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Der größte Kriminalfall der schwedischen Geschichte: Der Mord an Olof Palme. 28. Februar 1986: An einem schneidend kalten Winterabend wird Ministerpräsident Olof Palme in der Stockholmer Innenstadt erschossen. Der ungeklärte Mord am Regierungschef wird zum größten Kriminalfall der schwedischen Geschichte und ein Trauma von nationalem Ausmaß. Mehr als dreißig Jahre später stoßen die beiden ungleichen Kommissarinnen Stina Forss und Ingrid Nyström auf eine vielversprechende Spur und beginnen zu ermitteln. Bald wird deutlich, dass ihre Nachforschungen dunkle Mächte wecken, die das Aufdecken der Tathintergründe um jeden Preis verhindern wollen. Das bedingungslose Ringen um die Wahrheit entwickelt sich zu einem gnadenlosen Kampf um Leben und Tod, der die beiden Frauen bis an ihre äußersten Grenzen führt: psychisch, physisch, moralisch – und darüber hinaus. Die SPIEGEL-Bestseller-Autoren legen im achten Band der beliebten Schwedenkrimireihe ihr Meisterstück vor – ein atemloser Thriller, sorgfältig recherchiert, kunstvoll konstruiert, rasant erzählt.
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Seitenzahl: 592
Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson
Ein Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss
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Titelseite
Über Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Roman Voosen, Jahrgang 1973, aufgewachsen in Papenburg, studierte und arbeitete in Bremen und Hamburg.
Kerstin Signe Danielsson, Jahrgang 1983, geboren und aufgewachsen in Växjö, studierte und arbeitete in Deutschland und Schweden. Sie leben gemeinsam in Småland.
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28. Februar 1986: An einem schneidend kalten Winterabend wird Ministerpräsident Olof Palme in der Stockholmer Innenstadt erschossen. Der ungeklärte Mord am Regierungschef wird zum größten Kriminalfall der schwedischen Geschichte und ein Trauma von nationalem Ausmaß.
Mehr als dreißig Jahre später stoßen die beiden ungleichen Kommissarinnen Stina Forss und Ingrid Nyström auf eine vielversprechende Spur und beginnen zu ermitteln. Bald wird deutlich, dass ihre Nachforschungen dunkle Mächte wecken, die das Aufdecken der Tathintergründe um jeden Preis verhindern wollen. Das bedingungslose Ringen um die Wahrheit entwickelt sich zu einem gnadenlosen Kampf um Leben und Tod, der die beiden Frauen bis an ihre äußersten Grenzen führt: psychisch, physisch, moralisch – und darüber hinaus.
Motto
Prolog
Tag X
Kapitel 1
1
2
3
Kapitel 2
1
2
3
4
5
6
7
1000 Tage bis Tag X
Kapitel 3
1
2
3
4
5
6
7
8
878 Tage bis Tag X
Kapitel 4
1
2
3
4
5
6
7
8
9
542 Tage bis Tag X
Kapitel 5
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
397 Tage bis Tag X
Kapitel 6
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
364 Tage bis Tag X
Kapitel 7
1
2
3
4
5
6
7
8
301 Tage bis Tag X
Kapitel 8
1
2
3
4
5
6
7
8
9
221 Tage bis Tag X
166 Tage bis Tag X
Kapitel 10
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
140 Tage bis Tag X
Kapitel 11
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
135 Tage bis Tag X
Kapitel 12
1
2
3
4
107 Tage bis Tag X
Kapitel 13
1
2
3
4
5
6
Kapitel 14
1
2
3
4
5
42 Tage bis Tag X
Kapitel 15
Tag X
Leseprobe »Tode, die wir sterben«
»It is needless to say that women are the most patient as well as the most dangerous pickpockets.«
Harry Houdini
Sie trat mit aller Kraft in die Pedale und spürte die warme Luft in dem mit Sommersprossen übersäten Gesicht. Der Fahrtwind griff nach den Zöpfen und zupfte an ihnen, die schmale Brust spannte vor Anstrengung und Stolz. Im Vorjahr hatte sie das Fahren ohne Stützräder gelernt, nun fühlte sich Pippi – so wurde sie von den anderen Kindern gerufen – auf dem blau lackierten Rad mit der Dreigangschaltung sicher. Sie gehörte nun nicht mehr zu den Kleinen, den Popelfressern und Hosenscheißern, die den Garten, die Auffahrt oder den einsehbaren Abschnitt der Straße vor dem Haus nicht verlassen durften. Pippi gehörte endlich zu den Großen. Ihre Eltern hatten ihr erlaubt, die langen Sommertage mit den Nachbarskindern aus der Siedlung im nahen Wald zu verbringen, sie kannte das Losungswort für das Baumhaus und bekam am Wochenende Taschengeld, das ihr ab und zu den Kauf eines Wassereises oder einer Handvoll Cola-Kracher erlaubte. Nach dem Sommer würde sie in der Schule anfangen, einen Ranzen hatte Mama bereits gekauft, er stand neben dem Bett und manchmal, bevor sie sich schlafen legte, strich sie erwartungsvoll über das geriffelte orangefarbene Kunstleder.
Sie nutzte das Gefälle des Waldwegs, um vor der lang gestreckten Biegung noch einmal an Fahrt aufzunehmen. Sie schoss durch die Kurve, steuerte konzentriert an den Baumwurzeln vorbei und wartete auf das Kribbeln im Bauch, das sich jedes Mal einstellte, wenn sie die schwierige Stelle gemeistert hatte, das Fahrrad ausrollen ließ und schließlich auf der Lichtung zum Stehen kam. Den dichten Wald hinter sich zurückzulassen, war wie aus einem Tunnel ins Licht zu fahren. Sie stieg ab und ließ das Rad ins Gras fallen. Die hoch stehende Sonne zwang sie zu blinzeln, zweimal, dreimal, dann hatten sich die Augen an die Helligkeit gewöhnt. Während sie auf die ausladende Eiche zuging, die in der Mitte der Lichtung thronte und auf der sich das Baumhaus befand, bemerkte sie, dass außer ihrem kein weiteres Fahrrad im Gras lag. Weder Victorias Monark mit den fehlenden Speichen noch Daniels BMX noch das Rad eines der anderen Kinder. War sie heute tatsächlich die Erste, die nach dem Mittagessen hier herausgekommen war? Unsicher warf sie einen Blick auf die neue Quarzuhr am Handgelenk. Die Ziffern zeigten 12:55 an, fünf vor eins bedeutete das, aber ob das nun früh war oder spät, vermochte sie nicht zu beurteilen. Dass sie als Erste auf der Lichtung eintraf, war jedenfalls noch nie vorgekommen, die Situation war so neu und aufregend wie vieles in diesem Sommer. Sie entschloss sich, auf die anderen zu warten, was blieb ihr auch anderes übrig? Oben im Baumhaus hatte sie ein altes Kartenspiel liegen. Sie würde die Zaubertricks üben, die Papa ihr gezeigt hatte, und sie später den anderen vorführen. Vorhang auf für die große, die einzigartige Pfefferminza!
Die Silhouette eines Mannes löste sich aus dem Schatten der Eiche. Sie blieb sofort stehen, der Schreck brachte ihr Herz zum Klopfen. Wo kam der Mann so plötzlich her? Was wollte er hier? Dies hier, das war ihr Platz, ein Ort für Kinder, das Bandenbaumhaus. Ein Erwachsener gehörte hier nicht hin, etwas war falsch an der Situation, das spürte sie intuitiv und mit einer Eindringlichkeit, die ihr Angst machte.
»Hej«, sagte der Mann und hob lächelnd eine Hand.
»Hej«, entgegnete sie und musterte ihn. Er war alt, älter jedenfalls als Papa oder die Väter der anderen Kinder, aber er sah nicht unfreundlich aus. Die Art, wie er einige Meter vor ihr stand und unbeholfen winkte, hatte etwas Scheues an sich. Trotzdem blieb sie auf der Hut.
»Ich heiße Rune«, sagte der Mann und lächelte noch ein Stück breiter, bevor er seine Hand sinken und in der Hosentasche verschwinden ließ. »Und wer bist du, wenn man fragen darf?«
Er konnte sogar mit den Augen lächeln. Sie entspannte sich etwas.
»Pippi«, sagte sie. Aus einem Grund, den sie nicht hätte in Worte kleiden können, fühlte es sich richtig an, nur ihren Spitznamen preiszugeben.
Der Mann, der Rune hieß, lachte.
»Natürlich«, sagte er, »deine Haarfarbe, die Zöpfe, die Sommersprossen: Ich hätte selbst darauf kommen können. Und?«, fragte er schelmisch, »hast du deinen Affen und dein Pferd dabei?«
»Nur mein Fahrrad«, antwortete sie ernst. »Es liegt dort drüben.« Sie drehte sich um und wies mit einer vagen Geste auf den Rand der Lichtung. Als sie sich wieder dem Mann zuwandte, stand er nur noch halb so weit von ihr entfernt wie noch vor einem Augenblick. »Außerdem kommen meine Freunde gleich«, fügte sie eilig an.
Wieder lachten Runes Augen. Wie machte er das bloß?
»Tommy und Annika, richtig?«
Sie schüttelte energisch den Kopf.
»Nein, Victoria und Daniel. Malin und Linda. Henrik und vielleicht auch sein kleiner Bruder«, zählte sie auf.
»Ich hab auch nur Quatsch gemacht«, sagte Rune. »Wo du doch Pippi heißt.«
Sie überlegte, ob sie ihm doch ihren richtigen Namen nennen sollte. Dann fiel ihr etwas anderes ein.
