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Der Mord an einem dreizehnjährigen Jungen in Malmö sorgt landesweit für Schlagzeilen und setzt die Polizei maximal unter Druck. Ein neues Ermittlerduo soll den Mord aufklären – und weitere verhindern … Bei einem Drive-by-Shooting im Brennpunktviertel Hermodsdal wird ein Teenager erschossen. Polizeiführung und Presse legen sich schnell fest: ein weiterer tragischer Tiefpunkt in den landesweit eskalierenden Drogenbandenkriegen. Der undankbare Fall wird an den frischverwitweten Kommissar Jon Nordh und die strafversetzte nordschwedische Ermittlerin Svea Karhuu delegiert. Schnell geraten die beiden zwischen die Fronten der brutal geführten Revierkämpfe um schnelles Geld, Macht, Ehre – und Vergeltung. Als der beste Freund des toten Jungen untertaucht, sieht es nach einem Verrat aus. Doch nach einem weiteren Mord überschlagen sich die Ereignisse und das ungleiche Ermittlerpaar muss innerhalb kürzester Zeit zu einem echten Team zusammenwachsen. Nordh und Karhuu kämpfen dabei nicht nur gegen einen unerbittlichen Gegner, sondern auch mit der Bürde der jeweils eigenen Vergangenheit.
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Seitenzahl: 517
Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson
Ein Fall für Svea Karhuu und Jon Nordh
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Titelseite
Über Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson
Über dieses Buch
Inhaltsverzeichnis
Impressum
Hinweise zur Darstellung dieses E-Books
zur Kurzübersicht
Kerstin Signe Danielsson, 1983 in Växjö geboren, verbrachte ihre Kindheit im tiefen smaländischen Wald. Mit 19 ging sie nach Hamburg und studierte Geschichte und Germanistik. Nachdem sie unzählige Male zwischen Hamburg, Göteborg und Växjö hin- und hergezogen ist, lebt sie jetzt in Berg/Schweden. Sie arbeitet als Autorin und Lehrerin.
Roman Voosen, 1973 in Rheinhausen geboren, wuchs im emsländischen Papenburg auf. In Bremen studierte er Kunstgeschichte und Germanistik. Er arbeitete als Rettungssanitäter, Ersatzteilsortierer, Altenpfleger, Barkeeper, Musikjournalist und Lehrer. Er lebt und arbeitet als Autor in Berg/Schweden. Roman Voosen und Kerstin Signe Danielsson sind seit 2013 miteinander verheiratet.
zur Kurzübersicht
Bei einem Drive-by-shooting im Brennpunktviertel Hermodsdal wird ein Teenager erschossen. Polizeiführung und Presse legen sich schnell fest: ein weiterer tragischer Tiefpunkt in den landesweit eskalierenden Drogenbandenkriegen. Der undankbare Fall wird an den frischverwitweten Kommissar Jon Nordh und die strafversetzte nordschwedische Ermittlerin Svea Karhuu delegiert. Schnell gerät das neu zusammengestellte Duo zwischen die Fronten der brutal geführten Revierkämpfe um schnelles Geld, Macht, Ehre und Vergeltung. Doch als ein Zeuge auf mysteriöse Weise verschwindet, stoßen Nordh und Karhuu auf immer mehr Ungereimtheiten: Warum taucht der beste Freund des toten Jungen unter? Was hat das Haar einer seltenen Hunderasse mit dem Fall zu tun? Weshalb scheint ein ehemaliger russischer Informatikprofessor in die Geschehnisse verstrickt zu sein? Nach einem weiteren Mord überschlagen sich die Ereignisse und das ungleiche Ermittlerpaar muss innerhalb kürzester Zeit zu einem echten Team zusammenwachsen. Nordh und Karhuu kämpfen dabei nicht nur gegen einen unerbittlichen Gegner, sondern auch mit der Bürde der jeweils eigenen Vergangenheit.
Motto
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
»Yeeesss!« Shishi sprang aus ...
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
Es war der heißeste ...
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
27. Kapitel
Der Tag, an dem ...
28. Kapitel
29. Kapitel
30. Kapitel
31. Kapitel
32. Kapitel
33. Kapitel
34. Kapitel
35. Kapitel
36. Kapitel
37. Kapitel
38. Kapitel
39. Kapitel
40. Kapitel
Zwei Tage vor Silvester ...
41. Kapitel
42. Kapitel
43. Kapitel
44. Kapitel
45. Kapitel
46. Kapitel
47. Kapitel
48. Kapitel
49. Kapitel
Mitte März hatte Taqi ...
50. Kapitel
51. Kapitel
52. Kapitel
53. Kapitel
54. Kapitel
55. Kapitel
Die Wissenschaftsolympiade, bei der ...
56. Kapitel
57. Kapitel
58. Kapitel
59. Kapitel
60. Kapitel
61. Kapitel
62. Kapitel
63. Kapitel
64. Kapitel
65. Kapitel
66. Kapitel
67. Kapitel
68. Kapitel
69. Kapitel
70. Kapitel
71. Kapitel
72. Kapitel
73. Kapitel
74. Kapitel
75. Kapitel
76. Kapitel
77. Kapitel
78. Kapitel
79. Kapitel
80. Kapitel
Gerüchte machten im Block ...
81. Kapitel
82. Kapitel
83. Kapitel
Taqi fragte sich wieder ...
»Alle wollen in den Himmel, doch niemand will sterben.«
Timbuktu, »Alla vill till himmelen men ingen vill dö«
»So viele Türme und kaum eine Glocke, so viele Kirchen und kaum ein Gebet.«
John le Carré, »Das Russlandhaus«
»Hey, remember me? It’s Benny Blanco from the Bronx.«
Benny Blanco, »Carlito’s Way«
Kommissar Jon Nordh stemmte die Ellenbogen auf die Knie, drückte die Fäuste in die hohlen Wangen und blinzelte. Das Licht, das durch die Fenster in den Flur des Malmöer Polizeipräsidiums fiel, blendete ihn und ergänzte den seit Tagen anhaltenden dumpfen Schmerz hinter seinen Augen um ein grelles Stechen. Die Barthaare knisterten unter den Fingern. Er hätte nicht sagen können, wann er sich das letzte Mal rasiert hatte. Am Tag der Beerdigung, klar, die lag nun mehr als zwei Wochen zurück. Aber danach? Nicht, dass es irgendeine Rolle gespielt hätte. Ebenso wenig wie die Schatten unter seinen Augen oder der Kaffeefleck auf der Jeans, den er eben erst entdeckt hatte. Er wusste nicht, woher der stammte, zum Frühstück hatte er jedenfalls keinen Kaffee getrunken, sein Magen war sowieso schon übersäuert, seine Gedärme krampften und im Rücken riss es bei jeder falschen Bewegung. Man musste kein Freudianer sein, um die Psychosomatik zu erkennen. Der Moment, in dem sein Leben wie ein Jenga-Turm in sich zusammengefallen war, lag zweiundzwanzig Tage, elfeinhalb Stunden und einige Minuten zurück. Was die Katastrophe anging, funktionierte sein innerer Chronograf mit einer perversen Präzision. Aber zur wahren Zeit, zum Rhythmus seines Leids und seiner Schmerzen, den bedeutungsleeren Tagen und traumlosen Nächten, zur Ich-Zeit, die mit keiner Uhr zu messen war, hatte er jeden Kontakt verloren. Er ließ die Fäuste bis zu den Schläfen hochrutschen und drückte zu, so als könne er sich die in Schleifen wiederkehrenden Bildabfolgen und Sinneseindrücke aus dem Schädel pressen: die Reflexionen von Blaulicht auf nassem Asphalt. Eine Pfütze, auf der in psychodelischen Mustern Öl schimmert. Der ätherische Geruch ausgelaufenen Benzins. Das auf dem Kopf liegende Autowrack und das Ächzen und Zischen eines Hydraulikspreizers. Der fluchende Feuerwehrmann. Scherben. Die viel zu große Blutlache. Absperrband, das im Wind surrt. Bizarr verformtes Blech, dazwischen Lindas dunkles, welliges Haar und der Hauch des Parfums, das sie nur bei besonderen Anlässen auflegt. Schließlich ihre längst erkaltete Hand in seiner, starr wie eine Klaue. Bengtsson von der Verkehrswacht, der ihn mit aller Kraft vom Wagen wegzuzerren versucht. Nordhs besinnungslose Fausthiebe, sein lautloses Schreien. Als es den Einsatzkräften schließlich gelungen war, ihn mit vereinten Kräften zurück hinter die Absperrung zu ziehen, hatte er bereits zu viel gesehen. Er hatte erkannt, wer neben seiner Frau am Steuerrad gesessen hatte, auch wenn Carl-Johans Gesicht in einem üblen Zustand gewesen war. Nordh hatte es gesehen, aber nicht begriffen, weder in jenem Augenblick noch in diesem Moment, drei Wochen und anderthalb Tage später. Was hatte Linda an diesem scheinbar ganz normalen Dienstagabend, an dem sie an einem Pilateskurs in der Turnhalle in Bunkeflo hätte teilnehmen sollen, im Wagen seines engsten Kollegen und Freunds auf einer Landstraße nördlich von Malmö zu suchen gehabt?
