Der rote Raum - Roman Voosen - E-Book
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Der rote Raum E-Book

Roman Voosen

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Beschreibung

Das Herz ist ein einsamer Jäger. Ein verschwundenes Herz. Ein ungewöhnlicher Stein. Ein Mörder, der sich in Luft auflöst. Zwei Fälle, die sich kreuzen, und zwei Kommissarinnen am Limit. Kurz nach Mittsommer bekommt es Kommissarin Ingrid Nyström in Småland mit einem obskuren Mordfall zu tun: Dem Toten, einem alleinstehenden Informatiker, wurde das Herz entnommen und durch einen seltenen Gesteinsbrocken ersetzt. Als die Ermittlungen Fahrt aufnehmen, zeigt sich, dass dem Opfer bereits früher furchtbare Dinge widerfahren sind. Um den Fall zu lösen, muss Nyström gegen alle inneren Widerstände in eine ihr fremde, dunkle Welt eintauchen. Gleichzeitig ermittelt ihre Kollegin Stina Forss in einem zweiten rätselhaften Verbrechen, ein sogenanntes Locked-room mystery, in dem der Mörder aus einem hermetisch abgeriegelten Raum spurlos verschwindet. Während beide Kommissarinnen mit eigenen Dämonen ringen, bewegen sich die zwei Fälle mit zunehmender Geschwindigkeit aufeinander zu und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis es weitere Todesopfer gibt.

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Seitenzahl: 563

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Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson

Der rote Raum

Ein Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss

Kurzübersicht

Buch lesen

Titelseite

Über Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson

Roman Voosen, Jahrgang 1973, aufgewachsen in Papenburg, studierte und arbeitete in Bremen und Hamburg.

Kerstin Signe Danielsson, Jahrgang 1983, geboren und aufgewachsen in Växjö, studierte und arbeitete in Hamburg und ihrer schwedischen Heimatstadt.

Die Autoren sind miteinander verheiratet und leben mit ihren beiden Kindern im småländischen Berg.

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Über dieses Buch

Kurz nach Mittsommer bekommt es Kommissarin Ingrid Nyström in Småland mit einem obskuren Mordfall zu tun: Dem Toten, einem alleinstehenden Informatiker, wurde das Herz entnommen und durch einen seltenen Gesteinsbrocken ersetzt.

Als die Ermittlungen Fahrt aufnehmen, zeigt sich, dass dem Opfer bereits früher furchtbare Dinge widerfahren sind. Um den Fall zu lösen, muss Nyström gegen alle inneren Widerstände in eine ihr fremde, dunkle Welt eintauchen.

Gleichzeitig ermittelt ihre Kollegin Stina Forss in einem zweiten rätselhaften Verbrechen, ein sogenanntes Locked-Room-Mystery, in dem der Mörder aus einem hermetisch abgeriegelten Raum spurlos verschwindet. Während beide Kommissarinnen mit eigenen Dämonen ringen, bewegen sich die zwei Fälle mit zunehmender Geschwindigkeit aufeinander zu und es scheint nur eine Frage der Zeit zu sein, bis es weitere Todesopfer gibt.

Inhaltsverzeichnis

Motti

Samstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Montag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Dienstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Mittwoch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

Donnerstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Freitag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Samstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Epilog