»Hast du dich verirrt?«, fragte sie.
»Ja, genau, ich bin im Wald spazieren gegangen und habe mich verlaufen«, sagte Rune und kratzte sich verlegen am Kopf. Dann holte er aus der hinteren Hosentasche eine gefaltete Landkarte und begann sie aufzuklappen. »Schau mal hier, vielleicht kannst du mir ja den Weg zeigen.«
Sie war sich unsicher, ob sie dem Mann, der Rune hieß, helfen konnte. Natürlich wusste sie, was eine Landkarte war, Mama benutzte sie manchmal und gab Papa Anweisungen, wenn sie alle zusammen mit dem Auto unterwegs waren. Aber wie man aus dem Gewusel der vielen farbigen Linien erkennen sollte, wo es langging, war ihr nicht ganz klar.
»Ich weiß nicht …«, sagte sie, beäugte die Karte, schaute wieder zu ihm auf, suchte und fand das Lächeln in seinen Augen, bevor sie endlich einige Schritte auf ihn zutrat.
Die Hand, die gerade noch die Karte gehalten hatte, schnappte plötzlich nach ihrem Arm. Ihr entfuhr ein Schrei. Die Karte segelte zu Boden. Der Mann, der Rune hieß, riss sie an sich. Das Lächeln in seinen Augen war mit einem Mal verschwunden. In der anderen Hand war wie aus dem Nichts ein aufgeklapptes Messer aufgetaucht. Die kurze Klinge funkelte in der Sonne.
»Ruhe!«, zischte er.
Sie biss die Zähne zusammen, ihr Körper zitterte. Sie spürte die Spitze des Messers auf der Haut an ihrem Hals. Ich sterbe, dachte sie, jetzt sterbe ich, weil er ein Loch in mich hineinmacht, aus dem alles Blut aus mir herausläuft, bis ich tot bin.
Dann ging alles ganz schnell, eine einzige, fließende Bewegung. Er ließ das Handgelenk los und griff im selben Moment nach einem ihrer Zöpfe. Das Messer verschwand von ihrem Hals und schnitt durch ihr Haar. Ein knirschendes Geräusch, direkt über dem linken Ohr. Kurz tat es weh, dann war es vorbei. Sie starrte auf den Zopf, der aus seiner Faust baumelte. Wie fremd, wie unvertraut er aussah, dort, in seiner Hand. Wie ganz und gar falsch. Der Mann hatte ein Stück von ihr abgeschnitten. Er grinste. Sie schluckte. Die Angst hockte wie ein Kropf in ihrem Hals, noch immer hatte er das Messer in der Hand. Aber da war nun auch noch ein anderes Gefühl.
Etwas Starkes.
Eine weiß lodernde Wut.
»Nein!«, schrie sie und trat nach ihm, so fest sie konnte. »Nein!«
Der Schlag traf sie so heftig gegen die Schläfe, dass sie das Bewusstsein verlor.
Die Pension war eine heruntergekommene Absteige: die Matratze durchgelegen, die Vorhänge fadenscheinig, der Linoleumboden stumpf und rissig. Der Mann hatte es gleichgültig zur Kenntnis genommen, geschlafen hatte er trotzdem gut. Mechanisch schaufelte er nun das Frühstück in sich hinein, Haferbrei mit Milch und Preiselbeermarmelade, dazu gab es dünnen Kaffee. Gleichzeitig blätterte er in einer wochenalten Illustrierten und musterte über den Rand hinweg die anderen Gäste im Speiseraum. Es waren ausschließlich Männer, Monteure in derber Arbeitskleidung und Vertreter in schlecht sitzenden Anzügen, er bezweifelte, dass sich später irgendjemand an ihn würde erinnern können. Er trank den Kaffee aus, klappte die Zeitschrift zu, legte sie neben das Frühstücksgeschirr und ging zurück auf das kleine Zimmer. Nachdem er sich rasiert, frisch gemacht und die Zähne geputzt hatte, holte er ein Lederetui aus seinem Seesack und setzte sich damit an den wackeligen Tisch. Er öffnete das Etui und nahm die Waffe . Sie lag schwer in der Hand. Das Metall schimmerte im Schein der Deckenbeleuchtung. Der Mann griff nach einem Reinigungsstab mit Bürstenaufsatz, den er mit einem speziellen Öl besprühte. Vorsichtig führte er die Rundbürste in den Lauf ein, drückte und zog sie langsam vor und zurück. Es war nicht mehr als ein Ritual, denn er hatte die Waffe bereits am Vortag nach den letzten Schießübungen im Wald gründlich gesäubert. Als er fertig war, lud er sie. Die Feuerkraft, die sich aus der Kombination von Modell und Munition ergab, war durchschlagend, nicht einmal eine kugelsichere Weste würde ihr standhalten. Er legte die Waffe zurück in das Lederetui und wusch sich das Öl von den Händen. Dann zog er Schuhe, Hose und Pullover aus und legte sich zurück ins Bett. Auch wenn er nicht noch einmal einschlafen konnte, war es angenehm, einfach so dazuliegen und den Wasserfleck an der Decke anzuschauen. Mal erinnerte er ihn an die vielblättrige Blüte einer Rose, mal an einen abgeschnittenen Menschenkopf.
Eine Stunde döste er auf diese Weise dahin, dann stand er endgültig auf. Draußen war es kalt, weit unter null Grad, und der Tag würde aller Voraussicht nach lang werden. Also zog er Wollsocken an, eine lange Unterhose, Jeans, einen Norwegerpulli, gefütterte Winterstiefel. Darüber würde er eine weite Steppjacke tragen, die die Waffe im Schulterholster ebenso verbarg wie das Walkie-Talkie. Sicherheitshalber überprüfte er die Batterie, bevor er es einsteckte. Sie war voll, der Akku hatte die ganze Nacht geladen. Er verstaute das Funkgerät samt Ersatzbatterie in der Innentasche der Jacke. Er band sich das Holster um und steckte die wuchtige Waffe ein. Alles, was er unterwegs nicht benötigte, kam in den Seesack. Als Letztes zog er die Jacke, Lederhandschuhe und eine Mütze mit Ohrenklappen an. Mit einem Handtuch wischte er über alle Oberflächen und die Türklinken, auch wenn das wahrscheinlich überflüssig war – je weniger Spuren er hinterließ, desto besser. Er ging aus dem Zimmer, schloss ab, durchschritt den schmalen Flur, legte den Zimmerschlüssel auf den Tresen der verwaisten Rezeption und verließ die Pension.
Um 11.17 Uhr nahm er die U-Bahn zum Hauptbahnhof. Dort verstaute er den Seesack in einem Schließfach. In einem nahe gelegenen Stehcafé trank er einen Kaffee und aß dazu Plundergebäck, anschließend rauchte er eine Zigarette und durchblätterte die Tageszeitung, die jemand an seinem Tisch liegen gelassen hatte. Politik und Wirtschaft interessierten ihn genauso wenig wie der Kulturteil. Er vertiefte sich in die Eishockey-Ergebnisse und eine Reportage über Doping in den Ostblockstaaten. Anschließend machte er einen Spaziergang. Er hielt sich nordöstlich und schlenderte durch den Vasaparken. Es war noch früh, der Einsatz war für die Abendstunden geplant. Trotzdem sollte er ab Mittag in Bereitschaft sein. Als kein Passant in der Nähe war, blieb er vor einer der reifüberzogenen Gottfrid-Larsson-Skulpturen stehen und holte das Funkgerät heraus. In einem kurzen Gespräch wurde ihm bestätigt, dass die Lage noch ruhig sei. Die Zielperson würde aller Voraussicht nach den Arbeitsplatz den Nachmittag über nicht verlassen. Er steckte das Walkie-Talkie ein und sah auf die Armbanduhr. Es war 13.24 Uhr. Sein Atem bildete in der feuchtkalten Luft Wolken. Er entschied, den Nachmittag im Kino zu verbringen. Dort war es warm und niemand würde von ihm Notiz nehmen. Nicht weit vom Park entfernt stieß er auf ein Kino, das um 14 Uhr »Jenseits von Afrika« zeigte. Er hatte den Film noch nicht gesehen, außerdem spielte Robert Redford mit, warum also nicht? Außer zwei älteren Damen war er der einzige Besucher der Vorstellung.
Als er aus der Hitze Kenias zurück in den schwedischen Winter trat, war es 17.02 Uhr und dämmerte bereits. Der Verkehr war nun dichter, die Bürgersteige voll von Menschenmassen, die von den Bürotürmen der Innenstadt ausgespuckt wurden. Er zog sich erneut in den Vasaparken zurück. Hier begegneten ihm nur vereinzelt Spaziergänger sowie der ein oder andere Jogger, der sich auch von Schnee und Eis nicht abbringen ließ. Im Schatten eines hohen Baums holte er das Funkgerät hervor und stöpselte den Innenohrkopfhörer ein. Das Kabel verschwand vollständig unter den Ohrenklappen der Mütze. Wenn er den entsprechenden Kanal öffnete, konnte er von Passanten unbemerkt dem Funkverkehr folgen. Er gab seine Position durch und erbat einen Lagebericht. Es gab gute Neuigkeiten. Im Laufe des Nachmittags hatte sich die Situation positiv entwickelt. Die Zielperson, Codename »Zinnober«, hatte die Personenschützer bereits früh nach Hause geschickt. Außerdem wurde offenbar ein abendlicher Kinobesuch erwogen. Er sollte sich bereithalten, weitere Einzelheiten würden folgen. Das klang in der Tat vielversprechend. Ein Zugriff im Freien, noch dazu auf eine Zielperson ohne Leibwächter, hatte gegenüber dem Eindringen in eine Wohnung mehrere Vorteile. Am wichtigsten war die Übersichtlichkeit: Er konnte den genauen Zugriffsort und Zeitpunkt selbst auswählen. Übersicht bedeutete Kontrolle. Über das Verhalten der Zielperson, mögliche Zeugen, mögliche Fluchtwege. Eine Wohnung dagegen war immer eine Rechnung mit Unbekannten. Man mochte noch so gut vorbereitet sein: Hinter einer geschlossenen Tür konnte sich immer eine unangenehme Überraschung verbergen. Er hoffte also auf den Kinobesuch und ließ den Kanal des Funkgeräts offen. Er war bereit. Er verließ den Park und bewegte sich langsam und auf Umwegen Richtung Gamla stan, wo Zinnober sein Zuhause hatte.