Die Bürotür wurde geöffnet und riss ihn aus seinen Gedanken. Er erhob sich ächzend aus dem Schalensitz. Noch so neue Zipperlein: die Knie fühlten sich an wie rostige Scharniere, die Schultern waren verkrampft. Die Polizeichefin der Region Süd musterte ihn, nach seinem Empfinden einen Augenblick zu lang, dann setzte sie ein professionelles Lächeln auf und bat ihn hinein. Er kannte Nora Mellander seit der Polizeihochschule, sie war zwei Semester unter ihm gewesen und auf der Silvesterparty der Jahrtausendwende hatten sie in der Küche eines Studentenwohnheims miteinander rumgemacht, Frohes neues Millennium, ein einmaliges Techtelmechtel, über das sie später kein Wort mehr verloren hatten. Während er nach einer kurzen Episode bei der Wirtschaftskriminalität seit nunmehr fünfzehn Jahren für die Mordkommission arbeitete, hatte Mellander in der Verwaltung Karriere gemacht. Ihr zielorientiertes Vorgehen und ein nicht zu ignorierender Führungswille waren ihm schon damals, in der Küche des Studentenwohnheims, aufgefallen. Statt der Paradeuniform, die sie bei öffentlichen Auftritten trug, war sie nun relativ leger gekleidet, casual friday oder wie auch immer das hieß, was seine fleckige Jeans jedoch nicht unsichtbar werden, aber den Unterschied im Erscheinungsbild wenigstens ein bisschen kleiner wirken ließ. Vielleicht war es bei allem berechtigten Selbstmitleid unklug von ihm gewesen, sich am Morgen nicht am Riemen gerissen und in einen halbwegs präsentablen Zustand gebracht zu haben. Jetzt war es dazu zu spät. Wenigstens habe ich keine Alkoholfahne, dachte er, als er an ihr vorbei in das großzügig geschnittene, lichte Büro trat.
»Nimm doch Platz, Jon. Etwas zu trinken? Kaffee, Tee, ein Wasser?« Er schüttelte den Kopf. Beide setzten sich, sie hinter dem Schreibtisch, er davor. Pastoral faltete sie die Hände auf der Tischplatte. Wie gepflegt ihre Fingernägel waren, wie tadellos gebunden die perlmuttfarbene Schleifenbluse. Sie roch gut, das war ihm sofort aufgefallen, als er an ihr vorbeigegangen war, ein Dreiklang aus Shampoo, Hautcreme und Deodorant. Davon hatte er beruflich immer profitiert, den offenen Sinnen, dem Wahrnehmen von Details. Er funktionierte offenbar noch, sein innerer Detektiv. »Zunächst einmal mein aufrichtiges Beileid, Jon. Wie furchtbar. Unbegreiflich. Natürlich kann sich niemand, der es nicht selbst erlebt, vorstellen, was ein solcher Verlust bedeutet. Aber ich kann dir versichern, dass wir alle hinter dir stehen. Kollegial, menschlich.« Wirkungspause. »Wenn es etwas gibt, was wir tun können, um dich zu unterstützen, lass es uns bitte wissen. Niemand sollte mit einem solchen Schicksalsschlag allein fertigwerden müssen. Wir sind wie eine Familie, Jon, wir stehen an deiner Seite.«
Er fragte sich, ob sie sich die Worte im Vorhinein zurechtgelegt hatte, aufgeschrieben, durchgestrichen, umgeschrieben, auswendig gelernt. Vielleicht hatte sie es beim Frühstück ihrem Mann vorgetragen, einem hohen Tier bei der Staatsanwaltschaft, und auf sein Feedback hin kleine Korrekturen vorgenommen und den Sätzen den letzten Schliff gegeben. Oder sie gehörte zu den rhetorisch Begabten, die sich solche Formulierungen aus dem Ärmel schütteln konnten.
Ihr warmer Blick lag auf ihm. Wie eine kuschelige Decke. Aber ihm war nicht kalt, im Gegenteil, er brannte innerlich. Lichterloh.
»Ich will den Fall, Nora.«
Er spuckte ihr die Worte hin.
Wieder ließ sie ihren Blick einen Moment zu lange auf ihm ruhen.
»Den Fall? Ich fürchte, ich verstehe nicht, wovon du sprichst.«
Sie spielte die Ahnungslose, damit hatte er gerechnet.
Er seufzte müde.
»Ich will Lindas Tod selbst untersuchen. Carl-Johans natürlich auch.«
Seine Hand, die auf dem Oberschenkel lag, um den Kaffeefleck zu verdecken, zitterte.
»Das verstehe ich«, sagte sie mit Mitgefühl in der Stimme, das möglicherweise sogar aufrichtig war, »das verstehe ich gut.« Sie lächelte sanft. »Dein Teamleiter hat mich über deinen Wunsch in Kenntnis gesetzt.« Natürlich hatte sein Chef das. Über die wüsten Beschimpfungen wahrscheinlich auch. Sie entfaltete die Hände und nahm eine offene Körperhaltung ein. Lernte man so etwas auf Fortbildungen für Führungskräfte? Oder war sie ein Naturtalent? »Nur ist es leider so, dass wir das nicht möglich machen können, Jon, und wenn du ein wenig in dich gehst und die Sache mit etwas Abstand betrachtest, wird dir das sicherlich auch klar.«
In sich gehen.
Die Sache.
Mit Abstand betrachten.
»Aber …«
Er presste die Lippen aufeinander und die zitternde Hand mit so viel Kraft aufs Bein, bis sie endlich Ruhe gab.
»Du bist so lange an Bord, Jon, du kennst doch die bewährten Routinen und Abläufe, die Regeln und Vorschriften. Voreingenommenheit tut keiner Untersuchung gut, wer wüsste das besser als ein begabter und erfahrener Ermittler wie du?« Die Schmeichelnummer. Aber noch wichtiger: Sie sagte nicht Fall, sie sagte Untersuchung. Was im Grunde bedeutete, dass niemand die Sache ernst nahm. Dass die Ermittlung bereits so gut wie abgeschlossen war. Dass keiner außer ihm den Ungereimtheiten Bedeutung zumaß.
»Ist das so?« Er sog scharf Luft ein und sein Herz schlug viel zu schnell. Die Worte stolperten aus seinem Mund. »Dann sag mir doch bitte, warum die Airbags nicht ausgelöst wurden. Warum der nagelneue Wagen mit all seinen Sicherheitsassistenzsystemen auf gerader Strecke von der Straße abgekommen ist und sich überschlagen hat, bevor er gegen eine Eiche gekracht ist, obwohl Carl-Johan ein sicherer und routinierter Fahrer ist. Was er und meine Frau überhaupt zusammen …«
Der Satz havarierte. Es war ihm noch immer unmöglich, ihn zu Ende zu bringen. Ihn zu Ende zu denken. Ohne es zu merken, hatte er die Faust zum Mund geführt und hineingebissen. Daher kam der Schmerzimpuls überraschend. Als ihm bewusst wurde, was er tat, zwang er die Hand zurück auf den Oberschenkel.
»Ich verstehe das«, sagte sie mit einer Stimme, die klang, als würde sie mit einem Kind sprechen. »Ich verstehe dich, Jon.«
Er räusperte sich, trotzdem wurde seine Stimme rau.
»Die Untersuchung des Autos muss doch irgendetwas ergeben haben.« Er suchte endlich Augenkontakt. »Nora, ich bitte dich!«
Sie seufzte.
»Ich muss es dir doch wirklich nicht erklären, Jon, du kennst die Spielregeln. Vertraue uns, vertraue deinen Kollegen. Wenn am Ende der sorgfältigen Begutachtung ein Ergebnis feststeht, bist du der Erste, der informiert wird. Aber bis dahin …«
Jetzt war aus der Untersuchung eine Begutachtung geworden. Sie breitete die Arme aus und zeigte die Innenfläche ihrer kleinen Hände. Noch so ein Detail, das seine Erinnerung zwanghaft ausspie, obwohl es hier nicht hingehörte. Ihre kleinen, zielstrebigen Hände, mit denen sie ihm damals … Die Geste sollte wohl etwas gleichermaßen Bedauerndes wie Salomonisches demonstrieren. Er schluckte trocken. Es war einen langen Moment still.
»Irgendetwas muss die Untersuchung doch ergeben haben.«
Er erschrak über die Bedürftigkeit, die er seiner eigenen Stimme anhörte.
Statt auf sein erbärmliches Betteln einzugehen, seufzte sie erneut. Seufzen, das konnte sie gut.
»Ich habe mich mit deinem Teamleiter, dem Dienstpsychologen und dem Gewerkschaftsvertreter besprochen. Trotzdem möchte ich dir das Folgende nicht als Vorgesetzte, sondern als alte Freundin sagen.« Erneutes Seufzen. »Wie formuliere ich es am besten?« Was immer jetzt kommen würde, hatte sie innerlich schon beim Frühstück formuliert, da ging er jede Wette ein. Er klammerte sich an die Armlehne. »Ich glaube, du musst dich erst einmal vom Blick in den Rückspiegel lösen. Deine Fixierung auf die Umstände des Unfalls … Es tut dir nicht gut. Niemandem in deiner Situation würde das guttun. Konzentriere dich ganz aufs Hier und Jetzt. Deinetwegen. Und um deiner Familie willen. Solche einschneidenden Dinge bewältigt man nicht im Vorbeigehen. Niemand kann das.«
Hier und Jetzt.
Dinge.
Im Vorbeigehen.
Er kaute auf der Unterlippe. Vielleicht musste er die Karten offen auf den Tisch legen. Jede Deckung fallen lassen. Sich emotional nackt machen.
»Nora, ich muss wissen, wer Linda … und Calle … warum sie beide …« Seine Stimme brach weg. Er rang sekundenlang nach Fassung. »Sogar die verdammte Bettwäsche riecht noch nach ihr.« Er massierte sich die Nasenwurzel. »Sorry, ich …«
Wieder war es einige Momente lang still.
»Jon«, sagte sie eindringlich. »Ich verstehe das alles. Es ist nicht einfach, die Umstände zu akzeptieren. Aber du musst dir dafür Zeit geben und Raum lassen. Deine Kinder brauchen dich mehr denn je. Wie alt sind die beiden jetzt?«
Umstände.
Akzeptieren.
Die Kinder.
»Fünf und sieben«, murmelte er.
»Fünf und sieben«, sagte sie, als würde in der Wiederholung eine tiefere Wahrheit stecken. »Siehst du.«
Als hätte das irgendetwas mit Einsicht zu tun.
