ließ aber am nächsten Tag meine Puppe zu Hause. Da durfte ich wenigstens wieder mitspielen.

Ich habe die Sachen, die ich nicht ganz dringend brauche, in eine Kiste gepackt. Es fällt mir schwer, mich von meinem Spielzeug zu trennen. Ich besitze kaum etwas. Mama sagt, wir bräuchten Platz und sie meint, Papa würde die Kiste nur in den Keller stellen. Ich räume also mehr aus dem Schrank, als ich es sonst getan hätte. Schließlich kann ich die Sachen aus dem Keller nach oben holen, wenn ich damit spielen will. Schon am Abend vermisse ich das Bilderbuch vom kleinen Häwelmann. Das habe ich so gerne. Lesen kann ich noch nicht, aber ich kenne den Text auswendig, weil meine Oma ihn mir oft vorgelesen hat. Die Bilder sind auch toll, besonders das, wo Häwelmann sein Hemdchen über sein ausgestrecktes Bein gehängt hat und hinein pustet, damit es sich wie ein Segel aufbläht. Der Häwelmann wollte nämlich mit seinem Gitterbett herumfahren. Aber das eine Bild vom Mond macht mir Angst, weil er da so böse guckt und den kleinen Häwelmann anschreit, er soll endlich schlafen. Da blättere ich schnell weiter.

Ich jammere so lange herum, bis meine Schwester den Kellerschlüssel vom Haken nimmt und mit mir nach unten geht. Es ist noch ziemlich hell, denn wir haben Sommer. Ich muss trotzdem um sieben Uhr ins Bett. Wir durchsuchen den ganzen Kellerraum, finden den Karton aber nicht. Ich heule fast und hänge mich an Sabines Arm, als sie wieder in die Wohnung gehen will.

»Hier ist nichts, das hast du doch gesehen«, fährt sie mich genervt an. Den Ton kenne ich. Nun laufen mir doch die Tränen über das Gesicht. Wo sind denn nur meine Sachen?

»Ich will mein Buch, sonst kann ich nicht schlafen«, quengele ich und sehe sie Hilfe suchend an, blinzele die Tränen weg.

»Du bist eine schreckliche Nervensäge«, mault sie, aber ich spüre schon, dass sie darüber nachdenkt, was wir machen können. Sabine hat meistens gute Ideen. Sie zieht ein Taschentuch aus ihrer Hosentasche und putzt mir die Nase ab, obwohl ich das auch alleine gekonnt hätte. Irgendwann gibt sie nach und wir gehen nach draußen. In unserem Müllcontainer finden wir nichts, aber wir geben nicht auf und werden in dem vom Nachbarhaus fündig.

Meine Schwester hebt mich hoch, da der Container groß ist und wir alleine nicht reingucken können. Je eines von den riesigen Dingern gehört zu einem Wohnblock. Ich kann leider kaum noch etwas von meinen Schätzen wiederfinden. Vor dem Müllbehälter liegt eine Seite meines Lieblingsbuches. Genau die mit dem Mond, wo er eine Schlafmütze aufhat und böse guckt, weil Häwelmann nicht schlafen will. Im Gebüsch finde ich einen abgerissenen Arm meines Gummiteufels. Den hat meine Tante mir bei einem Ausflug zu einer Talsperre geschenkt. Mein Vater hat meine Sachen in den Container hineingeworfen. Ich hebe beide Teile auf und sehe meine große Schwester an. Vielleicht fällt ihr noch etwas ein, wo wir den Rest finden können. Doch sie zuckt nur die Schultern und sagt: »Heul bloß nicht wieder los!« Dann zieht sie mich an der Hand nach Hause. Ich bin sehr traurig und stelle mir vor, wie andere Kinder mit meinen Sachen spielen oder sie gar kaputtmachen. Irgendwann habe ich mich in den Schlaf geheult, den Gummiarm des Teufels fest umklammernd.

Am nächsten Tag hängt mein Vater die Tür zu unserem Kinderzimmer aus. Ich schlafe mit meiner Schwester zusammen in einem kleinen Raum. Dort gibt es unser Etagenbett, einen Schrank und einen Schreibtisch mit einem Stuhl auf Rollen. Den Schreibtisch darf nur meine Schwester benutzen, weil sie schon in die Schule geht und ich nicht.

Papa schleppt einen Sessel in unser Zimmer, nachdem er unser Bett verschoben hat. Den Sessel kann man zweimal ausklappen, dann entsteht eine Matratze. Weil das Etagenbett jetzt hinter der Tür steht, hätte man diese nicht mehr ganz öffnen können, denn sie geht nach innen auf. Papa baut eine Schiebetür aus Plastik ein. Dann erklärt er uns, dass wir eine neue Schwester bekommen werden.

Kapitel 2

»Wissen Sie, was passiert ist?«

Ich sehe den Mann vor mir an. Er trägt eine Brille und schaut auf den Block, der auf seinen Beinen liegt. Wo ist der denn so plötzlich hergekommen? Und wer ist das überhaupt? Ich schüttele den Kopf. Hinter meiner Stirn klopft es dumpf.

