Die süße Rache des Highlanders - Nicola Cornick - E-Book

Die süße Rache des Highlanders E-Book

Nicola Cornick

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Beschreibung

Robert, Marquis of Methven, ist außer sich vor Wut! Seine Verlobte hat ihn verlassen - für einen unbekannten Verehrer, der ihr sündige und äußerst explizite Liebesbriefe schrieb! Entschlossen, seine Ehre wiederherzustellen, sucht der Highlander nach dem geheimnisvollen Briefeschreiber - und entdeckt überrascht: Der Verfasser ist eine Frau! Und zwar ausgerechnet Lucy MacMorlan, die ihn bereits einmal abgewiesen hat! Roberts Rache ist süß: Lucy muss ihn heiraten und die Geheimnisse der Leidenschaft allein mit ihm teilen - sonst wird bald jeder zwischen Edinburgh und London wissen, dass sie die skandalösen Briefe verfasst hat …

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Seitenzahl: 454

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IMPRESSUM

HISTORICAL GOLD erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag: Postfach 301161, 20304 Hamburg Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0 Fax: +49(0) 711/72 52-399 E-Mail: [email protected]
Geschäftsführung:Thomas BeckmannRedaktionsleitung:Claudia Wuttke (v. i. S. d. P.)Produktion:Jennifer GalkaGrafik:Deborah Kuschel (Art Director), Birgit Tonn, Marina Grothues (Foto)

© 2013 by Nicola Cornick Originaltitel: „The Lady And The Laird“ erschienen bei: HQN Books, Toronto Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL GOLDBand 308 - 2016 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg Übersetzung: Bärbel Hurst

Abbildungen: Harlequin Books S.A., EddieCloud / Fotolia, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 11/2016 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733765507

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten. CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, MYSTERY, TIFFANY

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PROLOG

Forres Castle, Schottland, Juni 1803

Diese Nacht hatte etwas Magisches.

Es war Neumond und das Meer schimmerte silbern wie Seide. Der Wind wisperte in den Pinien und die Luft roch nach Salz.

„Lucy! Komm her und sieh dir das an!“

Lady Lucy MacMorlan drehte sich in ihrem Bett herum und zog ihre Decke bis über beide Ohren. In ihrem Bett war es warm und gemütlich, und sie verspürte nicht den Wunsch, diesen warmen Kokon zu verlassen, um am zugigen Fenster zu frieren. Außerdem wollte sie nicht dabei sein, wenn ihre Schwester Alice einen Zauberspruch probierte. Das war albern, und viel zu gefährlich, und würde ihnen nur jede Menge Ärger bescheren.

„Ich stehe nicht auf“, sagte sie bestimmt und wackelte unter der warmen Decke mit den Zehen. „Ich suche keinen Ehemann.“

„Natürlich willst du einen Mann.“ Alice klang ungeduldig. Mit ihren sechzehn Jahren war Lucys Zwillingsschwester fasziniert von Bällen, schönen Kleidern und Männern. Während Lucy früh am Abend in der Bibliothek saß und eine Ausgabe von Humes „Essays Moral and Political“ las, war Alice dreimal um die antike Sonnenuhr im Schlosshof gelaufen und hatte die Worte eines ebenso antiken Liebeszaubers rezitiert, der ihr während des Neumonds einen Blick auf den Mann ermöglichen sollte, den sie einmal heiraten würde. Nun wartete Alice, dass sich der Zauber erfüllte.

„Natürlich wirst du heiraten“, sagte Alice noch einmal. „Was willst du sonst tun?“

Lesen, dachte Lucy. Lesen, schreiben und studieren. Das machte ihr mehr Spaß.

„Alle heiraten.“ Alice klang jetzt sehr erwachsen und weise. „Wir gehen Verbindungen ein und bekommen Kinder. So etwas machen die Töchter eines Dukes nun einmal. Jeder sagt das.“

Heiraten. Kinder bekommen.

Lucy erwog das Für und Wider dieses Gedankens, so wie sie es mit allen Ideen tat. Es stimmte, dass dies von ihnen erwartet wurde, und zweifellos hätte ihre Mutter es so gewollt. Sie war gestorben, als Lucy und Alice noch ganz klein gewesen waren, aber alle schwärmten von ihr als Juwel einer ganzen Generation. Die elegante Tochter des Earl of Stratharnon war eine ausgezeichnete Verbindung eingegangen und hatte sechs perfekte Kinder geboren. Mairi, Lucys und Alices ältere Schwester, war achtzehn Jahre alt und bereits verheiratet. Lucy hatte nichts gegen die Ehe, aber sie war der Meinung, sie müsste dazu einen Mann treffen, der ihr interessanter erschien als ein Buch, und das erschien ihr nahezu unmöglich.

„Lucy!“ Alice schrie auf. „Sieh doch! Einige Gentlemen treten gerade mit ihrem Brandy auf die Terrasse! Welchen werde ich wohl zuerst ansehen? Wer wird meine große Liebe?“

„Du fantasierst“, sagte Lucy, „wenn du an solchen Unsinn glaubst.“

Alice störte sich nicht an der Bemerkung. Sie hörte niemals zu, sobald sie aufgeregt war. An diesem Abend veranstaltete ihr Vater ein Dinner, zu dem die beiden jüngeren Töchter aufgrund ihres Alters noch nicht eingeladen waren. Die Gentlemen nutzten eine Pause zwischen zwei Gängen, um Luft zu schnappen. Durch das offene Fenster hörte Lucy ihre Stimmen und Gelächter. Zigarrenrauch stieg in das Zimmer hinauf und kitzelte in Lucys Nase. Sie hörte, wie Glas an Stein stieß.

„Oh!“ Alice klang jetzt fasziniert. „Wer ist das? Ich kann sein Gesicht nicht erkennen …“

„Das liegt daran, dass er dir den Rücken zuwendet“, brummte Lucy. Es ärgerte sie, dass sie nicht einschlafen konnte, weil Alice ständig sprach. „Denk an den Zauber. Wenn ein Mann mit dem Rücken zu dir steht, ist es eine falsche Liebe.“

Alice prustete abwertend. „Es ist einer der Söhne von Lord Purnell, nur welcher?“

„Sie sind doch alle zu alt für dich“, sagte Lucy. Sie zog eine Schulter hoch. „Pass auf, dass dich niemand sieht. Vater wird außer sich sein, wenn er erfährt, dass sich eine seiner Töchter im Nachthemd aus dem Fenster lehnt. Damit wärst du schon vor deinem Debüt ruiniert.“

Alice reagierte nicht. Sie hörte grundsätzlich nur das, was sie hören wollte. Sie war wie ein Schmetterling, farbenfroh, leichtsinnig, tändelnd und flatterhaft. „Es ist Hamish Purnell“, sagte sie enttäuscht. „Er ist schon verheiratet.“

„Ich habe dir gleich gesagt, dass der Zauber Unsinn ist.“

„Oh, sie streiten“, rief Alice aufgeregt. Die ganze Enttäuschung war im Nu vergessen. Sie blickte Lucy auffordernd an und schob das Fenster ein wenig höher, bevor sie sich hinauslehnte. „Lucy!“, flüsterte sie. „Komm und schau!“

Lucy hatte bemerkt, wie sich der Klang der Stimmen auf der Terrasse verändert hatte. Eben noch war alles ruhig und zivilisiert gewesen, doch jetzt wurde der Ton schärfer. Es klang nach Streit und nach Gewalt. Lucy bekam eine Gänsehaut. Sie glitt aus dem Bett und lief barfuß zu Alice, die auf der Fensterbank kniete, um die Szene unter ihnen zu beobachten. Jeder Muskel war angespannt.

Zwei Männer standen sich auf der Terrasse direkt unter ihnen gegenüber. Sie standen seitlich zu Lucy, sodass sie nicht in ihre Gesichter sehen konnte, doch sie erkannte die glatte, kultivierte und leicht hochmütige Stimme ihres Cousins Wilfred.

„Warum sind Sie heute Abend hier, Methven? Sie sind ein Niemand, ein jüngerer Sohn. Ich kann nicht fassen, dass mein Onkel Sie eingeladen hat.“

Sein Tonfall strotzte nur so vor Verachtung und klang provozierend. Jemand lachte. Die anderen Männer traten näher und umkreisten die Kontrahenten wie eine Meute Hunde, die ahnte, dass ein Kampf bevorstand.

„Oh!“, seufzte Alice. „Wie grob und schrecklich Wilfred ist. Ich hasse ihn!“

Auch Lucy hasste ihren Cousin Wilfred. Er war der achtzehn Jahre alte Erbe des Earl of Cardross, und er sonnte sich in seinem Status und der Verbindungen seiner Familie zum Duke of Forres. Das vergangene Jahr hatte er in London verbracht, wo er Gerüchten zufolge all sein Geld für Alkohol, Kartenspiele und Frauen verprasste. Wilfred war ein arroganter Snob und Flegel. Hier, umgeben von Angehörigen und Anhängern, hielt er sich für unschlagbar.