»Gib mir wenigstens irgendeinen Hinweis! Ich bitte dich! Und sei es um der alten Zeiten willen.«
Erst als er es ausgesprochen hatte, bemerkte er, wie jämmerlich und verzweifelt das klingen musste. Sie kniff die Augen zusammen und musterte ihn lange. Spätestens jetzt dachte auch sie an die mehr als zwei Jahrzehnte zurückliegende Silvesternacht im Wohnheim zurück, das glaubte er ihrem Gesichtsausdruck anzusehen. Frohes neues Jahrtausend. Mit Happy End, zumindest für ihn, dafür hatten ihre kleinen, energischen Hände gesorgt. Vielleicht hätte er sich damals mehr Mühe geben sollen. Er versuchte die verdammten Erinnerungen beiseitezuschieben.
Mellanders Gesichtsmuskulatur wirkte nun angespannt und ihre Mundwinkel bekamen etwas Hartes, Unerbittliches. Um der alten Zeiten willen? Er bereute, was er gesagt hatte.
»Muss ich denn wirklich so deutlich werden, Jon? Es gibt keine Hinweise. Es gibt keine Widersprüchlichkeiten. Es gibt keinen Fall. Deine Frau hatte offenbar eine Affäre. Mit deinem langjährigen Partner. Hinter deinem Rücken. Dann sind sie mit dem Auto gegen einen Baum gekracht. Aus und vorbei. Alles daran ist furchtbar und tragisch. Es tut mir für dich unheimlich leid. Aber es wird Zeit, dass du die Realitäten akzeptierst, so schwer das auch sein mag.«
Er schnellte aus dem Stuhl, baute sich vor dem Schreibtisch auf und stach mit dem Zeigefinger vor ihr in die Luft. Derselbe Zeigefinger, mit dem er sie damals … Warum sprangen ihn zwanghaft diese Erinnerungen an? Warum konnte er sich nicht konzentrieren? Mit guten Argumenten für seine Sache kämpfen? Er öffnete den Mund … und schloss ihn wieder. Ihm fehlten die Worte. Er ließ die Schultern hängen. Mit einem Mal fühlte er sich völlig erschöpft. Eine halbe Minute verstrich, ohne dass Mellander noch einmal das Wort ergriff. Warum auch? Sie hatte ihren Standpunkt deutlich gemacht. Er fuhr sich durchs Haar. Wie fettig es war. Wie matt er sich fühlte.
»Dann wäre das ja geklärt.«
Es klang kleinlaut, aber das war nun auch egal. Alles war nun egal. Er nickte ihr knapp zu und wandte sich zum Gehen.
»Nimm dir die Zeit«, wiederholte sie, als er die Klinke der Bürotür in der Hand hatte. Er drehte sich noch einmal zu ihr um. »Und dann kommst du zurück. Du bist einer unserer Besten, Jon, vergiss das nicht.«
Noch nie hatte er einen Raum so schweren Schrittes verlassen.
Svea Karhuu stand unter einer der Sammelduschen und reckte ihr Gesicht dem Wasserschwall entgegen. Eins musste man der alten Turnhalle am Stockholmer Stadtrand lassen: So heruntergekommen der Kastenbau aus den Fünfzigerjahren auch sein mochte, in der die Frauenpolizeisportgruppe West ihr wöchentliches Unihockeytraining absolvierte, das Duschwasser war so brühend heiß, wie Karhuu es mochte. Der Wasserdampf vernebelte den Duschraum und waberte bis in die Gruppenumkleide. Sie hatte sich wie immer Zeit gelassen und war die Letzte unter der Dusche. Niemanden sehen müssen. Unsichtbar werden. Auch das war ihr recht. Sosehr sie die körperliche Anstrengung des laufintensiven Sports liebte und brauchte, so wenig konnte sie mit ihren Mitspielerinnen anfangen. Einige gaben sich oberflächlich nett, aber was hieß das schon? Sie grüßten lächelnd und fragten, wie es ihr ging, doch bevor sie überhaupt antworten konnte, hatten sie sich längst wieder abgewandt und zu dem gut gelaunten Pulk gruppiert, in dem es für sie keinen Platz zu geben schien. Karhuu konnte nicht sagen, woran das lag. Wieder mal an ihren schwarzen Haaren, den dunklen Augen, der braunen Haut? Oder hatte der Einsatz, in dem sie fast anderthalb Jahre lang täglich ihr Leben riskiert und ununterbrochen eine Rolle hatte spielen müssen, sie verändert und übertrieben misstrauisch werden lassen? Ihr Chef hatte sie gewarnt: Sie wäre nicht die erste verdeckte Ermittlerin, der die Rückkehr in den Alltag massive Probleme bereiten würde. Oder, noch schlimmer, waren Einzelheiten der dramatischen Ereignisse durchgestochen worden, mit denen ihr Einsatz so fatal geendet hatte? Wusste das gesamte Polizeikorps der Stadt darüber Bescheid, was geschehen war? Das wäre eine Katastrophe. Aber was hätte sie auch anders machen können? Sie hatte ihrer Überzeugung nach das einzig Richtige getan, und die Untersuchungskommission würde in ihrem Abschlussbericht zu demselben Schluss kommen und sie vollständig entlasten. Das hoffte sie jedenfalls. Nur bis dahin würde es dauern. Konnte man Gerüchte einfangen, wenn sie erst einmal im Umlauf waren?
Doch in der Sportgruppe gab es nicht nur die Fraktion der höflich abweisenden Hockeymädchen mit ihren wippenden blonden Pferdeschwänzen, den bunten Tights und den stylishen Sportbustiers, es gab nicht nur die einsamen Wölfinnen in labberigen T-Shirts, die wie sie ihr eigenes Ding durchzogen, sondern auch die offen Feindseligen. Die Polizei ist ein merkwürdiger Berufsstand, hatte Ove, ihr Adoptivvater, selbst seit dreißig Jahren im Dienst, ihr immer wieder erklärt, er zieht die Besten an, aber auch die Schlechtesten. Wir sind die Ordnungsmacht, Svea, aber das Wort kommt nicht von ungefähr. Da wo Ordnung war, war auch Unterordnung, und wo es Macht gab, da gab es auch ihren Missbrauch, so viel hatte sie in ihren fünfundzwanzig Lebensjahren bereits begriffen.
Gerade als sie sich Shampoo in die Haare massierte, lösten sich aus den Dampfschwaden drei Umrisse. Sie zwinkerte sich Wasser aus den Augen. Jenny Karlsson und ihre Leibgarde. Dabei hatten die doch schon geduscht. So wie das Trio sie anstarrte, sah es nach Ärger aus. Nicht, dass es eine Überraschung gewesen wäre. Karlsson war ein Straßenbulle vom vierzehnten Revier und hatte ihren Ruf weg. Als ihre Spezialität galten körperbetonte Festnahmen vermeintlicher Straßendealer afrikanischstämmigen Aussehens. Es hatte bereits diverse Anzeigen gegen sie und ihren Teampartner gegeben, die Rede war von Prellungen, Knochenbrüchen und in einem Fall sogar von Verbrennungswunden, die dem Verdächtigen mit einer Zigarette zugefügt worden waren. Aber bisher waren sämtliche internen Ermittlungen gegen sie im Sande verlaufen. Seit Svea Karhuu vor einigen Wochen zur Hockeygruppe gestoßen war, hatte Karlsson sie auf dem Kieker gehabt, auch wenn sie es zunächst bei bösen Blicken und demonstrativem Naserümpfen belassen hatte. Doch vor einer Woche hatte jemand Karhuus Sporttasche und ihren Spint ausgeräumt und alles in einen Mülleimer geworfen, während sie unter der Dusche gestanden hatte. Heute wollte Karlsson augenscheinlich mehr. Schon im Spiel hatte sie Karhuu mehrmals grenzwertig getackelt und ihr einmal im vollen Lauf mit dem Hockeyschläger den Fuß weggezogen. Das aufgescheuerte Knie würde sie noch tagelang spüren. Aber das war okay. Wer das nicht wegsteckte, war beim Badminton besser aufgehoben. Auch sie hatte sich in puncto Robustheit nicht lumpen lassen. Was sie jedoch zur Weißglut getrieben hatte, waren die Affenlaute gewesen, die Karlsson und ihre Leibstandarte ihr während des gesamten Trainingsspiels zugegrunzt hatten, sobald sie in ihre Nähe gekommen war. Die meisten Mitspielerinnen mussten das mitbekommen haben, gesagt oder getan hatte jedoch niemand etwas. Nun also offene Konfrontation. Karhuu stellte das Duschwasser ab, griff nach ihrem Handtuch und band es sich notdürftig um die Brust.
Einen Meter vor ihr blieb Karlsson stehen, die Arme verschränkt. Sie rotzte auf den Boden.
»Hier stinkt’s«, sagte sie mit schiefem Grinsen. »Nach Türkenfotze.«
Karlssons Adjutantinnen – einmal klein und wabbelig, einmal lang, dürr, dämlicher Gesichtsausdruck und aus irgendeinem Grund mit einem Deoroller in der Hand – glucksten im Duett.
Türkenfotze. Interessant. Hatte sie in dieser Kombination noch nicht gehört, dabei hatte man sie schon einiges genannt. Bemerkenswert oft Schimpfwörter gepaart mit irgendwelchen geografischen oder ethnischen Angaben. So als würde sich das eine aus dem anderen ergeben. Araberhure. Balkanschlampe. Judenhexe. Ein Mann in einem Bus hatte sie einmal als Fidschi-Nutte bezeichnet, ein origineller Ausrutscher Richtung Fernost. Bei allem Verständnis für Hobbyethnologen, aber hinteres Asien gab ihr Antlitz beim besten Willen nicht her. Im Vorjahr, als sie sich am vierten Advent auf dem zugigen, eisigen Odenplan ihr Schaltuch um den Kopf gebunden hatte, war ihr von einer entgegenkommenden Frau ins Gesicht gespuckt worden. Mohammedaner-Brut, hatte die Alte gezischt. Na, frohe Weihnachten alle miteinander. Jetzt also wieder Speichel. War es zu viel verlangt, dass Mitmenschen ihre Körperflüssigkeiten so lange bei sich behielten, bis sie ausdrücklich zum Gegenteil aufgefordert wurden?