»Was ist das Letzte, woran Sie sich erinnern können?«

Ich zucke mit den Schultern und sehe mich um. Das Zimmer kommt mir nicht bekannt vor. Wo bin ich? Es sieht aus, als würde ich in einem Büro sitzen. Irgendwie so ähnlich wie bei dem Schuldirektor, bei dem ich mich vorstellen musste, bevor ich in die Schule kam. Es gibt einen großen dunklen Schreibtisch mit vielen Ordnern und Papierstapeln drauf, zwei Stühle und Bilderrahmen an den Wänden, aber da sind gar keine Bilder drin. Irgendwas steht dort, auf braunem Papier, doch ich kann nur ein paar Buchstaben erkennen.

Meine Oma hat sie mir beigebracht. Ein S zum Beispiel, der Schlangenbuchstabe, den ich nicht schreiben kann, aber er kommt bei meiner Schwester Sabine am Anfang. Und da ist ein W, das ist ein M, das auf dem Rücken liegt, und M kommt in Mama vor.

»Was ist mit Ihren Händen passiert?«, fragt der Mann.

Ich schaue auf meine Hände. Sie fühlen sich schon die ganze Zeit merkwürdig an, besonders die rechte. Plötzlich entdecke ich einen dicken weißen Verband, vielleicht ist es ein Gips. Meine Freundin Birgit hatte mal einen am Fuß, und alle Kinder aus der Nachbarschaft durften etwas drauf malen, damit er schöner aussah. Oben aus dem Verband schauen meine Knöchel raus. Kleine Schrammen befinden sich darauf, manche sind mit Pflastern abgeklebt. Vermutlich bin ich mal wieder hingefallen. Das passiert mir öfter, dann habe ich meist aufgeschürfte Hände. Wenn ich hinfalle, schlage ich mir dauernd was auf.

Vorsichtig bewege ich die Finger, die irgendwie komisch aussehen. Sie sind länger als in meiner Erinnerung, schlank und mit gefeilten Nägeln. Sie sind gar nicht eingerissen oder dreckig wie sonst. Die rechte Hand tut ein bisschen weh. Eine Faust kann ich nicht machen.

Ich weiß aber nicht, was damit passiert ist und werfe einen unsicheren Blick auf den Mann, der vor mir sitzt. Er kommt mir alt vor, obwohl er keine grauen Haare hat, sondern braune.

»Ich bin Professor Stefan Wieland«, stellt er sich vor. »Sagen Sie mir Ihren Namen?«

»Nicole«, entfährt es mir, bevor ich es stoppen kann. Ich soll doch nicht mit Fremden reden! Und das hier ist ein Fremder.

»Wie alt sind Sie, Nicole?«

»Ich bin sechs.«

Kapitel 3

Früher

Die neue Schwester kommt am nächsten Tag. Sie ist jünger als ich, einen Kopf kleiner und blond gelockt wie eine Barbie. Verstohlen späht sie hinter Papas Bein hervor.

»Das ist Tanja. Sie bleibt von nun an bei uns«, erklärt Papa und schiebt den blonden Engel in meine Richtung. Ich mag sie nicht.

Wegen DER musste ich meinen Schrank ausräumen? Wegen DER haben wir so eine doofe Tür, durch die man alles hören kann? DIE soll auch noch mit in das kleine Zimmer?

Meine große Schwester ist ganz freundlich zu Tanja. Sie nimmt sie an die Hand und sagt, dass sie ihr das Kinderzimmer zeigen will, wobei sie mir verschwörerische Blicke zuwirft. Ich folge den beiden missmutig.

Tanja steht verloren herum. Sie trägt ein Kleid! Ich besitze nur ein einziges Kleid. Meine Eltern finden diese Art von Kleidung unpraktisch. Außerdem haben sie sich nach meiner Schwester einen Jungen gewünscht und nicht noch ein Mädchen. Warum ist dann Tanja hier? Jetzt sind wir schon drei!

Ich bin neidisch auf Tanjas Haare, die ihr in leichten Wellen über die Schulter fallen. Meine Haare sind dunkelbraun und kurz geschnitten. Mein Papa mag es so und eine Freundin meiner Mutter schneidet sie mir regelmäßig in unserer Küche, bevor sie zu lang werden.

Sabine fragt Tanja, wo sie denn herkommt, doch sie will wohl nicht mit uns sprechen. Sie betrachtet alles mit ihren blauen Augen und sagt kein Wort. Irgendwann verlieren wir das Interesse an ihr und lassen sie auf ihrem Sessel sitzen, der auch ihr Bett sein soll. Ich hoffe nur, dass die nicht an meine Sachen geht. Wir setzen uns auf die Couch im Wohnzimmer und sehen uns an. Nun haben wir nicht mal mehr das kleine Kinderzimmer als Rückzugsort, wo wir ungestört sein können.

Erst als Mama zum Abendessen ruft, wird meine Schwester geschickt, um Tanja zu holen. Schon gibt es ein neues Problem. Am Küchentisch stehen nur zwei Stühle und eine Eckbank. Bisher habe ich alleine auf dem längeren Stück der Bank gesessen, während Papa auf dem kurzen Stück sitzt. Jetzt muss ich rücken, um Platz für Tanja zu machen. Es ist alles viel zu eng.

