Der unerbittliche Gegner - Roman Voosen - E-Book
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Der unerbittliche Gegner E-Book

Roman Voosen

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Beschreibung

Fremdenangst, Fremdenhass – Mord in aufgeheizter Atmosphäre Tiefster Winter in Småland: Die Januartage in Südschweden sind kurz, dunkel und bitterkalt, als unter der Eisdecke des Toftasees der verstümmelte Körper einer Frau gefunden wird. Die beiden ungleichen Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss nehmen die Ermittlungen auf und bald zeigt sich, dass das Mordopfer nicht nur beste Beziehungen ins Växjöer Rathaus hatte, sondern ebenfalls ein gut gehütetes persönliches Geheimnis.Als wenige Tage später in den verschneiten Wäldern ein junger Familienvater heimtückisch getötet wird, stoßen Nyström und Forss auf ein komplexes Geflecht aus Lügen, Verrat und Gewalt und müssen sich nach und nach eingestehen, dass der Fall eine viel größere und bedrohlichere Dimension hat als zunächst angenommen.

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Seitenzahl: 542

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Roman Voosen / Kerstin Danielsson

Der unerbittliche Gegner

Ein Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Roman Voosen / Kerstin Danielsson

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Roman Voosen / Kerstin Danielsson

Roman Voosen, Jahrgang 1973, aufgewachsen in Papenburg, studierte und arbeitete in Bremen, Hamburg und Växjö.

Kerstin Signe Danielsson, Jahrgang 1983, geboren und aufgewachsen in Växjö, studierte und arbeitete in Deutschland und Schweden.

Sie leben und arbeiten gemeinsam im småländischen Växjö. Ihre Romane stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und werden auch in Schweden von der Presse gefeiert.

www.voosen-danielsson.de

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Über dieses Buch

Tiefster Winter in Småland: Die Januartage in Südschweden sind kurz, dunkel und bitterkalt, als unter der Eisdecke des Toftasees der verstümmelte Körper einer Frau gefunden wird. Die beiden ungleichen Kommissarinnen Ingrid Nyström und Stina Forss nehmen die Ermittlungen auf und bald zeigt sich, dass das Mordopfer nicht nur beste Beziehungen ins Växjöer Rathaus hatte, sondern ebenfalls ein gut gehütetes persönliches Geheimnis. Als wenige Tage später in den verschneiten Wäldern ein junger Familienvater heimtückisch getötet wird, stoßen Nyström und Forss auf ein komplexes Geflecht aus Lügen, Verrat und Gewalt und müssen sich nach und nach eingestehen, dass der Fall eine viel größere und bedrohlichere Dimension hat als zunächst angenommen.

 

»Haben Sie in Ihrem Schwedenkrimi-Herzen noch ein Plätzchen frei? Dann reservieren Sie das für die beiden neuen Ermittlerinnen Ingrid Nyström – erfahren, besonnen, frisch befördert – und Stina Foss – jung, heißblütig, soeben aus Berlin in der schwedischen Provinz eingetroffen.«

Brigitte

 

»Fesselnde Verwicklungen, interessante Hintergründe – was erwartet man mehr von einem guten Krimi?«

News

Inhaltsverzeichnis

Motto

Prolog

Schweden, heute

Montag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, einige Jahre zuvor

Dienstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, einige Jahre zuvor

Mittwoch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, einige Jahre zuvor

Donnerstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, einige Jahre zuvor

Freitag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo, einige Jahre zuvor

Samstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Im Nordosten der Demokratischen Republik Kongo

Montag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

In Zentral- und Nordafrika

Dienstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

In Nordafrika und auf Malta

Mittwoch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Schweden

Aus dem Chatprotokoll

19 Tage nach der Explosion, Montag

Einen Tag später, Dienstag

Epilog

Leseprobe »Tode, die wir sterben«

»Auf den Norden, wo wir machen, was wir wollen!«

David Peace, Red Riding Quartet

Prolog

Vom Meer her wehte ein feuchter, böiger Wind. Der Mann, der am Geländer der steinernen Brücke lehnte, die Stumholmen mit der zerklüfteten Küste von Blekinge verband, sog Luft ein und bleckte die Zähne, dann betastete er mit der Zungenspitze die Lippen. Er schmeckte Salz, Tang und den Hauch der Geschichte. Bereits König Gustav III. hatte hier gestanden und auf die schimmernden Lichter über dem Wasser geschaut. Auf die Inseln Möcklö und Östernäs, auf Sturkö und Drottningskär. Hatte den Horizont betrachtet, der irgendwo zwischen den Lichtern und Seezeichen der Schären in der Dunkelheit verschwand. Ein König, ein Kriegsherr. Ein Anführer wie er selbst. Ein Prickeln ging durch seinen muskulösen, austrainierten Körper. Dieser Moment war groß. Er zögerte ihn noch einen Wimpernschlag hinaus, spürte der Bedeutung nach, fühlte die Ergriffenheit.

Es war an der Zeit.

Dann zog er sich die Sturmmaske über das Gesicht und gab seinen Kameraden, die in dem Unimog warteten, ein Zeichen. Der Wagen fuhr an und rammte mit Wucht das gläserne Foyer des Marinemuseums. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall, Glas zersplitterte, Aluminium- und Stahlleisten schepperten und barsten. Eine Sirene begann zu heulen, erstarb aber kurz darauf wieder. Alles ging sehr schnell, sie hatten es oft genug trainiert. Nichts konnte sie aufhalten. Die Polizei würde mindestens neun Minuten brauchen, ihnen reichten sechseinhalb. Ruhigen Schrittes trat er durch den schartigen Eingang, den das Fahrzeug geschaffen hatte. Unter seinen Armeestiefeln knirschten Glasscherben. Während seine Männer vom Unimog sprangen und damit begannen, die mächtige blutrote Galionsfigur abzumontieren, die den Kriegsgott Thor verkörperte, ging er weiter durch das Foyer und die Ausstellungshallen, die Schiffsmodelle und historische Konstruktionszeichnungen der Festungsanlage Stumholmen zeigten. Was er wollte, lag dahinter. Zielstrebig marschierte er auf die Vitrine zu, zerschlug mit dem Schaft seiner schweren Taschenlampe die Scheibe, entfernte sorgfältig die Glasscherben und nahm den Gegenstand an sich. Deswegen war er gekommen: Der Kommandostab des Königs. Andächtig, fast zärtlich umschloss er den golden schimmernden Knauf. Unter dem eingravierten Wappen der Krone kreuzten sich zwei Kanonen. Der Stab, der viel schwerer war, als er vermutet hatte, war für den Krieg gemacht, nicht für den Frieden. Ihn schauderte vor Erregung. Bevor er sich umwandte und ging, legte er für einen Augenblick seine Hand auf die lebensgroße Büste von Gustav III., die in der zerschlagenen Vitrine stand. Auf das Herz des Königs, der Schwedens größte Seeschlacht gewonnen hatte. Das war mehr als zweihundert Jahre her. Es war an der Zeit, dass die doppelzüngige blaugelbe Kriegsflagge wieder gehisst wurde, dazu die rote, die Blutfahne, die Angriff signalisierte. Es war an der Zeit, dass ein Ruck durch das Land ging. Es war an der Zeit, dass eine neue Schlacht geschlagen wurde.

Es war an der Zeit.

Schweden, heute

Als Åsa Hylander am frühen Freitagabend nach Hause kam und in den Spiegel schaute, blickten ihr die Müdigkeit und Verspannung entgegen, die eine lange Arbeitswoche hinterlassen hatten. Wie Furchen in einem Acker, dachte sie, löste sich von ihrem Spiegelbild, ging ins Wohnzimmer, ließ sich auf der Couch nieder und schloss erschöpft die Augen. Einen merkwürdig intensiven Moment lang erschien das Bild eines Feldes, das gerade von einem Bauern bestellt wurde, vor ihrem inneren Auge. Über dem Pflug, den ein leuchtend grüner Traktor hinter sich herzog, flog ein Schwarm Möwen, aus dem sich immer wieder einzelne Vögel lösten und in die Ackerfurchen niederstießen. Eine Kindheitserinnerung? Aber woher kamen dann die Wasservögel? Das Dorf, in dem sie aufgewachsen war, lag viel zu weit vom Meer oder dem nächsten großen See entfernt. Sie verscheuchte die Gedanken und stellte eine Flasche guten Chardonnay in einen Kübel mit Eiswürfeln. Nachdem sie sich abgeschminkt und bequeme Sachen angezogen hatte, öffnete sie den Wein und schenkte sich ein großzügiges Glas ein. Wie immer genoss sie das mineralisch saure Zwicken der ersten Schlucke. Dann stellte sie das Glas zur Seite und ging nach draußen, um die Holzsauna anzuheizen, die hinter dem Haus direkt am Ufer des Toftasees stand. Ihre Clogs hinterließen Abdrücke in der frischen Schneedecke. Der Winter war bisher wechselhaft gewesen. Auf einen viel zu warmen November waren ein bitterkalter Dezember und Januar gefolgt. Aus dem weichen Schneematsch auf den Straßen war ein spiegelglatter, scharfkantiger Untergrund geworden, der durch den erneuten Schneefall noch heimtückischer geworden war. Am Morgen war sie an gleich zwei Autounfällen vorbeigefahren. Vorsichtig stakste sie durch den verschneiten Garten zur Sauna. Sie feuerte den Ofen an. Eine knappe Stunde würde die Sauna zum Aufheizen brauchen. Als Nächstes kontrollierte sie das Abtauchloch im See, das ihr Nachbar Nisse für sie mit einer Motorsäge ins Eis geschnitten hatte, wohlgemerkt zufällig genau so platziert, dass er die Stelle von seinem Schlafzimmerfenster aus einsehen konnte. Åsa wusste von dem Fernglas hinter der Fensterscheibe, aber es machte ihr wenig aus, wenn der alleinstehende alte Sack sie heimlich begaffte. Sollte er sich doch ruhig an ihrem Anblick ergötzen. Ehrlich gesagt genoss sie die Vorstellung sogar ein wenig, bedeutete es doch, dass ihr neunundvierzig Jahre alter Körper noch ganz gut in Schuss war. Auf dem Loch im Eis hatte sich seit ihrem letzten Saunagang eine dünne Eisschicht gebildet, die sie ohne große Mühe mit dem Stiel einer Harke zerstieß. Sie füllte den Aufgussbottich mit klarem Seewasser. Sicherheitshalber überprüfte sie das etwa zehn Meter lange Seil, das um einen Baumstamm am Ufer geknotet war. Das andere Ende verschwand im Eisloch, sodass man sich nach dem Abtauchen leicht wieder herausziehen konnte und sich nicht an den glatten Kanten der Eisdecke hochstemmen musste. Das Seil saß, wie es sollte. Sicherheit ging vor, das hatte sie früh gelernt. Wenn sie zum Beispiel einen Spaziergang auf dem zugefrorenen See unternahm, hatte sie immer zwei lange Nägel in der Jackentasche, um sich im Fall der Fälle, wenn sie tatsächlich einmal einbrechen sollte, aus der Bruchstelle ziehen zu können, diese Vorsichtsmaßnahme hatte sie schon als kleines Mädchen von ihrem Vater eingebläut bekommen, als sie auf dem Weiher hinter ihrem Haus Schlittschuh gelaufen war.