„Vielleicht hat der Duke mich ja eingeladen, weil er über weitaus bessere Manieren verfügt als sein Neffe“, erwiderte der andere Mann. Seine Stimme klang ein wenig rauer als Wilfreds, und er sprach mit leichtem schottischen Akzent. Williams Provokationen berührten ihn nicht. Er drehte sich einfach herum, und Lucy sah plötzlich im Licht des Neumonds sein Gesicht. Es war beeindruckend, mit klaren Wangenknochen, einer hohen Stirn und einem energischen Kinn. Der Mann war groß und besaß breite Schultern, doch er war noch jung. Lucy schätzte ihn auf neunzehn oder vielleicht zwanzig Jahre.

Ein Flüstern ging durch die Gruppe unter ihnen. Die Stimmung veränderte sich. Sie war jetzt feindseliger, doch es schwang noch etwas anderes mit. Lucy spürte eine Unsicherheit, ja beinahe Angst.

Alice schien es auch wahrzunehmen, denn sie zog sich blitzschnell hinter die schützenden schweren Samtvorhänge zurück, die das Fenster umrahmten.

„Es ist Robert Methven“, flüsterte sie. „Was macht er denn hier?“

„Vater hat ihn eingeladen“, wisperte Lucy. „Er meinte, er hätte keine Zeit für unzivilisierte Streitigkeiten.“

Die Forres’ und die Methvens waren seit Menschengedenken miteinander verfeindet. Während die Forres’ und ihre Angehörigen, wie die Earl of Cardross, seit jeher auf Seiten der schottischen Krone standen, stammten die Methvens aus dem hohen Norden und folgten als Abkömmlinge des Earl of Orkney, einem Wikinger, ihren eigenen Gesetzen. Lucy wusste nur wenig über die Methvens. Es hieß, sie seien so wild und urwüchsig wie ihre Vorfahren. Sie sah noch einmal in das Gesicht Robert Methvens, das im Mondlicht klar und scharf umrissen schien, und sie spürte, wie sie ein seltsamer Schauer überlief.

Feinde seit Generationen, so lauteten die Geschichten, die sie von Kindesbeinen an wieder und wieder gehört hatte. Clankriege mochten längst Vergangenheit sein, doch diese Fehde war noch vergleichsweise jung, und sie war zählebig.

„Eines Tages“, zischte Wilfred, „werde ich das Land zurückholen, das Ihre Familie unserem Clan gestohlen hat, Methven, und Sie werden ganz persönlich dafür bezahlen. Das schwöre ich.“

„Ich freue mich darauf.“ Robert Methven klang belustigt. „Wollen wir bis dahin noch etwas von dem ausgezeichneten Brandy unseres Gastgebers trinken?“

Das Gespräch schien ihn zu langweilen, denn er ließ Wilfred einfach stehen. Wilfred sah ihm verdutzt nach, doch dann drängelte er sich an Robert Methven vorbei, um sein Vorrecht durchzusetzen und als erster den Salon zu betreten. Robert Methven zuckte darüber nur mit den Schultern.

Alice ließ den Vorhang fallen. „Mir ist kalt“, murmelte sie. „Ich gehe ins Bett.“

Lucy streckte sich, um das obere Fenster zu schließen. Das war typisch Alice, das Aufräumen überließ sie ihr. Gedankenlos, wie Alice war, musste Lucy alles für sie ordnen.

„Hamish Purnell …“, murmelte Alice, als sie unter ihre Bettdecke schlüpfte. „Nun, ich nehme an, er sieht ziemlich gut aus.“

„Er ist verheiratet“, gab Lucy zu Bedenken. „Außerdem hatte er dir den Rücken zugewandt, als du ihn zuerst sahst.“

„Er hat sich herumgedreht“, widersprach Alice. „Mit dem Gesicht zu mir und dem Rücken zum Meer, das bedeutet wahre Liebe. Vielleicht stirbt seine Frau. Pass auf, dass du das Fenster richtig schließt, Lucy“, fügte sie hinzu, „damit niemand merkt, dass wir alles beobachtet haben.“

Lucy seufzte und bemühte sich, das Fenster zu schließen, das sich entschieden dagegen sperrte. Der Saum des schweren Samtvorhangs stieß dabei gegen die blauweiße Porzellanvase, die auf dem Regal seitlich neben dem Fenster stand. Lucy berührte sie mit ihrem Ellenbogen. Die Vase begann langsam zu schwanken und noch ehe sich die Schwestern versahen, fiel sie durch das offene Fenster nach unten und zerschmetterte auf der Terrasse. Lucy starrte ihr wie gelähmt hinter. Es war totenstill. Niemand rührte sich. Die zerbrochenen Scherben schimmerten sanft im Mondlicht.

„Du musst hinuntergehen und sie aufheben“, flüsterte Alice drängend. „Sonst finden sie sie und wissen, dass wir gelauscht haben.“

„Du gehst hinunter“, erwiderte Lucy verärgert.

„Ich habe die Vase nicht umgeworfen!“, widersprach Alice.

„Ich auch nicht!“ Trotz ihres Alters standen sie im Begriff, in einen kindischen Streit zu geraten. „Du gehst“, sagte Lucy. „Immerhin warst du es, die sich wie ein Straßenmädchen aus dem Fenster gelehnt hat.“

„Aber wenn ich erwischt werde, bekomme ich wieder Ärger“, sagte Alice. Ganz plötzlich wirkte ihr strahlendes Gesicht ganz jung und ängstlich, und Lucy empfand Mitleid mit ihr. „Du weißt, dass Vater immer sagt, wie sehr sich unsere Mutter für mich schämen würde, weil ich so böse bin.“

Lucy seufzte. Sie spürte, dass sie schwach wurde. Sie würde Alice niemals in Schwierigkeiten bringen. Das war ein Teil der Vereinbarung, die zwischen ihnen bestand, und die sie einander so viel näher brachte. Lucy und Alice waren für immer Schwestern und beste Freundinnen. Lucy seufzte noch einmal und griff dann nach ihrem Hausmantel und den Schuhen.

„Wenn du die Stufen im schwarzen Turm hinunter gehst, wird dich niemand sehen“, sagte Alice.

„Ich weiß“, sagte Lucy. Sie fühlte sich unbehaglich, als sie den Kerzenleuchter nahm und die Tür gerade so weit öffnete, dass sie hindurchschlüpfen konnte. Leise schlich sie den Korridor entlang zur Treppe im Turm. Ihr Herz klopfte bis zum Hals. Und das lag nicht etwa daran, dass ihr Forres Castle Angst einjagte, nein, denn sie war hier aufgewachsen und kannte jede Ecke und jeden Winkel, jedes Geheimnisse und vor allem alle Gespenster. Lucy fürchtete sich nicht vor dem Übernatürlichen, sondern vor Menschen aus Fleisch und Blut. Sie konnte es sich nicht leisten, erwischt zu werden, weil sie niemals in Schwierigkeiten geriet und niemals etwas Verbotenes tat. Alice war die Übermütige, die von einem Fettnäpfchen in das andere stolperte. Lucy war immer brav.

Und dennoch gestattete sie sich, die zauberhafte Abendluft zu genießen, als sie den Riegel der schweren Tür am Fuß der Treppe zurückschob und die Tür sanft öffnete. Der Wind streichelte sanft ihr Gesicht. Er duftete nach Meer und dem seifigen Aroma des nahen Ginsters. Das ferne Rauschen der Wellen vermischte sich mit raschelndem Wind in den Pinien. Der Mond blitzte wie eine scharfe, goldfarbene Sichel vom tiefschwarzen Himmel. Für einen Moment beschlich Lucy der verrückte Drang, über die Wiese hinunter zum Meer zu laufen, um den kühlen Sand zwischen den Zehen und die kalten Wellen an ihren nackten Beinen zu spüren.

Natürlich würde sie das niemals tun, denn es ziemte sich nicht.

Seufzend bückte sie sich, um die Scherben der blauweißen Vase aufzuheben. Die Zimmermädchen würden den Verlust zweifellos bemerken und melden und diese Nachricht würde ihren Vater erzürnen. Die Vase zählte zu einem der Lieblingsstücke seiner verstorbenen Frau und er verlangte gewiss glaubhafte Erklärungen über ihren Verlust. Alice und sie würden zugeben müssen, dass sie sie zerbrochen hatten, aber nicht, dass es passierte, als sie sich aus dem Fenster lehnten, um junge Männer zu beobachten. Sie hoffte, ihr Vater würde nicht zu enttäuscht von ihr sein.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Lucy zuckte zusammen. Sie fuhr so erschrocken herum, dass ihr die Scherben ein zweites Mal aus den Fingern glitten. Vor ihr stand Robert Methven, den Rücken dem Meer zugewandt. Er war genauso groß und breitschultrig wie gedacht.