Der Engel sitzt da, den Kopf gesenkt, und macht keine Anstalten zu essen. Wenn ich mich so benehmen würde, hätte Papa mich schon aufs Zimmer geschickt, aber Tanja darf so dasitzen und ihr Butterbrot anstarren.

Kapitel 4

»Sind Sie zu einer ersten Einschätzung gekommen?«

Professor Wieland sah auf. Der Mann, der vor ihm saß, war vom Gericht geschickt worden. Seine Gedanken drehten sich noch um die Diagnose seiner letzten Patientin, diese Fragerei konnte er jetzt gar nicht gebrauchen. Seufzend nickte er vor sich hin, als müsse er seine eigenen Gedanken bestätigen. Diese Frau beschäftigte nicht nur ihn, sondern unter anderem auch den Richter, der zu entscheiden hatte, was weiter mit ihr geschehen sollte. Deshalb musste er sich mit seinem Besucher herumschlagen, statt die Lage zu analysieren.

Die Tatsache, dass die Patientin mental offenbar in ihre Kindheit geflüchtet war und so ihre Tat verdrängt hatte, stellte einen interessanten Aspekt dar. Er fragte sich, was damals passiert sein mochte. Entweder sie hatte sich in eine Welt zurückgezogen, in der sie sich sicher fühlte, oder sie war zu dem Moment zurückgekehrt, an dem ihr Trauma seinen Anfang genommen hatte. Es war jedoch noch zu früh, sich darüber ein Urteil zu bilden, wie es auch zu früh war, die Frau mit ihrer Tat zu konfrontieren und damit zu riskieren, dass sie komplett dichtmachte. Grübelnd rieb er sich das Kinn.

»Sie wird wohl eine Weile unser Gast sein«, tat er schließlich seine Meinung kund. »Es wird dauern, bis sie sich öffnen wird.«

»Denken Sie bitte an das Schreiben für den Richter.«

»Ja. Natürlich. Ich werde es gleich aufsetzen.« Wieland widerstrebte es, eine so übereilte Diagnose zu stellen, auch wenn diese nur vorläufig war. Wie immer in solchen Fällen drängte das Gericht auf eine schnelle Antwort.

»Keine vollständige Diagnose, Professor, nur eine erste Einschätzung«, klangen ihm die Worte von Richter Baumann noch in den Ohren, nachdem er bei einem anderen Fall erklärt hatte, so schnell keine vollständige Analyse durchführen zu können. Ein psychologisches Gutachten brauchte seine Zeit.

Die beiden Männer gingen den Flur zum Bürotrakt hinunter, der Professor weiterhin in Gedanken versunken.

»Halten Sie die Frau für unzurechnungsfähig oder spielt sie das alles nur?«

»Es ist noch viel zu früh, um mich dazu zu äußern.« Professor Wieland schloss die Tür zu seinem Büro auf und ließ dem Beamten den Vortritt. Es ärgerte ihn, dass er mal wieder den Hellseher spielen sollte. Die Patienten hatten ihre Diagnosen leider nicht auf der Stirn stehen. Die Psychoanalyse war ein weites Feld und brauchte Zeit. Gelegentlich kamen Mischformen verschiedener Krankheitsbilder vor und es dauerte, bis man eine konkrete Diagnose stellen konnte.

»Kaffee?«

»Ja, gerne.«

Er schenkte zwei Tassen aus einer Thermoskanne voll und gab eine davon ab.

»Sie ist vierzig«, sagte er, während er den heißen Becher in den Händen drehte. »Sie hat zwei Kinder und ist verheiratet. Was treibt eine unauffällige Hausfrau zu so einer Wahnsinnstat?«

Obwohl er es in seinem Beruf täglich mit Gewaltverbrechen zu tun hatte, faszinierte ihn immer wieder aufs Neue die Motivation, die Menschen zu einer Tat trieb. Einige Dinge waren offensichtlich, wie zum Beispiel ein Mord aus Eifersucht, aber viele Verbrechen blieben ein Rätsel. Der Auslöser für eine Tat konnte Jahre zurückliegen. Dann fehlte nur noch ein Schlüsselreiz und schon ging die Bombe hoch.

Der Beamte räusperte sich, sodass der Professor aus seiner Grübelei aufschreckte. Wieland spürte, wie unwohl sich sein Gegenüber fühlte, wenn er ihn in seine Gedankengänge einbezog. Solche Gespräche würde er lieber mit Kollegen führen. Die meisten gesunden Menschen wollten die »Irren« nicht so nah an sich herankommen lassen und waren froh, wenn sie das Gebäude der Psychiatrie nur von außen sahen.

Sogleich drifteten die Gedanken des Professors zurück zu seiner Patientin. Die Frau, um die es hier ging, war eine ganz normale Hausfrau und dazu noch schlank und zierlich. Herrgott noch mal! Wenn sie zu so etwas in der Lage gewesen war, dann war wohl jedem auf der Welt eine ähnliche Tat zuzutrauen.