Bevor sie wieder zu ihrem Chardonnay zurückkehrte, warf sie einen Blick zu Nisses Haus hinüber. Alle Fenster waren dunkel. Entweder war er nicht da oder sie sollte glauben, dass er nicht zu Hause wäre. Sie lächelte in sich hinein. Wenn er unbedingt wollte, sollte der alte Spanner seine Show bekommen. Drinnen machte sie es sich mit dem Wein und einem Buch auf dem Sofa bequem. Der Roman handelte von den erotischen Eskapaden einer gelangweilten Mätresse am französischen Hof des 17. Jahrhunderts. Er war nicht besonders gut geschrieben, fand sie, aber trotzdem blieb sie seit 350 Seiten dabei. Zwischendurch telefonierte sie kurz und ging zweimal nach draußen, um in der Sauna Holz nachzulegen. Nach einer knappen Stunde und einem zweiten halb vollen Weinglas war die Sauna so weit. Das Thermometer zeigte vierundachtzig Grad. Als Aufgussduft wählte sie etwas Warmes, Waldiges. Das Wasser zischte, als sie es auf die heißen Steine goss. Irgendwie passte das: draußen, hinter der getönten Scheibe die weiße Weite des zugefrorenen und schneebedeckten Sees, hier drinnen der eindringliche Birkenduft. Ein Teil des Aufgusswassers kondensierte auf ihrer Haut und vermischte sich mit ihrem Schweiß. Sie streckte und räkelte sich. Das unterschwellige Frösteln, das sie den ganzen Tag begleitet hatte, verschwand, ihre Füße wurden warm, die Brustwarzen brannten. Gab es ein besseres Gefühl?

Sie harrte so lange in der angenehm pochenden Hitze aus, bis ihr das Atmen schwerfiel. Draußen umfing sie die Winterluft wie kühler Seidenstoff. Ein gutes, ein körperliches Gefühl. Sie streckte die Arme von sich und atmete tief ein und aus. Dann schlüpfte sie in die Clogs, zog sich einen Bademantel über und trat auf das Eis hinaus. Obwohl der Himmel bedeckt war, schien er in der Dunkelheit zu schimmern. Vereinzelt fielen Schneeflocken herab, am anderen Ufer glommen Lichter. Vor dem Eisloch zog sie den Bademantel aus und bückte sich mit durchgedrückten Beinen nach dem Seil. Ihr runder, straffer Po zeigte in die Richtung von Nisses Haus. Mit dem Seil in der Hand kickte sie die Clogs weg und trat auf die andere Seite des Lochs. Als wäre ihr plötzlich eiskalt, zitterte sie mit Absicht so übertrieben, dass ihre Brüste wippten.

Na, Nisse, wie gefällt dir das, du alter Bock?

Sie zählte bis drei, dann hüpfte sie mit einem großen Platscher in das eisige Wasser. Die Kälte schnappte und biss nach ihr. In alle Körperteile gleichzeitig. Ihr Herz raste. Sie tauchte mit dem Kopf wieder auf, rang nach Luft und tastete nach dem Seil. Da war es. Sie umgriff es mit beiden Händen und zog sich so weit hoch, bis sie ein Bein auf die Eiskante schwingen und sich seitwärts herausstemmen konnte. Ihre Haut prickelte. Wie gut das tat! Fest schlang sie den Bademantel um sich, schlüpfte zurück in die Clogs und schlitterte beschwingt zurück ans Ufer. Ihr Kreislauf arbeitete auf Hochtouren. Vor ihren Augen flimmerte die Luft. So, stellte sie sich vor, musste man sich fühlen, wenn man Drogen genommen hatte. Aber dies hier war viel besser. Kurz bevor sich ihr flirrender Blick wieder klärte, sah sie etwas, nein, sie meinte etwas gesehen zu haben, denn im nächsten Moment war es schon wieder verschwunden. Oder? Ein Augenpaar im schwarzen Ufergebüsch. Irre, was das Gehirn einem für Streiche spielen konnte, wenn es mit körpereigenen Endorphinen geflutet wurde! Sie blinzelte noch einmal, fokussierte den Busch. Nein, da war wirklich nichts.

Der zweite Saunagang war fast noch besser als der erste. Sie wurde eins mit der Hitze. Die Verspannungen, die sich im Laufe der vergangenen Tage angesammelt hatten, lösten sich. Bevor sie wieder nach draußen ging, um sich abzukühlen, legte sie noch einmal Holz nach. Sie war so sehr im Einklang mit sich, dass sie keinen Gedanken mehr an ihren Nachbarn verschwendete. Sie ließ sich ins eisige Wasser plumpsen. Tauchte unter. Griff nach dem Seil, zog sich hoch und stemmte sich heraus. Die körperliche Sensation wiederholte sich tatsächlich. Besser als Sex, dachte sie, nein, auf eine andere Art aufregend, anregend, denn wer sagte denn, dass das eine das andere ausschließen musste? Ihr Körper prickelte. Sie stand in einem Bademantel im kalten Wind auf dem Eis und fühlte sich dennoch gut und warm. Heiß sogar. Vielleicht sollte sie es später wagen? Der Versuchung nachgeben und noch einmal die Nummer wählen? Ihn bitten herzukommen? Vielleicht wäre das der perfekte Abschluss für diesen Abend? Sie ging zurück zum Ufer und wog das Für und Wider ab. Den Büschen schenkte sie nur einen knappen Blick. Von einem Augenpaar war keine Spur. Zurück in der Sauna, vertraute sie sich zum dritten Mal der Hitze an. Wie gut das tat! Sie kniff sich in die Brüste und streichelte ihren Schritt. Womöglich war sie sich an diesem Abend selbst genug. Als sie schließlich kam, schrie sie ihre Lust hemmungslos in die heiße Luft. Ihr Puls raste, kurzatmig öffnete sie die Tür und taumelte glückstrunken in die Kälte hinaus. Göttinnen mussten sich so fühlen! Übermütig sprang sie zum dritten Mal in das Eisloch. Tauchte unter und wieder auf.

Wischte sich Wasser aus dem Gesicht.

Tastete nach dem Seil.

Nur:

Da war kein Seil.

Das Seil war weg.

Warum war das Seil nicht da?

Auf der Stelle schwimmend fasste sie nach dem Rand der Eiskante und hielt sich daran fest. Die Axt, die auf ihre Hand niedersauste, schien aus dem Nichts zu kommen. Noch bevor sie irgendeinen Schmerz spürte, sah sie es.

Waren das ihre Finger, die da auf dem Eis lagen?

Die Axt fuhr ein zweites Mal herab, diesmal auf ihre andere Hand.

Sie hörte sich schreien. Sie starrte die Gestalt an, die sich über ihr aufgebaut hatte. In diesem Moment begriff sie, dass sie keine Chance hatte. Der dritte Hieb spaltete ihren Schädel. Ihr lebloser Körper versank wie ihr Bewusstsein in der Dunkelheit.

Zurück blieben nur die Finger auf dem Eis.

Montag

1

Hauptkommissarin Ingrid Nyström fühlte sich unwohl. Ihr Wollpullover kratzte am Hals und an den breiten Schultern; der Gummisaum der Unterwäsche schnitt unangenehm in ihre Hüftpolster; Schweißtropfen suchten sich ihren Weg vom hinteren Haaransatz bis hinunter zum Steißbein. Es gab wenig, was ihr so sehr widerstrebte, wie im Mittelpunkt zu stehen. Sie ballte die rechte Hand zur Faust, hielt sie sich vor den Mund und räusperte sich. Eine überflüssige Geste, wie sie sofort registrierte, denn die Aufmerksamkeit aller Anwesenden ruhte bereits längst auf ihr.

Wie auch nicht?