1. Kapitel

2. Kapitel

Leseprobe »Tode, die wir sterben«

»I won’t leave no message, I’ll just shut my mouth

And keep dreaming golden dreams …«

Motorpsycho, »Un chien d’espace«

»Some places are like people: some shine and some don’t.«

Dick, »The Shining«

Samstag

1

Srecko Bradaric hatte die marinierten Rasnici gerade auf den Grill gelegt, als sein Diensthandy klingelte. Er brauchte seine Frau gar nicht erst anzuschauen, er wusste auch so, dass sie mit den Augen rollen würde. Und Dana hatte ja recht, der Augenblick war denkbar ungünstig: wolkenloser Himmel, hoch stehende Sonne, Schwalbengezwitscher, ein hochsommerlicher Samstagnachmittag, wie man ihn sich nicht besser ausmalen konnte. Ein Freund war samt Familie zu Besuch, die Kinder sprangen auf dem Trampolin und bespritzten sich dabei jauchzend mit Wasserpistolen, der große Gartentisch war eingedeckt und – vielleicht das Beste – in einem Plastikbottich voller Eiswasser dümpelten ein Dutzend Flaschen Indian Pale Ale aus einer kleinen Brauerei in Emmaboda vor sich hin, ein Bier, das kürzlich auf der Internetseite nothingbutbeer mit neun von zehn möglichen Sternen bewertet worden war. Srecko legte seufzend die Grillzange beiseite, nahm das Handy aus der Brusttasche seines kurzärmligen Hemds und sah aufs Display. Es war Ed Oskarsson, einer der Bewohner des Stairway to Heaven. Ausgerechnet Oskarsson. Sreckos Laune sackte ins Bodenlose. Oskarsson war ein besserwisserischer Rentner, ein Meckerfritze vor dem Herrn, der davon überzeugt war, dass er mit seinem Einzug in das exklusive Apartmenthochhaus im Norden der Stadt das Anrecht auf einen Rund-um-die-Uhr-Service erworben hatte, und Srecko regelmäßig zu den denkbar ungünstigsten Zeiten mit absurden Beschwerden, abwegigen Forderungen und obskuren Beschuldigungen nervte. Mal unterhielten sich die Nachbarn angeblich zu laut auf dem Balkon, mal trieben sich auf dem hauseigenen Hof vermeintlich verdächtige Gestalten herum, mal roch es unangenehm aus dem Müllschlucker – wer zum Teufel kam auf die Idee, in den Müllschacht hineinzuschnüffeln? Es war doch klar, dass es dort nicht nach Rosenblättern duftete! Da half es nichts, dass Srecko ihm schon x-mal erklärt hatte, dass er nicht Oskarssons persönlicher Assistent, sondern der facility manager war – mit Familie und festen Arbeitszeiten. Doch dies focht Oskarsson nicht an. Er war ein Plagegeist, ein echter Bukavac, der Srecko seinen Job, den er eigentlich gern mochte, immer mehr verleidete. Kurz spielte er mit dem Gedanken, das Gespräch einfach wegzudrücken, doch er wusste aus Erfahrung, dass das wenig nützen würde. Oskarsson würde unverzüglich die 24-Stunden-Hotline der Immobilienfirma anrufen, die das Stairway to Heaven verwaltete, und es würde keine fünf Minuten dauern, bis sich sein Chef persönlich bei ihm melden und ihn zur Schnecke machen würde. Nein, vor Oskarsson gab es kein Entkommen, Sommertag und Wochenende hin oder her. Notgedrungen nahm er das Gespräch an.

Oskarsson war auf hundertachtzig: Die Klimaanlage in seiner Wohnung spiele verrückt, ausgerechnet am heißesten Tag des Jahres. Er habe die Temperatur im Wohnzimmer gemessen, handgemessen, wie er betonte – was auch immer das bedeuten sollte –, und zwar mit einem Präzisionsthermometer, neununddreißig Grad, eine Zumutung sei das, eine Unverfrorenheit, er bezahle nicht monatlich einhundertachtzig Kronen pro Quadratmeter, um sich mit einem derart gottverdammten Mist herumplagen zu müssen. Srecko solle unverzüglich seinen fetten Jugo-Arsch herbewegen und sich um die Sache kümmern. Der geifernde Alte legte auf, ohne eine Antwort abzuwarten.

Srecko seufzte erneut, steckte das Mobiltelefon weg, griff nach der Grillzange, drehte die Fleischspieße um und blickte mit zusammengepressten Lippen Dana an, die seinen Gesichtsausdruck wie immer richtig deutete und sachte den Kopf schüttelte. Nein, sollte das heißen, diesmal nicht, Srecko, bitte nicht, lass dir das nicht länger gefallen. Lehn dich auf. Geig dem Kerl die Meinung. Sei ein Mann. Er widerstand dem Impuls, gegen den Gasgrill zu treten. Sie hatte ja recht, natürlich hatte sie das, es war nicht fair, wie Oskarsson ihn behandelte, wie er ihn herumkommandierte und wie einen Lakaien antanzen ließ, wann immer es ihm passte. Doch was hatte Srecko schon für eine Wahl? Abgesehen von diesem verteufelten Bukavac, der ihm im Nacken saß, war die Arbeit in Ordnung, alle anderen dreiunddreißig Bewohner waren nett oder zumindest umgänglich, und das Gehalt stimmte, er hatte in seinem langjährigen Berufsleben im Gebäudemanagement noch nie mehr verdient. Und sie brauchten das Geld, jede Öre davon, seit sie das Reihenhaus gekauft hatten, in dessen schönem Garten sie sich gerade befanden, in dem er seine Freunde bewirtete, in dem die Kinder auf dem Trampolin tobten, in dem die Luft erfüllt war von Sommer und dem verheißungsvollen Geruch der Rasnici, die niemand so gut würzte wie seine Dana.