Kapitel 5

Früher

Meine große Schwester und ich sind uns schnell einig. Tanja muss wieder weg! Sie stört und bringt alles durcheinander. Ständig müssen wir Rücksicht auf sie nehmen.

Tanja muss schon um sechs ins Bett und ab da dürfen wir nicht mehr ins Kinderzimmer, damit wir sie nicht stören. Die Wohnung ist klein und das Fernsehprogramm für uns uninteressant. Papa guckt Sport oder Nachrichten und will dabei seine Ruhe haben. Die Sendungen für Kinder kommen nur am Samstagnachmittag und am Sonntagmorgen. In der Küche zu sein, macht auch keinen Spaß. Mama kocht bis spät in die Nacht alles ein, was Papa aus seinem Schrebergarten mitbringt. Sie macht Marmelade und Säfte selbst. In unserem Keller türmen sich Hunderte von Einmachgläsern und Flaschen.

Sabine und ich haben dank Tanja keinen Platz mehr, der nur für uns ist. Früher haben wir uns im Bett noch unterhalten. Mama schickt mich zwar um sieben schlafen, aber oft liege ich noch wach, bis Sabine kommt, und dann reden wir, bis mir die Augen zufallen. Manchmal darf ich zu ihr ins Bett. Sie schläft im Etagenbett oben. Nun können wir das alles nicht mehr machen, weil wir Rücksicht auf Tanja nehmen müssen. Außerdem können meine Eltern durch die dünne Schiebetür alles hören, was wir sagen. Im Gegenzug bekommen wir auch alles mit, was sie bereden, und hören auch das Fernsehprogramm.

Tanja muss weg, das steht fest, vor allem nach der Sache mit unserer Katze.

Unsere Katze hieß Lu und mein Vater hatte sie mitgebracht. Sie war keine besonders nette Katze und wollte die meiste Zeit in Ruhe gelassen werden. Trotz mehrerer Ermahnungen versuchte Tanja ständig Lu anzufassen oder herumzutragen. Eines Tages bekam sie die Quittung dafür. Lu wehrte sich und Tanja trug Kratzspuren im Gesicht davon. Sie heulte natürlich gleich los, als wäre sie aufgeschlitzt worden. Abends meinte Vater dann, dass Lu gefährlich sei und wegmüsse. Sabine und ich konnten das gar nicht glauben. Sicher meinte er das nicht ernst. Auch wir beide hatten schon reichlich Bekanntschaft mit Lus Krallen gemacht, aber das hatte ihn nie gestört.

Statt die Katze in ein neues Zuhause abzugeben, beförderte mein Vater sie nach draußen. Er erklärte uns, sie sei dort glücklicher, weil sie nicht von kleinen Kindern geärgert würde.

Sabine heulte gleich los und ich ließ mich davon anstecken. Sobald wir nach draußen durften, suchten wir nach Lu. Unsere Bemühungen blieben erfolglos und erschöpft kamen wir zum Abendessen zurück. Wenig später miaute die Katze so herzzerreißend vor der Haustür, dass Mama sie hereinließ. Wir freuten uns und dachten, jetzt wäre alles wieder gut, aber da hatten wir Tanja unterschätzt.

Sie brachte unseren Vater dazu, Lu noch mal hinauszuwerfen. Als die Katze dieses Mal zurückkam, war sie krank, kotzte auf den Teppich und erbrach irgendwann auch Blut. Mama packte sie in ihre braune Einkaufstasche, zog den Reißverschluss fast ganz zu und machte sich zu Fuß auf den Weg zum Tierarzt. Als sie zurückkam, war die Tasche leer.

»Mama, wo ist Lu?«

»Der Tierarzt hat sie behalten.«

Abends hörten wir Papa über die Kosten für den Tierarzt schimpfen. Er sah nicht ein, warum man mit einem kranken Tier zum Arzt gehen sollte. Im Schrebergarten wurden die Dinge anders geregelt. Kaninchen und Hühner wurden auf einem Hackklotz geköpft. Warum nicht auch eine kranke Katze?

Lu kam nicht wieder. Sabine weinte sich die Augen aus dem Kopf und ich verstand nicht, was los war. Ich wusste nicht, dass ein Tierarzt todkranke Tiere tötet. Später erfuhr ich, dass Lu draußen wohl Rattengift gefressen hatte. Davon hatte sie innere Blutungen bekommen und war eingeschläfert worden.

Und Tanja war schuld!

Kapitel 6

Ich liege im Bett und starre an die Decke. Es ist eine fremde Zimmerdecke. Sie ist weiß und nicht braun, wie sie sein sollte. Kein Muster, keine Lampe, jedenfalls keine richtige. Stattdessen sind da Löcher, aus denen das Licht kommt. So etwas habe ich noch nie gesehen. Ich starre in eins der Lichter, bis ich bunte Schlieren durch den Raum tanzen sehe. Das sieht schön aus! Aber irgendwann tun meine Augen weh und ich suche nach einer anderen Stelle, die etwas Abwechslung bietet.