An einem Imbissstand am Sveavägen machte er eine Pause und bestellte sich zwei Brühwürstchen mit Kartoffelmus und einen Becher Tee. Die Mahlzeit war belebend und half gegen die schneidende Kälte. Er spazierte weiter, überquerte auf der Riksbron den Lilla Värtan, passierte das Parlamentsgebäude und gelangte über die Stallbron in die Altstadt. Man merkte, dass Freitagabend und noch dazu Zahltag war: Die Kneipen, Bars und Restaurants füllten sich mit erlebnishungrigem Volk. Er ließ sich durch die engen Kopfsteinpflasterstraßen treiben, achtete aber darauf, sich nicht allzu weit von der Västerlånggatan zu entfernen. Der Funk meldete sich. Die Kinopläne hatten sich konkretisiert. Zinnober und Ehefrau würden sich die 21-Uhr-Vorstellung von »Die Brüder Mozart« im Grand anschauen. Vor dem Kino würde der Sohn samt seiner Verlobten dazustoßen. Er überlegte. Der Zugriff musste idealerweise auf dem Hin- oder Rückweg durchgeführt werden. Zu Fuß waren es aus der Altstadt bis zum Grand etwa dreißig Minuten, mit der U-Bahn dauerte es halb so lange. Wenn sich das Ehepaar zu Letzterer entschloss, blieb ihm nur der Weg zwischen Wohnung und Haltestation beziehungsweise Haltestation und Kino, jeweils einige Hundert Meter. Wenige Minuten. An einem belebten Wochenendabend mitten in der Stockholmer Innenstadt. Zugegeben, es gab günstigere Rahmenbedingungen. Aber wenn die Alternative darin bestand, in die Wohnung einzudringen … Er entschied sich, es im Freien zu versuchen. Wenn sich absolut keine passende Möglichkeit ergab oder wenn sich die Zielperson ein Taxi bestellen sollte, gab es immer noch die nächtliche Wohnung als Plan B. Er sah auf die Uhr, es war 18.21 Uhr, ihm blieben also noch beinahe zwei Stunden, wenn er auf die Informationen vertraute, die ihm mitgeteilt worden waren. Was aber, wenn sich das Ehepaar entschieden hatte, vor dem Kino essen zu gehen? Er wusste, dass es Quellen beim Personenschutz gab und dass Telefone im Umfeld der Zielperson abgehört wurden. Aber Zinnober selbst abzuhören, war unmöglich. Das Risiko, aufzufliegen, war bei einer derart wichtigen Person zu groß. Die Wohnung war ebenso wenig verwanzt wie das Telefon. Er beschloss, auf Nummer sicher zu gehen, und begab sich in die Västerlånggatan. Wenn sich das Ehepaar entschloss, vor dem Kino noch etwas zu unternehmen, wollte er zur Stelle sein. Die Västerlånggatan war eher eine Gasse als eine Straße. Kleine Geschäfte und Restaurants, dicht an dicht. Fußgänger wichen ihm links und rechts aus. Die Nummer 31 war ein gelb getünchtes Haus mit grünen Sprossenfenstern. Die Hände in die Taschen gestemmt, schritt er langsam vorbei, auf der Suche nach einem geeigneten Beobachtungsposten. Sein Blick fiel auf einen unbeleuchteten Geschäftseingang, der ein Stück weiter schräg gegenüber lag. Die dunkle Nische wäre perfekt, dachte er, wenn nur die vielen Passanten nicht wären. Den Mann, der sich tief in den Schatten des Ladeneingangs drückte, hätte er beinahe übersehen. Einen Moment lang trafen sich ihre Blicke. Regungslos starrte der Kerl ihn an und sah dabei erschrocken aus. Nein, wurde ihm klar, nicht erschrocken, sondern ertappt. Schnell wandte er sich ab und ging gleichmäßigen Schritts weiter. In seinem Kopf ratterte es. Es war offensichtlich. Der Mann observierte den Hauseingang der Zielperson. Gehörten sie beide etwa zur selben ? Aber warum wusste er dann nichts von dem Beobachter? Seinem Kenntnisstand nach wurde die Wohnung von einem der gegenüberliegenden Häuser aus observiert. Die andere Möglichkeit: Der Personenschutz war besser als angenommen, womöglich wusste Zinnober nicht einmal selbst, wie gut er eigentlich bewacht wurde, sein Unbehagen gegenüber Leibwächtern war bekannt.
Er bog links ab, beschleunigte den Schritt, bog wieder ab und wieder, bis er sich in einem unbeleuchteten Hinterhof befand. Hier wagte er es, das Funkgerät zur Hand zu nehmen und seine Beobachtung zu melden. Er wurde gebeten, zu warten. Im Kopfhörer knackte und rauschte es. Eine Minute verging, zwei. Dann kam der überraschende Befehl: abrücken! Er sollte das Gebiet augenblicklich verlassen und sich stattdessen in die Nähe des Grands begeben. Er stutzte. Es kam nicht infrage, sich der Anordnung zu widersetzen. Aber ihm war zugesichert worden, im Rahmen der Missionsparameter freie Hand zu haben. Stattdessen schickte man ihn aus der roten Zone und befahl ihm, zu warten. Das war nicht das, was er sich unter Kontrolle vorstellte. Der Handlungsspielraum seines Plans hatte sich halbiert. Und das nur, weil die Einsatzleitung nervös geworden war, überlegte er. Bei dem Beobachtungsposten in der Västerlånggatan musste es sich also um einen Personenschützer handeln, den niemand auf dem Radar gehabt hatte. EinzigmöglicheFALLS. Er spuckte auf den Bürgersteig. Es gab zu viele Variablen. Wenn er die Zielperson vor dem Kinobesuch erwischen wollte, musste er direkt vorm Grand warten. Er sah sich die Situation vor Ort an. Vereinzelt standen Leute im Foyer. Er studierte die Vorführungszeiten in einem Schaukasten. Der nächste Film begann erst in etwas mehr als einer Stunde. Deswegen war es gerade so leer. Die 21-Uhr-Vorstellungen würden dagegen an einem Freitagabend voll sein, es würde vor Menschen nur so wimmeln. Zu viele Zeugen, zu viele Unwägbarkeiten, entschied er. Dann also auf dem Rückweg. »Die Brüder Mozart« endete nicht vor 23 Uhr, rechnete er aus. Er schlenderte über eine Stunde lang durch die Nebenstraßen. Obwohl er sich in der Gegend auskannte, konnte es nicht schaden, sich mit der Umgebung noch einmal genau vertraut zu machen. Irgendwann wurde über Funk durchgegeben, dass Zinnober und die Ehefrau das Haus verlassen und sich zu Fuß auf den Weg gemacht hatten, wahrscheinlich zur U-Bahn-Station Gamla stan. Ihr Witzbolde, dachte er, hättet ihr mir mal freie Hand gelassen. Das Gassengewirr in der Altstadt eignete sich optimal für einen Zugriff. Und mit dem vermeintlichen Personenschützer wäre er schon fertiggeworden.
In einer Seitenstraße, drei Blocks entfernt, fand er eine gut gefüllte Kneipe. Kurz zögerte er, dann trat er ein. Das entsprach eigentlich nicht seinem selbst auferlegten Protokoll. Ich habe ein Allerweltsgesicht, beruhigte er sich, niemand wird sich an mich erinnern können. Ich bin nur irgendein Mann, der ein Bier trinkt. Tatsächlich schien ihn niemand zu beachten, er musste dem Barkeeper mehrmals zuwinken, damit er bedient wurde. Nur ein Bier, redete er sich ein, gegen die Kälte. Er setzte sich auf einen Hocker in der Ecke, Mantel und Mütze behielt er an. Da war er nicht der Einzige, die Bar war zugig und schlecht geheizt, dauernd ging die Tür auf und zu, es war ein ständiges Kommen und Gehen. Feierwütige, Pärchen, Cliquen, ein Betriebsausflug und die notorischen Trinker, die ihre Gläser anstarrten. Er wusste genau, wie sie sich fühlten. Er nahm einen langen Schluck und zündete sich eine Zigarette an.