Karhuu musterte Karlsson. Ihr leiser Verdacht: Heute würde es nicht beim Spucken bleiben. Sie wartete ab. Das konnte sie gut, abwarten. Sich innerlich zusammenrollen. Äußeres an sich abperlen, Dinge geschehen lassen. Wer dazu imstande war, wer diese hohe Kunst beherrschte, der war nahezu unbesiegbar. Worte waren nur Worte, Schmerzen waren nur Schmerzen. All das tangierte sie nicht, denn sie befand sich in einer schützenden Schale. Sie war wie eine junge Kastanie. Diese Geisteshaltung, diese Mentalität, in der sie es bis zur Großmeisterin gebracht hatte, mochte vage buddhistisch klingen, doch Karhuu war in Tornedalen aufgewachsen, jener seit Jahrhunderten vernachlässigten Gegend im hohen Norden, in der sich Schweden und Finnland Gute Nacht sagten – und das in vier verschiedenen Sprachen. Sie überlegte, was »Türkenfotze« auf Meänkieli, auch Tornedalfinnisch genannt, heißen mochte, aber manche Sprachen wehrten sich schlichtweg dagegen, sich selbst zu besudeln, und das war auch gut so. Die Wörter, die es nicht gab, konnte man auch nicht denken, und so schützten diese Sprachen nicht nur sich selbst, sondern auch die Herzen und Köpfe der Menschen, die sie lebendig hielten.
Karlssons erster Move war eine Ohrfeige, Innenhand. Direkt gefolgt von einer zweiten, Außenhand. Ein Windhauch von links, ein Windhauch von rechts. Auf Meänkieli Puthi oder tuulenhenki, sie nahm es kaum wahr. Gefolgt von einem Schwinger gegen die Schläfe. Isku. Ein harter Schlag auf den Mund. Kova isku. Sie schmeckte Blut, aber es war, als wäre es nicht ihr eigenes, als ginge sie das alles gar nichts an. In sich bleiben. Abwarten. Beobachten. Karlsson wurde zorniger. Die fehlende Gegenwehr schien sie zu provozieren. Sie rammte Karhuu das Knie in den Unterleib. Kova polni. Die Schmerzen waren lächerlich, trotzdem verlangte ihr Körper, dass sie sich krümmte. Für Karlsson offenbar das Zeichen für das Finale. Ein Kick gegen das Kinn, der Chuck Norris zur Ehre gereicht hätte. Kinetik Kapitel eins: Karhuus Kopf wurde zurückgeschleudert, knallte gegen die geflieste Wand. Donnergrollen, pitkänen jyrisee. Sie sank an der Wand zu Boden. Ihr wurde schwarz vor Augen, in ihrem Kopf stoben Funken. Sie schüttelte sich, dann sah sie wieder klar. Karlsson klatschte mit Dick und Doof ab. Doof reichte Karlsson den Deoroller.
»Gegen stinkende Türkenfotzen gibt es nur ein Mittel«, sagte Karlsson und schraubte den Deckel des Deos ab. Karhuu hatte gedacht, es wäre vorbei. Dort, wo sie herkam, endeten Kämpfe dann, wenn der Gegner am Boden lag. Sie wollte keinen weiteren Ärger. Nicht nach allem, was in ihrem verdammten verdeckten Einsatz schiefgelaufen war. Aber Karlsson spielte nach anderen Regeln, Karlsson wollte mehr. Grinsend beugte sie sich zu ihr herunter. »Mach die Beine breit, copkiller.«
Es war nicht das, was Karlsson offenbar vorhatte, was letztendlich den Schalter umlegte, es war das Wort, das sie benutzte, und das, was es implizierte. Manchmal waren Worte eben doch mehr als Worte. Sie waren Waffen, verletzender als Tritte und Schläge. Gegen Waffen wehrten sich auch waschechte Tornedaler, wobei das »waschecht« bei ihr so eine Sache war. Aber woher auch immer es stammen mochte: Sie schaltete wider besseres Wissen in den Kampfmodus. Copkiller? Das durfte, das konnte Karlsson nicht wissen. Ein Schuss ins Blaue? Oder hatte doch jemand geplaudert? Wenn die Information durchgesickert war, wenn sogar jemand wie Karlsson Bescheid wusste, dann wussten vermutlich alle Bescheid. Ihre neuen Kollegen. Das ganze Revier. Jeder einzelne Bulle Stockholms. Dann waren ihre Zukunft und ihre Karriere hier für immer erledigt. Sie wischte sich mit dem Handrücken Blut aus den Mundwinkeln.
»Sieh an, sieh an«, höhnte Karlsson, »die Nutte hat noch immer nicht genug.«
Und dann ging alles sehr schnell. Karhuu sprang auf, flink wie eine Katze. Eine blitzartige Folge von Jabs trieben Karlsson an die gegenüberliegende Wand. Zwei knallharte Gerade auf den Mund und dann der finale Haken unters Kinn. Für den Bruchteil einer Sekunde schienen Karlssons Füße buchstäblich vom Boden abzuheben. Mit ihren sechsundsiebzig Kilo, von denen der Großteil aus Muskelmasse bestand, wäre Karhuu im Verbandsboxen als Halbschwergewicht eingeordnet worden. Aber Sportboxen mit all seinen Kategorien und Reglements war nicht ihr Ding. Das, was Ove ihr beigebracht hatte, war etwas anderes. Ein Tornedaler konnte einstecken. Zweitausend Jahre Siedlungsgeschichte bedeuteten zweitausend harte Winter. Kurze Sommer, karge Ernten. Aber wenn ein Tornedaler zurückschlug, dann mit allen Mitteln. Bis der Gegner am Boden war. So wie Karlsson jetzt. Nun kam das dämliche Duo dran. Dick bekam auf beide Augen eine wohldosierte Gerade, Doof fing sich links und rechts eine knallharte Ohrfeige. Damit war der Kreis geschlossen. Stöhnen und Wimmern allenthalben. Dick und Doof sackten neben ihrer Anführerin zu Boden. Da saßen die drei wie aufgereiht. Karlsson hatte die Hände vor den Mund gelegt, zwischen ihren Fingern rann Blut. Dick hielt sich die Augen, Doof die Ohren.
»Wer sind jetzt die Affen?«, rief Karhuu, drehte sich um und sah ein Dutzend Pferdeschwanzmädchen, die sie mit offenen Mündern anstarrten.
Der dumpfe Lärm musste sie angelockt haben. Sie drängte sich an ihnen vorbei, trocknete sich ab, zog sich an und raffte ihre Sachen zusammen. Draußen hielt sie nach Kristoffers klapprigem Ford Ausschau. Dort drüben stand er. Sie ging hin, öffnete die Wagentür, setzte sich und gab Kristoffer einen flüchtigen Kuss.
»Alles in Ordnung?«, fragte er.
Wie schaffte er es immer, mit nur einem Blick zu erfassen, wie es ihr ging? Weil sie ihm gegenüber nie das Gefühl hatte, sich verstellen zu müssen? Oder weil er ein sehr einfühlsamer Mensch war? Sie legte den Kopf auf seine Schulter.
»Ich glaube, ich habe Mist gebaut«, sagte sie leise.
Als die Malmöer Polizeichefin ihn anrief, war Kommissar Jon Nordh mit den Kindern an Lindas Grab. Es war ihr wöchentliches Familienritual geworden, zumindest wenn man das, was von ihnen noch übrig geblieben war, eine Familie nennen konnte. Sie pflanzten gemeinsam neue Dahlien oder Heidekraut oder was auch immer der Blumenladen gerade anbot. Tim brachte selbst gemalte Bilder mit, die seine Mutter als Strichmännchenengel zeigten, der von einer Wolke aus auf sie herablächelte, und drapierte sie so konzentriert und akkurat auf Lindas Grab, dass es Nordh jedes Mal das Herz zerriss. Was ihn in diesen Situationen gleichermaßen rettete wie irritierte, waren die Zwangsvorstellungen, die ihn seit dem Tod seiner Frau quälten. Wenn er auf seine Kinder, die Blumen und das Grab blickte, drängte sich das fürchterliche Bild in seinen Kopf, dass Lindas Hand plötzlich die Erdkruste durchbrach und wie eine Zombieklaue nach den Gliedmaßen der Kinder griff. Es war absurd, es war völlig gaga und zutiefst beunruhigend. Trotzdem erzählte er dem Polizeipsychologen nichts davon und sprach auch sonst mit niemandem darüber. Einmal war er kurz davor gewesen, Sanna anzurufen, Carl-Johans Frau. Musste es ihr nicht ähnlich gehen wie ihm? Musste sie nicht im gleichen Maße leiden wie er? Doch im letzten Moment hatte er sich dagegen entschieden. Die Vorstellung, sich gegenseitig etwas vorzuheulen, war ihm erbärmlich vorgekommen und würde wahrscheinlich alles nur noch schlimmer machen.
Doch er hatte Nora Mellander beim Wort genommen. Er hatte sich Zeit gelassen. Aus Wochen waren Monate geworden, aus dem Frühling Spätsommer. Eine Krankschreibung war auf die nächste gefolgt, er hatte dem Psychologen irgendetwas von Verarbeiten und Bewältigung erzählt. In Wahrheit rührte er das gut verschnürte Bündel in seinem Inneren nicht an. Als irgendwann von Wiedereingliederung in den Dienst die Rede gewesen war, hatte er seinen Jahresurlaub eingereicht. Außerdem hatte er noch ein prall gefülltes Überstundenkonto. Mit jedem Tag, der verging, vermisste er die Arbeit ein Stück weniger. Er mochte ein guter Ermittler sein, aber er hatte dafür auch einen Preis bezahlt, wie er allmählich begriff. Die endlosen Arbeitstage, der Dauerdruck, der unvermeidliche Tunnelblick. Hätte sich die Katastrophe womöglich vermeiden lassen, wenn er andere Prioritäten gesetzt hätte? Wäre Linda ihm treu geblieben, wäre sie jetzt am Leben, wenn …? Die Fragen waren müßig, es gab kein Leben im Konjunktiv, andererseits spürte er ihre drängende Relevanz.