Stand sie doch mit einem Zeigestock in der Hand auf einem Podest, eingerahmt vom gleißenden Lichtquadrat, das der Tageslichtprojektor auf die Rückwand des Hörsaals warf. Rund zwei Dutzend angehende Polizisten und Studenten der Kriminalistik sahen sie an. Sie räusperte sich ein zweites Mal. Als ihr vor einigen Jahren plötzlich und unerwartet die Leitung der Abteilung für Gewaltverbrechen des Bezirks Kronoberg übertragen worden war, hatte sie außer Acht gelassen, dass man von einer Führungskraft auch gelegentliche Vorträge an der Hochschule erwartete, um die Ausbildung der Polizeianwärter mit Lehrbeispielen aus der Praxis zu bereichern. Nachdem sie sich lange mit vorgeschobenen Gründen und immer absurder klingenden Ausreden davor gedrückt hatte, hatte sie schließlich dem Drängen ihres Vorgesetzten nachgegeben und in tagelanger Kleinarbeit eine Powerpoint-Präsentation über einen spektakulären Mord erstellt, der die Region vor einigen Jahren erschüttert hatte und zu dessen Aufklärung ihr Team und sie maßgeblich beigetragen hatten. Nach einer mehr oder weniger schlaflosen Nacht hatte sie den Vortrag jedoch am Morgen in letzter Minute verworfen und stattdessen einige aktuelle Fälle zur Hand genommen. Schließlich ging es an der Hochschule nicht um ihre Selbstinszenierung als brillante Ermittlerin, sondern darum, den angehenden Polizisten Praxisnähe zu vermitteln. Ein aufsehenerregender Mord kam selten vor; Fälle, wie die, die sie herausgesucht hatte, passierten dagegen in ihrem Beruf häufig.

»Guten Morgen«, presste sie hervor und war sich im selben Moment unsicher, ob sie die Seminarteilnehmer nicht bereits vor einer halben Minute begrüßt hatte.

»Ich bin Hauptkommissarin Ingrid Nyström. Schön, dass ihr so zahlreich erschienen seid.« Sie fummelte eine der in letzter Sekunde hektisch zusammenkopierten Folien aus ihren Unterlagen, legte sie auf den altmodischen, eingestaubten Tageslichtprojektor, den ihr ein junger Angestellter der Hochschule auf ihr Bitten hin schulterzuckend bereitgestellt hatte, und trat einige Schritte zur Seite. Sie registrierte mit Erleichterung, wie die musternden Blicke von ihr abließen und sich stattdessen dem Foto zuwandten, das nun metergroß auf der Leinwand hinter ihr zu sehen war. Es war eins der Bilder, die so schrecklich waren, dass man es kaum aushielt, hinzuschauen. Andererseits wusste sie, dass man auch nicht wegblicken konnte. Sie kannte die seltsame Ambivalenz solcher Bilder, denn einer Kriminalpolizistin begegnet die Brutalität oft. Ein kaum unterdrücktes Raunen ging durch die Ränge. Irgendjemand kicherte, eine typische paradoxe Reaktion von Menschen, die einen solchen Anblick nicht gewohnt waren. Man will das, was man sieht, nicht wahrhaben, dachte Nyström. Und doch war das Foto echt.

»Ich möchte meine Vorlesung über vermeintliche Gewaltverbrechen mit einigen aktuellen Beispielen bebildern.«

Nun, wo die Aufmerksamkeit der Studenten auf den aufgeblähten, entstellten Leichnam gerichtet war, gewann Nyströms Stimme an Ruhe und Kraft. Ihrer Stimme vertraute sie, das war schon immer so gewesen, ihrer weichen, aber durchsetzungsstarken Altstimme, geformt von dreißig Jahren Kirchenchor.

»Die Frage, mit der wir uns heute beschäftigen wollen, mag zunächst banal klingen, aber im Alltag wird sie für euch von entscheidender Bedeutung sein, denn häufig ist sie gar nicht leicht zu beantworten: Ist ein Todesfall auf ein Verbrechen zurückzuführen oder ist die Ursache natürlich? Haben wir es mit einer Gewalttat zu tun oder mit einem Unfall? Mord, Totschlag, fahrlässige Tötung oder doch ein unglücklicher Schicksalsschlag?«

Sie ließ ihre Worte einen Augenblick wirken.

»Auf dem Foto hier seht ihr den Leichnam eines jungen Mannes, der vor etwa drei Wochen auf einer kleinen Vogelinsel am südwestlichen Zipfel des Helgasees gefunden wurde. Entdeckt haben ihn zwei Skilangläufer, die auf dem zugefrorenen See unterwegs waren und auf einem Felsen eine Pause eingelegt haben. Hätten sie nicht am Ende ihrer Rast den letzten Schluck von ihrem Tee aus der Thermoskanne weggeschüttet, wäre der schneebedeckte Tote vermutlich erst Monate später gefunden worden.« Wieder ging ein Raunen durch den Raum, diesmal lauter. Nyström sah eine junge Frau in der ersten Reihe, die sich bestürzt die Hand vor den Mund hielt. Eine verständliche Reaktion. Die beiden Skifahrer hatten anschließend psychologisch betreut werden müssen. Eine andere Studentin hob die Hand.

»Ja, bitte.«

»Warum hat der Mann kein Gesicht mehr?«

»Gute Frage. Wer hat eine Vermutung?«

»Es wurde ihm weggeschnitten?«, schlug jemand vor.

Nyström schüttelte den Kopf.

»Womöglich ein Bootsunfall«, sagte ein junger Uniformierter mit rötlichen Haaren. »Er könnte ins Wasser gefallen sein und dann von einem Motorboot überfahren. Das würde die massiven Gesichtsverletzungen erklären. Außerdem sieht es aus, als sei die Leiche lange im Wasser gewesen.«

»Gute Schlussfolgerungen«, lobte Nyström. »Das Letzte ist richtig, der Tote war lange im Wasser. Aber passiert ist etwas anderes.«

»Dann waren es Fische, die das Gesicht so verwüstet haben«, sagte eine Studentin mit einer auffälligen Brille.

»Richtig.« Nystöm nickte. »Davon gehen wir auch aus. Was fällt denn noch auf?«

»Die Hautfarbe«, sagte eine dunkelhäutige Uniformierte. »Der Tote ist ein Farbiger. Vielleicht ein Einwanderer aus Somalia oder Eritrea?«

»Ja und nein«, antwortete Nyström. »Natürlich die Hautfarbe. Aber er ist kein Migrant aus Somalia und kommt auch nicht aus Eritrea. Den Papieren nach, die der Mann bei sich führte, ist er achtzehn Jahre alt und stammt aus der Demokratischen Republik Kongo.«

»Wieso ist?«, fragte der Rothaarige. »Wieso stammt?«

»Wie bitte?«

»Ich meine, warum benutzt die Polizei in solchen Fällen immer Präsens, warum benutzt man die Gegenwartsform, wenn er doch längst tot ist?«

Nyström zuckte mit den Schultern.

»Darüber habe ich ehrlich gesagt noch nicht nachgedacht. Respekt vor den Toten wahrscheinlich.« Oder nur eine unreflektierte Angewohnheit, dachte sie, typische Polizeisprache, so wie Zapfen Blutabnahme bei Betrunkenen hieß, oder wie mit Blauem Salon die Ausnüchterungszelle gemeint war. »Aber lasst uns zu der Leitfrage zurückkehren«, forderte sie die Anwesenden auf. »Gewaltverbrechen? Selbstmord? Unfall? Womit haben wir es hier zu tun?«

Sie legte nacheinander weitere Folien auf. Fotos von der Autopsie. Einen Auszug aus dem Autopsiebericht, in dem von einer vor Langem verheilten Schussverletzung in der Brust, einem schweren Schädeltrauma sowie massiven inneren Verletzungen und Brüchen die Rede war. Eine Karte, auf der der Fundort eingetragen war. Dinge, die der Tote bei sich gehabt hatte: einen Kunststoffzylinder, in dem sich ein Kinderausweis befunden hatte, eine Rolle Geldscheine, etwa dreihundert amerikanische Dollar und siebenhundert Euro. Ein Taschenmesser. Ein einfaches Klapphandy. Eine Telefonkarte mit französischer Aufschrift.

Die Studenten diskutierten und entwickelten Theorien. Ein Streit unter Einwanderern. Eine rassistisch motivierte Tat. Ein verunglückter afrikanischer Angeltourist. Als Nyström merkte, dass der Ernst schwand, löste sie das Rätsel auf.

»Wir selbst sind tatsächlich erst nach einer guten Woche darauf gekommen.« Sie tippte mit der Spitze ihres Zeigestocks auf den Fundort. »Schaut mal, was hier in der Nähe ist.«

»Öjaby.«

»Die Schlossruine.«

»Der Flughafen.«

»Bingo.« Nyström lächelte schmal. »Der Flughafen. Der Mann hat sich im Fahrwerkschacht eines Passagierflugzeugs versteckt. Beim Landeanflug ist er aus einer Höhe von fünfzig bis hundert Metern aus dem sich öffnenden Schacht aufs Wasser gefallen, dabei hat er sich das Genick und mehrere andere Knochen gebrochen. Passiert ist das im August des vergangenen Jahres. Der Leichnam muss eine ganze Zeit lang im See umhergetrieben sein, bevor er auf der Vogelinsel angeschwemmt worden ist. Der Helgasee ist immerhin fünfzig Quadratmeter groß. Dann folgten Frost und Schnee und schließlich zwei Langläufer. Für uns bestand die entscheidende Ermittlungsarbeit vor allem aus Telefonaten und E-Mails. Wir konnten schließlich herausfinden, dass er im Sommer beim Grenzübertritt zwischen Algerien und Libyen registriert worden war. Von der libyschen Küste aus muss er mithilfe eines Flüchtlingsboots nach Malta gekommen sein, wo es ihm gelungen ist, als blinder Passagier in das Fahrwerk einer Chartermaschine nach Växjö zu gelangen. Bei den Wartungsarbeiten an dem Airbus A320 wurde dort eine Schlafsackhülle gefunden. Ähnliche Vorfälle gab es in letzter Zeit häufiger. So sind allein in London zwei solcher tragischen Stürze bekannt, ebenfalls mit tödlichem Ausgang, und in einer Maschine aus Südafrika wurde nach der Landung in Heathrow ein erfrorener Mann im Fahrwerk gefunden. Die Überlebenschance ist minimal, was vor allem an den niedrigen Temperaturen und dem geringen Sauerstoffgehalt liegt. Die Bedingungen sind so extrem, dass man beinahe zwangsläufig bewusstlos wird. Der Körper schaltet einfach ab. Wahrscheinlich ist ihm genau das zum Verhängnis geworden.«

»Was für ein schrecklicher Tod«, flüsterte eine Studentin.