Als seine Armbanduhr 22.40 Uhr anzeigte, raffte er sich auf. Am Ende waren es drei Bier geworden. Scheiß drauf, dachte er. Er fühlte sich wach und konzentriert. Als er aus der lärmenden Kneipe trat, griff die Kälte nach seinem Gesicht. Das schärfte seinen Fokus zusätzlich. Um 22.47 Uhr kam er vor dem Grand an. Auf dem Sveavägen herrschte noch immer Autoverkehr, wenn auch nicht mehr so rege wie vor drei Stunden. Er wechselte die Straßenseite, um einen besseren Überblick zu haben. Aus dem Schatten eines Reklameschilds heraus beobachtete er den Eingang des Kinos. Irrte er sich, oder stand vor der Glasscheibe des Foyers derselbe Mann, den er in dem dunklen Ladeneingang in der Västerlånggatan gesehen hatte? Eine Traube von Menschen drängte heraus. Den Mann konnte er nun nicht mehr sehen. Zinnober jedoch auch nicht. Leute verabschiedeten sich voneinander, gingen in verschiedene Richtungen davon. Der Bürgersteig leerte sich allmählich. Immer noch keine Spur von der Zielperson. Er spürte die Anspannung. Was, wenn Zinnober überhaupt nicht ins Kino gegangen war? Aber dann hätte der Funk sich in jedem Fall bei ihm gemeldet. Ein zweiter Schub Menschen kam aus dem Foyer. Da! Er hatte Sichtkontakt zur Zielperson. Sie trug eine dunkle Fellmütze und einen Wintermantel. Daneben die Ehefrau, er kannte sie ebenfalls von Fotos. Das junge Paar, das bei ihnen war, mussten Sohn und Verlobte sein. Jetzt standen sie vor dem Kino und unterhielten sich. Die junge Frau wärmte ihre Hände mit dem eigenen Atem. Zinnober lachte über irgendetwas. Dann verabschiedeten sich die beiden Paare voneinander. Die jungen Leute gingen in Richtung U-Bahn-Station Rådmansgatan, die Zielperson und seine Frau Richtung Hötorget. Er blieb auf der gegenüberliegenden Straßenseite und hielt sich auf ihrer Höhe. Auf seiner Seite befanden sich deutlich weniger Passanten als auf der anderen. Sein Blick scannte die Straße vor ihm. Mehrere freie Taxis fuhren an dem Paar vorbei, ohne dass der Mann oder die Frau Anstalten machte, eins heranzuwinken. Sie wollen also tatsächlich die U-Bahn ab Hötorget nehmen, überlegte er, oder, was noch besser wäre, zu Fuß nach Hause gehen. Sein Puls pumpte. Er ließ das Paar nicht aus dem Blick. Sie schlenderten nun am Adolf-Fredriks-Friedhof vorbei. Sollte er die Straßenseite wechseln? Eine lärmende Festgesellschaft, die den beiden entgegenkam, irritierte ihn. Lieber noch etwas warten. Jetzt passierten sie die Imbissbude am Ende des Friedhofs und … Er konnte sein Glück kaum fassen. Es sah aus, als ob sie die Straßenseite wechseln würden. Zu ihm hin. Er befand sich auf Höhe des Skandiagebäudes. Er fasste seinen Plan in Sekundenschnelle. Er wusste nun, dass alles glattgehen würde. Dass er sich mit der Gegend um das Kino vertraut gemacht hatte, machte sich jetzt bezahlt. Er beschleunigte seinen Schritt und ging im Kopf den Fluchtweg durch. Besser hätte man den Plan am Reißbrett nicht entwerfen können. Er wagte einen schnellen Blick über die Schulter. Zinnober und die Frau waren vor einem Modegeschäft stehen geblieben und begutachteten das Schaufenster. Sein Abstand vergrößerte sich. Ein Mann kam ihm entgegen. Dann noch einer. Niemand nahm von ihm Notiz. Er war nur ein Allerweltsgesicht in einer unförmigen Steppjacke. Am Ende des Blocks blieb er stehen. Vor ihm befand sich das Tapetengeschäft Dekorima, zur Straße hin schirmte ihn ein Pfeiler mit Reklame ab. Er öffnete die Jacke und den Knopf des Holsters. Nur ein Handgriff und die Waffe war schussbereit. Er wandte sich zum Schaufenster. Er atmete ein, er atmete aus. Sah zu, wie die weißen Wölkchen vor seinem Mund das Fensterglas beschlagen ließen. Die Ader an seiner Schläfe pochte. Trotz der Verkehrsgeräusche der vierspurigen Straße konnte er hören, wie sich Schritte näherten. Er wandte ganz leicht den Kopf. Da gingen sie an ihm vorbei, der Ministerpräsident und seine Frau. Er drehte sich um und trat von hinten an sie heran. Griff nach der Waffe, entsicherte sie.
Sekunden später zerriss ein Schuss die eisige Luft, unmittelbar darauf folgte ein weiterer. Olof Palme ging zu Boden, Lisbeth Palme schrie auf. Er steckte die Waffe weg und rannte in die enge Tunnelgatan, an Baubaracken vorbei, die Treppenstufen zur Malmskillnadsgatan hinauf und in die David Bagares gatan hinein, bis sich seine Schritte in der Dunkelheit verloren.
Schweden, 2019
Um kurz nach drei Uhr morgens öffnete Kommissarin Stina Forss vorsichtig das Fenster im ersten Stock auf der Rückseite des Hotels. Der heftige Herbstwind wirbelte Blätter ins Zimmer, im Schein der Außenbeleuchtung schimmerten sie fahl auf dem dunklen Teppichboden. Sie hörte die Wellen des Helgasees, die sich am nahen Strand brachen. Die Kronen der Bäume rauschten. Dann wuchtete Forss die Tasche aus dem Fenster und ließ sie auf den regennassen Sand fallen, anschließend kletterte sie selbst auf die Fensterbank und sprang. Der Aufprall schmerzte so stark, dass sie nach Luft rang. Sie fasste sich an den Brustkorb. Es war noch nicht lange her, dass der mehrfache Rippenbruch und die Lungenverletzung verheilt waren. Nach einer halben Minute hatte sie die Schmerzen so weit unter Kontrolle, dass sie sich wieder rühren konnte. Sie sah zum Fenster hoch. Es lag weiterhin im Dunkeln, der uniformierte Polizist, der vor ihrem Zimmer im Flur Wache schob, schien nichts von ihrer Flucht bemerkt zu haben. Sie schulterte die Tasche und huschte an der Wand des Gebäudes entlang. Ein kurzer Blick um die Ecke: Vor dem Hoteleingang stand ein Streifenwagen, auf dem Gesicht des darinsitzenden Polizisten lag ein blassblauer Schimmer, offenbar war er mit seinem Smartphone beschäftigt. Gebückt lief sie unter den Laubbäumen hindurch zur Straße. Doc Martens, schwarze Jeans, schwarze Lederjacke, dunkle Wollmütze: Die Gefahr, entdeckt zu werden, war gering. Auf dem Evedalsvägen angekommen, wandte sie sich nach Süden, der Stadtmitte, zu. Mit Verkehr war auf der ruhigen Halbinsel um diese Uhrzeit nicht zu rechnen. Sie legte einige Hundert Meter im Laufschritt zurück, passierte das Naturreservat und die Vorschule, bis sie das zweistöckige Altenwohnheim erreichte. Der betagte Volvo, der ihr in den vergangenen Tagen aufgefallen war, stand auch jetzt auf dem Parkplatz, wahrscheinlich gehörte er einem nicht minder betagten Bewohner. Wenn es ein Liebhaberstück war, tat es ihr leid, aber auf solche Befindlichkeiten konnte sie keine Rücksicht nehmen. Der kastenförmige V740 eignete sich für ihre Zwecke, weil er einerseits leicht zu knacken war, andererseits auch nicht wieder so alt, dass er im Straßenbild auffallen würde. Es dauerte keine Minute, bis sie mit ihrem Werkzeug die Tür geöffnet und die Zündung kurzgeschlossen hatte. Der Motor brüllte auf, sie legte den Gang ein und fuhr den Evedalsvägen hinab. Erst nach zwei Kilometern schaltete sie die Scheinwerfer ein und bog auf den Schnellstraßenring, der die småländische Stadt Växjö umgab. Sie hielt sich südlich auf der L27. Mehrmals kamen ihr Lkw entgegen, einmal erfassten die Lichtkegel des Volvos einen schnüffelnden Dachs am Straßenrand. Nach einer guten halben Stunde hatte sie ihr Ziel erreicht. Die Uhr am Armaturenbrett zeigte auf kurz vor vier. Einen Kilometer vor ihrem Haus stellte sie den Wagen ab und stieg aus. Sicher ist sicher, dachte sie. Sie stand in hohem Fichtenwald, es war stockdunkel. Sie brauchte keine Taschenlampe, um sich zu orientieren, den Schotterweg zwischen ihrem abgelegenen Haus bis zur Landstraße kannte sie in- und auswendig. Sie zog die Sig Sauer. Es war schwer einzuschätzen, ob das Haus immer noch überwacht wurde. Wahrscheinlich war das nicht, aber was hieß das schon? Es war ihrer Meinung nach auch nicht besonders wahrscheinlich gewesen, dass sie vor achteinhalb Wochen im Schlaf von einem siebenköpfigen Todeskommando überfallen werden könnte. Und doch war es passiert. Schwer verletzt hatte sie den Angriff überlebt. Seitdem war sie nicht mehr zu Hause gewesen und es war keine Stunde vergangen, in der sie sich nicht gefragt hatte, ob er noch dort war: der einzige Beweis.
Beide Hände an der Automatik, die Arme angewinkelt, ging sie den sich schlängelnden Weg entlang auf den kleinen Waldsee zu, an dem das Haus lag. Ihr Vater hatte es ihr vor Jahren vermacht. Das Haus, die Narben an ihrem Hals und eine Bürde, die sie drohte, in den Abgrund zu reißen.
Papa, wirklich? Du? Von allen Menschen in der Welt, du?