„Ich wusste nicht, dass noch jemand hier draußen ist“, platzte Lucy heraus.

Sie sah, wie er lächelte. „Es tut mir leid“, sagte er. „Ich wollte Sie nicht erschrecken.“ Er bückte sich, sammelte die Stücke auf und reichte sie ihr.

„Warum legen Sie sie nicht auf die Balustrade“, schlug er vor, „bevor Sie sie noch einmal fallenlassen.“

„Oh nein“, sagte Lucy. „Ich muss gehen. Ich meine …“ Aber sie blieb wie angewurzelt stehen. „Was machen Sie hier draußen in der Dunkelheit?“, fragte sie nach einer kurzen Pause.

Er zuckte mit den Schultern und nickte kurz in Richtung Salon. „Die Gesellschaft ist nicht ganz nach meinem Geschmack.“

„Wilfred, nehme ich an“, sagte Lucy. „Das tut mir leid, er ist ziemlich schrecklich.“

„Das stört mich nicht“, entgegnete Robert Methven. „Aber ich würde freiwillig keine Zeit mit ihm verbringen.“

„Ich auch nicht“, sagte Lucy, „aber leider ist er mein Cousin.“

„Oh, wie bedauerlich“, erwiderte Robert Methven. „Dann sind Sie …“

„Lucy. Lucy MacMorlan.“

„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Lady Lucy.“

„Und Sie sind Robert Methven“, sagte Lucy.

Er verneigte sich.

„Sie sind nett“, sagte Lucy.

Er lächelte, weil sie dabei so überrascht klang. „Danke.“

„Sollten wir nicht eigentlich Feinde sein?“, fragte Lucy.

Er lächelte noch breiter. „Möchten Sie, dass wir das sind?“

„Oh nein. Das ist eine uralte Geschichte.“

„Alte Geschichten halten sich manchmal sehr lange“, sagte Robert Methven. „Unsere Familien hassen sich immerhin seit Generationen.“

„Mein Vater findet Familienfehden lächerlich.“ Lucy bemerkte, wie das Mondlicht auf Robert Methvens Gesicht fiel und seine markanten Züge veränderte. Der Anblick faszinierte sie. Tief in ihrem Innern breitete sich ein fremdes, seltsames Gefühl aus.

„Deshalb bin ich heute hier“, sagte Robert Methven. „Wir wollen die Geschichte hinter uns lassen.“ Er deutete mit einer Kopfbewegung auf den Topf in ihrer Hand. „Wie ist das passiert?“

„Oh …“ Lucy errötete. „Das Fenster stand offen, und der Vorhang hat sich hinter der Vase verfangen und sie umgeworfen.“

Robert Methven lachte. „Mein Bruder Gregor und ich bekommen wegen solcher Dinge ständig Unannehmlichkeiten.“

„Das glaube ich Ihnen nicht“, widersprach Lucy. Sie sah ihn an. „Dafür sind Sie viel zu erwachsen.“

Robert Methven lachte erneut. „Das glauben Sie vielleicht, aber mein Großvater ist ein ziemlicher Tyrann. Wir verstoßen ständig gegen seine Regeln.“

Lucy bemerkte, wie die Scherben in ihre Handfläche drückten. Ihre nackten Füße wurden in den dünnen Seidenschuhen langsam kalt. Sie fragte sich, was um alles in der Welt sie hier draußen im Nachthemd machte und warum sie ausgerechnet mit Robert Methven sprach.

„Ich muss jetzt gehen“, sagte sie.

Er machte keine Anstalten, sie zurückzuhalten, aber er lächelte. „Dann gute Nacht, Lady Lucy“, sagte er.

Lucy wandte sich an der Tür noch einmal um. „Sie werden mich doch nicht verraten, oder?“, fragte sie vorsichtig. „Ich möchte keine Schwierigkeiten bekommen.“

Er zwinkerte. „Ich würde Sie niemals verraten.“

„Versprochen?“

Er trat direkt auf sie zu. Sie konnte den Rauch und die frische Luft an ihm riechen und seine weißen Zähne sehen, als er lächelte. Lucy wurde ganz schwindelig und sie wusste nicht, warum.

„Ich verspreche es“, sagte er.

Er beugte sich zu ihr und gab ihr einen Kuss. Es war ein leichter und rascher Kuss, aber dennoch raubte er ihr den Atem und erschütterte sie so sehr, dass sie einen Moment verharrte.

„War das Ihr erster Kuss?“, fragte Robert. Sie hörte das Lächeln in seiner Stimme.

„Ja.“ Sie antwortete ohne nachzudenken, zu ehrlich und zu unschuldig, um etwas anderes vorzugeben.

„Und? Hat er Ihnen gefallen?“

Lucy runzelte die Stirn. Die Gefühle in ihr waren zu neu und zu verwirrend, als dass sie sie hätte beschreiben können. Dennoch wusste sie, dass das, was sie fühlte, weit mehr war als „gefallen“.

„Ich weiß es nicht“, sagte sie.

Er lachte. „Möchten Sie es noch einmal versuchen, damit Sie anschließend ganz sicher sind?“

Ganz plötzlich verspürte Lucy eine sündhafte Erregung und antwortete leise: „Ja.“

Vorsichtig nahm er ihr die Scherben aus der Hand und legte sie auf die steinerne Balustrade. Dann nahm er Lucy in seine Arme und zog sie so nah an sich heran, dass ihre Hände auf seiner Brust ruhten. Seine Jacke fühlte sich glatt an unter ihren Fingern. Auf einmal überkam sie eine Scheu, doch bevor sie sich winden konnte, küsste er sie, und die Bedenken verflogen und ein süßes, warmes Gefühl breitete sich in ihr aus und ließ sie erschauern. In ihrem Kopf drehte sich alles. Lucy packte seine Jacke fester, um Halt zu finden. Ihr Herz schlug viel zu schnell, sie fühlte sich verletzlich und sie zitterte am ganzen Körper.

Und dann war es schon wieder vorbei. Robert Methven löste sich von ihr und trat zurück. Für einen Moment erhellte das Mondlicht sein Gesicht. Sie sah darin Überraschung, vielleicht etwas Verwirrung und eine Spur von etwas, was sie nicht verstand. Doch als er sprach, klang er fest und bestimmt.

„Danke“, sagte er.

Lucy wusste nicht, wie sich eine junge Dame für gewöhnlich verhielt, wenn sie jemanden geküsst hatte, doch sie fühlte sich plötzlich schüchtern und verschämt. Sie nahm die Scherben auf, murmelte einen Gute-Nacht-Gruß und lief so schnell davon, dass sie beinahe über den Saum ihres Hausmantels gestolpert wäre. Sie lief die dunkle, gewundene Treppe hinauf, ohne auf die Stufen zu achten, die sie bei ihren eiligen Schritten kaum berührte. Sie konnte nur noch an eines denken, und das war der Kuss von Robert Methven.

Alice schlief bereits, als Lucy ins Schlafzimmer trat. Lucy betrachtete das ernste Gesicht ihrer Schwester und musste lächeln. Sie liebte ihre Zwillingsschwester viel zu sehr, um ihr lange böse zu sein. Obwohl Alice in vielerlei Hinsicht so ganz anders war als sie, stand sie ihr doch so nahe, wie die andere Hälfte ihres Ichs.

Behutsam legte Lucy die Scherben zurück in das Regal, dann schlüpfte sie ins Bett, kuschelte sich in die Wärme und schlief ein. Sie träumte von der Sichel des Mondes, die über dem Meer schien, von einem starken Zauber und von Robert Methvens Küssen. Sie wusste, er würde sie nicht verraten. Sie waren jetzt aneinander gebunden.

1. KAPITEL

Forres Castle, Schottland, Februar 1812

Lucy, du musst mir einen Gefallen tun.“

Lady Lucy MacMorlans Feder stockte so abrupt auf dem Papier, dass sich ein großer Tintenklecks bildete. Sie war gerade mitten in einer besonders schwierigen mathematischen Berechnung, als ihr Bruder Lachlan in die Bibliothek stürmte. Mit ihm wehte ein eiskalte Hauch von Winterluft hinein, der die Wandbehänge in ein leises Rauschen versetzte. Das Feuer im Kamin knisterte. Lucys kostbare Berechnungen flatterten vom Schreibtisch auf den Boden.

„Schließ bitte die Tür, Lachlan“, sagte Lucy höflich.

Ihr Bruder tat, wie ihm geheißen wurde, und sofort verebbte der heftige Zug. Lachlan warf sich in einen der alten Lehnsessel, die vor dem Kamin standen.

„Ich brauche deine Hilfe“, sagte er.