Verflixt noch mal. Er hob die muskulösen Schultern und ließ sie wieder fallen. Enttäuschung legte sich auf Danas Gesicht, er hasste es, wenn sie so guckte, aber was sollte er denn machen? Menschen wie sie, Einwanderer, Neu-, Halb- oder Noch-immer-nicht-Schweden, hatten keine Wahl. Das hatten sie nie. So viel hatte er in mehr als dreißig Jahren in diesem Land begriffen.

Nun hatte auch sein Freund bemerkt, dass etwas im Gange war.

»Alles in Ordnung?«, fragte Zlatko.

»Alles in Ordnung«, wiegelte er lächelnd ab, »ich muss nur kurz los, ein Notfall auf der Arbeit, es wird nicht lange dauern, ich bin zurück, bevor die Spieße gar sind.« Er löste die Schleife der Schürze, die mit roten Dalarna-Pferden bedruckt war, und nahm sie ab. »Kannst du so lange den Grill übernehmen?«

Neuneinhalb Minuten später parkte er seinen Golf in der Tiefgarage des Heaven und stieg aus. Hier unten war es angenehm kühl. Er ging einige Schritte und verschaffte sich mithilfe seiner Chipkarte, die als Generalschlüssel für das gesamte Haus diente, Zutritt zur Wirtschaftszentrale des hochmodernen Gebäudes. Dies hier war sein Reich. Hightech, alles nur vom Feinsten. Er prüfte die Anzeigen der Belüftungsanlage. Das Haus schuf sich sein eigenes Klima, das musste man sich einmal vorstellen. Kurz dachte er an seine Großmutter, an seine Baka, die ihr ganzes Leben in einer einfachen, aus Naturstein gemauerten Berghütte verbracht hatte. Als kleiner Junge hatte er den Bohneneintopf geliebt, den sie über dem offenen Feuer gekocht hatte. Das war eine andere Zeit gewesen und ein anderes Land, dachte er. Aber nun war kein Raum für Sentimentalitäten. Er wollte nichts anderes, als dass Oskarsson Ruhe gab und er so bald wie möglich wieder zurück nach Hause an den Grill konnte. Er konzentrierte sich auf die Displays und erkannte rasch, was im Argen lag. In der zwölften Etage, in der sich Oskarssons Wohnung befand, war ein Luftfilter verstopft, woraufhin sich die Klimaanlage in diesem Stockwerk automatisch ausgeschaltet hatte. Wahrscheinlich wieder die verdammten Pollen. In der Vorwoche hatte es ein ähnliches Problem in der zehnten Etage gegeben und im Monat davor die gleiche Geschichte in der vierzehnten. Irgendwie schien es immer nur die Stockwerke mit geraden Zahlen zu treffen, fiel ihm auf. Doch die Hauptsache war, dass sich das Problem leicht beheben ließ. Er nahm einen neuen Luftfiltereinsatz aus dem Metallschrank auf der anderen Seite des Raums, zog die Tür hinter sich zu und ließ sich von dem ultramodernen Fahrstuhl in den zwölften Stock befördern. Als er aus dem Lift trat, ging ihm auf, dass sich der Lufteinzug für diese Etage gar nicht in Oskarssons Wohnung befand, sondern in der gegenüberliegenden. Der Bewohner dieses Apartments hieß Adam Arlemark. Srecko kannte ihn kaum. Arlemark, ein Mann in den Vierzigern, war viel unterwegs, wahrscheinlich geschäftlich, er machte irgendetwas mit Software, wenn sich Srecko richtig erinnerte. Dass er nun in Arlemarks Wohnung musste, um den Luftfilter auszutauschen, war ihm gar nicht mal unrecht, alles war besser, als unter Oskarssons argwöhnischem Blick zu arbeiten und sich dabei aufs Übelste beschimpfen lassen zu müssen. Fetter Jugo-Arsch, hatte der Alte das wirklich gesagt? Dieser durchgeknallte Rassist hatte doch nicht alle Tassen im Schrank! Srecko klingelte bei Arlemark. In der Wohnung rührte sich nichts. Er klingelte erneut. Wieder nichts. Offenbar war der Mann nicht zu Hause. Wer blieb auch an einem solchen Prachttag wie heute in seiner Wohnung? Nur verbitterte Rentner, wie Oskarsson einer war. Srecko spielte mit der Chipkarte in seiner Hand. Er musste sie einfach nur vor das elektronische Schloss halten und die Tür würde aufspringen. Vertraglich war ihm das Betreten der Wohnungen in Abwesenheit der Bewohner in dringenden Wartungsfällen ausdrücklich erlaubt. Trotzdem hielt ihn etwas zurück. Es fühlte sich nicht richtig an, ohne Arlemarks Kenntnis in dessen Apartment einzudringen. Er fischte das Diensthandy aus der Hemdtasche und scrollte sich durch das Bewohnerverzeichnis, bis er die richtige Nummer hatte. Er rief an. Nach dem siebten Klingelton sprang eine Mailbox an. Er hinterließ eine Nachricht, in der er die Situation kurz schilderte und Arlemark über den notwendigen Filtertausch und die daraus resultierende Notwendigkeit des Betretens seiner Wohnung informierte. Anschließend steckte er das Handy wieder weg und öffnete mit der Karte das elektronische Schloss. Die Tür sprang auf.