Sie wollte es noch immer nicht glauben, obwohl doch so vieles dafür sprach, nicht nur der Überfall auf sie.
Das Haus kam in Sichtweite. Obwohl der Himmel noch immer bedeckt war und sie keine Sterne ausmachen konnte, war es jetzt heller. Sie kannte diesen Effekt. Es war, als würde der Waldsee etwas von dem Licht absondern, das er über den Tag hinweg gesammelt hatte. Die Auffahrt war leer, ihr BMW stand wahrscheinlich immer noch in der Garage. Sie kam näher. Von einer Überwachung keine Spur. Aber wenn jemand mit einem Infrarotfernglas im Wald säße, hätte sie keine Chance, ihn zu bemerken. Das Zwielicht reichte aus, um die Spuren der allgegenwärtigen Zerstörung sichtbar zu machen. Die Eingangstür war aufgebrochen, alle Fenster zersplittert, die Holzfassade von Einschusslöchern vernarbt. Sieben Mann, dachte sie, bis an die Zähne bewaffnet. Sturmgewehre, Automatikpistolen, sogar einen gottverdammten Granatwerfer hatten sie dabeigehabt, um sie mit Tränengas und Blendgranaten aus dem Haus zu scheuchen. Genutzt hatte es nichts, Forss hatte einen nach dem anderen getötet. Erschossen, die Kehle durchtrennt, in die Luft gesprengt. Sie hatte irrsinniges Glück gehabt. Und wahrscheinlich hatten die Männer sie unterschätzt. Eine zierliche Frau mit Sehbehinderung. Sie zupfte an ihrer Augenklappe und blieb auf der Türschwelle stehen. Lauschte. Da war nichts, im Haus war es vollkommen still. Dennoch zögerte sie, weiterzugehen. Es gab eine unsichtbare Barriere, die sie aufhielt. Sie spürte, dass sich ihre Nackenhaare aufstellten. Da war etwas Ungutes, das ihr vorher nicht aufgefallen war. Keine lebende Person, niemand, der mit gezückter Waffe auf sie wartete. Vielleicht war es der vielfache Tod, den sie spürte, das Echo der Gewalt. Dieser Ort war kein guter mehr, dachte sie, womöglich war er es nie gewesen. Sie drehte auf der Türschwelle um. Es gab nichts im Haus, was sie wirklich benötigte.
Das, weswegen sie hierhin zurückgekehrt war, befand sich woanders. Wenn es überhaupt noch da war. Natürlich hatten ihre Kollegen und ein Spurensicherungsteam das Haus nach dem Überfall auf den Kopf gestellt. Der Staatsschutz war mit eigenen Leuten dagewesen. Und weiß der Teufel wer noch. Sie konnte nur hoffen, dass sie alle nicht gründlich genug gesucht hatten. Sie ging zu dem Brunnen, der zwischen dem Haus und dem Geräteschuppen lag. Es war ein klassisch gemauerter Ziehbrunnen mit geschreinerter Winde, auf den ihr Vater vor langer Zeit verschiedene römisch anmutende Steingussfiguren montiert hatte. Einen Pferdekopf, eine Feldherrenbüste, eine Frauenstatue à la Venus von Milo. Über die Geschmacksverirrung hatte sie sich immer gewundert. Vielleicht war in der seltsamen Brunnendekoration die Bewunderung ihres Vaters für Julius Caesar und alles, was mit dem Römischen Reich zu tun hatte, zum Ausdruck gekommen. Jedenfalls hatte sie vor Monaten die alte Winde verstärkt und das ursprüngliche Seil durch eine Kette ersetzt. Forss nahm nun doch eine Taschenlampe zur Hand. Sie rüttelte an der Kette. Straff führte sie in den metertiefen Brunnenschacht, verschwand dann im schwarzen Wasser. So weit, so gut, dachte sie. Sie ging zum Schuppen und wuchtete einen unscheinbar wirkenden Karton aus einem Regal im Werkraum. Unter ausrangierten Autoersatzteilen befand sich eine leistungsstarke Elektrowinde. In einem verzogenen Scheinwerferkasten lag ein Schlüssel. Sie steckte den Schlüssel ein, nahm die Winde heraus, stöpselte ein Verlängerungskabel ein und ging dann mit der sich abwickelnden Kabeltrommel in der einen und der Winde in der anderen Hand zurück zum Brunnen. Dort löste sie das Ende der Kette von der alten Holzwinde und klickte die letzte Öse mit einem Karabiner an die Elektrowinde, die sie wiederum mit zwei Stahlschlaufen und weiteren Karabinern an der alten Holzwinde befestigte. Sie verband die elektrische Seilwinde mit dem Verlängerungskabel und schaltete sie ein. Die mehr als tausend Watt machten sich surrend und knirschend an die Arbeit. Das Holz, das die Winde trug, ächzte. Im Zeitlupentempo wickelte sich die Kette Glied für Glied über die Trommel der Winde. Sie leuchtete in den Brunnen. Schmatzend und tropfend gab das Wasser den kleinen Tresor frei. Als der schwarze Metallkasten nach zwei Minuten auf Höhe des Brunnenrands baumelte, stoppte sie die Winde. Sie holte den Schlüssel aus der Hosentasche, beugte sich zwischen Pferdekopf und Caesar und öffnete den triefenden Tresor. Das Lederetui befand sich an Ort und Stelle. Sie atmete auf. Die Trottel hatten nicht gründlich genug gesucht. Sie steckte das Etui ein, schloss den Tresor wieder und ließ ihn hinab. Sie nahm ihr Mobiltelefon und verschickte eine SMS: Bingo. Sie ließ das Handy in den Brunnenschacht fallen. Sie demontierte die Winde und brachte sie zusammen mit dem Verlängerungskabel zurück in den Schuppen. Hier gab es noch mehr, das sie mitnehmen wollte, aber dazu benötigte sie das Auto. Sie lief den Schotterweg entlang zurück in den Wald, holte den Volvo und parkte ihn mit der Rückseite an der Schuppentür. In einem Nebenraum befand sich ein seit Jahrzehnten ausrangiertes Plumpsklo. Ihr Vater hatte es als Lagerraum benutzt. Es stand voll mit alten, überquellenden Schuhkartons voller Papiere. Jahrzehntealte Fotokopien, handschriftliche Notizen, Akten mit abgehefteten Kontoauszügen, verblichene Urlaubsfotos. Vielleicht war das alles nur Tand, vielleicht befanden sich in dem Haufen an Material tatsächlich Hinweise und Spuren. Antworten. Sie zählte beim Packen zweiundzwanzig Kartons. Schweißnass schloss sie die Kofferraumklappe. Sie warf den vagen Umrissen des Hauses einen letzten Blick zu. Dies hier war für eine Zeit lang ihr Zuhause gewesen.
Du hast es mir vermacht, Papa.
Dann hast du es mir wieder weggenommen.
Ein Gedanke streifte sie. Galt das nicht im Grunde für ihr ganzes Leben? Nein, entschied sie. Nicht, solange sie sich noch wehren konnte.
Auch das hab ich von dir gelernt.
Eine bittere Lektion. Sie schluckte. Ihr Brustkorb schmerzte von der Anstrengung. Es war Zeit, wegzukommen. Sie setzte sich in den Wagen, ließ den Motor an und gab Gas.
Der L27 folgte sie bis Tingsryd, wechselte dann auf die L29 und später auf die Autobahn Richtung Malmö. Über Schonen ging die Sonne auf. Flaches Hügelland unter rot glühender Wolkendecke, unter anderen Umständen hätte sie den Anblick womöglich als spektakulär empfunden. In Lund nahm sie die Ausfahrt auf die Landstraße nach Trelleborg. Sie hatte nicht das Gefühl, verfolgt zu werden.
Wie vereinbart, wartete Oleg auf dem dortigen Supermarktparkplatz. Er war ein alter Freund aus Berlin. Vor Urzeiten hatte sie ihn wegen eines Betrugsdelikts festgenommen, später war er eine Zeit lang ihr Informant und Grasdealer gewesen, irgendwann hatten sie sich angefreundet. Es war Jahre her, dass sie sich gesehen hatten. Trotzdem war er da, wenn sie ihn brauchte. Zur Begrüßung drückte er sie an sich. Ihr wurde bewusst, wie lange sie keine körperliche Nähe mehr gespürt hatte. Unbeholfen befreite sie sich aus der Umarmung. Es tat gut, Oleg zu sehen. Er trug jetzt einen Bart und sah wie ein Seemann aus.
»Michaela grüßt dich. Und die Kinder auch.«
»Danke.«
Sie lächelte unsicher.
Dass Oleg verheiratet war, hatte sie vollkommen vergessen. Sie war der Einladung zur Hochzeit nicht gefolgt, hatte noch nicht einmal eine Karte geschrieben. Das Pflegen sozialer Beziehungen gehörte nicht gerade zu ihren Stärken.
Sie luden die Schuhkartons in Olegs Transporter. Anschließend stieg er zurück in den Transporter und fuhr los, sie ging über den Parkplatz in den Supermarkt und besorgte sich einen Kaffee und ein Brötchen. Als sie ihr Frühstück beendet hatte, schlenderte sie zurück zu dem gestohlenen Wagen und machte sich ebenfalls auf den Weg zum nahe gelegenen Fähranleger. Die Frau hinter der Scheibe der Baracke, die Fahrkarte und Ausweis kontrollierte, musterte sie flüchtig. Seit Forss notgedrungen eine Augenklappe trug, achteten die Leute darauf, sie nicht zu lange anzustarren. Trotzdem war sie sich sicher, dass die Angestellte der Fährgesellschaft sich ihr Gesicht eingeprägt hatte. Gut so. Sie fuhr den Volvo an Bord, verließ das Autodeck und begab sich in ihre Kabine.