Lucy unterdrückte einen Anflug von Verärgerung. Es erschien ihr nicht gerecht, dass Lachlan, der zwei Jahre älter war als sie, stets darauf baute, dass sie ihn aus seinen Schwierigkeiten herauszog. Lachlan verfügte über eine charmante Leichtigkeit und war trotz seiner achtundzwanzig Jahre noch immer fest davon überzeugt, dass ihn immer wieder jemand aus dem Schlamassel rettete, in das er hineingeriet. Und diese Rolle schien Lucy zuzufallen.

Sie alle hatten ihre Aufgaben in der Familie. Angus, der Sohn und Erbe, war schwerfällig und leider dumm. Christina, Lucys älteste Schwester, übernahm die Rolle der alternden Jungfer, die sich nach dem Tod der Mutter für die Geschwister aufopferte und ihrem Vater jetzt als Dame des Hauses zur Seite stand. Mairi, Lucys nächst größere Schwester, war bereits verwitwet und Lachlan war wild und ungebärdig. Nur Lucy blieb das gute, brave, ja das perfekte Kind.

Bereits als Baby bewunderte man sie. Später galt sie als die perfekte junge Lady und Debütantin. Sie hatte sogar eine perfekte Verlobung geschlossen, gleich nach der Volljährigkeit, mit einem älteren, gelehrten wie adligen Gentleman. Leider war er noch vor der Hochzeit verstorben, was sie unerreichbar machte.

Es gab sogar mal eine Zeit, in der sie die perfekte Schwester und Freundin war. Sie hatte eine Zwillingsschwester gehabt, mit der sie alles teilte. Damals war sie davon überzeugt, dass ihr Leben sicher und vorherbestimmt sei, aber sie hatte sich getäuscht. Lucy verbot sich jeden weiteren Gedanken daran. Es machte keinen Sinn, der Vergangenheit nachzutrauern.

„Lucy?“ Lachlan wurde langsam ungeduldig. Lässig ließ er eines seiner langen, schlaksigen Beine über die Armlehne des Sessels baumeln. Er lächelte sie an. Lucy betrachtete ihn misstrauisch.

„Woran arbeitest du?“, fragte er und deutete auf die Papiere, die auf dem Tisch verstreut lagen.

„Ich versuche, Fermats letztes Theorem zu beweisen.“

Lachlan sah sie verwirrt an. „Warum solltest du das tun wollen?“

„Weil ich die Herausforderung liebe“, sagte Lucy.

Lachlan schüttelte den Kopf. „Ich löse keine einzige Mathematikaufgabe, solange es nicht absolut notwendig ist.“

„Du tust überhaupt nichts, wenn es nicht absolut notwendig ist“, entgegnete Lucy.

Lachlan grinste breiter. Anscheinend nahm er es als Kompliment. „Das stimmt“, sagte er und sah sie prüfend an. „Wie kommst du mit dem Schreiben voran?“

„Ich arbeite an einem Buch darüber, wie eine Lady den perfekten Gentleman findet“, sagte Lucy. Sie sagte es möglichst würdevoll, weil sie wusste, dass sich Lachlan darüber lustig machen würde. In seinen Augen war ihr Schreiben ein lächerliches, seltsames Hobby. Alle Töchter des Duke of Forres schrieben leidenschaftlich gern, diese Neigung hatten sie offenbar von ihrer Mutter geerbt, die emanzipiert und eine echte Intellektuelle war. Im Gegensatz dazu konnten die Söhne Büchern nichts abgewinnen. Lucy liebte ihre Brüder, oder besser, sie liebte Lachlan, auch wenn er sie verspottete, und sie bemühte sich, den unbeholfenen Angus zu lieben. Leider waren beide nicht besonders schlau.

Als wollte er das beweisen, prustete Lachlan laut los. „Eine Anleitung, den perfekten Gentleman zu finden? Was verstehst du denn davon?“

„Ich war mit so einem Mann verlobt“, entgegnete Lucy scharf. „Natürlich weiß ich, wovon ich rede.“

Das Lächeln in Lachlans Augen erlosch. „Duncan MacGillivray war wohl kaum perfekt“, sagte er. „Und er war auch nicht der richtige Partner für dich. Er war zu alt.“

Lucy spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog. „Du bist so taktlos“, sagte sie.

„Nein, ich sage die Wahrheit. Du hast der Hochzeit nur zugestimmt, weil unser Vater es wünschte, und weil du aus Trauer um Alice noch immer keinen klaren Gedanken fassen konntest.“

Alice …

Wieder wehte ein kalter Luftzug durch einen Türspalt. Lucy fröstelte und zog ihr Tuch fester um die Schultern. Alice war nun schon seit acht Jahren tot, und es verging kein Tag, an dem Lucy nicht an ihre Zwillingsschwester dachte. Es gab eine leere Stelle in ihrem Innern, da, wo Alice einst gewesen war. Sie fragte sich, ob sie sich bis ans Ende ihres Lebens so leer fühlen würde, so als hätte man einen Teil von ihr herausgerissen. Der Verlust von Alice verursachte einen beständigen Schmerz. Auf ihrem Herzen lag ein tiefdunkler Schatten und nach all der Zeit tat es immer noch so weh, dass ihr manchmal der Atem stockte. An dem Tag, an dem Alice starb, endete ihre Jugend.

Sie schob den Gedanken beiseite. Sie wollte nicht über Alice reden.

„Der Punkt ist“, sagte sie, „dass ich sehr genau weiß, was ein gutes Benehmen eines Gentleman ausmacht, und, was noch viel wichtiger ist“, sie sah ihren Bruder von oben herab an, „ich weiß auch, was dem zuwiderläuft.“

„Du bist aber auch in den italienischen und französischen Sexualpraktiken versiert“, sagte Lachlan und grinste. „Deine erotischen Schriften waren weitaus erfolgreicher und gewinnbringender als alles andere, was du bisher geschrieben hast. Ich fragte mich, warum du nicht damit fortfährst.“

Lucy blitzte ihn finster an. „Du weißt ganz genau, warum ich das nicht mehr tue. Darüber sprechen wir nicht mehr, Lachlan, oder hast du das vergessen? Das ist vorbei, und niemand darf davon erfahren. Oder willst du mich ruinieren?“

Lachlan erwiderte ihren finsteren Blick. Auf einmal schienen sie in alte Kinderzeiten zurückversetzt. „Natürlich nicht. Ich habe keiner Menschenseele davon erzählt.“

Lucy seufzte. Vermutlich war es nicht fair, alle Schuld ihrem Bruder in die Schuhe zu schieben, nur weil sie so leichtsinnig, dumm und naiv gewesen war, aber es bestand kein Zweifel daran, dass ihm nicht zu trauen war. Vor einem Jahr hatte Lachlan sie um einen Gefallen gebeten. Er behauptete, er brauche ihre Hilfe beim Aufsetzen eines Briefes. Es sollte außerordentlich romantisch und sinnlich klingen, um die Dame seiner Träume in seine Arme zu locken.

Lucy brauchte damals Geld und da sie im Umgang mit Worten geschickter war als ihr Bruder, hatte sie zugestimmt. Sie suchte ein paar Zeilen von Shakespeare für ihn heraus und dichtete ein paar eigene Verse dazu, doch Lachlan lachte sie aus und bat um etwas Aufregenderes.

Da erinnerte sich Lucy an die erotischen Schriften in der Schlossbibliothek. Die Bibliothek war ihr seit jeher wie eine riesige Schatzkammer vorgekommen. Seit sie lesen konnte, hatte sie die Regale dort durchsucht und sich an der großen Sammlung erfreut, die ihr Großvater von seiner Grand Tour mitgebracht hatte. Irgendwann entdeckte sie zwischen den dicken Bänden über Politik, Geschichte und den Werken klassischer Gelehrter faszinierende Bände mit Zeichnungen von Frauen und Männern in außergewöhnlich erotischen Stellungen. Einige der Zeichnungen erschienen Lucy anatomisch unmöglich, gleichwohl waren sie ebenso lehrreich wie interessant. Lucy hatte die Bilder mit großem intellektuellen Interesse betrachtet und sie sogar auf den Kopf gestellt und zur Seite geneigt, um sicherzugehen, dass sie alle Einzelheiten erkannte.

Die lebhaften wie sinnlichen Erläuterungen zu den Bildern belebten Lucys Fantasie und Forschergeist. An diese Texte erinnerte sich Lucy, als Lachlan nach etwas Aufregenderem als Shakespeare fragte. Sie ließ sich von diesen Texten inspirieren, vielleicht übertrieb sie sogar, das wusste sie nicht, aber Lachlan beschwerte sich nicht. Er erzählte seinen Freunden davon, und einige baten Lucy daraufhin um ähnliche Unterstützung bei ihrem Werben. Lucy willigte ein.