Das Erste, was Srecko auffiel, war der eindringliche Geruch. Chemisch irgendwie. Wie Desinfektionsmittel oder verschütteter Alkohol. Gleichzeitig aber auch organisch, wie Humus, wie Waldboden, pilzig, dachte Srecko, aber mit einer seltsam süßlichen Kopfnote. Er schritt durch den dunklen Flur und trat in das großzügig geschnittene Wohnzimmer mit Glasfront. Gleißendes Licht stach ihm in die Augen. Die hoch stehende Sonne musste den Raum auf über vierzig Grad aufgeheizt haben, augenblicklich trat ihm Schweiß auf die Stirn. Geblendet blinzelte er ins Gegenlicht. Das gebohnerte Parkett reflektierte die Sonnenstrahlen, die durch die bodentiefen Fenster ins Innere fielen. Unwillkürlich blieb er stehen. Lag da jemand? Lag da einer auf dem Boden? Lag da Arlemark?

»Hallo?«, sagte er zaghaft.

Ja, da lag jemand, erkannte er, als sich seine Augen ein wenig an die anstrengenden Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Da lag jemand rücklings auf dem Boden.

»Adam?«, fragte er, während er langsam einen Schritt vor den anderen setzte.

Keine Reaktion.

Er umrundete die reglose Person in einem Halbkreis und die Lichtverhältnisse änderten sich. Nun erkannte er es.

Nun erkannte er ihn.

Es war Adam Arlemark. Sein Gesicht war intakt. Aber …

Srecko schluckte so trocken, dass es noch Augenblicke später im Hals schmerzte. Seine Knie drohten nachzugeben, aber er blieb aufrecht stehen. Er hatte als Kind den Krieg erlebt. Er hatte Dinge gesehen, die niemand je erleben oder sehen sollte. Aber so etwas …?

Er wendete sich ab, öffnete die Balkontür, taumelte hinaus, tippte mit zitterndem Finger die Nummer der Polizei auf dem Handy und erklärte stammelnd die Situation.

»Lebt die aufgefundene Person womöglich noch?«, fragte die sachliche Stimme am anderen Ende schließlich.

»Ob sie noch lebt …?«, krächzte Srecko.

Er hatte noch nie eine abwegigere Frage gehört.