Die Nils Holgersson legte um zehn Uhr ab. Forss duschte heiß und zog sich frische Sachen an. Anschließend ging sie in den Bordladen und kaufte eine Flasche Wodka. Sie war sich sicher, dass der Verkäufer sie ebenfalls zur Kenntnis nahm. Eine Frau Ende dreißig mit Augenklappe sah man nicht so oft. Zurück in der Kabine legte sie sich aufs Bett und schlief ein. Als der Wecker klingelte, den sie auf eine Stunde vor Ankunft gestellt hatte, zog sie sich erneut um, verstaute ihre widerspenstigen rotbraunen Locken unter einer blonden Perücke, schlüpfte in High Heels, nahm die Augenklappe ab und setzte eine verspiegelte Sonnenbrille auf. Sie leerte die Wodkaflasche zur Hälfte im Waschbecken, verstreute einige Kleidungsstücke in der Kabine und legte eine leere Packung Diazepam neben die halb leere Flasche. Dann lauschte sie an der Tür, schlüpfte in den menschenleeren Flur und begab sich pünktlich zum Einlaufen der Fähre im Rostocker Hafen aufs Autodeck, wo sie zu Oleg in den Transporter stieg. In einer Karawane von Lkws fuhren sie von Bord. Der Zoll kontrollierte sie nicht. In Güstrow fuhr Oleg auf den Parkplatz eines Baumarkts. OBI. Der Anblick des orange-schwarzen Bibers löste etwas in ihr aus, womit sie nicht gerechnet hatte: Heimweh. Sie war seit über zwei Jahren nicht mehr in Deutschland gewesen. Dabei hatte sie hier den Großteil ihres Lebens verbracht. Als siebenjähriges Mädchen war sie gemeinsam mit ihrer deutschen Mutter hierhergekommen. Auf der Flucht vor dir und deinen Schlägen, Papa. Vor einigen Jahren war sie nach Schweden, in das Land ihrer frühen Kindheit, zurückgekehrt und hatte dafür ihr Berliner Leben und eine Karriere bei der Mordkommission hinter sich gelassen. Weil du im Sterben gelegen hast, Papa.
Stina Forss und ihren Vater verband eine denkbar schwierige Beziehung, und sie hatte die vage und schließlich auch vergebliche Hoffnung gehabt, die Dinge zwischen ihnen ins Reine zu bringen. Und jetzt bin ich erneut auf der Flucht, und wieder ist es deinetwegen.
»Alles in Ordnung, Stina?«
Sie ließ nicht zu, dass Tränen kamen.
»Ja«, sagte sie und lächelte schief. »Danke. Für das alles hier. Ich weiß, dass es keine Selbstverständlichkeiten sind.«
»Eine meiner leichtesten Übungen.« Er zwinkerte ihr zu. »Die Augenklappe steht dir ausgezeichnet, Tanja Petrow.« Er reichte ihr den gefälschten Pass, eine Kreditkarte und ein Handy.
Sie stiegen aus.
Oleg hatte neben einem rostigen Passat geparkt. Er schloss den Wagen auf und öffnete den Kofferraum. Gemeinsam luden sie die Kartons ein weiteres Mal um, dann reichte er ihr die Autoschlüssel.
»Optisch macht der Wagen nicht viel her, aber auf den Motor kannst du dich verlassen.«
»Noch einmal tausend Dank, Oleg.«
»Quatsch mit Soße.«
Sie drückten einander zum Abschied, dann stieg er in den Transporter und fuhr in den diesigen Herbstabend davon, sie machte sich mit dem Passat auf den Weg nach Travemünde. Oleg hatte ihr ein Hotel am Lübecker Stadtrand gebucht. An der Rezeption probierte sie den neuen Namen aus. Er ging ihr leicht über die Lippen, wie die meisten Lügen. »Sind Sie beruflich in der Stadt?«, fragte der junge Hotelangestellte.
»Ich strippe, Schätzchen«, antwortete sie.
Sein anzügliches Grinsen war ein Zeichen dafür, dass er ihr den Blödsinn genauso abnahm wie die wasserstoffblonde Perücke und die verspiegelte Sonnenbrille. Auf ihrem Zimmer nahm sie ein langes Bad, dann ließ sie sich vom Service ein Schnitzel mit Bratkartoffeln und ein großes Bier bringen. Anschließend zappte sie aus Nostalgie eine Weile durch deutsche Sender. Die Fähre nach Helsinki ging um drei Uhr morgens.
Bevor Hauptkommissarin Ingrid Nyström das Haus verließ, blickte sie prüfend in den Spiegel. Die Kurzhaarfrisur saß. Das tat sie eigentlich immer, was überhaupt der Grund dafür war, dass sie die Haare auf diese Weise trug, war sie doch eine durch und durch pragmatische Person. Ihrem schmalen Gesicht sah man die achtundfünfzig Lebensjahre an, was sie nicht weiter schlimm fand. Furcht einflößend waren dagegen die Spuren, die das vergangene halbe Jahr hinterlassen hatte. Über ihre eigentlich sanften braunen Augen hatte sich ein nicht zu leugnender Firnis aus Wehmut und Bitterkeit gelegt, sie lagen tief in den Höhlen, was ihrem Antlitz etwas Verhärmtes, Ausgezehrtes verlieh, das ihrem Wesen gänzlich fremd schien. Das war zumindest ihr erster Gedanke. Wenn sie einen Augenblick darüber nachdachte, musste sie sich jedoch eingestehen, dass ihr momentanes Aussehen wahrscheinlich eine ziemlich genaue Entsprechung ihres Inneren war. Eigentlich eine Binse. Wäre es nicht auch verwunderlich gewesen, wenn die tragischen Ereignisse der zurückliegenden Monate völlig spurlos an ihr vorübergegangen wären? Trotzdem hatte sie offenbar bis zu diesem Moment gebraucht, um sich das einzugestehen.
Nyström schaute sich in der Garderobe um. Sie verspürte den starken Drang, dem deprimierenden Anblick etwas entgegenzusetzen. Ihre eigene Kleidung schaffte das ganz eindeutig nicht. Weder der hellgraue Baumwollpullover noch die dunkelgraue Bundfaltenhose, erst recht nicht die braune Daunenjacke. Was sie fand, war ein bunt gemustertes Halstuch von Marimekko, das ihrer Tochter Anna gehörte. Sie band es sich um. Der Farbakzent machte in der Tat einen Unterschied, dachte sie, als sie zur Kontrolle erneut in den Spiegel blickte. Vielleicht war es auch nur das gute Gefühl, etwas von Anna an sich zu tragen. Jedenfalls gab ihr das farbenfrohe Stück Stoff den kleinen Kick, den sie gebraucht hatte. Auch wenn es albern war. Etwas in ihr straffte sich. Sie dachte an das lange Gespräch mit Stina Forss zurück. An ihren gemeinsamen Beschluss. An den Pakt, den sie geschlossen hatten. Es war an der Zeit, aus dem Albtraum aufzuwachen, in dem sie zusammen gefangen waren. Es war an der Zeit, den Tod, die Angst, die Verbitterung hinter sich zu lassen.
Es war an der Zeit zu kämpfen.
Im Präsidium war sie die Erste in der Abteilung für schwere Verbrechen und Gewalttaten, ihrer Abteilung. Sie setzte jeweils eine Kanne Tee und Kaffee auf, deckte den großen, ovalen Tisch im Besprechungszimmer und drapierte in der Mitte einen Teller mit Zimtschnecken und Käsebrötchen, die sie auf dem Weg in die Stadt beim Bäcker gekauft hatte. Pünktlich um acht waren drei Viertel ihres Teams versammelt: ihr langjähriger, fast gleichaltriger Mitarbeiter Lars »Lasse« Knutsson, ein bärenhafter, beleibter Mann mit Vollbart. Die ehemalige Berufssoldatin und Leistungssportlerin Anette Hultin, die gerade mit dem zweiten Kind schwanger war. Und der kluge, IT-affine Hugo Delgado, der wie so oft ein ironisches Lächeln auf den Lippen trug.
Knutsson ließ sich händereibend auf einen Stuhl plumpsen.
»Ein zweites Frühstück! Dich schickt der Himmel, Ingrid!«
Er schenkte sich Kaffee ein und bediente sich großzügig bei Süßgebäck und Brötchen.
»Was ist eigentlich aus deiner Paleo-Diät geworden, Steinzeitmann?«, fragte ihn Delgado.
Knutsson winkte ab.
»Ernährungseinschränkungen bringen auf die Dauer nichts, früher oder später knickt jeder ein. Das ist wissenschaftlich erwiesen. Bewegung ist das A und O. Lieber ein gesunder Dicker als ein ungesunder Dünner, sagt mein Arzt.«
»Und zu welcher Kategorie gehörst du?«
»Lach du nur!«, entgegnete Knutsson dem knapp zwanzig Jahre jüngeren Kollegen kauend. »Ich werde eines Tages auf deinem Grab tanzen. Mit meinen Nordic-Walking-Stöcken in der Hand.«
»Also, ich könnte im Moment ständig essen«, sagte Hultin und griff nach einer Zimtschnecke. »Dabei habe ich erst vor einer Stunde gefrühstückt.«
»Die Pfunde stehen dir«, stichelte Delgado.
Hultin warf ihm einen genervten Blick zu.