Doch dann war alles ganz schrecklich schiefgegangen. Lucy hörte erstmals bei einem Treffen der Highland Ladies Bluestocking Society von dem Skandal. Alle dort sprachen über einen geheimnisvollen Briefschreiber, der den jungen Burschen in Edinburgh half, die Frauen aus ihrem Bekanntenkreis zu verführen. Lachlan war offenbar in eine schlimme Affäre mit einer Tänzerin der Oper verwickelt, während seine Freunde die Stadt in ähnlicher Weise mit ihrem zügellosen Verhalten unsicher machten. Einer hatte die Tochter eines Gastwirts geschwängert und dann im Stich gelassen, während ein anderer mit der Gemahlin des Gouverneurs von Edinburgh Castle durchgebrannt war. In allen Fällen hatten die Männer die Damen mit falschen Versprechungen und erotischen Versen in die Betten gelockt.

Lucy fühlte sich schrecklich schuldig, und so furchtbar naiv, weil sie Lachlans wahre Motive nie hinterfragt hatte. Ihr Wunsch, Geld zu verdienen, hatte sie so blind gemacht, dass sie alle Vorbehalte vergaß. Sie konnte nur hoffen, dass nie ans Licht kam, wer diese Briefe wirklich verfasst hatte, denn sonst wäre sie ein für alle Mal ruiniert. Seitdem ließ sie die Finger von provokanten Gedichten, denn sie ziemten sich nicht für eine wohlerzogene Erbin. In Zukunft würde sie ihr Geld aus anderen Quellen beziehen müssen.

Lachlan musterte seine Schwester. In seinen haselnussbraunen Augen schimmerte ein berechnender Ausdruck, der Lucys Misstrauen weckte.

„Wie auch immer“, sagte Lachlan und lächelte gewinnend. „Vergessen wir all das und reden wir über mich.“ Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, sodass es nach allen Seiten hin abstand. Es verlieh ihm einen verwegenen Charme. Lucy bedauerte, dass es gerade keine ihrer Freundinnen sehen konnte. Sie alle fanden Lachlan entzückend, obwohl er so selbstsüchtig und leichtsinnig war.

„Ich habe mich verliebt“, sagte Lachlan bedeutungsvoll.

„Schon wieder!“, erwiderte Lucy. „Wer ist diesmal die Glückliche?“

„Dulcibella Brodrie“, sagte Lachlan. „Ich liebe sie, und sie liebt mich. Wir wollen heiraten.“

Lucy schwieg einen Moment. Miss Dulcibella Brodrie zählte für sie persönlich nicht unbedingt zur ersten Wahl als Schwägerin. Sie war zwar schön, aber auf verwirrende Weise auch absolut hilflos. Vermutlich fühlte Lachlan sich gerade deshalb zu ihr hingezogen, doch weil er selbst eher hilflos war, würde eine Verbindung zwischen diesen beiden zweifelsohne in eine Katastrophe führen.

„Dulcibella ist sehr freundlich“, sagte Lucy vorsichtig. Sie achtete stets auf Höflichkeit und war ehrlich froh, dass ihr etwas Positives zu dieser Frau eingefallen war. Dulcibella mochte etwas verwöhnt und zudem egozentrisch sein, jeder Spiegel schien sie magisch anzuziehen, aber wenn man lang genug hinsah, ließen sich an ihr durchaus gute Eigenschaften entdecken.

Lachlans zuvor strahlendes Lächeln verfiel. „Leider ist sie nicht frei“, sagte er. „Laut einer Vereinbarung soll sie Robert Methven heiraten. Die Verträge sind geschlossen.“

Robert Methven.

Die Blätter glitten aus Lucys Händen. Es gelang ihr gerade noch, danach zu greifen, dann richtete sie sich langsam wieder auf. „Bist du sicher?“, fragte sie. Sie spürte ein beunruhigendes Kribbeln in ihrem Bauch. Ihre Finger zitterten und ihre Wangen glühten. Automatisch strich sie die Papiere glatt.

Glücklicherweise zählte Lachlan zu den denkbar Unaufmerksamsten aller Männer. Er war viel zu sehr mit seinen eigenen Gefühlen beschäftigt, um die seiner Schwester zu bemerken. „Natürlich bin ich sicher“, sagte er. „Das ist ein Desaster, Lucy. Ich liebe Dulcibella. Ich wollte ihr selbst einen Antrag machen, nur leider bin ich noch nicht dazu gekommen, und jetzt war Methven schneller.“

„Lord Brodrie möchte für sein einziges Kind vielleicht mehr als nur einen jüngeren Sohn“, sagte Lucy. Sie wandte den Blick ab, um sich zu beruhigen.

„Aber ich bin der jüngere Sohn eines Dukes!“, widersprach Lachlan.

„Und Lord Methven ist ein Marquis“, sagte Lucy. „Er ist die bessere Partie.“ Sie sprach ganz ruhig, obwohl ihr Puls noch immer raste, ihr war viel zu heiß.

Robert Methven würde heiraten.

In ihrem Kopf drehte sich alles. Lucy war entsetzt, und wusste nicht einmal, warum. Sie kannte Lord Methven ja nicht einmal besonders gut. Kurz nach jener Nacht vor acht Jahren, als sie einander auf der Terrasse von Forres Castle getroffen hatten, hatte er nach einem schlimmen Streit mit seiner Familie Schottland verlassen. Er war nach Kanada gegangen, hieß es, und hatte im Holzhandel ein Vermögen verdient. Das war kurz vor Alice Tod gewesen, und Lucy hatte sich nicht weiter darum gekümmert. Wenn sie an jene Zeit zurückdachte, erinnerte sie sich nur an eine erdrückenden Trauer und an das leere Gefühl des Verlusts.

Doch dann starb Robert Methvens Großvater. Der Enkel erbte den Titel und kehrte nach Schottland zurück. Lucy hatte ihn zuletzt auf ein paar winterlichen Veranstaltungen gesehen, aber das frühere Gefühl von Vertrautheit war erloschen. Sie hatten nur ein paar Worte über ganz triviale Themen gewechselt.

Außerdem schüchterte Robert Methven Lucy schon rein körperlich ein. Alle Männer in ihrer Familie waren groß und schlank, Lord Methven aber war zudem noch ausgesprochen muskulös und breitschultrig. Seine Gesichtszüge wirkten ebenso hart wie der Blick seiner saphirblauen Augen. Er war überwältigend männlich, und diese Männlichkeit war so offensichtlich wie ein Schlag ins Gesicht. Nie zuvor hatte Lucy jemanden gesehen, der so war wie er.

Er hatte sich im Laufe der Jahre verändert. Robert Methven wirkte sehr ernst, aus seinen Augen schien jede Heiterkeit verschwunden zu sein. Die Autorität und die Kraft, die Lucy in jener Nacht in ihm gespürt hatte, existierte noch, doch sie war stärker und dunkler geworden. Tragödien vermochten das Licht in einem Menschen zum Erlöschen bringen. Lucy wusste das nur zu gut. Sie fragte sich, was Robert Methven wohl widerfahren war.

Sie hatten nun nichts mehr gemeinsam. Und doch ballte Lucy die Hände zu Fäusten und spürte, wie sie das glatte Papier zerknüllte. Sehr zu ihrem Unwillen eroberte Robert Methven ihre Gedanken. Lucy schob die Erinnerungen an ihn beiseite, denn ihr wurde heiß und kalt und ein ganz seltsames Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus.

Sie setzte sich wieder an ihren Schreibtisch und strich mit zitternden Fingern die Papiere glatt. In ihrem Innern flammte ein seltsames Gefühl auf, etwas, das sich wie Eifersucht anfühlte.

Ich bin nicht eifersüchtig, dachte Lucy verstimmt. Ich kann gar nicht eifersüchtig sein. Ich bin niemals auf irgendjemanden eifersüchtig. Eifersucht ist weder angemessen noch damenhaft.

Und dennoch war sie eifersüchtig auf Dulcibella.

Sie presste ihre Fingerspitzen an ihre Schläfen. Das ergab keinen Sinn. Sie konnte unmöglich eifersüchtig auf Dulcibella sein, weil diese Frau nichts besaß, was Lucy begehrte. Lucy wollte nicht heiraten, und selbst wenn, entsprach Lord Methven in keinem einzigen Punkt ihren Vorstellungen von einem perfekten Ehemann. Er war zu einschüchternd und viel zu männlich. Er war einfach zu viel von allem.

„Was soll ich tun, Lucy?“, fragte Lachlan. Er forderte ihre Aufmerksamkeit ein, indem er beide Hände hob. „Dulcibella wird es nicht wagen, gegen die Wünsche ihres Vaters aufzubegehren. Sie ist viel zu zart, um sich gegen ihn zu wehren.“

Zart war vielleicht nicht das richtige Wort. Dulcibella war eher schwach. Sie besaß einfach kein Rückgrat.