»Schlaf weiter«, sagt Sabine, wenn ich zu früh wach werde. Ich soll nicht aufstehen und vor allem keinen Krach machen, damit Mama und Papa nicht gestört werden.

Aber es ist so langweilig, einfach nur herumzuliegen!

In diesen Momenten betrachte ich erst die Unterseite von Sabines Bett. Manchmal stemme ich mich mit den Füßen dagegen. Das geht, wenn ich mich so hochstemme, dass ich nur noch mit Schultern und Kopf meine eigene Matratze berühre. Manchmal merkt sie es, wenn ich sie von unten schubse und knurrt: »Hör auf!« Dann muss ich mir was Neues überlegen.

In diesem Fall versuche ich es oft mit Schattenfiguren, die ich mit Hilfe meiner Hände an die Wand zaubere, oder ich halte mir ein Auge zu und betrachte meinen ausgestreckten Daumen. Wenn ich dann das Auge zu- und das andere aufmache, ist der Daumen auf einmal ganz woanders! Ich finde das toll! Außerdem kann ich auf diese Art, also mit einem Auge zu, sogar die Hängelampe mit meinem Daumen verdecken, obwohl die viel größer ist, als mein Finger.

»Guten Morgen!«

Ich schrecke zusammen. Der Mann von gestern ist wieder da. Was will der nur von mir? Ich tue so, als würde ich ihn gar nicht sehen.

»Wie geht es Ihnen heute?«, will er wissen.

Der redet vielleicht merkwürdig! Jetzt hat er mich ganz rausgebracht. Wo bin ich gerade gewesen? Ach ja, in meinem Bett.

Manchmal schläft Oma in meinem Bett, wenn sie zu Besuch ist. Ich darf dann oben bei Sabine schlafen. Ist klar, dass eine Oma nicht so hoch klettern kann. Wenn Oma bei uns schläft, ist es nicht so langweilig. Sie ist meist schon früh wach, genau wie ich, und ich beuge mich immer über das Geländer, sobald ich ihr Schnarchen nicht mehr höre.

»Oma, bist du wach?«, flüstere ich dann und hoffe, dass Sabine nichts bemerkt. »Darf ich zu dir runterkommen?«

Dann kuschle ich mich zu Oma ins warme Bett. Das fühlt sich so gut an. Oma riecht zwar ein bisschen komisch, aber Sabine meint, bei alten Leuten wäre das so.

»Oma? Liest du mir was vor?«, frage ich dann meistens. Und sie sagt dann: »Wenn du meine Brille holst.« Natürlich hole ich ganz schnell die Brille und auch das Buch und dann lege ich mich wieder zu ihr und schließe die Augen, während sie vorliest.

Oma ist toll! Und Sabine kann gar nicht meckern, weil Oma mehr zu sagen hat als sie.

»Wie hast du geschlafen?«

Wieder der Mann! Warum kann der mich nicht in Ruhe lassen? Es ist gerade so schön gewesen. Oma war noch da! Ich denke daran, was sie mir immer sagt: »Sprich nicht mit Fremden und geh vor allem mit niemandem mit, den du nicht kennst! Wenn dich jemand anfassen will oder dich nicht in Ruhe lässt, dann schrei so laut du kannst. Du kannst doch laut schreien, oder?«

Kapitel 7

Professor Wieland begegnete auf seinem Weg zur Station der Nachtschwester, die ihren Dienst gerade beendet hatte und auf dem Weg zum Ausgang war.

»Einen Moment bitte. Wie geht es Frau Schütz?«, sprach er sie an.

Die Schwester nestelte bereits an ihrem Schlüsselbund, blieb aber stehen und berichtete ihm. »Sie hat gut geschlafen, starrt aber schon seit einer Weile an die Decke und rührt sich nicht. Ich habe alles notiert und dem Frühdienst eine Übergabe gemacht.«

»Schon in Ordnung. Ich spare mir den Umweg über das Schwesternzimmer und gehe direkt zur Patientin. Schönen Feierabend!« Er nickte der Schwester zum Abschied zu und machte sich auf den Weg. Vielleicht war die Patientin heute in der Lage, sich etwas ausführlicher mit ihm zu unterhalten. Die ganze Nacht über hatte ihn dieser Fall beschäftigt, und er hatte kaum Schlaf gefunden.

»Hallo. Wie geht es Ihnen? Haben Sie gut geschlafen?«, fragte er, nachdem er geklopft hatte und eingetreten war. Die Patientin lag auf dem Rücken und starrte an die Zimmerdecke, genauso, wie es die Nachtschwester beschrieben hatte. Sie reagierte auch nicht, als er näherkam.

»Erinnern Sie sich an mich? Ich bin Professor Wieland. Wir haben uns kennengelernt, als Sie herkamen.«

Er wartete einen Moment, um ihr Zeit zu geben. Manche Patienten waren verlangsamt und brauchten eine Weile, um das Gehörte zu verarbeiten und angemessen zu reagieren. Leider blieb sie auch nach Minuten stumm. Wieland sah selbst zur Decke, aber da gab es außer den eingelassenen Lampen nichts zu sehen.