2

Stockholm-Tensta im Juli, achtunddreißig Grad im Inneren des parkenden Vans. Kommissarin Stina Forss sah durch die verdunkelten Scheiben nach draußen. Die Luft flirrte in den Straßenschluchten zwischen den Wohnblocks. Häuser wie Monolithen, Plattenbaulabyrinth, schlimmer als Berlin-Marzahn, dachte sie und wischte sich mit dem nackten Arm Schweiß von der Stirn. Aber dies war nicht ihre alte Heimat, sondern die neue. Die neueste, um genau zu sein. Tensta, eine Sechzigerjahre-Vorstadtbausünde, sogenanntes Millionenprogramm, längst eine Art Ghetto und Sackgasse Zigtausender Biografien, eine Hochhaushölle, eingeklemmt zwischen zwei anderen Hochhaushöllen, Hjulsta und Rinkeby. Hinten die Autobahn, vorn ein Waldgürtel, der die braven Einfamilienhäuser in Bromsten vor dem Einfall der Barbaren schützte. Forss kannte die Zahlen, jahrzehntelange Vorurteile waren irgendwann zu Fakten geronnen: Allein im Vorjahr achtzig Schusswechsel, siebzehn Tote, viele von ihnen noch nicht einmal volljährig, die meisten mit Migrationshintergrund. Self-fulfilling prophecies. Und diese furchtbaren Zahlen galten allein für den Großraum Stockholm. In Malmö, Göteborg, Uppsala, Borlänge sah es ähnlich aus. Mehr als siebzig Schusswaffenopfer landesweit. Das war auf die Einwohnerzahl hochgerechnet europäische Spitze. Nahezu amerikanische Verhältnisse. Die neueste Entwicklung der ohnehin schon angespannten Situation waren Sprengstoffattentate in den Gebieten der jeweiligen Kontrahenten, auf Wohnungen, Autos, Unterschlupfe. Mehrfach war es bereits zu schweren Verletzungen Unbeteiligter gekommen, von den immensen Sachschäden und dem zunehmenden Unsicherheitsgefühl in den betroffenen Stadtvierteln ganz zu schweigen. Und genau deshalb war sie hier. Operation Rimfrost, Raureif, hieß die landesweite Polizeistrategie, die Ressourcen bündeln sollte, um den entfesselten Drogenbandenkriegen endlich robust zu begegnen. Nachdem Forss vor Jahren in letzter Sekunde einen terroristischen Bombenanschlag verhindert und Tausende Menschenleben gerettet hatte, galt sie in Polizeikreisen als Kapazität, was Sprengstoffattentate anging. Der Leiter der landesweiten Operativen Einheiten, kurz NOA, hatte sie vor neun Monaten aus Växjö hierhergelotst, aus der småländischen Provinz an die vorderste Front des Kampfes gegen Bandenkriminalität. Ihre Gründe, Växjö zu verlassen und endlich wieder in einer Großstadt zu arbeiten, waren vielfältig und …

»Es tut sich was.«

Die Stimme des Einsatzleiters riss sie aus ihren Gedanken. Håkan Rydell war ein schmaler, großer Mann mit Brille, ehrgeizig und wie sie Anfang vierzig. Sie sah zu einem der Fenster im fünften Stock des Wohnblocks auf, vor dem ihr Fahrzeug postiert war, und hielt einen Kopfhörer an ihr Ohr. Sofort setzte Stimmengewirr ein. Die Zielpersonen, auf die sie warteten, betraten die verwanzte Wohnung. Forss lauschte und spürte, wie ihr unter der schusssicheren Weste der Schweiß den Rücken hinablief. Die Hitze machte es schwer, sich zu konzentrieren, sie hockten hier bereits seit Ewigkeiten in dem stickigen Wagen. Forss blickte auf die Uhr, zupfte an ihrer Augenklappe, fuhr sich durch die rotbraunen Locken. Ihr Körper kribbelte vor Ungeduld. Langmut war definitiv keine ihrer Stärken. Sie drückte die Kopfhörermuschel fester auf ihr Ohr. Nun verstand sie vereinzelte Satzfetzen.

»… bekommt nichts auf die Reihe, der Asi.«

»… schon immer ein fertiger Typ, dieser Kanake.«

»Tarek meinte, er würde vielleicht später …«

»… die Fresse halten.«

Lachen.

Rauschen.

Undefinierbares Rumpeln.

Dann wieder Stimmen, diesmal klar und nah an einem der versteckten Mikrofone.

»… wollen wir mal zum Geschäftlichen kommen, Brüder.«

»… cash, habibi, Bargeld lacht …«

»Was du nicht sagst.«

Sie erkannte die Stimme des Angesprochenen wieder.

»Das ist er, wir sollten reingehen«, sagte sie laut. »Jetzt, auf der Stelle.«

Rydell warf ihr einen langen Blick zu, bevor er sich kopfschüttelnd an die anderen beiden Kollegen wandte. Die Chemie zwischen ihr und dem Rest des Teams hatte vom ersten Augenblick an nicht gestimmt.

»Du kennst die Befehle, Forss. Wir warten, bis das Mobile Einsatzkommando eintrifft. Und jetzt Ruhe!«

Naserümpfend ruckelte er seinen Kopfhörer zurecht.