»Den Schlafsack, mit dem sich der junge Mann vor den Temperaturen schützen wollte, oder anderes Gepäck haben wir übrigens nicht gefunden. Vielleicht taucht noch etwas auf, wenn der Schnee im Frühjahr geschmolzen ist. Festhalten kann man auf jeden Fall, dass der Tod des jungen Manns eine zwar sehr traurige, aber natürliche Ursache hat.«

Auch wenn Tragik und Leid in einer polizeilichen Untersuchung leider keine ausschlaggebenden Faktoren sind, dachte Nyström. Sie trank einen Schluck aus einer Wasserflasche, die sie bereitgestellt hatte.

»Kommen wir zu einem anderen Beispiel.«

Sie legte eine neue Folie auf den Projektor. Das Foto zeigte einen unbekleideten, älteren Mann in einer Badewanne, die Augen geschlossen.

»Henning S., zweiundsechzig Jahre alt, Mechaniker, verheiratet. Zwei erwachsene Kinder, fünf Enkel. Während seine Frau am Wochenende auf einer Tagung war, hat er sich im Badezimmer eingeschlossen, die Lüftung mit Watte zugestopft, den Spalt unter der Tür mit einem feuchten Handtuch abgedichtet und sogar den Überlauf im Waschbecken mit Silikon versiegelt. Dann hat er drei Einweggrills, diese Aluminiumschalen, gefüllt mit Grillkohle und einem Brandbeschleuniger, angezündet und sich in die Wanne gesetzt. Die Obduktion hat eine Kohlenmonoxid-Vergiftung ergeben. Außerdem wurden Reste eines starken Schlaf- und Beruhigungsmittels in seinem Blut gefunden. Suizidwillige nehmen so etwas häufig gegen die Angst.«

»Er sieht so lebendig aus«, sagte jemand. »Er hat ganz rosige Wangen.«

»Das ist typisch für solche Vergiftungen. Das Kohlenmonoxid dockt viel leichter an den roten Blutkörperchen an als Sauerstoff. Das macht das geruchlose und unsichtbare Gas so heimtückisch. Viele Kollegen, Sanitäter und Notärzte tragen mittlerweile Kohlenmonoxid-Melder bei sich, um sich nicht selbst zu gefährden. Es gibt europaweit eine regelrechte Welle ähnlicher Fälle. Wenn man nach zuverlässigen Methoden sucht, um Selbstmord zu begehen, sind die Einweggrills mittlerweile das Erste, was Suchmaschinen im Internet anzeigen. Im Sommer haben sich auf diese Weise in Finnland drei schwangere Teenager das Leben genommen, ein Gruppensuizid.«

»Aber dann ist der Fall doch klar«, bemerkte ein junger Mann mit Bart. »Ein Selbstmord.«

»Davon sind wir auch ausgegangen. Alles spricht dafür. Aber eine, nun ja, sehr hartnäckige Kollegin, die lange in der Mordkommission einer Großstadt gearbeitet hat, hat auf einer Rekonstruktion bestanden. Wir haben also vor Ort versucht, das Geschehen anhand aller uns zur Verfügung stehenden Anhaltspunkte nachzustellen: haben identische Einweggrills besorgt, ein Kollege von der Feuerwehr hat sich bis auf eine Badehose unbekleidet mit Atemmaske und Messgerät in dem Badezimmer eingeschlossen, sich in die Wanne gesetzt und dann …«, Nyström lächelte knapp. »… Und dann stellte sich heraus, dass die Streichhölzer fehlten. Oder ein Feuerzeug. Irgendetwas, um die Grills anzuzünden. Im Bad war nichts dergleichen aufgefunden worden, auch nicht in der abgelegten Kleidung des Toten. Wir haben sogar die Grillasche im kriminaltechnischen Labor in Linköping untersuchen lassen, aber auch dort: nichts. Keine Spuren verbrannter Streichhölzer oder eines Feuerzeugs. Wir wurden misstrauisch. Hatten wir etwas übersehen? Konnte der Mann diese Dinge in der Toilette weggespült haben? Aber wozu? Wir standen vor einem Rätsel. Schließlich haben wir uns das Alibi der Ehefrau genauer angeschaut. Die Ergotherapeutin Barbro S. war zum Tatzeitpunkt nachweislich auf einer Fachtagung in Göteborg gewesen, allerdings gab es ein Zeitfenster von neun Stunden, von Samstagabend bis Sonntagmorgen, in dem niemand die Anwesenheit der Frau bestätigen konnte, was an sich natürlich nichts bedeuten musste, es war schließlich Schlafenszeit. Als wir die Zeugen dann intensiver befragt haben, konnten sich einige Tagungsgäste daran erinnern, dass die Frau bei mehreren Gelegenheiten in intensive Gespräche mit einem anderen Teilnehmer verwickelt gewesen war. Es stellte sich heraus, dass dieser Mann ein Kollege von ihr war, der ebenfalls aus Växjö stammte. In einem langen Verhör ist der Mann schließlich eingebrochen. Er hat zugegeben, seit Jahren eine Liebesbeziehung mit seiner Kollegin zu haben. Gemeinsam haben sie den Mord geplant und ausgeführt. Sie sind nachts von Göteborg nach Växjö gefahren, wo sie ihn in einem komaartigen Tiefschlaf aufgefunden haben. Barbro S. hatte ihrem Mann – wie immer, wenn sie unterwegs war – Essen vorgekocht. In diesem Fall eine mit einem starken Beruhigungsmittel versetzte Erbsensuppe. Der Rest war denkbar einfach. Sie haben den Ehemann ausgezogen, gemeinsam ins Badezimmer geschleppt und in die Wanne gewuchtet. Dann haben sie das Bad präpariert und die Grills angezündet. Hätten sie in ihrer Unachtsamkeit nicht vergessen, das Feuerzeug einfach im Bad liegen zu lassen, hätte höchstwahrscheinlich niemand jemals ihre Tat bemerkt. Barbro S. war es als Raucherin einfach gewohnt, immer ihr Feuerzeug einzustecken. Ein Reflex, wie sie uns später in ihrem Geständnis erklärt hat.« Nyström legte ein Foto des Feuerzeugs auf den Projektor. Ein billiges Plastikfeuerzeug, auf dem ein Korb mit Katzenjungen abgebildet war. »So wurde ihr Laster schließlich zu ihrem Verhängnis.«

»Wie kann man nur so ein Feuerzeug für einen Mord benutzen?«, fragte die junge Frau mit der extravaganten Brille.

»Hitler war auch Tierfreund und Vegetarier«, antwortete ihr der Bartträger.

Mehrere Leute lachten.

Nyström schaltete den Projektor aus. 45 Minuten waren im Nu verflogen. Sie hatte eigentlich noch zwei weitere Fälle besprechen wollen, aber die mussten wohl bis zum nächsten Mal warten. Obwohl sie ihren kratzigen Pullover durchgeschwitzt hatte, musste sie sich eingestehen, dass es ihr sogar ein wenig Spaß gemacht hatte. Sie räusperte sich ein letztes Mal.

»Wir sind mit unserer Zeit bereits am Ende. Zum Abschluss möchte ich euch noch eine Sache mit auf den Weg geben, die mir sehr am Herzen liegt. Ich komme gerade jetzt darauf, weil es noch keine vier Wochen her ist, genauer gesagt war es am Luciafest, am 13. Dezember, als sich hier in Växjö ein schlimmer und vollkommen unnötiger Unfall ereignet hat, ein Unfall wie es ihn vorher schon oft gegeben hat und wie es ihn wahrscheinlich noch häufig geben wird. Die Statistik sagt, dass allein in Schweden jährlich zehn bis zwanzig Verkehrsteilnehmer auf diese Weise ums Leben kommen. Ein junger Mann in eurem Alter wurde auf dem Fahrrad von einem Auto erfasst und dabei tödlich verletzt. Ursachen? Erstens: ein rücksichtsloser, unvorsichtiger Autofahrer. Zweitens: Es war dunkel. Drittens: Das Fahrrad hatte kein Licht. Und Viertens und am wichtigsten: Der Radfahrer war von Kopf bis Fuß dunkel gekleidet. Schuhe, Kleid, Jacke: alles dunkelblau oder schwarz. Genau wie eure Uniformen. Was lernen wir daraus?«

»Niemals mit dem Fahrrad auf Streife gehen!«, antwortete der Scherzkeks mit dem Bart, aber diesmal lachte niemand.

»Zieht da draußen um Gottes willen eure Sicherheitsjacken mit den Reflektoren an!«, mahnte Nyström eindringlich. »Das kann euer Leben retten, vor allen Dingen zu dieser Jahreszeit.«

Während die jungen Leute aufstanden, Stühle rückten und miteinander redeten, räumte sie ihre Unterlagen zusammen und sortierte ihre Folien. Sie war nicht völlig unzufrieden mit sich. Auch wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr Appell nur von wenigen mit dem gebührenden Ernst aufgenommen worden war, war ihr Gesamteindruck positiv. Falls sie sich nicht völlig täuschte, hatten die Polizeianwärter und Studenten ihren Vortrag größtenteils mit Interesse verfolgt. Als sie ihre Sachen in ihrem Lederbeutel, ihrem ständigen Begleiter, den sie anstatt einer Handtasche bei sich trug, verstaut hatte und aufblickte, standen zwei junge Frauen vor ihr. Die mit der auffälligen Brille und eine sehr hübsche, mit einem dunklen Teint.