»Halt einfach mal zur Abwechslung den Mund, ja?«
»Si señora.«
»Du bist echt ein Blödmann!«
Das Gekabbel zwischen Delgado und Hultin war ein fester Bestandteil der Dienstbesprechungen. Im Laufe der vergangenen Jahre waren sie immer wieder einmal ein Paar gewesen.
Knutsson grinste.
»Wahre Worte, Anette.«
Delgado biss belustigt in ein Käsebrötchen.
»Die sind wirklich lecker, Ingrid, vielen Dank. Was verschafft uns die Ehre? Hab ich deinen Geburtstag verschlafen? Oder ein Dienstjubiläum?«
Nyström, die sich als Einzige mit einer Tasse Tee begnügte, legte ihre Handflächen aufeinander. Sie suchte nach Worten. Am Vorabend hatte sie sich vor dem Einschlafen eine Ansprache zurechtgelegt, aber die wohlformulierten Sätze hatten sich anscheinend in Luft aufgelöst.
»Nun …« Wo beginnen? Sie sah jeden ihrer drei Mitarbeiter lange an. Spürte Erwartung, Vertrauen, Loyalität. Tastete nach Annas Halstuch. Als wäre es ein Talisman, dachte sie und gab sich einen Ruck. »Nun, seit mehr als fünf Jahren habe ich die Ehre, unser Team zu leiten. Das ist etwas, das mich sehr stolz macht. Tag für Tag aufzustehen und an eurer Seite arbeiten zu dürfen. Wenn ich daran denke, was wir gemeinsam erreicht, was wir zusammen durchgestanden haben. Fälle, die uns an unsere Grenzen und darüber hinaus geführt haben. Andauernde Strukturreformen, die unsere Arbeitsbedingungen wieder und wieder verschlechtert …« Sie brach ab, griff nach ihrer Teetasse, nippte und befeuchtete die Stimmbänder. Was redete sie da nur für ein gestelztes Zeug? »Meine Güte, das klingt wirklich nach Dienstjubiläum, entschuldigt bitte.«
Knutsson lächelte selig.
»Ich finde es schön, mir ist richtig feierlich zumute.«
»Aber das ist nicht das, worauf ich hinauswill, Lasse. Ich möchte euch keinen Honig ums Maul schmieren. Ich möchte mich nicht als eine tolle Chefin darstellen. Ich möchte …«
»Was möchtest du, Ingrid?«, fragte Hultin sanft und faltete die Hände über dem leicht gewölbten Bauch.
»Du kannst uns gegenüber völlig offen sein«, ermunterte Delgado.
Nyström sah auf, musterte die drei vertrauten Gesichter erneut, eins nach dem anderen. Zögerte. Seufzte.
»Ich wollte euch um etwas bitten, um das ich euch nicht bitten darf. Es steht mir nicht zu, denn es verletzt sämtliche Fürsorgepflichten einer Vorgesetzten. Es wäre ungebührlich und würde euer Vertrauen missbrauchen. Dass ich es trotzdem erwogen habe, tut mir leid, es ist hoffentlich allein meiner Verzweiflung und der daraus resultierenden mangelnden Urteilsfähigkeit geschuldet.«
»Ingrid, bitte!«, dröhnte Knutssons Bass.
»Raus damit!«, forderte Hultin.
»Nun spuck es schon aus«, sagte Delgado.
»Es verstößt gegen die Dienstvorschriften und gefährdet unter Umständen sogar eure Karrieren«, machte Nyström einen weiteren Abwehrversuch.
»Wenn Halb-vier-Erik es hasst, bin ich dabei«, rief Delgado.
Damit war Erik Edman gemeint, der Polizeichef der Region Kronoberg. Halb vier war die Uhrzeit, zu der er normalerweise das Präsidium Richtung Golfplatz verließ.
Nyström massierte ihre Schläfen. Sie wusste, dass sie bereits zu viel gesagt hatte, um die Katze nicht aus dem Sack zu lassen. Aber sie bereute, überhaupt damit angefangen zu haben. Sie hatte nicht das Recht, ihre Mitarbeiter in die Sache hineinzuziehen. Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Sie seufzte erneut.
»Okay. Machen wir es so: Ich erkläre, worum es geht, und danach hat jeder von euch die Möglichkeit, einfach aufzustehen, den Raum zu verlassen und sich an seinen Schreibtisch zu setzen, als wäre nichts geschehen. Oder sich an Edman oder den Vertrauensmann zu wenden und sich über seine impertinente Vorgesetzte zu beschweren. Nichts davon würde das Bild trüben, das ich von euch habe, nämlich dass ihr die besten Mitarbeiter seid, die man sich nur wünschen kann.« Knutsson lächelte und verschränkte die Arme auf seinem mächtigen Bauch. Hultin verlagerte ihr Gewicht auf dem Stuhl. Delgado rieb Zeigefinger und Daumen aneinander. Niemand stand auf. Alle blieben sitzen. Sie holte tief Luft. »Also schön. Es geht um eine besondere Ermittlung. Die weder von Edman noch von weiter oben gewollt oder genehmigt ist. Die parallel zu unseren sonstigen Aufgaben stattfinden müsste, noch dazu unter dem Radar. Über die ihr mit niemandem außerhalb dieser Abteilung sprechen dürft.«
»Oha«, sagte Hultin.
Knutsson rubbelte seine Nase.
»Mach es nicht so spannend«, forderte Delgado. »Wie du ganz richtig gesagt hast: Wir sind die besten Mitarbeiter, die man sich nur wünschen kann. Also!«
Nyström saugte an der Unterlippe. Schaute über ihre Kollegen hinweg aus dem Panoramafenster auf die Växjöer Innenstadt. Die ewigen Krähen, die auf dem Dachfirst des Oxgrillen ihr Zuhause hatten, kämpften mit den Böen. Der Wind trieb Herbstlaub vor sich her und blies einzelne Blätter an die feuchte Fensterscheibe.
»Es geht darum, Stina zu helfen.«
»Wo ist sie überhaupt?«, fragte Knutsson. »Sollen wir ihr ein Brötchen übrig lassen?«
»Der Überfall auf sie«, sagte Delgado. »Du willst, dass wir den Überfall aufklären.«
Nyström schüttelte den Kopf. Delgados Vermutung war naheliegend. Liebend gern hätte sie den Mordanschlag untersucht, den Stina Forss schwer verletzt überlebt hatte. Nyström selbst war die Erste am Tatort gewesen, hatte das viele Blut der sieben toten, bis heute nicht identifizierten Attentäter gesehen. Doch der Staatsschutz hatte auf Betreiben des Justizministeriums die Ermittlung umgehend an sich gezogen und sie und ihr Team ausgebootet. Zum zweiten Mal innerhalb kürzester Zeit.
»Was fällt euch zur Ermordung Olof Palmes ein?«, fragte sie.
Im Besprechungszimmer wurde es schlagartig ruhig.
»Ist das dein Ernst, Ingrid?«, fragte Delgado schließlich.
Sie nickte.
»Oh«, flüsterte Hultin und sog hörbar Luft ein.
Knutsson kraulte seinen Bart.
»Die Ermordung Olof Palmes«, wiederholte Delgado ihre Worte. »Darf man fragen, was der verfahrenste Fall der schwedischen Kriminalgeschichte mit Stina zu tun hat?«
Nyström presste die Lippen aufeinander.
»Olof Palme«, echote Hultin. Sie war sichtlich baff.
Knutsson blies die Backen auf und prustete die Luft anschließend lautstark aus.
»Meine Güte, Ingrid, ausgerechnet der Palme-Mord.«
Nyström hob ihre Schultern und ließ sie wieder fallen. Wie gern hätte sie ihren Mitarbeitern alles erklärt. Deren Redlichkeit verdiente Offenheit. Aber dies war aus verschiedenen Gründen nicht der richtige Zeitpunkt. Ihr war bewusst, was sie ihnen zumutete. Mit verbundenen Augen von einem Zehnmeterbrett zu springen. In ein winziges Bassin. Was sie da forderte, war zu viel. Der Ausdruck blinde Gefolgschaft ging ihr durch den Sinn. Ich bin eine schlechte Chefin, dachte sie. Aber habe ich eine Wahl?
»Du veräppelst uns«, sagte Delgado und blickte sie mit zusammengekniffenen Augen an.
Sie schüttelte den Kopf.
»Olof Palme«, wiederholte Hultin erneut und machte ein Gesicht, als würde sie den einzelnen Silben nachschmecken. »Ist Stina denn selbst mit von der Partie?«
»Wir werden hier eine Zeit lang ohne sie auskommen müssen, fürchte ich«, wich sie der Frage aus.
Knutsson ließ die Hand auf die Tischplatte fallen. Offenbar hatte er eine Entscheidung getroffen.
»Ich versteh zwar nur Bahnhof, aber ich vertraue dir wie immer voll und ganz.«
Delgado lächelte schmal.
»Fräulein Forss und Olof Palme, interessant. Ich bin natürlich dabei. Allein schon, um Stina zu helfen, wie du sagst.«
Hultins Stirn lag in Falten. Trotzdem nickte sie.
Ingrid Nyström fiel ein Stein vom Herzen.