Sicher war er sich jedoch, was seine Kinder betraf. Mellander hatte recht gehabt, Lilly und Tim brauchten ihn mehr denn je. Seit Lindas Tod schliefen die beiden oft bei ihm im Ehebett, zwei warme Klammeraffen, die nach Schweiß und Vanillezucker rochen. Er machte ihnen das Frühstück, zog sie an, brachte sie zur Schule und zum Kindergarten, holte sie ab, fuhr sie zum Training, spielte mit ihnen Uno und Verstecken, malte, bastelte, kochte, las ihnen vor und brachte sie ins Bett. Er kaufte ein, putzte die Doppelhaushälfte, wusch Wäsche – fast jede zweite Nacht nässte sich Tim neuerdings wieder ein –, hielt den Garten in Ordnung und räumte auf. Es war ihm ein Rätsel, wer vorher alle diese Dinge erledigt hatte, er jedenfalls meistens nicht. Er führte auf Anraten des Therapeuten Tagebuch, ging einigermaßen regelmäßig schwimmen und hatte sogar wieder mit dem Fußballspielen angefangen. An manchen Tagen löste ihn seine Schwiegermutter zu Hause ab oder sprang kurzfristig ein, wenn er sie darum bat. Sie bewohnte die andere Hälfte des Doppelhauses, was Fluch und Segen zugleich war. Ehrlich gesagt seit Lindas Tod deutlich mehr Segen als Fluch. An diesen Tagen betrieb er seine privaten Nachforschungen. Nicht, dass er auf etwas gestoßen wäre, was von dem mickrigen nichtssagenden Untersuchungsbericht abwich, den man ihm hatte zukommen lassen. Möglicherweise gab es auch nicht mehr, aber er war noch nicht an dem Punkt, an dem er sich das eingestehen konnte. Als ihn vor einigen Tagen ein ehemaliger Kollege kontaktierte, der vor Jahren abgesprungen war, und ihm einen leitenden Job in seinem boomenden Sicherheitsunternehmen anbot, geriet er ernsthaft ins Grübeln. Eine Fünfunddreißigstundenwoche mit deutlich besseren Bezügen, nine to five und freitagnachmittags frei. Ein klarer Schnitt und die Chance auf einen Neuanfang. Er hatte sich etwas Bedenkzeit erbeten.
Mit dem Handy am Ohr entfernte er sich einige Schritte vom Grab und hörte sich an, was Mellander von ihm wollte. Ja, er hatte in den Morgennachrichten bereits vom jüngsten Schusswaffenopfer im Brennpunktstadtteil Hermodsdal gehört. Ja, er konnte sich ausmalen, wie stark der öffentliche Druck auf die Polizeiführung werden würde. Ja, er kannte die niederschmetternden Aufklärungsquoten in diesen Fällen, sie lagen bei lächerlichen fünfzehn Prozent, bei Morden außerhalb des Gangmilieus waren es mehr als achtzig. Aber was hatte das alles mit ihm zu tun? Ach so, sie brauchte jetzt plötzlich ihren besten Mann. Er musste sich beherrschen, nicht bitter aufzulachen. Die Masche war so billig wie durchschaubar. Lilly und Tim sahen fragend zu ihm hinüber. Lass stecken, Nora, und suche dir einen anderen nützlichen Idioten. Fast hätte er das Gespräch bereits beendet, doch dann zögerte er. Betrachtete Lindas Grab und die Kinder. Saugte an seiner Unterlippe. Scharrte mit der Fußspitze im Kies. Räusperte sich.
»Der Untersuchungsbericht, den ihr mir geschickt habt, ist keine fünfzig Öre wert. Ich will die Akten. Ich will als Gegenleistung die vollständigen Akten.«
Mellander schwieg einen Augenblick.
»Du bekommst sie, wenn du den Fall löst«, sagte sie dann.
Svea Karhuu stand vor dem kleinen Flughafenterminal, wartete, rauchte und hielt das Gesicht dem milden Septemberwetter entgegen. Der Parka, den sie trug, war viel zu dick, ihr war schon im Stehen zu warm. Als sie sich am frühen Morgen ins Flugzeug gesetzt hatte, hatte es geschneit. Nach dem Vorfall in der Turnhalle und der darauffolgenden Suspendierung war sie mit Kristoffer in der alten Heimat gewesen, zu Besuch bei Ove und Marie. Zwischen der Region Tornedalen und Malmö lagen nicht nur eintausendfünfhundert Kilometer, sondern Welten, dachte sie, Hinterland und Großstadt, Provinz und Metropole, Nord- und Südschweden – sie fühlte sich in beidem zu Hause. Und nun also tiefster Süden: Malmö. Ein VW Passat tauchte auf und hielt mit Vollbremsung direkt vor ihr am Straßenrand. Das musste er sein, der Kollege, dem sie zugeteilt worden war. Dramatischer Auftritt im Miami Vice Style. Auch wenn das biedere Automodell nicht richtig dazu passte. Sie drückte die Kippe sorgfältig aus, warf sie in einen Mülleimer und hatte noch keine drei Schritte getan, als es hupte, laut und drängelnd. Da hat es aber jemand eilig, dachte sie. Ruhig, Brauner, ganz ruhig. Was das wohl für ein Typ war? Egal jetzt. Sie öffnete die Wagentür.
»Jon Nordh?« Knappes Nicken, fester Blick, fester Händedruck, unverständliches Brummen. »Angenehm, Svea Karhuu.« Sie schälte sich aus dem Parka, warf ihn samt Koffer auf den Rücksitz und nahm auf dem Beifahrersitz Platz. In dem Moment, in dem die Tür ins Schloss fiel, fuhr das Auto schon mit Vollgas an. »Haben wir es so eilig? Soweit ich richtig informiert wurde, sind seit den Schüssen gestern Abend schon mehr als fünfzehn Stunden vergangen.«
Er warf ihr einen Seitenblick zu.
»Willkommen in Malmö.«
Dem breiten schonischen Dialekt zufolge war Nordh hier groß geworden.
»Danke.«
Sie musterte ihn. Für einen Mann wirkte er nicht besonders groß. Um die vierzig, schlank, strubbeliges, weizenblondes Haar. Er trug einen dunkelblauen Anzug und ein weißes Hemd mit schmaler Krawatte. Er sah nach einem Bullen alter Schule aus, oder einer zerknautschten und zerknitterten Version von Sonny Crockett. Er wiederholte ihren Namen. In seinem derben Dialekt klang er merkwürdig fremd.
»Karhu wie die finnische Sportmarke? Ich hatte mal Joggingschuhe von denen, die waren gar nicht schlecht.«
»Nein«, sagte sie. »Karhuu wie Bär. Mit Doppel-U. Nicht Finnisch, sondern Meänkieli.«
Er nickte vor sich hin.
»Das waren echt gute Schuhe.«
»Freut mich für dich.«
Erneut sah er zu ihr herüber.
»Man hört dir den Norden an, Svea Karhuu.«
Immer wenn sie diesen Satz hörte, meinte ihr Gegenüber eigentlich etwas anderes. Und zwar, dass man ihr den Norden nicht ansah. Was so viel bedeutete wie: Wo kommst du eigentlich her? Oder: Warum heißt die mit Vornamen Schweden und mit Nachnamen Bär, sieht dabei aber aus wie eine Kanakin?
»Und dir den Süden, Nordh.«
Sein Mundwinkel zuckte ob des Wortspiels amüsiert.
»Das nehme ich als Kompliment.«
»Nimm es, wie du willst, aber schau bitte auf die Straße, wenn du unbedingt so schnell fahren musst.«
Er deutete ein schiefes Lächeln an und blickte nach vorn. Auch auf den zweiten Blick wirkte er trotz des Anzugs nicht so, als würde er Wert auf sein Äußeres legen. Die Krawatte war fahrig gebunden, bei der Rasur hatte er eine Stelle unter dem Kinn übersehen und seine Frisur hatte das Mindesthaltbarkeitsdatum definitiv ein, zwei Wochen überschritten.
»Schwedische Bärin, gefällt mir. Klingt irgendwie indianisch.«
Oh, Mann. Sie verdrehte innerlich die Augen. Sprach man heutzutage nicht längst von Ursprungsbevölkerung? Das sollte sich sogar bis Malmö herumgesprochen haben. Jedenfalls unter zivilisierten Leuten.
»Ich bin in der Nachbarschaft von Samen aufgewachsen. Zählt das?«
»Ich denke schon.«
Wieder das flüchtige Lächeln. Obwohl er mindestens fünfzehn Jahre älter war als sie, strahlte er etwas Unbedarftes, Jungenhaftes aus. Gleichzeitig schien ein Schatten auf seinem kantigen Gesicht zu liegen, der nichts mit der schlampigen Rasur zu tun hatte. Das sollte einer von Malmös besten Ermittlern sein, wie ihr Chef nicht müde gewesen war, zu betonen? Nun gut, don’t judge a book by its cover.
»Erzähl mir von dem Einsatz«, sagte sie. »Ich weiß kaum mehr als das, was die Nachrichten gebracht haben.«
»Die kurze oder die lange Version?«
»Die lange.«
Nordh seufzte.
»Hochhaussiedlung in Hermodsdal, Problemstadtteil, beziehungsweise ein Viertel mit Handlungsbedarf, falls das in deinen Ohren besser klingt. Eine Schießerei vor einer Pizzeria. Der Junge, der erschossen wurde, heißt Rashid und ist dreizehn Jahre alt. Dazu kommt ein neunzehnjähriger Verletzter. Die Sache riecht von vorn bis hinten nach Gangkonflikt. In Hermodsdal und Umgebung liegen seit Monaten die ortsansässigen Originals mit den 2155ern und dem sogenannten Rosengård-Netzwerk im Clinch. Es ist immer derselbe Mist. Grabenkämpfe um Gebiete für den Drogenhandel. Geltungsdrang, Kränkung, Rache, Macht, schnelle Kohle, dazu viel zu viele Schusswaffen im Umlauf. Die meisten Täter und Opfer der sinnlosen Ballerei sind noch keine fünfundzwanzig. Wir beobachten schon länger, dass die rekrutierten Kids immer jünger werden, aber ein toter Dreizehnjähriger ist ein neuer Tiefpunkt. Doch wem sage ich das alles? Du hast in Stockholm gearbeitet? Da sieht es ja nicht anders aus.«
»Ich dachte, in Malmö gehen die Todeszahlen langsam zurück.«
Nordh zuckte mit den Schultern.