»Interessanter Vortrag«, sagte die Brille.

»Vielen Dank! Habt ihr noch eine Frage?«

»Es geht eher um eine Anmerkung«, sagte die Hübsche gedehnt.

»Einen Hinweis unsererseits«, sagte die Brille. »Bezüglich der Auswahl deiner Beispiele.«

»Meine Bespiele …?«

»… sind strukturell rassistisch«, ergänzte die Brille.

»Strukturell …?«

»Der farbige Mann aus dem Kongo ist in deinem Beispiel das Opfer seiner eigenen Dummheit, während zufälligerweise der heteronormative weiße Mann Opfer eines heimtückischen Verbrechens wird«, erklärte die Hübsche.

»Heteronormativ?«, wiederholte Nyström. Sie war sprachlos. Was sollte das Wort überhaupt bedeuten?

»Denk mal drüber nach!«, empfahl die Brille. Dann drehten sich die beiden um und marschierten auf den Ausgang zu.

»Aber die Fälle kommen doch aus dem echten Leben!«, wollte Nyström ihnen hinterherrufen, doch im selben Augenblick zog ihr brummendes Handy ihre Aufmerksamkeit auf sich.

2

Kommissarin Stina Forss ließ ihren Blick vom Beifahrersitz aus über die verschneite Landschaft gleiten. Obwohl es fast zwölf war, die hellste Stunde dieses kurzen, blassen Januartags, war die Sonne nicht mehr als ein diffuser grünlicher Aquarellklecks, der über den Tannenspitzen auf den grafitgrauen Himmel gepinselt worden war. Links und rechts der Landstraße türmten sich Wälle aus schmutzigem Schnee. Die glatte Fahrbahn hielt ihren Kollegen Lars »Lasse« Knutsson nicht davon ab, seinen schweren Pick-up-Truck mit hoher Geschwindigkeit über die L23 zu jagen. Der bärenhafte, meistens aber sehr sanftmütige Knutsson wirkte angespannt. Forss vermutete, dass dies daran lag, dass er hungrig war. Und wahrscheinlich auch genervt, genau wie sie selbst. Sie befanden sich auf dem Rückweg von einer unerquicklichen Zeugenbefragung, wegen eines Falls von Brandstiftung in einer Erstaufnahmestelle für Asylbewerber, die sich unnötig in die Länge gezogen hatte. Was für fremdenfeindliche Arschlöcher, dachte Forss, die nichts Besseres zu tun hatten, als traumatisierten Bürgerkriegsflüchtlingen das Dach über dem Kopf anzuzünden. Der traurige Vorfall war nur einer von mehreren in der Region Kronoberg. Landesweit betrachtet sah das Ganze noch viel schlimmer aus. Sicher, der Flüchtlingsstrom, der sich im vergangenen Jahr einen Weg aus Syrien und Irak, Afghanistan und einigen afrikanischen Staaten über Südeuropa nach Deutschland und durch Dänemark bis nach Schweden gebahnt hatte, stellte die Städte und Kommunen auf eine gewaltige Belastungsprobe. Überforderung war ein Wort, das man in diesen Tagen oft zu hören bekam, von den verantwortlichen Behörden bis zu den Lokalpolitikern, von den Kollegen bis zu den Morgennachrichten im Radio. Aber man wurde der vielen Schwierigkeiten und Probleme doch nicht dadurch Herr, dass man seinen Ängsten und Sorgen mit einem Benzinkanister und einer Fackel in der Hand Ausdruck verlieh! Es gab wenig, was Forss so erbärmlich und feige fand wie anonyme Brandstifter, die, von dem falschen und anmaßenden Gefühl getragen, eine schweigende Mehrheit zu vertreten, das Leben Unschuldiger gefährdeten und zu Mord und Todschlag aufhetzten.

Auf ihre Empörung reagierte ihr Magen mit einem Knurren. Außer einem Kaffee und etwas Müsli hatte sie an diesem Tag noch nichts zu sich genommen.

»Cheeseburger?«, schlug sie vor.

Im Gestrüpp von Knutssons Vollbart formte sich ein Lächeln.

»Bei MAX haben sie seit Neuestem Brioche-Brot«, sagte er.

Forss nickte. Dann war das also abgemacht. Die Konversationen zwischen dem zwanzig Jahre älteren Knutsson und ihr waren meistens sehr knapp, trotzdem mochte sie ihn. Wenn sie genauer darüber nachdachte, hatte sich diese kumpelhafte Sympathie nach dem Tod ihres Vaters entwickelt. Wie ihr Therapeut das wohl gedeutet hätte? Doch sie hatte ihre Therapie abgebrochen, als sie vor einigen Jahren aus Berlin nach Schweden, in das Land ihrer Kindheit, zurückgekehrt war, um sich um ihren kranken Vater zu kümmern. Nun war Kjell Forss seit über einem Jahr tot, und sie war immer noch hier, in Småland, in der Provinz, in diesem weitläufigen, aber manchmal doch so eng und genormt wirkenden Land, in dem sich so viel um Familie und Kinder, um Gesundheit und Sport, um die richtige Ernährung und ein schönes Zuhause zu drehen schien. Dinge, die ihr immer ziemlich egal gewesen waren. Was sie neuerdings manchmal erschreckte, war, dass sie sich allmählich anzupassen schien. Dass sie sich diese Spießergedanken langsam, aber sicher zu eigen machte. Das kleine Haus am See in der Nähe von Väckelsång, das sie von ihrem Vater geerbt hatte, war ihr ein Zuhause geworden. Sie joggte jeden zweiten Tag und nahm an Nahkampfkursen teil. Sie achtete einigermaßen auf ihre Ernährung, jedenfalls wenn es nicht ausnahmsweise zu MAX ging. Nur was das größte und in diesem Land offenbar wichtigste Thema anging, Familie und Kinder … Nichts lag ihr ferner. Nichts hatte weniger mit ihrem Leben zu tun. Trotzdem musste sie dabei an Kent Vargen denken. Der Kollege war erst vor einigen Monaten zu ihrem Team gestoßen. Der kleine breitschultrige Mann mit dem dunklen Haar in den immer etwas aufgesetzt wirkenden, schicken Anzügen hatte eine Aura, die sie auf eine seltsame Weise anzog. Diese Konstellation eine Beziehung zu nennen, wäre eine maßlose Übertreibung gewesen. Eine richtige Beziehung war auch nicht das, was sie wollte, geschweige denn, dass sie dazu überhaupt in der Lage gewesen wäre. So weit reichte ihre ehrliche Selbsteinschätzung trotz abgebrochener Psychotherapie. Um sich daran zu erinnern, musste sie nur in den Spiegel schauen. Ihr hängendes Augenlid und die Narben an ihrem Hals waren die unbestechlichen Zeugen jener Nacht vor dreißig Jahren, in der ihr Vater seine Selbstbeherrschung verloren hatte. Ihre eigenen Gewaltausbrüche in vergangenen Beziehungen waren ihr Beweis genug dafür, dass ihr Vater ihr mehr als ein Haus am See hinterlassen hatte. Seinen Jähzorn hatte sie im Blut wie eine tückische Krankheit, die jederzeit ausbrechen konnte. Eine Heilung war nicht in Sicht. Nein, eine echte Beziehung kam nicht infrage. Deshalb stellte sich die Frage nach Familie und Kindern erst gar nicht.

Sie erreichten den Industrie- und Gewerbegürtel, der Växjö umgab.

»Drive-in?«, fragte Knutsson, als sie das Burger-Restaurant erreichten.

»Nein, lass uns drinnen essen«, entschied sie.

Sie musste dringend auf die Toilette. In dem Moment, als sie die schweren Autotüren aufmachten, piepsten beinahe zeitgleich beide Handys.

Nach einem Blick aufs Display sprach Knutsson aus, was sie ebenfalls dachte.

»So ein Mist aber auch.«

3

Als Hauptkommissarin Ingrid Nyström aus ihrem kleinen Toyota stieg, schneite es. Während der kurzen Autofahrt von der Linné-Universität in das schicke Växjöer Stadtviertel Sandsbro war ihr der Niederschlag noch wie Regen vorgekommen, Schneeregen vielleicht, aber nun waren es eindeutig weiche weiße Flocken, die vom Himmel fielen. Hugo Delgado und Kent Vargen warteten in der Auffahrt des Einfamilienhauses auf sie. Vor dem Haus standen zwei Streifenwagen und der Van der Spurensicherung sowie mehrere Fahrzeuge der Wasserschutzpolizei.

»Wir müssen um das Haus herum«, erklärte Delgado. Der Ermittler mit den chilenischen Wurzeln war ein langjähriger Mitarbeiter, den Nyström sehr schätzte. »Wie gesagt, bis jetzt ist noch nicht einmal sicher, ob es überhaupt einen Leichnam gibt.«

»Eine wirklich merkwürdige Geschichte«, fügte Vargen an. Sie folgten vorsichtig einer ausgetretenen Spur im Schnee. »Die Kollegen von der Spurensicherung hatten bis jetzt noch gar keine Zeit, sich vorne im Garten umzusehen, geschweige denn im Haus.«

»Wer wohnt hier überhaupt?«, fragte Nyström.