»Ich fühle nach Ihrem Puls. Bitte nicht erschrecken«, erklärte er, bevor er sich über die Patientin beugte und ihr Handgelenk berührte. Sie lag weiterhin stocksteif da, sodass er den Muskeltonus auch noch überprüfte, indem er ihren Oberarm drückte. Es schien alles normal zu sein. Er hatte schon befürchtet, ihre Muskulatur wäre nach dem erlebten Trauma durch einen katatonen Stupor erstarrt. Eine Diagnose war ohne weitere Untersuchungen nicht möglich, aber in seinem Kopf spukten bereits die Begriffe Schizophrenie und multiple Persönlichkeitsstörung herum, seit er herausgefunden hatte, dass die Patientin sich für sechs Jahre alt hielt.

Ganz plötzlich bewegte sie sich doch. Ohne irgendeine Vorwarnung presste sie sich die Hände auf die Ohren, kniff die Augen fest zu und schrie laut los.

Professor Wieland war schockiert und eine Sekunde wie gelähmt, dann versuchte auch er seine Ohren zu schützen, indem er die Handflächen fest darauf presste. Das Geschrei war so schrill und hoch, dass es ihm körperlich wehtat. Die Patientin hatte dazu auch noch Ausdauer! Der Schrei schien überhaupt kein Ende zu nehmen.

Die Schwester, die die Überwachungsmonitore der Station ständig im Auge behielt, hatte ihm anscheinend Hilfe geschickt, denn Pfleger John kam mit einer Spritze in der Hand ins Zimmer gestürmt. Professor Wieland nickte erleichtert und nahm widerwillig die Hände von den Ohren, damit er dem Pfleger helfen konnte, das beruhigende Medikament zu verabreichen. Kurz darauf verstummte das Schreien und die Patientin sackte zusammen wie ein Plastikball, dem man die Luft abgelassen hatte. Professor Wieland schloss für einen Moment die Augen, um sich zu sammeln. Was war das denn gewesen? Ein hysterischer Anfall?

»Danke, dass Sie so schnell reagiert haben, John«, sagte er zu dem Pfleger, der eine wegwerfende Handbewegung machte.

»Nicht dafür, Herr Professor.«

»Behalten Sie sie für mich im Auge und überwachen Sie die Vitalwerte. Ich sehe später noch mal nach ihr«, gab Wieland Anweisungen. Mit einem letzten Blick auf die nun friedlich schlafende Patientin verließ er nachdenklich den Raum.

Kapitel 8

Früher

Mama hat mir Tanja aufs Auge gedrückt. Das hatte ich schon befürchtet. Vater kommt mittags von der Arbeit, dann wird gegessen und dann müssen wir raus zum Spielen, damit er sich ausruhen kann. Sabine darf meistens drinbleiben, weil sie Hausaufgaben machen muss. Also habe ich Tanja am Hals.

Meine Freundinnen gucken neugierig, als ich mit der Kleinen nach draußen komme. Wenigstens trägt sie heute nicht ihr schönes Kleid, sondern eine alte Hose von mir. Es hat mich richtig gefreut, als Mama meine alten Sachen aus dem Keller holte und sie Tanja in den Schrank gelegt hat. Wenigstens bin ich nicht mehr die einzige, die alte Klamotten auftragen muss. Normalerweise bekommt die meine kleine Cousine, aber die wohnt weiter weg und wir fahren nicht so oft hin, deshalb sind die aussortierten Anziehsachen noch da.

Wir treffen uns an der Sandkiste. Birgit und Britta sind schon da. Manchmal kommen noch Christina und Cordula. Das ist aber eher selten, denn sie wohnen in einem anderen Häuserblock und haben ihre eigene Sandkiste.

Die Eltern nennen das Gelände vor unserem Wohnblock Spielplatz, aber da sie ihre Autos dort parken, dürfen wir nicht mehr Ball spielen, damit wir nichts kaputtmachen. Früher gab es auch Schaukeln, doch die sind schon lange weg und sonst gibt es nur noch die Sandkiste.

»Das ist Tanja, die wohnt jetzt bei uns«, erkläre ich, als ich bei meinen Freundinnen ankomme. Die sagen nichts, sondern gucken nur.

»Sie kann das Baby sein«, schlage ich nach einer Weile vor und bohre meine Fußspitze in den Sand. Vielleicht darf ich wieder nicht mitspielen, weil ich Tanja dabeihabe. Ich war die Jüngste, bevor Tanja kam, und ich habe nichts zu melden. Britta ist unsere Anführerin. Sie ist schon in der Schule. Birgit kommt zwar mit mir zusammen rein, aber sie hat im Frühling Geburtstag und ich erst im Herbst. Schließlich nickt Britta. Ich bin so was von erleichtert!

Blöd ist nur, dass sie Tanja unbedingt mit Gras füttern wollen, weil sie das Baby ist. Aber die will das Gras natürlich nicht essen, nicht mal so tun als ob und es dann ausspucken. Da ist sie bei den anderen gleich unten durch. Ich bin sauer, weil sie sich nicht mal ein bisschen anstrengt. Da ich für Tanja verantwortlich bin, muss ich bei ihr bleiben. Wenn sie weggeschickt wird, muss ich auch gehen, denn wenn ich sie alleine lasse und was passiert, wird Mama mir die Schuld geben.