»Es sah eine Zeit lang etwas besser aus, aber in diesem Jahr hat sich der Trend schon wieder gedreht, auch wenn die verantwortlichen Politiker gern von einer positiven Entwicklung sprechen. Einige Konflikte, die hier ihren Ursprung haben, haben sich nur verlagert, in umliegende kleinere Städte wie Helsingborg oder Landskrona oder auch auf die dänische Seite der Brücke. Tja, und gestern Abend um 21.35 Uhr hat sich die Statistik offenbar weiter verschlechtert. Die betroffenen Anwohner sind eingeschüchtert, und weil kaum jemand mit uns redet, ist die Aufklärungsquote katastrophal.«
»Fünfzehn Prozent.«
Jeder Polizist des Landes kannte diese Zahl. Sie war zum Schämen.
Er nickte mit düsterem Gesichtsausdruck.
»Wobei die Gewalt längst auch in die Stadtteile der braven Mittelschicht schwappt und sich die Auseinandersetzungen mehr und mehr in der Öffentlichkeit abspielen. Vor Kurzem gab es eine Schießerei in einem Einkaufszentrum. Als würden die Banden für ihre Kämpfe eine Bühne suchen. Aber auch das wird dir bekannt vorkommen. Ob Malmö, Stockholm, Borås oder Eskilstuna: überall das gleiche Drama.«
»Mit Gangkonflikten hatte ich bisher selbst nichts zu tun, aber klar, mit der Grundproblematik bin ich vertraut.«
Wieder warf er ihr einen Seitenblick zu. Skeptisch diesmal.
»Womit hattest du denn zu tun?«
Das klang ziemlich unverhohlen nach: Was hast du hier eigentlich verloren? Im Grunde eine berechtigte Frage. Auf die es keine unkomplizierte Antwort gab. Der plötzliche Einsatzbefehl, der ihre vierwöchige Suspendierung frühzeitig beendete, hatte sie ja selbst überrascht. Sicher, die Dinge waren in letzter Zeit gelinde gesagt nicht optimal gelaufen. Aber war das ihre Schuld gewesen? Copkiller, flüsterte eine Stimme in ihrem Hinterkopf. Und es stimmte ja auch. Nur dass außer ihr fast niemand wusste, unter welchen Umständen … Wenn nur die Gerüchte nicht aufgekommen wären. Wie hatte die verdammte Nazi-Bitch nur von den Geschehnissen des Undercover-Einsatzes wissen können? Zugegeben, die hässliche Situation in der Sporthalle hätte sie souveräner lösen können. Aber auch wenn es kindisch klang: Sie hatte den Streit nicht gesucht, sondern sich bloß gewehrt. Dumm gelaufen, dass nur die zweite Hälfte der Auseinandersetzung von einem der Hockeymädchen mit dem Handy gefilmt und verbreitet worden war. Sie sah ja ein, dass ihr weiterer Einsatz in Stockholm nach dieser unglücklichen Verkettung von Ereignissen nicht leicht gewesen wäre, aber warum ihr Chef sie in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Malmö beordert hatte, um den Mord an einem Kind im Gangmilieu zu untersuchen, war ihr schleierhaft. Sicher, der Chef hatte viel von ihrer Kompetenz, Anpassungsfähigkeit und ihrem Instinkt gesprochen, aber sie wurde das Gefühl nicht los, dass es in Wahrheit auch darum ging, sie bis auf Weiteres in eine andere Ecke des Landes abzuschieben. Die weitergehende Frage war, ob er sie in ihrem eigenen Interesse aus der Schusslinie nehmen oder einfach nur ein Problem loswerden wollte.
»Verdeckte Ermittlung«, sagte sie.
Er stieß einen Pfiff aus. Wieder ein Seitenblick, diesmal wirkte er überrascht.
»Die Crème de la Crème der Nationalen Operativen Einheiten.«
»Na ja.«
»Ist das nicht ein ziemlich großer Sprung zu einer Mordkommission?«
Es klang eher wie eine Feststellung als eine Frage. Was sollte sie darauf entgegnen? Dass ihr Chef sich schon irgendetwas dabei gedacht hatte? Dass sie während ihrer Ausbildung drei Monate Praxis in einer Mordkommission hatte sammeln dürfen? Nordh hatte ja durchaus recht. Es war lange her, dass sie in einem Team gearbeitet und Verhöre geführt hatte. Nun gleich ein Mord, noch dazu ein exponierter Fall. Meine Güte, ein dreizehnjähriger Junge. Gleichzeitig das landesweit fünfundsiebzigste Schusswaffenopfer in diesem Jahr. Zwei Zahlen, die in den Augen der Presse, der Politik und der Öffentlichkeit vor allem für eins sprachen: totales polizeiliches Versagen. Sie selbst sah es differenzierter. Es war doch eigentlich eine Binsenweisheit: Die Arbeit der Polizei war immer auch ein Spiegel der gesellschaftlichen Realitäten. Aber was sollte sie Nordh antworten? Dass sie im höchsten Maße anpassungsfähig war? Dass sie schnell lernte und antizipierte? Dass sie vor vier Jahren die Polizeischule als Jahrgangsbeste abgeschlossen hatte? Oder gar, dass es für eine Ermittlung im sozioökonomisch schwachen Milieu nicht schaden konnte, auf eine Polizistin zu setzen, die aussah, als habe sie einen, nun ja, Migrationshintergrund? Bei dem Gedanken spürte sie plötzlich, wie sich etwas in ihr verkrampfte, denn mit ihm tauchte ein böser Zwilling in ihrem Bewusstsein auf. Ein unangenehmer Verdacht. War sie in erster Linie als Vorzeigekanakin hier?
»Ein frischer Blick kann vielleicht nützlich sein«, antwortete sie ihm.
»Bestimmt.«
Sie horchte genau hin. Nein, Nordh klang nicht sarkastisch, er schien das offenbar aufrichtig zu meinen.
»Und du bist Teil der hiesigen Soko für die Gangkonflikte?«
»No, Ma’am.«
»Oh.«
Das war überraschend. Noch ein Rookie in Sachen Vorortkriminalität? Die Geschichte wurde immer rätselhafter.
»Seit fünfzehn Jahren Mordermittler. Aber bisher nie im Gangmilieu.«
Sie schwieg eine Weile und kaute auf ihrer Unterlippe. Vor dem Autofenster zogen die immer gleichen Super- und Baumärkte, die Möbelriesen, Logistikzentren, Tankstellen und Fast-Food-Restaurants vorbei, die die Stadtgrenzen im 21. Jahrhundert markierten.
»Sorry, wenn es jetzt etwas merkwürdig klingt, aber warum ausgerechnet du und ich, warum kein eingespieltes Team der Sonderkommission Bandenkriminalität?«, fragte sie.
Wieder folgte das schiefe Lächeln, bei dem sie sich nicht sicher war, ob es zynisch oder einnehmend war.
»Denk an die erbärmliche Aufklärungsquote. Die Sokos, ob hier oder in Stockholm, Göteborg oder Södertälje, binden viele Ressourcen, aber liefern kaum. Sie kartografieren die Gangs und Konflikte, kennen im Grunde sämtliche Bandenmitglieder und Verdächtige, aber sind dennoch machtlos, vor allem weil es an Zeugenaussagen und harten Beweisen fehlt. Gestern ist der worst case eingetreten, ein Kind wurde erschossen. Die Medien und Politiker machen Druck und sie haben ja irgendwie auch recht. Die Polizeichefs stehen mit dem Rücken zur Wand. An dieser Stelle kommen du und ich ins Spiel. Stichwort: frischer Blick.« Wieder sah er sie von der Seite an. »Und was dich angeht, möglicherweise auch – wie drücke ich es am besten aus? – ein gewisser, nun ja, Chamäleoneffekt.«
Ihr erster Impuls war, sich zu empören. Dann bemerkte sie, dass er nur das aussprach, was sie selbst gerade gedacht hatte.
»Die Gettofrau und der Superbulle?«
Er verzog die Mundwinkel.
»Gott bewahre. Es gibt gewisse Meriten in der Vergangenheit, aber ehrlich gesagt hatte ich in letzter Zeit nicht gerade einen Lauf.«
Sie schwieg und blickte aus dem Fenster. Gelber Backstein, gelbe Blätter. Handyläden und Discounter. Malmö lag am Meer, aber davon sah und ahnte man nichts.
Nicht gerade einen Lauf. Die Untertreibung des Jahres. Meine Frau ist vor neunzehneinhalb Wochen gestorben. Neunzehneinhalb Wochen? Ja, beinahe wie der Titel dieses alten Erotikfilms mit Mickey Rourke und Kim Basinger. Der passt irgendwie ziemlich gut, denn wie es aussieht, hatte meine Frau eine heimliche Affäre mit meinem engsten Kollegen und Kumpel. Der ist übrigens beim selben Autounfall ums Leben gekommen. Tja, karma is a bitch. Wenn es denn überhaupt ein Unfall war, woran ich bis heute nicht glaube. Um das beweisen zu können, habe ich mich auf einen fragwürdigen Deal eingelassen und deshalb sitze ich hier neben dir.