»Eine alleinstehende Frau, Åsa Hylander, neunundvierzig Jahre alt, arbeitet bei der Stadtverwaltung. Sie ist heute nicht bei der Arbeit erschienen. Gefunden hat …« Delgado stockte für einen Augenblick.

»… die Finger«, half Vargen nach.

»Gefunden hat sie ihr Nachbar«, Delgado warf einen Blick auf das Tablet in seiner Hand, »Nisse Norrstedt. Bei dem es übrigens heißen Kaffee gibt, falls du möchtest.«

»Ich möchte die Finger sehen«, sagte Nyström.

Sie waren etwa zur Hälfte am Haus vorbeigegangen, als sich der Blick auf den Toftasee öffnete. Die Aussicht war selbst bei bedecktem Wetter und Niederschlag bemerkenswert und unterstrich, warum das Wohngebiet Sandsbro so begehrt war. Sie durchschritten den Garten und gingen auf den See zu. Ein paar Meter vom Ufer entfernt waren die Kollegen der Spurensicherung damit beschäftigt, eine Art Pavillon über einem Loch in der Eisdecke aufzubauen. Einige Schritte weiter sicherten zwei Männer der Wasserschutzpolizei an einem zweiten Loch einen Taucher ab. Ein Stück daneben schnitt ein anderer Kollege mithilfe einer Motorsäge eine weitere Öffnung in das Eis. Bo Örkenrud, der Chef der Spurensicherung, kam ihnen mit einem verzweifelten Gesichtsausdruck entgegen.

»Das Wetter ist eine Katastrophe«, rief er. »Dazu die ganzen Leute hier. Genauso gut könnte ich die Spurenlage von einem Sandsturm oder einer Herde Kamele verwüsten lassen.«

»Zeig mir bitte den Tatort«, sagte Nyström betont knapp. Jetzt war nicht die Zeit zu jammern, fand sie.

Örkenrud führte sie unter die Zeltplane. Immer wieder flammte der Blitz einer Fotokamera auf. Nyström schirmte die Augen mit der Hand ab. Dann sah sie es. Die einzelnen Finger waren mit nummerierten Täfelchen markiert. Von eins bis acht. Feine Blutschlieren hatten ein expressionistisches Muster im Schnee hinterlassen. Auf dem Eis standen zwei Clogs mit Leopardenmuster, daneben lag ein dunkelblauer, von Reif überzogener Bademantel.

»Der Taucher hat etwas!«, rief einer der Kollegen vom anderen Eisloch herüber.

4

Nisse Norrstedt schenkte Stina Forss und Lasse Knutsson Kaffee nach und füllte den Teller auf der Mitte des Tischs ein weiteres Mal mit trockenem Weihnachtsgebäck. Dass sich seine Küche innerhalb der letzten Stunde in eine Art provisorische Einsatzzentrale verwandelt hatte, schien den Rentner nicht im Geringsten zu stören, im Gegenteil. Sein Engagement und seine Begeisterung wirkten weitaus größer als die Betroffenheit oder der Schock angesichts des gewaltsamen Todes seiner Nachbarin. Forss hatte diese Art von Sensationstrunkenheit schon bei vielen Zeugen erlebt, sie widerte sie an, dennoch war sie dankbar für den heißen Kaffee und die Plätzchen sowie die belegten Brote, nach denen Knutsson ohne Umschweife gefragt hatte. Unaufgefordert erzählte Nisse Norrstedt vom Adrenalinrausch getragen zum x-ten Mal seine Version der Ereignisse.

»Ich kann es noch immer nicht glauben. Ich kenne Åsa zwar erst, seit sie vor ein paar Jahren hierhergezogen ist. Es gibt nicht so viele Umzüge hier in der Straße, müsst ihr wissen, dazu ist die fantastische Lage einfach zu begehrt. Die Häggblads zum Beispiel, die Nachbarn auf der anderen Seite, leben hier schon in dritter Generation. Åsa ist eine … ich meine, sie war eine sehr selbstständige und selbstbewusste Frau, Abteilungsleiterin in der Stadtverwaltung. Ein so gescheiter und weltgewandter Mensch. Sie war so geschmackssicher. Diese tolle Wohneinrichtung. Der Mercedes …«

»A, B, C, E oder S?«

»Wie bitte?«

Norrstedt sah Forss mit leicht offenem Mund an.

»Der Mercedes. A-Klasse oder S-Klasse? Oder irgendetwas dazwischen? Das macht einen großen Unterschied.«

»Ich weiß nicht. Einen silbernen, großen. Der steht in der Garage.«

»Ihr habt euch also gut verstanden«, hakte Knutsson nach und schob sich einen marzipangefüllten Napoleonhut in den Mund, »du und Åsa?«

»Sicher«, Norrstedt nickte arglos. »Wir haben uns ausgezeichnet verstanden.«

»Auch sexuell?«, fragte Forss und nippte mit einem arglosen Gesichtsausdruck an dem ausgezeichneten Filterkaffee. Ihr war aus irgendeinem Grund danach, diesen Knilch zu ärgern.

»Um Gottes willen!«, wehrte Norrstedt ab. »Nein, so war unser Verhältnis nicht …«

»Ein Verhältnis war es also?«

Knutsson nahm den Faden auf.

»Nein«, Norrstedt rang erschrocken nach Worten. »Keineswegs haben wir …«

»Eine attraktive, alleinstehende Frau. Ein ungebundener, jung gebliebener Pensionär …«, suggerierte Forss augenzwinkernd.

»Aber wir …«, Norrstedt klang jetzt beinahe verzweifelt. »Sie war eine gute Bekannte. Mehr war da nicht!« Da war etwas Irritierendes in seinem Tonfall, das Forss verriet, dass er nicht die ganze Wahrheit sagte. »Vielleicht haben wir einmal im Monat ein Tässchen Kaffee zusammen getrunken und ein wenig getratscht. Dem anderen mit Mehl oder einem Ei ausgeholfen. Ein gutes nachbarschaftliches Verhältnis. Daher ist es mir heute Morgen auch sofort aufgefallen, dass sie nicht zur Arbeit gefahren ist. Wenn ich hier morgens sitze und meine Zeitung lese, blicke ich quasi automatisch auf ihre Auffahrt. Irgendwann kennt man die Abläufe des anderen. Normalerweise geht sie um halb acht aus dem Haus und kommt gegen halb fünf, fünf wieder. Zunächst habe ich gedacht, sie muss krank sein. Obwohl sie nicht oft krank ist. Später am Vormittag, als ich in den Garten gegangen bin, um die Vögel zu füttern, habe ich ihre Sachen auf dem Eis liegen sehen. Die Clogs und den Bademantel. Ich habe sofort gedacht, dass da etwas nicht stimmt. Und dann … Als ich näher gekommen bin … Da lagen die … die Finger auf dem Eis. Dieser hellbraune Nagellack, den sie in letzter Zeit getragen hat … Da wusste ich, dass etwas Schreckliches passiert sein musste. Ich bin ins Haus gelaufen und habe die Polizei gerufen.«

»Vorbildlich«, lobte Forss und fragte sich, ob es normal war, dass man auf die Nagellackfarbe seiner Nachbarin achtete. Sie sah nachdenklich auf ihre eigenen Finger. Grüne Lackreste.

»Wann hast du das letzte Mal mit Åsa Hylander gesprochen?«, fragte Knutsson und sah den Rentner streng an.

Norrstedt kratzte sich an seinem weißgrauen Bart.

»Am Wochenende war ich verreist. Ich bin letzten Donnerstag zu meiner Tochter nach Kalmar gefahren und erst gestern spät am Abend zurückgekommen. Es muss also am vergangenen Donnerstag gewesen sein. Als ich morgens Schnee geschippt habe, hat sie ihre Zeitung reingeholt. Das macht sie immer um diese Uhrzeit. Wir haben ein paar Worte gewechselt.«

»Worüber?«

»Das Wetter, soweit ich mich erinnere.«

»Sonst nichts?«

»Ich habe ihrer Tochter einen Gruß ausrichten lassen. Die beiden treffen sich jeden Freitag. Kajsa ist ein liebes Mädchen. Sie arbeitet in demselben Ärztezentrum, in dem meine verstorbene Frau angestellt gewesen war. Kajsa war oft hier. Die Arme! Wie sie das wohl aufnehmen wird. Sie stand ihrer Mutter so nahe. Vielleicht sollte ich sie jetzt gleich anrufen …?«

»Auf keinen Fall!«, polterte Knutsson und wischte sich in einem plötzlichen Anflug von Aktionismus energisch Kekskrümel vom Bauch. »Das macht natürlich die Polizei!«