»Dann füttere du sie«, sagt Britta und wirft das Gras weg, das sie in der Hand gehabt hat.

»Wenn du sie anschleppst, musst du dich auch um sie kümmern«, meint Birgit.

Ich bin ein bisschen ratlos. Natürlich habe ich nichts zu essen dabei, was ich Tanja anstelle von Gras in den Mund stecken könnte.

»Sollen wir nicht was anderes spielen?«, frage ich.

Die beiden Mädchen schütteln die Köpfe.

»Entweder du fütterst sie oder ihr könnt beide abziehen«, sagt Britta streng.

Dann muss es wohl sein. Ich bücke mich und zupfe ein paar Grashalme ab, wirklich nicht viele. Die halte ich Tanja hin.

»Mach schon! Ich habe so was auch schon mal gegessen«, sage ich. Mit einem mulmigen Gefühl im Bauch denke ich daran, was ich schon alles essen musste, um dazuzugehören. Die ekligsten Dinge waren dabei. Ein lebendiger Regenwurm war bisher das Schlimmste. Aber ich bin es gewohnt zu machen, was die Großen sagen, und habe längst nicht so einen Aufstand gemacht wie Tanja. Die soll sich mal wegen einem bisschen Gras nicht so anstellen! Aber sie will nicht und kneift die Lippen so fest zusammen, dass ich nicht dazwischenkomme. Birgit und Britta feuern mich an. Ich weiß, dass ich mich durchsetzen muss, sonst kann ich die beiden gleich vergessen.

»Du isst das jetzt!«, schreie ich Tanja an und reiße ihr an den langen Haaren den Kopf nach hinten. Sie macht den Mund ein bisschen auf, spuckt aber die Grashalme sofort wieder aus und beginnt zu jammern. Es hilft alles nichts.

Ich stoße sie auf den Boden und setze mich auf sie drauf. Britta und Birgit jubeln und helfen mir Tanjas Arme festzuhalten. Mittlerweile heult sie, aber das tut sie dauernd. Rotz läuft ihr aus der Nase und ihre blauen Augen starren mich an. Es muss schnell gehen!

Irgendwie bekomme ich mit Hilfe von Britta ihren Mund auf. Schnell reiße ich mehr Gras aus und stopfe es ihr rein und dann noch eine Handvoll und noch eine. Ich bekomme gar nichts mehr mit, merke nur, wie sie unter mir zittert. Es fühlt sich auf jeden Fall besser an, als selbst unten zu liegen. Irgendwann zieht Britta mich von Tanja runter.

»Das reicht wohl«, meint sie. Ich bin noch ganz benebelt, so als wäre ich gerade geweckt worden. Was ist passiert? Ich sehe Tanja auf dem Boden liegen. Gras klebt überall auf ihrem Gesicht. Der Schnodder pappt es fest. Ihre Sachen sind dreckig. Das wird Ärger mit Mama geben!

Britta und Birgit heben Tanja hoch, die einen ganz roten Kopf hat. Die Kleine jammert vor sich hin, dann hustet sie und spuckt Grashalme, wobei sie fast kotzt. Jetzt tut sie mir ein bisschen leid. Aber sie wird es überleben, das habe ich schließlich auch. So wie sie aussieht darf sie allerdings auf keinen Fall nach Hause gehen! Wir müssen sie sauber machen.

Zusammen schleifen wir Tanja zur Köttelbecke, einem kleinen Bachlauf, der durch die ganze Siedlung fließt. Birgit hat ein Stofftaschentuch und das machen wir im Bach nass und wischen Tanja damit das Gesicht sauber.

»Du sagst davon nichts!«, reden wir abwechselnd auf sie ein, aber ich glaube nicht, dass sie dichthalten wird. Ich schätze sie eher so ein, dass sie sofort alles meiner Mutter petzt.

»Wenn du Mama oder Papa was sagst, dann schneide ich dir die Zunge raus, während du schläfst«, drohe ich. Tanja sieht mich mit großen Augen an. Natürlich meine ich das nicht ernst, aber irgendwas muss ich doch sagen und etwas anderes fällt mir gerade nicht ein.

Dass mit der Zunge rausschneiden hat mir meine Oma mal erzählt. Sie sagte, früher hätte man den Leuten, die gelogen haben, die Zunge rausgeschnitten.

Kapitel 9

»Hallo, Gisela! Wie geht es meiner Lieblingskrankenschwester?«, fragte Assistenzarzt Dr. Frank Fabian, der die erste Schicht nach seinem Urlaub vor sich hatte. Seinem charmanten Grinsen konnte Gisela nie lange widerstehen und so lächelte sie zurück, obwohl sie sonst ein ernster Typ war.