„Du kannst gar nichts tun“, sagte Lucy schroff. „Es tut mir leid, Lachlan.“ Aber du wirst dich im Nu wieder in eine andere Dame verlieben.

„Du musst einen deiner Briefe schreiben“, bat Lachlan und setzte sich auf. Es schien ihm plötzlich dringend zu sein. „Du musst mir helfen, sie zu überreden. Bitte, Lucy.“

„Oh nein“, sagte Lucy. „Nein, nein, und nochmals nein. Hast du mir überhaupt zugehört, Lachlan?“

„Es tut mir leid wegen damals.“ Immerhin besaß Lachlan den Anstand, ein wenig beschämt zu wirken.

„Das glaube ich dir nicht“, sagte Lucy.

Lachlan zuckte mit den Schultern. „Na gut. Aber diesmal sind meine Absichten wirklich ehrenhaft, Lucy. Ich liebe Dulcibella. Du willst doch auch, dass wir glücklich werden. Ich möchte sie heiraten. Lucy, bitte …“ Er ließ den Satz unvollendet, als würde ihm sonst gleich das Herz brechen. Sehr kunstvoll, dachte Lucy.

„Nein“, sagte sie wieder. „Abgesehen davon glaube ich nicht, dass sich Dulcibella von so einem Brief überzeugen ließe. Sie ist eine sehr behütete Dame.“

„Nun“, sagte Lachlan grinsend, „du müsstest den Tonfall vermutlich etwas mäßigen.“

„Nein“, sagte Lucy zum sechsten Mal. Sie dachte an Robert Methven. „Sie sind verlobt, Lachlan. Es wäre falsch.“

„Bitte, Lucy“, wiederholte Lachlan, diesmal etwas flehentlicher. „Ich liebe Dulcibella wirklich.“ Er streckte eine Hand aus. „Wie soll sie mit einem Mann wie Robert Methven glücklich werden? Der Mann ist ein Wilder. Er ist nicht so wie ich.“

„Nein“, sagte Lucy wieder. „Er ist ganz gewiss nicht wie du.“ Robert Methven war nicht so elegant wie Lachlan. Er hatte Ecken und Kanten und er war so roh, dass er sich während der vergangenen drei Monate in Lucys Hirn gebrannt hatte. Einmal mehr spürte sie, wie sie beim Gedanken daran ein Schauer überlief.

„Ich kann dir nicht helfen, Lachlan“, sagte sie. „Du solltest inzwischen ganz gut allein zurechtkommen.“

Lachlan setzte die eigensinnige Miene auf, an die sich Lucy nur zu gut aus Kindertagen erinnerte.

„Ich weiß nicht, warum du mir nicht helfen willst“, sagte er. „Das wird niemand verstehen.“

„Weil es falsch ist“, erwiderte Lucy scharf. Sie fröstelte. Sie wusste, dass sie ihrem Bruder die Hilfe verweigern musste, selbst wenn dessen Gefühle echt waren. Es war in keiner Weise fair, Robert Methvens Verlobung zu hintergehen. Zumal Robert Methven zu den Männern gehörte, die man besser nicht verärgern sollte. Er war hart und gefährlich, und sie wäre dumm, sich ihm in welcher Art auch immer entgegenzustellen. Wenn er das herausfand, bekam sie jede Menge Ärger.

„Du brauchst doch Geld“, sagte Lachlan plötzlich. „Ich weiß, dass es so ist. Du hast gegenüber deiner Zofe vorgestern erwähnt, dass deine vierteljährliche Zahlung bereits aufgebraucht sei.“

Lucy zögerte. Es stimmte. Sie hatte ihre Zuwendung an das Waisenhaus der Franziskaner und an das Findelhaus gespendet, kaum dass sie das Geld erhalten hatte. Diese Details kannte Lachlan natürlich nicht. Er hielt sie für ebenso extravagant wie sich selbst, und er fand nichts dabei. Er wusste nicht, dass sie ihre Trauer über Alices Tod dazu zwang, jeden Penny, den sie besaß, weiter zu geben, um eine Schuld zu begleichen, die sie niemals begleichen konnte.

„Ich werde dir die Haube mit den grünen Bändern kaufen, die du gestern in der Princes Street so bewundert hast“, sagte Lachlan und beugte sich vor.

„Ich hätte das Geld lieber in bar, danke“, knurrte sie. Einen Moment lang gestattete sie sich, an all das zu denken, was sie sich davon kaufen könnte, neue Kleider und Schuhe für die Kinder, auch Bücher und Spielzeug.

Sie verspürte einen Anflug von Schuldbewusstsein, als sie erkannte, dass sie im Begriff war, ihre Überzeugung zu verwerfen und das zu tun, worum Lachlan sie bat. Sie versuchte, das Gefühl nicht zu beachten. Sie sagte sich, dass Lord Methven niemals herausfinden konnte, das sie hinter allem steckte, da ja Lachlans Name unter den Briefen stehen würde, und so lange ihr Bruder den Mund hielt, würde niemand sie verdächtigen. Sie sagte sich, dass sie mit dem Geld mehr Medikamente für die Kinder im Hospital kaufen konnte, was wichtig war, denn in diesem Winter grassierte eine schlimme Bronchitis.

„Wie viel?“, fragte Lachlan. Er erhob sich umständlich aus seinem Sessel und stand auf.

„Zehn Schilling pro Brief“, sagte Lucy schroff.

Lachlan starrte sie entgeistert an. „Dann schreibe ich sie selbst.“

„Viel Glück“, erwiderte Lucy lächelnd.

Lachlan sah wieder zu ihr hin. Lucy hielt seinem Blick stand. Sie wusste, dass er nachgeben würde. Sie besaß einen stärken Willen als er.

„Du könntest es aus Liebe tun“, murrte er.

Lucy wandte sich ab. Liebe war eine Währung, mit der sie nicht handelte. „Mir ist Bargeld lieber“, sagte sie.

„Dann fünf Schilling“, sagte Lachlan. „Und dafür sollten sie auch gut sein.“

„Sieben“, erwiderte Lucy. „Und sie werden gut sein.“

Während Lachlan ging, um das Geld zu holen, öffnete Lucy die Schreibtischschublade und holte eine neue Feder heraus. Sie spitzte sie fachgerecht an und füllte das Tintenfass auf. Ich werde Lachlan sagen, dass er die Briefe mit grüner Tinte abschreiben soll, überlegte sie. Der Brief sollte so romantisch aussehen, wie er sich anhörte.

Graupel prasselten gegen das Fenster, der Rahmen klapperte und im Kamin heulte der Wind. Lucy fröstelte. Sie konnte eine dunkle Vorahnung nicht loswerden, die wie ein schweres Gewicht auf ihr lastete. Vor ihrem inneren Auge sah sie Lord Methven mit einem Gesichtsausdruck so hart wie Stein und mit eiskalten blauen Augen.

Es war falsch von ihr, Lachlan bei dem Versuch zu helfen, Dulcibella zu erobern. Sie wusste das. Es war nicht nur moralisch falsch, sondern es würde auch die Spannung zwischen den beiden Clans verschärfen, eine Spannung, die nie ganz verschwunden war. Sie wusste, dass es einen fortwährenden Rechtsstreit zwischen dem Marquis of Methven und ihrem Cousin Wilfred, Earl of Cardross, gab. Wenn Lachlan Robert Methven die Braut ausspannte, wäre das Öl ins Feuer.

Sie wusste, sie sollte die Feder sofort beiseitelegen und fortgehen, aber sie sehnte sich so verzweifelt danach, dem Findelhaus noch mehr zu helfen. Also nahm sie die Feder zur Hand und begann zu schreiben. Alles wird gut, sagte sie sich. Sie würde keine Schwierigkeiten bekommen. Sie war in Sicherheit. Robert Methven würde niemals herausfinden, was sie tat.

2. KAPITEL

Zwei Monate später, April 1812

Die Braut ließ auf sich warten.

Robert, Marquis of Methven, zupfte verstohlen sein Halstuch zurecht. Es saß ebenso eng wie sein gestärktes weißes Hemd, das über seinen breiten Schultern spannte. Die kleine Kirche in den Highlands war überhitzt und bis auf den letzten Platz besetzt. Der schwere Duft weißer Lilien lag in der Luft. Robert hatte sie bisher immer für Begräbnisblumen gehalten.

Wie passend.

Die Hochzeitsgäste wurden allmählich unruhig. Dulcibella verspätete sich bereits über den als angemessen angesehenen Zeitpunkt hinaus. Die einzige glaubhafte Entschuldigung dafür konnte ein Riss in ihrem Kleid sein oder eine Familientragödie, doch Robert glaubte weder an das eine noch an das andere.