5

Die Praxis in Dalbo, in der Kajsa Persson arbeitete, lag am Brittsommarvägen. Der Straßenname – Altweibersommerweg – ließ Ingrid Nyström einen Augenblick lang an einen Waldspaziergang in milder Spätsommerluft denken, an Bäume in leuchtendem Rot, Gelb und Grün. Nichts konnte weiter von der Wirklichkeit entfernt sein. Auf dem Parkplatz ballten sich Inseln aus Schnee, die vom Straßenschmutz und Abgasen in sämtlichen Grauschattierungen getönt waren. Vor einem Abflussgitter im Rinnstein lag etwas Pelziges, ein totes Tier, für eine Ratte war es eigentlich zu groß. Ein Waschbär? Gab es mittlerweile tatsächlich Waschbären in Schweden? Vom Himmel stoben Schneeflocken, die ein schneidender Ostwind in Nyströms Gesicht trieb. Vorsichtig lief sie über die vereisten Stellen auf das Ärztezentrum zu. Unter dem überdachten Eingangsbereich stand eine Schar nordafrikanisch aussehender, rauchender Teenager, die misstrauisch den Schneefall beäugten. Dalbo gehörte zu Araby, dem sozialen Brennpunkt von Växjö. Es war erst wenige Tage her, dass hier Jugendliche ein Polizeiaufgebot mit Silvesterraketen und Steinen attackiert hatten. Was man noch vor einigen Jahren nur aus den berüchtigten Vororten von Malmö und Stockholm kannte, war längst auch in den mittelgroßen und kleinen Städten möglich. Als Nyström an ihnen vorbeiging, sagte einer etwas in einer Sprache, die sie nicht verstand. Alle lachten. Sie ignorierte es, so gut sie konnte. An der Rezeption erkundigte sie sich nach Kajsa Persson. Sie wurde gebeten, kurz Platz zu nehmen. Der Wartebereich war bis auf den letzten Platz gefüllt. Nyström zählte mehr als zwanzig Personen, kaum jemand hatte blonde Haare oder helle Haut. Nyström musste daran denken, was ihr die beiden jungen Frauen nach der Vorlesung gesagt hatten. Sie schluckte, dann lehnte sie sich an eine Wand und beobachtete die Rinnsale aus geschmolzenem Schnee, die sich auf dem Boden bildeten. Sie schien fast die Einzige zu sein, die dem Wetter angemessenes Schuhwerk trug. Nach wenigen Minuten kam eine junge Frau in medizinischer Berufskleidung auf sie zu. Das Namensschild verriet, dass sie Kajsa Persson war. Åsa Hylanders Tochter hatten eine große, aber schöne Nase und ihr Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden.

»Du hast nach mir gefragt?«

Nyström nickte. Ihr war bewusst, dass die nächsten Sätze das Leben der Frau für immer verändern würden.

»Können wir hier irgendwo in Ruhe sprechen?« Nyströms Worte zeichneten Unbehagen in das hübsche Gesicht von Kajsa Persson. »Es geht um deine Mutter.«

Die Arzthelferin führte sie in ein leeres Untersuchungszimmer und sah sie mit großen Augen an.

»Vielleicht willst du dich setzen?«

Nyström musste sich konzentrieren, um die richtigen Worte zu finden. Sie bekam kaum Luft. Der starke Geruch von Desinfektionsmitteln setzte ihr zu. Ein plötzliches Gefühl von Enge und Eingesperrtsein überkam sie. Es war noch nicht lange her, dass sie ihre Brustkrebserkrankung überstanden hatte. Und dass sie gelernt hatte, mit der ständigen Bedrohung zu leben, die dies bedeutete. Kajsa Persson hatte sich auf die Kante einer Liege gesetzt und starrte sie wie versteinert an. Die Angst verformte ihr Gesicht zu einer Maske.

Wir haben Grund zu der Annahme …

Es sieht im Moment danach aus, dass …

Wir müssen dich leider bitten, zu einer Klärung des Sachverhalts …

Die Wörter, die Sätze fühlten sich steif an. Gestellt und unecht. Und doch taten sie ihre Wirkung, das taten sie immer.

Kajsa Persson hielt sich die Hände vors Gesicht. Ihr schlanker Körper bebte.

Nyström setzte sich neben sie, legte der jungen Frau den Arm um die Schulter. Auch diese Geste fühlte sich steif an. Alles in ihr wollte aus diesem Raum heraus, weg von dem Geruch nach Arztseife, den farbigen Kabeln des EKG-Geräts, den Behältern mit Spritzen, Kanülen und Pflastern.

Irgendwann ließ Persson ihre Hände fallen. Vielleicht hatte sie einfach keine Kraft mehr in ihrem Körper. Die Tränen jedoch liefen weiter.

»Warum?«, flüsterte sie immer wieder, »warum nur?«

Nyström hatte diese Frage bereits viel zu oft in ihrem Leben gehört. Und dennoch konnte sie Persson keine Antwort geben.

Weil es keine Antwort gab, dachte sie resigniert. Weil es unabhängig davon, wie ihre Ermittlungen verlaufen würden, auf diese Frage nie eine befriedigende Antwort geben konnte.

6

Stina Forss hatte kaum einen Blick auf den verstümmelten Leichnam geworfen, den die Taucher aus dem Wasser geborgen hatten. Bis es genauere Befunde aus der Pathologie gab, reichte es ihr zu wissen, dass die Frau eines gewaltsamen Todes gestorben war. Forss atmete durch. Endlich war sie allein. Nyström hatte Lasse Knutsson gebeten, sich Kent Vargen und den uniformierten Kollegen anzuschließen und die Nachbarschaft und Umgebung abzuklappern. Auch wenn noch keine Einschätzung zum Todeszeitpunkt von Åsa Hylander vorlag und am frühen Montagnachmittag wahrscheinlich nicht viele Leute zu Hause anzutreffen waren, gab es womöglich wichtige Zeugenaussagen. Neugierige Nachbarn wie Nisse Norrstedt, die etwas Auffälliges gesehen oder gehört haben konnten. Die mit Åsa Hylander bekannt gewesen waren und etwas zum Bild beitragen konnten, das sich die Hauptkommissarin von der getöteten Frau machen wollte. Aus demselben Grund hatte Nyström Hugo Delgado an seinen Rechner im Präsidium beordert und Forss beauftragt, sich in Hylanders Haus umzusehen und Fotos zu machen. Forss mochte diesen Teil ihrer Arbeit. Allein in einem fremden Haus. Jeder Raum, jedes Einrichtungsdetail, jeder Gegenstand erzählte ihr etwas über den Menschen, der hier gelebt hatte. Raunte ihr etwas zu, deutete etwas an. Sie stieg aus ihren Doc Martens, streifte dünne Einweghandschuhe über und begann ihren Rundgang im Flur, wo sich auch die Garderobe befand. Ein heller Wintermantel, ein gefütterter Parka, eine Barbour-Steppjacke, zwei Burberry-Ponchos. Wollmützen, Schals und Handschuhe in verschiedenen Farben. Im Schuhschrank darunter: vier Paar Stiefel, vier Paar Stiefeletten, diverse Pumps und Ballerinas. Ausschließlich ausgesuchte Markenware. Hylander schien eine Frau gewesen zu sein, die zweimal in den Spiegel schaute, bevor sie aus dem Haus ging. Das Wohnzimmer war im Landhausstil eingerichtet, viel weißes Holz, viel weißes Leinen, eine Unmenge weißer Kissen und Kerzen. In den Regalen standen Gläser und Einrichtungsaccessoires, wie man sie in teuren Möbelläden kaufen konnte: bewegliche Holztiere, mundgeblasene Vasen von Kosta Boda, Kristallschwäne. Bücher gab es kaum. An den Wänden maritime Fotomotive in weißen Rahmen: Leuchttürme, Möwen, eine Mole im Sturm. Vielleicht hatte Hylander von einem Segelboot geträumt, ging es Forss durch den Kopf. Oder hatte sie bereits eine Yacht? Forss ließ sich in die helle Sofalandschaft sinken und blätterte die Hochglanzzeitschriften durch, die auf dem Couchtisch lagen. Einrichtung, Gesundheit, Mode. Daneben stand ein leeres Weißweinglas. Sie griff nach der Fernbedienung zu einer schicken Mini-Stereoanlage. Als sie auf Play drückte, begann ein Bo-Kaspers-Song zu spielen. Fürchterlich! Hastig drückte Forss auf Stop. Sie stand auf. Das kleine CD-Regal bot keine Überraschungen. Bar-Jazz, melodifestivalen, Queen – The Greatest Hits. Interessanter wurde es nicht. Aber besser als Bo Kaspers. Forss nahm Queen aus der Hülle, legte die Scheibe in den CD-Spieler und stellte ihn an. Sie ging weiter in die Küche. Die geradlinige Ausstattung kam Forss neu vor. Die Arbeitsplatte bestand aus dunklem Granit, die Küchengeräte waren exklusiv. Für eine Verwaltungsangestellte, wenn auch in leitender Funktion, schien Hylander gut zu verdienen. Auf dem Küchentisch stand eine silberne Alessi-Obstschale, daneben lag ein Smartphone, das Forss einsteckte. Sie öffnete den Kühlschrank und entdeckte viel frisch wirkendes Gemüse und ein Rindersteak, das laut Verpackungsdatum vom vergangenen Dienstag stammte. Außer einer angebrochenen Flasche südafrikanischen Chardonnays fielen Forss nur Sojamilch und laktosefreier Käse auf, wahrscheinlich hatte Hylander eine entsprechende Lebensmittelunverträglichkeit. Andererseits lagen dort drei Packungen Toblerone. Wenn es um Schokolade gegangen war, hatte es die Frau mit ihrer Laktose also nicht so genau genommen, dachte Forss. Auf der Kühlschranktür waren drei Fotos mit Magneten befestigt. Das erste Bild zeigte Hylander Schulter an Schulter mit einer gleichaltrigen Frau. Beide trugen auffällige Strohhüte und lachten in die Kamera, im Hintergrund war die Chinesische Mauer zu sehen. Auf dem zweiten Foto saß Hylander in der Montur einer Dressurreiterin auf einem Pferd. Das dritte Bild war die Porträtaufnahme eines etwa fünfzigjährigen Mannes. Er hatte kurzes Haar, war glatt rasiert und strahlte etwas unbestimmt Altmodisches aus, fand Forss. Vielleicht lag das aber auch nur daran, dass es ein Schwarz-Weiß-Foto war. Obwohl das auch nichts mehr heißen musste: Mit modernen Farbfiltern und Bearbeitungsprogrammen konnte man heutzutage schließlich jedem Handyschnappschuss ohne Aufwand Retrocharme verleihen. Sie nahm das Bild vom Kühlschrank ab und sah auf die Rückseite. Dort stand nichts, auch kein Stempel mit Entwicklungsdatum. Forss steckte es ein und ging weiter ins Schlafzimmer. Dort befand sich ein sorgfältig gemachtes Doppelbett mit hohen, altmodischen Bettpfosten. Die Handschellen entdeckte Forss erst auf den zweiten Blick. Es waren keine billigen Blechdinger, wie man sie in Sexshops kaufen konnte, sondern professionelle Polizeiqualität. Hier mochte es jemand auf die harte Tour, dachte sie. Die passenden Schlüssel lagen in einer herzförmigen Edelstahlschatulle auf dem Nachttisch. Sie schloss die Handschellen vorsichtig auf, tütete sie ein und legte sie in ihre Handtasche, ebenso das kleine Notebook, das sie in der obersten Nachttischschublade fand. Dann sah sie sich die mit erlesener Garderobe gefüllten Kleiderschränke an. Sie summte zum Rhythmus der Basslinie, die bis ins Schlafzimmer zu hören war.