»Danke, mein Lieber, es geht mir ausgezeichnet«, entgegnete sie und wandte sich wieder dem Monitor zu. »Dir auch, wie ich sehe. Wie war denn der Urlaub?« Sie warf ihm einen prüfenden Blick zu. »Das lachsfarbene T-Shirt steht dir ausgezeichnet. Passt auch gut zu deiner unverschämten Urlaubsbräune.«

»Danke. Ich hatte eine tolle Zeit, habe viel gesehen und erlebt. Da müssen wir mal in Ruhe drüber reden.«

»Komm doch später auf ein Käffchen vorbei.«

»Mach ich. Dein Kaffee ist sowieso der beste. In den letzten Tagen war ich richtig auf Entzug«, entgegnete Frank augenzwinkernd.

»Alter Charmeur!« Gisela lächelte vor sich hin und schien für einen Moment zu vergessen, dass sie die Monitore nicht aus den Augen lassen durfte. Frank wusste, dass sie ihn vermisst hatte, auch wenn sie es nicht aussprach. Irgendwann hatte sie mal erwähnt, dass die Stimmung viel lockerer war, seit er hier angefangen hatte. Er kam gut mir ihr klar und sie besprachen sogar viel Privates.

»Gibt’s was Neues?« Frank reckte den Hals, um ebenfalls einen Blick auf den Überwachungsbildschirm zu werfen. Langsam sollte er sich mit den neuen Patienten vertraut machen.

»Oh ja!« Schwester Gisela tippte mit dem Zeigefinger auf die rechte obere Ecke des Monitors. Frank ging zu ihr, stützte sich mit einer Hand auf dem Schreibtisch ab und beugte sich von hinten über die Krankenschwester. Verlegen räusperte sie sich, so dass Frank etwas auf Abstand ging.

»Die Patientin kam gestern Nachmittag. Wurde von der Polizei gebracht. Ein Riesentheater! Du hättest sie mal sehen sollen, über und über voll Blut!« Gisela rollte theatralisch mit den Augen. Dass jemand von der Polizei hergebracht wurde, war nicht außergewöhnlich. Das viele Blut machte die Sache schon interessanter. Franks Neugier war geweckt. Er musterte die schlafende Frau auf dem Monitor.

»Was hat sie denn angestellt? War es ihr Blut?«, wollte er wissen. Giselas Miene nahm erst einen ernsten und dann einen angeekelten Ausdruck an. Frank wunderte sich. Sonst war die dienstälteste Schwester doch so abgeklärt und ließ sich durch nichts erschüttern. Was konnte so eine zierliche Person wie diese Patientin schon groß ausgefressen haben, dass es Gisela so mitnahm? Vielleicht litt sie unter Wahnvorstellungen und hatte jemanden angegriffen. Einen ähnlichen Fall hatten sie erst kürzlich gehabt. Da hatte ein Patient in allen Menschen Kröten gesehen und versucht diese totzuschlagen. Gottlob war es ihm nicht gelungen. Auch hier auf der Station hatte der verwirrte Mann sie alle als Krötenköpfe beschimpft.

Frank hatte das ziemlich lustig gefunden, ließ es sich aber lieber nicht anmerken, besonders nicht dann, wenn Professor Wieland in der Nähe war. Patienten mit Wahnvorstellungen, die nicht tätlich angriffen, sondern nur darüber redeten, zählten für Frank zu den harmlosen Irren, wobei er wusste, dass solch eine Bezeichnung unangebracht war. Aber mit ein bisschen Humor kam man einfach besser durchs Leben und er redete immerhin nicht so über sie, sondern beließ es bei seinen Gedanken.

»Was hat sie denn nun getan? Jetzt spann mich doch nicht so auf die Folter«, bohrte Frank nach.

»Auf jeden Fall war es nicht ihr Blut, oder besser gesagt nicht nur ihr Blut«, begann Schwester Gisela und hielt dann inne. »Den Rest wirst du wohl aus erster Hand erfahren«, stellte sie fest. Frank sah den Professor auf sich zukommen.

Kapitel 10

Früher

»Wieso ist sie so dreckig?« Mama hält Tanja am Arm und begutachtet die Erde und das Gras, das noch an ihren Sachen klebt. Sie ist sauer, dass merke ich sofort.

»Sie ist hingefallen«, erkläre ich, weil Tanja nichts sagt. Die sieht schon wieder aus, als wenn sie gleich anfangen wird zu heulen. Wenigstens hat sie nicht sofort gepetzt.

»Kannst du denn nicht besser auf sie aufpassen?«, fragt Mama und zieht Tanja mit sich ins Bad. Sie stellt sie in die Badewanne und zieht sie aus. Wie ein Baby, denke ich. Das kann die doch wohl schon selbst!

»Du bist jetzt die Große, Nicole. Du musst auf Tanja aufpassen.«

Ich fühle mich, als hätte mich jemand geboxt. Ich bin die Große? Aber ich bin doch die Kleine gewesen! Sabine sagt, was ich machen soll, und das mache ich dann. Als ich ganz klein war, musste Sabine mich mit rausnehmen, das weiß ich noch.

Mama erzählt heute noch die Geschichte davon, als meine Schwester mich gegen einen Hund eingetauscht hat. Sabine sollte mich wohl im Kinderwagen rumfahren und traf dabei ihre Freundin Anke, die ihren Hund ausführte.

---ENDE DER LESEPROBE---