Dulcibella. Was für ein schrecklicher Name. Während seiner zwei Monate währenden Verlobungszeit haderte Robert, ob er mit diesem Namen leben könnte. Jetzt sah es danach aus, als ob er gar nicht in die Verlegenheit kam, es auszuprobieren.

Er sah sich um. Die Kirche war vollbesetzt, denn es war die Hochzeit der Saison. Zweihundert Mitglieder des schottischen Adels hatten die Reise nach Norden auf sich genommen, um der Hochzeit der Tochter des Lairds mit dem Mann beizuwohnen, der ihre Kreise vor acht Jahren so skandalumwittert verlassen hatte und nun zurückgekehrt war.

„Ich glaube, du wirst versetzt, mein Freund“, flüsterte sein Trauzeuge und Cousin Jack Rutherford. Er grinste frech, zum Teufel mit ihm. Robert runzelte die Stirn. Die öffentliche Demütigung war ihm egal, nicht aber Dulcibella. Sie war der Schlüssel zu seinem Erbe.

Im hinteren Teil der Kirche entdeckte er ein entfernt bekanntes Gesicht.

Lady Lucy MacMorlan.

Robert spürte, wie sein Herz plötzlich schneller schlug. Ihm wurde heiß und er schwitzte. Der Blick allein genügte, und schon beschlich Robert das Gefühl, für seine Hochzeit eine viel zu enge Hose gewählt zu haben. Es war eine höchst unpassende körperliche Reaktion angesichts der Tatsache, dass er gerade als Bräutigam vor dem Traualtar stand.

Er wusste nicht genau, warum er sich so zu Lady Lucy hingezogen fühlte. So peinlich es auch war, es zuzugeben, aber vermutlich hatte er ein zärtliches Gefühl für sie entwickelt, als sie beide fast noch Kinder waren. Dieses Gefühl hatte sich scheinbar nie gelegt. Bei seinem Kuss vor Jahren in Forres Castle war er nur einem Impuls gefolgt, doch seine Reaktion auf diesen Kuss und auf sie fiel so unerwartet heftig aus, dass er sofort zurückgeschreckt war. Sonst hätte er für nichts mehr garantieren können und sie beide ins Verderben gerissen. Durch die tragischen Entwicklungen innerhalb seiner Familie sah er sich anschließend gezwungen, großen Abstand zu Schottland zu gewinnen. Doch als er Lady Lucy nach seiner Rückkehr bei einer der gesellschaftlichen Zusammenkünfte in Edinburgh wiedersah, flammte in ihm wieder ein Funke auf, der seitdem hell und lichterloh brannte.

Ich habe mich verändert, dachte er, aber sie hat sich ebenso verändert. Das natürliche, offene Mädchen von damals war weitaus zurückhaltender geworden. Sie war noch immer charmant, aber jetzt mit dem städtischen Schliff weltläufiger Eleganz. Es hatte Robert überrascht, wie begierig er darauf war herauszufinden, was sich hinter dieser Fassade verbarg.

Ihn bedrängten noch andere Empfindungen, wenn er an Lady Lucy dachte, doch die würden niemals Erfüllung finden.

Und nun saß Lady Lucy fast ganz hinten in der Kirche, zwischen ihren älteren Schwestern und ihrem Vater, dem Duke of Forres, sowie ihrem Cousin, dem grässlichen Wilfred, Earl of Cardross, den Robert nicht ausstehen konnte. Sie wirkte sehr zierlich, elegant und feminin, ihr rotes Haar leuchtete um die Wette mit ihren lavendelblauen Augen. Dieses Haar hatte Robert einst den Rest gegeben. Damals wie heute wollte er wissen, ob es sich so faszinierend anfühlte wie es aussah. Es umspielte das herzförmige Gesicht von Lady Lucy, ihre porzellanweiße Haut mit den bezaubernden Sommersprossen und den rosigen Lippen. Robert wüsste nur zu gern, wie diese Lippen wohl schmeckten, und ob Lady Lucy Sommersprossen auch an anderen Stellen verbarg.

Diese Frau war einfach perfekt. Sie war die perfekte Tochter, die perfekte Dame und eines Tages würde sie die perfekte Ehefrau sein. Robert hatte damals von ihrer Verlobung mit dem alternden Aristokraten gehört, und dass der Bräutigam noch vor der Hochzeit das Zeitliche gesegnet hatte. Seither lehnte Lady Lucy alle Anträge ab, da offenbar niemand an die Perfektion ihres Verlobten heranreichen konnte. Robert erschien es etwas seltsam, aber über Geschmack ließ sich ja bekanntlich nicht streiten.

Noch einmal musterte er verstohlen Lady Lucys perfektes Profil. Er bedauerte, dass er ihr keinen Antrag machen konnte, aber ihm waren durch die Bedingungen des Testaments alle Hände gebunden. Dulcibella Brodrie war eine der wenigen Frauen, vielleicht sogar die einzige, die den Kriterien entsprach.

Robert bemerkte, dass er Lady Lucy noch immer anstarrte. Er war nicht gerade ein Gentleman, aber er wusste doch, dass es sich nicht gehörte, und schon gar nicht am Tag seiner Hochzeit mit einer anderen.

„Augen nach vorn, Methven“, befahl seine Großmutter im Tonfall eines Generalmajors. Die Dowager Marchioness of Methven saß allein in der ersten Reihe. Sie war eine kleine, würdevolle Gestalt, die ein Kleid aus roter Seide trug und als Schmuck dazu passende Diamanten. Als ihn sein Großvater damals ohne ein Wort verstieß, hielt sie Kontakt zu ihm. Sie tat dies gegen den ausdrücklichen Willen ihres Mannes, und schickte ihm auch noch seinen Cousin Jack hinterher, weil dieser als junger Mann mehr von der Welt sehen wollte. Robert liebte seine Großmutter, auch wenn er ihr das nie sagen würde. Jack und die Großmutter, waren alles, was ihm von seiner Familie geblieben war.

Die Tür der Kirche wurde aufgerissen und die Orgel begann „Die Ankunft der Königin von Saba“ zu spielen. Robert sah die Erleichterung im Gesicht des Pfarrers. Erwartungsvoll scharrten die Gäste mit den Füßen. Kleider raschelten, als sich die Gemeinde umdrehte, um einen ersten Blick auf die Braut zu erhaschen.

Doch dann verstummte die Musik. Lord Brodrie, Dulcibellas Vater, schritt allein durch den Mittelgang. Er führte keine Braut an seinem Arm.

Robert wusste inzwischen, dass Lord Brodrie beinahe ständig ungehalten war, doch jetzt brodelte in ihm nackter Zorn. Sein Gesicht war hochrot vor Wut, das weiße Haar stand ihm wirr vom Kopf ab, und seine blauen Augen blitzten nur so. In der Hand hielt er mehrere Bögen Papier. Eines davon flatterte zu Boden und landete zu Roberts Füßen.

„Sie ist durchgebrannt!“, rief Lord Brodrie.

„Ich gratuliere dir zu deinem Scharfsinn, Jack“, murmelte Robert.

Die Gemeinde erstarrte vor Schreck und schwieg einen Moment, doch dann brach ein Tumult los. Alle Gäste schienen gleichzeitig zu reden und zu gestikulieren.

Robert bückte sich und hob den Briefbogen auf. Es war nicht, wie er vermutet hatte, ein Brief an ihn mit einer Erklärung oder vielleicht sogar einer Entschuldigung, nein, es war ein Teil eines Liebesbriefs.

„Ich kann es nicht länger aushalten. Ich quäle mich Tag und Nacht. Ich kann nicht mehr sprechen. Ich kann nicht mehr essen. Der Gedanke, wie du in den Armen eines anderen Mannes, im Bett eines anderen Mannes liegst, ist mir unerträglich. Die Vorstellung, wie Methven dich liebt, obwohl du doch zu mir gehörst, du bist mir die Luft zum Atmen. Komm mit mir, ehe es zu spät ist …“

Da stand noch viel mehr und im selben Tonfall, aber Robert übersprang es. Er hatte genug gelesen, ihm war übel. Wie es schien, hatte dieses Gesäusel Dulcibella gefallen, denn immerhin hatte der Verfasser sie dazu gebracht, mit ihm durchzubrennen.

„Wer hat das geschrieben?“, fragte Jack. Er versuchte, über Roberts Schulter hinweg mitzulesen.

„Es ist mit Lachlan unterzeichnet“, sagte Robert.