Another One Bites The Dust.

7

Am frühen Nachmittag hatte Ingrid Nyström ihr Team zu einer ersten Besprechung im Präsidium zusammengerufen. Es schneite mittlerweile stärker. Der pappige, feuchte Schnee blieb an der abgeschrägten Panoramascheibe kleben und bildete Inseln und Schollen, die, wenn sie eine kritische Größe erreicht hatten, ins Rutschen gerieten, absackten und dann für einige Sekunden den Blick auf die Dämmerung freigaben, die sich auf den Oxtorget legte. Nyström musste an Bo Örkenrud denken, der mit seinen Leuten immer noch im Schneetreiben draußen auf dem Eis des zugefrorenen Toftasees arbeitete, um mögliche Spuren zu sichern. Vor morgen früh war nicht mit seinem Bericht zu rechnen. Åsa Hylanders Leichnam befand sich mittlerweile in der Pathologie. Das Bild des geschundenen Körpers der Frau ging Nyström nicht mehr aus dem Kopf. Sicher, sie hatte in ihrem Beruf schon viele Tote gesehen und manchmal waren die Leichname in keinem guten Zustand. Wie zum Beispiel der Körper des Mannes aus dem Kongo, dessen Foto sie am Morgen ihren Studenten gezeigt hatte. Doch bei aller Routine hatte der Anblick der toten Åsa Hylander eine starke Reaktion in ihr ausgelöst. Wahrscheinlich lag es an dem gespaltenen Schädel und daran, dass die Finger bis auf die Daumen allesamt fehlten. Davon ging etwas so ungemein Hilfloses aus, dass Nyström ganz flau wurde. Wieder und wieder fühlte sie sich in den Todeskampf der armen Frau hineinversetzt. Allein in dem dunklen, tödlich kalten Wasser. Verzweifelt nach der rettenden Eiskante tastend, greifend, um sich schlagend. Der rasende Schmerz in den Händen, das spritzende Blut, die Erkenntnis, verloren zu sein, das Wasser nie wieder zu verlassen, dem Mörder in die Augen sehen zu müssen, bevor er zu dem letzten, endgültigen Schlag ausholt, und die vollkommene Unterlegenheit zu spüren …

Nyström musste mehrmals schlucken und fühlte, wie trocken ihr Hals war. Kajsa Persson hatte ihre Mutter im Krankenhaus identifiziert, dann war sie fast zusammengebrochen. Ihr Mann hatte sie beim Hinausgehen stützen müssen. Nyström hatte die weiteren Angehörigen der Toten informiert. Åsa Hylanders Eltern lebten mehr als fünfhundert Kilometer entfernt in einem Dorf in der Nähe von Uppsala. Ansonsten gab es noch einen jüngeren Bruder, der als Versicherungsangestellter arbeitete. Zu ihrem Exmann hatte Hylander, die nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte, nach Aussagen der Eltern und der Tochter keinen regelmäßigen Kontakt mehr. Die Frage, ob Hylander einen Lebenspartner oder festen Freund hatte, hatten sie nicht mit Sicherheit beantworten können. Åsa sei, was das anging, sehr verschlossen gewesen. Obwohl sie sich sicher waren, dass sie nach der Trennung verschiedene Beziehungen gehabt hatte, habe Åsa so gut wie nie darüber gesprochen. Nur an einen ehemaligen Partner ihrer Mutter hatte Kajsa gute Erinnerungen, einen netten Arzt mit iranischen Wurzeln, dessen Name sie allerdings nicht mehr wusste.

Nyström hatte die verwandtschaftlichen Verhältnisse auf ihrem geliebten Whiteboard skizziert. Ermutigend sah sie in die Runde, zumindest hoffte sie, dass es so wirkte. Ihre Mitarbeiter sollten nicht merken, wie mitgenommen sie war.

»Dann mache ich mal den Anfang«, sagte Kent Vargen. Wie immer trug er ein sorgfältig gebügeltes weißes Hemd und eine schmale Krawatte. Der seriöse Gesamteindruck, den der erfahrene Ermittler aus Stockholm machte, wurde in Nyströms Augen nur ein wenig durch das amerikanisch wirkende Schulterholster gestört, das Vargen über dem Hemd trug. Aber vielleicht war das ja in der Hauptstadt Mode gewesen. »Ich denke, ich spreche für uns alle, wenn ich sage, dass die zeitlichen Parameter im Moment Prioriät haben sollten.«

»Was?«, fragte Lasse Knutsson und blickte von seinem neuen Smartphone auf, an dem er seit einigen Tagen unablässig herumfummelte.

»Kent meint den Todeszeitpunkt«, sagte Delgado genervt.

»Genau. Danke.« Vargen zwinkerte Delgado zu.

Nyström nickte.

»Natürlich«, sagte sie. »Die Pathologin tut, was sie kann. Besonders optimistisch klang Ann-Vivika allerdings nicht. Das Opfer hat in eiskaltem Wasser gelegen, das verzögert natürlich sämtliche Zerfallsprozesse des Körpers. Sie hat bereits angedeutet, dass der Leichnam womöglich zur genaueren Bestimmung nach Linköping muss. In dem Fall kann es Wochen dauern, bis wir ein endgültiges Ergebnis haben. Erinnert ihr euch an den Estonia-Fall? Da kam der Abschlussbericht Monate nachdem wir den Fall gelöst hatten.«

Knutsson lachte.

»Das sind mir dort vielleicht Quacksalber!«, begann er. »Der Linköpinger an sich ist ja …«

»Uns würde ja zunächst schon eine grobe zeitliche Einordnung weiterhelfen«, unterbrach ihn Vargen und schnippte einen Staubfussel von seiner Manschette.

»Montagmorgens geht niemand in die Sauna«, brummte Knutsson. Er klang angefasst. »Außerdem hätte sie dann zur Arbeit gemusst.«

»Sagen wir also zwischen Freitag- und Sonntagabend«, schlug Nyström vor.

»Der Zeitrahmen ist zu groß für eine effektive Zeugenbefragung!« In ihrer typischen Abwehrhaltung saß Stina Forss mit vor der Brust verschränkten Armen am Tisch und zupfte missmutig an ihrer Unterlippe. »Und für eine Rekonstruktion der Tat viel zu vage. Wenn das die Basis unserer Ermittlung sein soll, dann Prost Mahlzeit.«

Nyström spürte eine Gereiztheit in sich aufsteigen. So unangenehm wie ein Kratzen im Rachen. Stina Forss hatte etwas an sich, mit dem Nyström nicht gut umgehen konnte, eine renitente, bisweilen besserwisserische Art.

»Das letzte Telefonat hat sie am Freitagabend geführt«, sagte Delgado und tippte auf Hylanders Handy herum, das sich in einer durchsichtigen Plastikhülle befand. »Ab Samstagmorgen dann nur unbeantwortete Anrufe und ungeöffnete SMS.«

»Das ist doch schon mal ein Anhaltspunkt«, befand Nyström.

»Dann sollten wir uns als Nächstes über den Tathergang Gedanken machen.« Vargen nahm das Gespräch wieder an sich. »Das gesamte Szenario – der Bademantel und die Clogs neben der Abtauchstelle, die abgetrennten Finger auf dem Eis, die Blutspuren – deutet darauf hin, dass Hylander beim Saunieren überrascht worden ist. So wie ich das sehe, hat der Täter zugeschlagen, als die Frau nach einem Saunagang zum Abkühlen in das Eisloch abgetaucht ist. Als sie wieder herausklettern wollte, hat er mindestens dreimal auf sein Opfer eingeschlagen – das legen zumindest die äußerlichen Wunden des Leichnams nahe: zwei an den Händen und eine, wahrscheinlich fatale, auf dem Kopf. Alle Hiebe müssen mit großer Kraft ausgeführt worden sein, der dritte hat ihr ja geradezu den Schädel gespalten.«

Wieder blitzen vor Nyströms innerem Auge die Bilder aus der Pathologie auf. Vargens Worte beschrieben die Horrorfilmsequenz, die sich wieder und wieder in ihrem Kopf abspielte.

»Sie sah wirklich grauenhaft aus«, sagte Knutsson mit belegter Stimme.

»Die Tatwaffe?«, fragte Forss.

»Ann-Vivika vermutet eine Axt oder ein Beil«, antwortete Nyström. »Womöglich auch ein schweres Fleischermesser oder eine Machete. Genauer wollte sie sich noch nicht festlegen.« Sie sah Vargen an. »Ich finde, das klingt alles sehr plausibel. Oder ist jemand anderer Meinung?«

Alle blickten zu Forss, aber sie schüttelte nur leicht den Kopf. Nyström verspürte einen leichten Stich. Sie war es doch, die diese Ermittlung leitete!