Er warf seiner neuen Partnerin zum x-ten Mal einen Blick zu. Sie war definitiv größer als er, recht breite Schultern, durchtrainiert. Hübsches Gesicht mit großer, wohlgeformter Nase, sehr dunkle Augen. Insgesamt der dunkle Typ, orientalische Wurzeln tippte er, wenn man das so sagen beziehungsweise denken durfte. Sportlich gekleidet, Sweatshirt, Jeans, Nike Air Max. Überraschend und interessant war der Background als verdeckte Ermittlerin. Das bedeutete, sie musste etwas auf dem Kasten haben: Intelligenz, Intuition, Anpassungsfähigkeit, Reaktionsvermögen. Hart im Nehmen, psychisch extrem stabil. Gleichzeitig hatten solche Kollegen einen gewissen Ruf. Schauspieler, undurchschaubar. Wer auch immer auf die Idee gekommen war, sie beide für die Aufklärung des Mords an einem dreizehnjährigen Jungen abzustellen, der landesweit Schlagzeilen machte, hatte einen unkonventionellen, kreativen Ansatz gewählt. Oder Sinn für Humor.
Fünf Minuten später waren sie am Tatort. Er parkte den Wagen und sie stiegen aus. Hermodsdal bestand aus vier- bis achtgeschossigen Wohnblöcken, wie sie in den Sechzigerjahren überall dort aus dem Boden gestampft worden waren, wo schnell billiger Wohnraum hatte entstehen sollen. Im sozioökonomischen Ranking der Stadt befand sich Hermodsdal auf einem der letzten Plätze. Die Schießerei der vergangenen Nacht war nicht die erste hier und würde auch nicht die letzte sein. Vor der Pizzabude, die sich in einer eingeschossigen Ladenzeile befand, die zwei Wohntürme miteinander verband, war die Straße auf einer Länge von gut zwanzig Metern bis zu den gegenüberliegenden Häusern mit blau-weiß gestreiftem Plastikband abgesperrt worden. Davor standen etwa zwei Dutzend Schaulustige, obwohl es außer den Mitarbeitern der Spurensicherung, die in ihren Overalls ihre Ausrüstung zusammenräumten, und zwei Polizisten in Uniform nicht mehr viel zu sehen gab. An einer Stelle standen Grablichter, es waren Blumen und Stofftiere abgelegt worden und am Absperrband waren Fotos des Jungen, Trauerbekundungen und Flugblätter mit politischen Forderungen befestigt worden. Nordh sprang ein Plakat ins Auge.
Why?
Kurz flammte eine nahezu perverse Hoffnung auf. Vielleicht war dieser Fall, so tragisch und sinnlos der Tod dieses Kindes auch war, für ihn nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch eine Chance, in sein altes Leben als Kriminalkommissar zurückzufinden. Oder in das, was von diesem Leben noch übrig geblieben war. Er ließ den Blick über die Schaulustigen streifen. Ein Stück hinter der Menschentraube und neben den Übertragungswagen vom Fernsehen saß ein etwa fünfzehnjähriger Junge auf einem Motorroller und betrachtete die Szenerie mit zusammengekniffenen Augen. Zwei Teenagermädchen, eins mit Kopftuch, eins ohne, hielten sich an der Hand und weinten. Ein Pressefotograf nestelte an seiner Kamera herum. Über dem Eingang der Pizzabude prangte der Schriftzug Venezia. Wahrscheinlich irakische oder syrische Betreiber, vielleicht auch Afghanen. Ganz sicher keine Italiener. Nichts spiegelte die jeweiligen Einwanderungswellen so gut wider wie das Imbisspersonal. Das war jedenfalls seine Erfahrung. Er hielt für Karhuu das Absperrband hoch, aber ihr Blick verriet ihm, dass sie nicht auf solche Gesten stand. Geschenkt, dachte er, wer nicht will, der hat schon. Er wandte seine Aufmerksamkeit der Fensterfront des Lokals zu und entdeckte die Einschusslöcher. Das Glas war um die Löcher herum spinnennetzartig gesprungen, es schien wie ein Wunder, dass das Fenster noch nicht vollständig zu Bruch gegangen war. Hinter der Scheibe erkannte er Nora Mellander und die Muppets von der Soko, Waldorf und Statler, die in Wirklichkeit Anna Wallgren und Henning Stöcker hießen. Karhuu und er gingen ebenfalls hinein. Er stellte alle einander vor. Hände wurden geschüttelt und alle nahmen an einem Tisch Platz. Wallgren, die irgendein mentales Problem hatte, weil sie nach jedem zweiten Satz kicherte, egal, wovon sie gerade sprach, fasste das Geschehen und die ersten Erkenntnisse für sie zusammen.
Am Vorabend um 21.35 Uhr waren beim Notruf mehrere Anrufe eingegangen, die Schüsse vor dem Venezia meldeten. Viereinhalb Minuten später war der erste Streifenwagen vor Ort. Zu diesem Zeitpunkt war der Schütze bereits mit seinem Auto geflohen. Einem Zeugen zufolge war er gar nicht erst aus dem Wagen gestiegen, sondern hatte die Scheibe heruntergelassen und vom Fahrersitz aus mehrmals mit einem Sturmgewehr geschossen. Das Ganze habe keine Minute gedauert. Als die Polizisten eintrafen, lag der dreizehnjährige Rashid Sultani mit einem Kopfschuss in einer Blutlache vor der Pizzeria, neben ihm einer dieser elektrischen Tretroller, die man seit ein paar Jahren überall sah. Offenbar hatte der Junge mit seinem Gefährt die Schussbahn gekreuzt. Die Polizisten fühlten keinen Puls mehr und sämtliche Wiederbelebungsversuche der eintreffenden Rettungskräfte blieben erfolglos. Im Laden selbst hatten sich der Pizzabäcker und die drei Kunden, die sich mit ihm im Venezia befanden, auf den Boden geworfen und hinter dem Tresen beziehungsweise einem umgekippten Tisch Deckung gesucht. Es gab zwei Verletzte. Ein achtundsechzigjähriger Rentner, der auf seine Bestellung zum Mitnehmen gewartet hatte, und ein junger Mann, der gemeinsam mit einem Freund an einem der beiden Tische gesessen und gegessen hatte. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte der Anschlag ihnen gegolten, dem neunzehnjährigen Rasmus El Hamadaoui und dem gleichaltrigen Youssef Nasri, beide polizeilich bekannt, beide dem Umfeld der Originals zuzuordnen. El Hamadaoui war mit einem Steckschuss in der Schulter ins Krankenhaus gebracht worden. Den älteren Mann, Andrey Akimov, hatte ein Streifschuss am Arm getroffen und nur oberflächlich verletzt. Die kleine Wunde war noch vor Ort versorgt worden und Akimov hatte sich entgegen dem ärztlichen Rat nicht ins Krankenhaus bringen lassen, sondern war nach einer kurzen Vernehmung nach Hause gegangen. Der Aussage des Pizzabäckers zufolge war es Akimov zu verdanken, dass El Hamadaoui und vermutlich auch Nasri mit dem Leben davongekommen waren. Als der rote Lichtpunkt einer Laserzielvorrichtung durch das Lokal und über El Hamadaouis Gesicht gehuscht war, hatte sich Akimov gedankenschnell auf ihn geworfen und mit sich zu Boden gerissen, im selben Moment waren mehrere aufeinanderfolgende Schüsse abgegeben worden.
Damit endete Wallgrens Bericht. Sie hatte zwischendurch drei Mal gekichert, Nordh hatte mitgezählt.
»Ein Ziellaser?«
Karhuu hob eine ihrer geschwungenen Augenbrauen.
»Ungewöhnlich für Gangschießereien«, stimmte Nordh zu.
»Teils ja, teils nein«, sagte Stöcker, ein asthmatischer Miesepeter mit verkniffenem Mund. Die Muppets und er – daraus würde keine Liebesgeschichte mehr werden. Auch wenn sie einige Jahre im selben Morddezernat gearbeitet hatten.
Mellander übernahm das Wort.
»Richtig ist, dass der Datenbank zufolge eine derartige Zielvorrichtung bisher noch nicht im Zusammenhang mit den Bandenkonflikten in Erscheinung getreten ist, weder in Malmö noch anderswo. Andererseits wissen wir mittlerweile eins: Die Gangs schießen mit allem, was sie auf dem Schwarzmarkt in die Finger bekommen. Von modernen Sturmgewehren über tschechische Revolver aus der Stalinära bis hin zu abgesägten Schrottflinten. Hauptsache, es knallt. Es klingt zynisch und natürlich ist jedes Schusswaffenopfer eines zu viel, aber eigentlich müssten wir dafür dankbar sein, dass es sich so oft um unausgebildete, schlechte Schützen handelt. Im vergangenen Jahr gab es landesweit dreihundertfünf Schießereien, die zu vierundsechzig Toten geführt haben, das ergibt eine Trefferquote von eins zu fünf. Dieses Jahr stehen wir schon bei mehr als siebzig Schusswaffenopfern, dabei haben wir gerade mal September. Uns steht ein trauriger Rekord bevor, nicht nur, was die Anzahl der Toten betrifft. Ihr habt es mitbekommen, der Junge war dreizehn Jahre alt. Ein Kind. Ich muss es nicht extra betonen: Die Situation ist untragbar, der Rechtsstaat darf so etwas nicht zulassen, wir dürfen so etwas nicht zulassen. Unsere bisherigen Bemühungen, Kräfte in einer Sonderkommission zu bündeln, um die Aufklärungsquote zu erhöhen, Täter zu überführen und die Gewaltspirale zu unterbrechen, ist bisher nur von bescheidenem Erfolg gekrönt.« Mit aufeinandergepressten Lippen blickte sie Wallgren und Stöcker an, denen das Unbehagen anzusehen war, dann wandte sie sich Karhuu und ihm zu. »An dieser Stelle kommt ihr beide ins Spiel. Der Polizeipräsident hat unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Tragödie gestern Abend einen neuen Ansatz gefordert und mein Stockholmer Kollege und ich haben dem vollumfänglich zugestimmt.« Sie bedachte Karhuu mit einem professionellen Lächeln. »Dein Chef hält offenbar große Stücke auf dich. Mit Nordh an deiner Seite verspreche ich mir einen anderen Blickwinkel und neue kriminalistische Schlagkraft, ich hoffe, ihr enttäuscht mich nicht. Ihr bildet ein unabhängiges Zweierteam, könnt dabei aber auf die vollen Ressourcen der Soko zurückgreifen: Forensik, IT und so weiter. Wallgren und Stöcker sind eure Kontaktpersonen. Sie liefern euch Hintergrundinfos zu den Gangkriegen und stehen euch auch sonst zur Verfügung, wenn ihr mehr Manpower benötigt. Revierkämpfe, Zuständigkeitsstreitereien, persönliches Gezanke und andere Befindlichkeiten verbitte ich mir.« Wieder bedachte sie die Muppets mit einem Blick. »Ich erwarte tägliche Rapporte. Verstanden?« Vierfaches Nicken. »Das war es fürs Erste. Auf mich wartet die Pressekonferenz.« Sie seufzte. »Die werden mich an die Wand nageln. Je eher ich belastbare Ermittlungsergebnisse erhalte, desto besser für uns alle.«
Sie nickte ihnen zu, dann stand sie auf und ging. Zielstrebig, dachte er, wie damals im Studentenheim. Wallgren und Stöcker sahen definitiv verstimmt aus. Kein Wunder, Mellander hatte sie und die Soko vorgeführt und ihnen zwei externe Ermittler vor die Nase gesetzt.