»Danke«, sagte sie, »das bedeutet mir sehr viel.«
Die Fährfahrt von Travemünde nach Helsinki dauerte mehr als dreißig Stunden. Die Hälfte hatte Stina Forss bereits hinter sich gebracht. Als es über der Ostsee dunkel wurde, machte sie es sich in ihrer Kabine auf dem Bett mit einer Flasche Rotwein bequem. Die Anspannung fiel allmählich von ihr ab. Der Angestellte am Fährschalter hatte nur einen flüchtigen Blick auf sie und den Reisepass geworfen. Sie hatte vorher ihr fehlendes Auge mit Verbandmull und Pflastertape abgeklebt. Eine Frau mit einer vermeintlichen Augenverletzung wirkte unauffälliger als eine Frau mit nur einem Auge. Forss sah sich den gefälschten Pass genauer an. Tanja Petrow, eine Russlanddeutsche aus Leipzig. Sie lächelte in sich hinein. Bei einem gemeinsamen Besäufnis vor vielen Jahren hatte sie Oleg einmal gesagt, dass sie sich wünschte, in ihrem nächsten Leben als Russin geboren zu werden. Offenbar hatte er ihre Worte nicht vergessen. Das Foto, das sie ihm für den neuen Reisepass geschickt hatte, stammte noch aus der Zeit, bevor sie das linke Auge verloren hatte. Wie anders sie damals ausgesehen hatte. Sie legte den Pass beiseite. Schenkte sich vom Wein in den Zahnputzbecher nach. Sie trank in langen Schlucken und aß Chips dazu. Als die Tüte leer war, wusch sie sich die Hände und holte das Lederetui hervor, das sie aus dem Tresor im Brunnen geborgen hatte. Sie öffnete es und klappte es auf. Der Gegenstand, der sich darin befand, war handlich, aber schwer. Mit ausgestrecktem Arm gelang es ihr kaum, ihn mehr als einige Sekunden ruhig zu halten. Sie legte ihn vor sich auf das Bett. Das schwarze Metall schimmerte matt im Schein der künstlichen Beleuchtung. Er wirkte technisch. Kühl. Gleichzeitig brutal und wunderschön. Irgendwann legte sie ihn zurück und verstaute das Etui wieder in der Reisetasche.
Sie trank den billigen Wein aus und stellte den Becher auf den Nachttisch. Streifte ihr Sweatshirt ab, legte sich unter die Decke und löschte das Licht. Auch wenn sie seit Wochen Schlafprobleme hatte: Das Brummen der riesigen Dieselmotoren im Bauch des Schiffs schenkte ihr ein flüchtiges Gefühl von Geborgenheit.
Am Montagmorgen wartete Ingrid Nyström im Besprechungsraum auf ihre Mitarbeiter. Sie war angespannt. Nachdem sie Knutsson, Hultin und Delgado am vergangenen Freitag ihren heimlichen Plan eröffnet hatte, waren sich die drei Kollegen einig gewesen, sie nach allen Kräften zu unterstützen, obwohl ihnen die Bitte völlig absurd vorgekommen sein musste, davon war Nyström überzeugt, auch wenn das keiner von ihnen ausgesprochen hatte. Mit einem Gefühl von Erleichterung und Dankbarkeit war sie ins Wochenende gefahren. Nun hatten alle zwei Tage Zeit gehabt, die Entscheidung zu überdenken. Sie war sich sicher, dass ihnen Zweifel gekommen waren. Warum sollten sie auch ihre Karrieren und ihren guten Ruf aufs Spiel setzen? Der Chefin zuliebe? Um gemeinsam der Kollegin Stina Forss zu helfen, die sich so oft unnahbar und als stoische Einzelgängerin gegeben hatte? Um tatsächlich die Hintergründe des Palme-Attentats aufzuklären?
Die Aufgabe war auf eine derart abenteuerliche Weise aussichtslos, dass es schon an Hybris grenzte, ernsthaft darüber nachzudenken. Unzählige Polizisten waren in den vergangenen dreiunddreißig Jahren daran gescheitert, Olof Palmes Mörder zu finden. Dazu kam ein Heer von Journalisten, privaten Ermittlern und selbst ernannten Detektiven. Keine Morduntersuchung der schwedischen Rechtsgeschichte war derart lange und umfangreich geführt worden. Profunde Ergebnisse gab es dennoch nicht. Nyström seufzte. Das Ganze war eine dumme Idee. Anmaßend und zum Scheitern verurteilt. Andererseits gab es tatsächlich eine neue Spur. Sie dachte an die SMS, die Stina geschickt hatte. Nur ein einziges Wort. Bingo. Was sie im Moment tat, basierte auf nichts anderem als gegenseitigem Vertrauen, wurde ihr bewusst. Und ihrem Team verlangte sie dasselbe ab. Wir gegen den Rest der Welt, dachte sie und war sich dabei des Pathos bewusst. Es war ihr peinlich. Wenn einem Dinge peinlich sind, versteckt sich in dem unangenehmen Gefühl mitunter eine Warnung, dachte sie. Wir gegen den Rest der Welt. Etwas darin war zu viel. Nicht die Welt, sondern das Wir. Sie durfte die Entscheidung nur für sich treffen, nicht für die Menschen, die ihr anvertraut waren. Stina hatte sich bereits vor langer Zeit entschieden, ihr war kaum etwas anderes übrig geblieben. Für sie selbst galt das ebenso. Aber die anderen?
Die Tür des Besprechungszimmers öffnete sich. Sie musste einen Beschluss fassen. Jetzt. Noch war es nicht zu spät für eine Kehrtwende. Vielleicht konnte sie alles als blöden Scherz darstellen oder als Hirngespinst, das ihrer permanenten Überarbeitung geschuldet war. Doch es waren weder Knutsson, Hultin oder Delgado, die das Zimmer betraten, sondern ihr Vorgesetzter, Polizeichef Erik Edman. Er nahm ihr gegenüber Platz und sah bekümmert aus.
»Ich fürchte, ich habe schlechte Neuigkeiten, Ingrid.«
Sofort begriff sie, warum Edman gekommen war. Sie setzte einen besorgten Gesichtsausdruck auf.
»Ja?«
»Es geht um Stina. Sie ist in der Nacht von Donnerstag auf Freitag durch das Fenster des Hotelzimmers gestiegen und verschwunden. Die Meldung habe ich am Freitagvormittag erhalten. Ich habe mir ehrlich gesagt nicht allzu viel dabei gedacht. Stina ist ein freier Mensch, ihr wird die Decke auf den Kopf gefallen sein, habe ich mir überlegt, vielleicht ist ihr die dauernde Präsenz der Kollegen auf den Senkel gegangen und sie musste einfach mal in Ruhe durchatmen, ist nach Hause gefahren oder auf eine Kneipentour gegangen oder was weiß ich. Am Samstag habe ich dann eine Streife zu ihrem Haus hinausgeschickt. Fehlanzeige. Da bin ich zum ersten Mal ein wenig unruhig geworden.«
»Was ist mit ihr?«
Sie fasste nach Edmans Arm, der auf der Tischplatte zwischen ihnen lag. Sie hatte sich immer für eine schlechte Schauspielerin gehalten. Aber offenbar nahm Edman ihr die Besorgnis ab.
Er stöhnte auf, als habe er Schmerzen.
»Es ist so furchtbar. Die Polizeibehörde hat sich gerade eben bei mir gemeldet. Wie es scheint, hat sich Stina auf den Weg in ihre alte Heimat gemacht. Sie hat die Fähre von Trelleborg nach Rostock genommen, mit einem gestohlenen Wagen. Sie muss in einem Zustand maximaler Verwirrung gewesen sein. Wozu sonst der Autodiebstahl? Jedenfalls wurden in ihrer Kabine Alkohol und Beruhigungsmittel …«
»Nein!«, rief Nyström, »um Gottes willen, nein!«
Sie schlug die Hände vors Gesicht und verharrte. Sie spürte, wie Edman um den Tisch ging, sich neben sie setzte und einen Arm um sie legte. Das hatte er noch nie getan.
»Es ist gut«, tröstete er sie, »es ist ja gut.«
Sie rieb sich die Augen, bis sie feucht wurden. Endlich blickte sie auf.
»Was weiß man Genaues?«
Edman räusperte sich.
»Man hat ihren … Man hat sie bis jetzt nicht gefunden. Aber alles deutet darauf hin, dass sie unterwegs über Bord gegangen ist. Die deutsche Polizei hat im Handschuhfach eines auf dem Deck stehen gebliebenen Wagens ihren Reisepass sichergestellt. Dass sie einige Stunden an Bord verbracht hat, gilt als sicher. Mehrere Besatzungsmitglieder konnten sich an sie erinnern. Die Augenklappe ist natürlich ein herausstechendes Erkennungsmerkmal. Viel mehr weiß man nicht.«
»Hat man Rettungshubschrauber …?«
»Natürlich. Die Küstenwachen in Deutschland, Dänemark und bei uns haben mehrstündige Suchaktionen durchgeführt. Wie zu erwarten war, ohne Ergebnis. Dazu war es wohl einfach schon zu spät, die Ostsee hat um diese Jahreszeit fünf, höchstens sechs Grad, wurde mir gesagt. Bei diesen Temperaturen ist der Tod eine Sache von wenigen Minuten.«
Nyström nickte resigniert.
»Ich hätte wissen müssen«, murmelte sie mit belegter Stimme, »dass sie innerlich auf der Kippe stand.«
»Mach dir bitte keine Vorwürfe, Ingrid. Niemand kann in einen anderen Menschen hineinsehen.«
»Ich hätte es trotzdem wissen müssen. Nach dem Überfall war sie einfach nicht mehr dieselbe. Die Niedergeschlagenheit, die Angst: Ich bin davon überzeugt, dass sie unter einer posttraumatischen Belastungsstörung litt. Vermutlich war sie auch depressiv. Wenn ich ihr nur hätte helfen können!«