„Dann muss es Lachlan MacMorlan sein“, sagte Jack und betrachtete die Unterschrift. „Er war vollkommen hingerissen von Miss Brodrie. Ich dachte allerdings nicht, dass er zu solch blumigen Worten fähig sein würde. Ich hielt ihn immer für eher schlicht und faul.“

„Ich werde seine Gedärme von den Schlossmauern hängen lassen“, schimpfte Lord Brodrie. Sein Gesicht war jetzt rot und weiß gefleckt. Er sah aus, als würde ihn gleich der Schlag treffen. Drohend schüttelte er die Faust, in der er noch mehrere handgeschriebene Blätter hielt. „Meine Tochter mit romantischen Briefen zu verführen!“, brüllte er. „Dieser verdammte Feigling! Wenn er sie haben wollte, warum hat er dann nicht wie ein Mann um sie gekämpft?“

Robert zerknüllte den Brief in der Hand. „Vermutlich, weil es auf diese Art besser funktioniert“, sagte er. „Mir war nicht bewusst, dass Miss Brodrie so romantisch veranlagt ist.“

Jetzt erst bemerkte er, wie wenig er eigentlich über Dulcibella wusste. Es war ein wenig spät, es sich jetzt einzugestehen, aber er war ja auch nur an ihr interessiert, weil sie der Schlüssel zu seinem Erbe war. Er brauchte eine Frau und einen Erben, und das schnell. Nur aus diesem Grund allein hatte er um Dulcibellas Hand angehalten. Sie war zweifellos hübsch, aber sie lachte zu schrill und ihre Hilflosigkeit irritierte ihn. Das war alles, was ihre Beziehung ausgemacht hatte.

„Das alberne Mädchen hat immer gelesen“, sagte Lord Brodrie. „Da kommt sie ganz nach ihrer Mutter. Ich habe mir nie viel daraus gemacht, aber sie mochte vor allem Romane. ‚Pamela‘ und so etwas.“

Jetzt ergab das alles für Robert einen Sinn. Ungeduldig schlug er den zerknüllten Brief gegen seine Handfläche.

„Ich glaube nicht, dass Lachlan MacMorlan das geschrieben hat“, sagte Jack nachdenklich. „Ich kenne ihn, der Mann ist kein Gelehrter.“

„Vielleicht war er zu schüchtern, dir seine Gedichte zu zeigen“, erwiderte Robert spöttisch. Er überflog noch ein paar Zeilen mehr. „Er erscheint mir ziemlich begabt.“

„Wenn Lachlan MacMorlan schüchtern ist“, sagte Jack, „bin ich der Papst.“

„Gentlemen …“ Der Pfarrer wurde unruhig. Auf seinem rundlichen Gesicht lag ein besorgter Ausdruck. „Wird der Gottesdienst nun noch fortgesetzt?“

„Ich fürchte nicht“, sagte Robert. „Wenn sich Miss Brodrie mir offenbart hätte, hätte ich meinen Platz natürlich gern an Lord Lachlan abgetreten.“

Sowohl Lord Brodrie als auch der Pfarrer sahen ihn verwundert an. Robert begriff, dass sie sich fragten, ob er wirklich so gleichgültig war, wie er sich gab. Tatsächlich war ihm Dulcibella völlig egal, aber er sorgte sich um sein Erbe. Die Gemeinde rückte auf den Bänken hin und her, alle versuchten mitanzuhören, was vorn am Altar vor sich ging. In den Gesichtern der Gäste spiegelte sich blankes Entsetzen oder hämische Belustigung, je nachdem, wie die Sympathien der Gäste verteilt waren. Wilfred Cardross versuchte gar nicht erst, seine Schadenfreude zu verbergen. Er würde es mehr als jeder andere begrüßen, wenn Roberts Pläne scheiterten und er die Gelegenheit bekam, Land von den Methvens zurückzufordern.

Robert ballte die Hände zu Fäusten. Er würde dem Earl of Cardross keine Gelegenheit geben, Golden Isle und die nördlichen Ländereien an sich zu reißen. Das waren die ältesten Teile seines Besitzes. Wenn nötig, würde er sie mit Gewalt verteidigen.

Er begegnete dem Blick von Lucy MacMorlan. Sie sah ihm direkt in die Augen. Sie wirkte weder entsetzt noch empört oder belustigt.

Sie blickte eher schuldbewusst.

Robert verspürte einen Anflug von Neugier. Er wusste, wie nahe sich Lady Lucy und ihr Bruder standen, vermutlich hatte er sich ihr anvertraut. Zweifellos wusste sie, dass er mit Dulcibella durchbrennen wollte.

Robert sah ihr eine Zeit lang in die Augen. Ganz langsam begann sie zu erröten. Er sah, wie sie sich auf die Lippe biss, bevor sie sich ganz bewusst abwendete, um ihr kleines, mit grünen Perlen besticktes Retikül aufzunehmen, das zu den Bändern ihrer Haube passte. Lady Lucy berührte ihren Vater sanft am Arm als Zeichen, dass sie gehen wollte. Die Gäste erhoben sich nun von den Bänken und schlenderten unsicher umher, während sie darauf warteten, dass irgendjemand etwas sagte.

„Nun?“, fragte Lord Brodrie. „Wollen Sie sie nicht verfolgen, Mylord?“

„Sir“, sagte Robert fest, „Ihre Tochter hat erhebliche Mühen auf sich genommen, um einer Heirat mit mir aus dem Weg zu gehen. Es wäre lächerlich, wenn ich ihr folgen und sie zurückbringen würde.“ Er drückte Jack den Brief in die Hand. „Sag allen, dass ich sie zum Hochzeitsfrühstück einlade, Jack“, sagte er. „Es wäre schade, wenn ein gutes Fest ausfallen würde.“ Immerhin hatte er die Feierlichkeiten gezahlt, da Lord Brodrie nicht über die Mittel dazu verfügte.

„Fest?“ Lord Brodrie war fassungslos. „Wollen Sie etwa feiern, dass meine Tochter mit einem anderen Mann durchgebrannt ist, Sir?“

„Wir haben den Klatschbasen schon mehr als genügend Stoff für Mutmaßungen geboten“, sagte Robert. „Ich weigere mich, den Sitzengelassenen mit dem gebrochenen Herzen zu spielen.“ Er lachte. „Außerdem ist die Hochzeitsfeier bezahlt. Und Ihre Tochter ist verheiratet und Ihnen damit abgenommen. Man kann ja noch hoffen. Feiern Sie das.“ Er verneigte sich knapp vor Lord Brodrie. „Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte. Ich werde mich gleich zu Ihnen gesellen, aber zuvor muss ich noch etwas erledigen.“

„Bei Gott, Sir, er ist ein kaltherziger Bastard“, hörte er Lord Brodrie sagen, als er davonging. Der Mann schwankte offenbar zwischen Bewunderung und Unglauben.

Jacks Antwort hörte er nicht. Aber er widersprach Brodries Einschätzung nicht.

Lachlan MacMorlan war mit Dulcibella Brodrie durchgebrannt.

Die Neuigkeit verbreitete sich in Windeseile in den Bankreihen der Kirche. Lucy, die in der Kirche ganz hinten zwischen ihrem Vater und den beiden Schwestern saß, war beinahe die Letzte, die es hörte.

„Nach Gretna Green durchgebrannt, heute Morgen schon fortgelaufen, zusammen mit Lachlan MacMorlan ….“

Lucy fühlte, wie sie ganz allmählich eine dunkle Ahnung überkam. Verdammt sollte Lachlan sein. Hätte er das nicht etwas früher klären können? Es hatte zwei Monate und beinahe zwanzig Liebesbriefe gebaucht, um Dulcibella von Lachlans Liebe zu überzeugen und sie dazu zu bringen, Robert Methven zu verlassen. Und nun ließ sie ihren Bräutigam ausgerechnet vor all seinen Hochzeitsgästen im Stich.

Lucy fühlte sich entsetzlich schuldig. Sie hatte nicht erwartet, dass sie sich so schrecklich fühlen würde. Bis zu diesem Augenblick war sie mit sich selbst tatsächlich recht zufrieden gewesen. Dulcibellas überraschend hartnäckige Weigerung, Lachlans Werben nachzugeben, hatte ihr einen großen Gewinn beschert und sie in die Lage versetzt, viel Geld für warme Decken, Medikamente und neue Kleider für die Kinder zu spenden. Doch alles hatte seinen Preis, und den zahlte jetzt Lord Methven. Lucy wurde das Gefühl nicht los, ihn betrogen zu haben, obwohl sie ihm nichts schuldig war. Vielleicht lag es daran, dass er damals sein Wort gehalten und nie verraten hatte, dass er sie in jener Nacht in Forres Castle auf der Terrasse gesehen hatte. Es war ihr völlig entfallen, doch nun erinnerte sie sich daran. Robert Methven hatte sein Versprechen gehalten und sie hatte es ihm mit Verrat gedankt.

„Vater.“ Lucy berührte den Duke am Arm und beugte sich dann zu Mairi und zu Christina hinüber. „Ich fürchte, man wird uns gleich so lieben wie den Fuchs im Hühnerstall“, flüsterte sie. „Lachlan ist mit der Braut durchgebrannt.“