»Und ihr seid jetzt das neue Dreamteam, oder was?«, sagte Stöcker. Er klang eingeschnappt.
Wallgren schaffte es sogar, beleidigt zu kichern. Respekt, das musste man auch erst mal hinbekommen.
»Ganz genau«, entgegnete Nordh. »Was wisst ihr über den Jungen?«, fragte er. »Hatte er trotz seines Alters schon Kontakte zu den Originals? War er zufällig vor Ort oder in Begleitung der beiden jungen Männer? Wollte der Schütze ihn treffen oder ist er Opfer eines Querschlägers geworden?«
Stöcker schob widerwillig einen Pappordner über den Tisch.
»Alles Wichtige, was wir über das Kind, die Originals, die 2155er und das Rosengård-Netzwerk haben, findet ihr hier.«
Nordh glaubte nicht eine Sekunde, dass das Material etwas taugte. Die Banden, die Stöcker erwähnte, umfassten insgesamt mehr als hundert Mitglieder, das unterstützende Umfeld aus Handlangern, Tippgebern oder Wegguckern nicht einmal mitgerechnet. Irgendwelche Informationen und Gerüchte über die Gangs zusammenzutragen, half niemandem, solange das Material nicht strukturiert und bewertet worden war. Und warum sollten die Muppets freiwillig die Kronjuwelen der Soko rausrücken? Sie hatten überhaupt kein Interesse daran, dass Karhuu und er den Fall lösten, während sie wie begossene Pudel danebenstanden, ganz egal, was die Polizeichefin angeordnet hatte. Stöcker hustete.
»Polizeilich oder beim Jugendamt auffällig geworden ist der Kleine nicht«, sagte Wallgren. »Es gibt keine verwandtschaftlichen Beziehungen zu El Hamadaoui oder Nasri. Das muss aber natürlich nichts heißen. Es gibt Zehnjährige, die schon rekrutiert wurden. Die Spurensicherung hat für heute Nachmittag einen Bericht zugesagt, der die Ergebnisse der ballistischen Untersuchungen enthalten wird.«
Erneutes Kichern. Die Frau hatte definitiv eine Schraube locker.
»Alles Weitere findet ihr in der Akte«, sagte Stöcker.
Dass ich nicht lache, dachte Nordh.
»Was sagen Rashids Eltern?«, fragte Karhuu.
»Es gibt nur einen alleinerziehenden Vater«, sagte Wallgren. Alleinerziehend. Nordh spürte bei den Worten einen Stich in der Brust. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, nicht richtig atmen zu können. Dann verflüchtigte es sich wieder. »Wir haben ihn noch nicht erreicht«, sagte Wallgren. »Er geht nicht ans Telefon und zu Hause war er gestern Nacht auch nicht.«
»Ich wette, ihr habt euch die Beine ausgerissen, um ihn zu informieren«, sagte Nordh kopfschüttelnd. »Das Kind ist seit mehr als sechzehn Stunden tot und der Vater weiß immer noch nicht Bescheid?«
»Wir kümmern uns darum.«
Wenigstens verkniff sie sich diesmal das Kichern.
»Vergesst es«, sagte Nordh. »Die Chance habt ihr vertan. Ihr habt Mellander ja gehört. Wir haben jetzt den Hut auf. Ergo: Wir kümmern uns um den Vater und das nähere Umfeld.«
»Und was ist mit uns?«, fragte Wallgren.
Nordh zuckte mit den Schultern.
»Wir könnten Hintergrundinformationen und eine Übersicht gebrauchen«, sagte Nordh. »Nicht diesen Spam-Ordner hier«, er tippte auf die Akte, »sondern alles Wichtige, was ihr über die Originals, die 2155er und alle anderen Gangs der Stadt zusammengetragen habt.«
Die Muppets standen auf.
»Eine Sache noch, Jon«, sagte Stöcker, während er seine Jacke von der Stuhllehne nahm. »Das mit deiner Frau tut mir leid.« Ein Lächeln umspielte seine blutleeren Lippen. »Carl-Johan natürlich auch.«
»Was war das denn gerade für ein seltsames Duo?«, fragte Karhuu, als Wallgren und Stöcker gegangen waren.
»Die Muppets. Waldorf und Statler, wie ich sie nenne, der Stolz der Soko Ganggewalt. Die beiden sind übrigens miteinander verheiratet. Wie du vielleicht bemerkt hast, hatte ich schon vorher mit ihnen zu tun. Sie waren bis vor einigen Jahren bei der Mordkommission. Wasserträger, haben es nie zum Kommissar beziehungsweise zur Kommissarin geschafft. Stöcker hat kein Händchen für Menschen, vielleicht ist das so ein Autismus-Ding. Oder er ist einfach nur ein misanthropes Arschgesicht. Und sie? Na ja, du hast sie ja erlebt.« Er drehte seinen Zeigefinger an der Schläfe. »Was nicht heißt, dass sie Dilettanten sind. Stöcker ist ein echter Aktenfresser. Wallgren kann Menschen zum Reden bringen, auch wenn man ihr das nicht zutraut. Vielleicht gerade, weil sie eine Schraube locker hat.« Er zuckte mit den Schultern. »Die Abneigung beruht auf Gegenseitigkeit. Es würde mich nicht wundern, wenn sie versuchen, uns Stöcke zwischen die Beine zu werfen. Das gilt wahrscheinlich für die ganze Soko, einschließlich des Chefs. Aus deren Sicht wildern wir in ihrem Revier.«
»Ein nettes Betriebsklima habt ihr hier.«
»Tja«, sagte er, »die berüchtigten fünfzehn Prozent. Der Druck auf dem Kessel ist hoch.«
Er schlug den Aktendeckel auf.
»Eine Frage hätte ich noch.«
Er drehte ihr den Kopf zu.
»Und zwar?«
Er hatte eine schorfige Strieme an der linken Wange, die sie erst jetzt entdeckte, offenbar hatte er sich beim Rasieren geschnitten. Es passte ins Gesamtbild eines Manns, den das Leben ein wenig aus der Bahn geworfen hatte. Sie rang mit sich. Einerseits ging sie diese private Sache nichts an, sie kannten sich ja kaum. Andererseits waren sie beide gezwungen, in kürzester Zeit Vertrauen aufzubauen, das brachte die Jobbeschreibung mit sich. In dem Umfeld, in dem sie sich bewegen würden, konnten Situationen auftreten, in denen dieses Vertrauen eine Frage von Leben und Tod war.
»Worauf hat dieser Stöcker angespielt, als er deine Frau und einen anderen Mann erwähnt hatte?«
Nordh drehte den Kopf und starrte vor sich. Er kratzte an dem dünnen Wundschorf an seiner Wange.
»Carl-Johan war mein langjähriger Teampartner«, sagte er schließlich. »Wir waren befreundet. Meine Frau und er hatten eine Affäre.«
»Oh. Das tut mir leid.«
Er zuckte mit den Schultern.
»That’s life.«
Einen Moment lang wirkte es so, als wollte er noch etwas sagen, aber es kam dann doch nichts mehr. Himmel, der arme Kerl. Das erklärte vielleicht sein leicht ramponiertes Äußeres. Wen nähme so eine Geschichte nicht mit?
»Okay, fangen wir mit Rashids Vater an?«, fragte sie. »Er wird sich ja kaum in Luft aufgelöst haben.«
Nordh blätterte in der Akte.
»Er wohnt gleich um die Ecke.«
Sie machten sich auf den Weg. Zu Fuß waren es keine fünf Minuten. Das Haus hatte sechs Stockwerke, die Eingangstür stand offen. Das Treppenhaus war offenbar kürzlich renoviert worden. Keine Tags oder Graffiti. Es roch nach frischer Farbe. Der Aufzug brachte sie in den vierten Stock. Nordh klingelte mehrfach, aber niemand öffnete. Sie versuchten es unter der Handynummer, die sie ebenfalls in der Akte fanden. Niemand nahm ab. Karhuu klopfte lautstark an die Tür. Keine Reaktion. Schließlich öffnete sich die Tür der Nachbarwohnung. Eine ältere Frau in einem Faltenrock trat heraus. Karhuu stellte ihren neuen Partner und sich vor.
»Polizei? Hat es mit dem Jungen zu tun, der gestern erschossen wurde? Ist es etwa der kleine Rashid?«
Karhuu nickte.
»Wir suchen seinen Vater.«
Die Lippen der Frau bebten. Sie hielt sich am Treppengeländer fest und kämpfte mit den Tränen.
»Ich habe es mir beinahe gedacht, denn ich höre ihn sonst jeden Morgen, wenn er die Wohnung verlässt. Das arme Kind.« Ihre Stimme brach. »Der arme Rashid.«
»Du kanntest den Jungen?«, fragte Nordh.
Sie nickte.