Zu ihrer Ungeduld gesellte sich Wut. Rydell war zwar der Teamleiter, trotzdem war das hier ihr Baby. Ihr Informant, ihre Show, so einfach war das. Sie musste sich beherrschen. Dabei hatte sie sich geschworen, dass es dieses Mal anders laufen sollte als in Berlin und Växjö. Ruhiger. Entspannter. Keine Alleingänge mehr, keine Ausbrüche, kein Aufbegehren. Sie hatte in ihrem Leben schon zu oft von vorne angefangen. Sie klaubte eine Dose Snus aus ihrer Gesäßtasche, öffnete sie und schob sich ein Tabakpäckchen unter die Oberlippe. Vielleicht beruhigte das Nikotin ein wenig. Sie schätzte die Situation grundlegend anders ein als Rydell. Ihr Informant hatte recht gehabt. Jamal Khaled, der top boy von Tensta, war persönlich zu dem Treffpunkt gekommen. Jetzt, in diesem Augenblick, befand er sich in der Wohnung. Und mit ihm aller Wahrscheinlichkeit nach mehrere Kilo Heroin, ein Haufen Schwarzgeld und jede Menge illegaler Waffen. Solche Gelegenheiten gab es nicht oft. Sie spürte unmittelbar die elektrisierende Wirkung des Kautabaks. Rydell war ein ausgemachter Idiot, wenn er weiter auf das Sonderkommando wartete, anstatt sofort zu handeln. Allein der Umstand, dass der Einsatz im Vorfeld nicht besser synchronisiert worden war, zeigte seine Inkompetenz. Wieso war das SWAT-Team nicht längst vor Ort und in Stellung gebracht? Das Kribbeln im Körper wurde stärker. Ihr rechter Fuß wippte. Sie zog die Kreppverschlüsse der Kevlarweste strammer. Sie war zu NOA und Rimfrost gekommen, um etwas zu bewirken. Was sie wollte, waren weniger Halbstarke, die sich gegenseitig über den Haufen schossen, abstachen oder in die Luft sprengten. Das erreichte man nicht, indem man zauderte, immer wieder zu spät kam, sodass einem nur noch übrig blieb, die Blutlachen aufzuwischen oder Leichenteile einzusammeln. Das erreichte man nicht, indem man kleine Straßendealer abgriff. Aber vor allem erreichte man nichts mit ängstlichen Vorgesetzten.

»Ich geh da jetzt rein«, sagte sie, riss den Kopfhörer herunter, stand auf und zog die Schiebetür des Vans auf, bevor irgendjemand reagieren konnte.

»Forss, du kannst doch nicht …«

Sie konnte. Sie stieg aus, warf sich eine leichte Windjacke über, die Schutzweste und Holster verdeckte, band sich ihr Halstuch zu einem improvisierten Hijab über die Locken und marschierte los. Das war übereilt. Das war kopflos. Das war wahrscheinlich sogar wahnsinnig. Es allein mit drei oder vier bewaffneten Kriminellen aufzunehmen. Die Späher nicht mitgerechnet, die aller Voraussicht nach an Fenstern und Hauseingängen postiert waren. Doch sie war nicht zwangsläufig allein. Nicht wenn Rydell, Andersson und Hamudi ihr folgen würden. Denn was blieb ihnen anderes übrig? Sie konnten ihre Kollegin schlecht in ein aussichtsloses Feuergefecht laufen lassen. Dazu war der Korpsgeist zu stark, selbst einer renitenten Einzelgängerin gegenüber. Als sie die Straße überquert hatte, hörte sie hinter sich, wie die Schiebetür des Vans ins Schloss fiel und die anderen ihr fluchend folgten. Na, wer sagt’s denn, dachte sie. Die Eingangstür des Wohnblocks hatte kein funktionstüchtiges Schloss, vermutlich schon seit Jahren nicht mehr. Ein Fußtritt und die Tür flog auf. Sie zog die Sig Sauer und orientierte sich. Der Fahrstuhl war außer Betrieb, wahrscheinlich ebenfalls seit Ewigkeiten. Der alleinige Weg nach oben bestand aus dem Treppenhaus, eine Feuerleiter gab es nicht. Der einzige mögliche Fluchtweg für die Zielpersonen führte am Ende des Treppenhauses aufs Flachdach, von wo aus man fünfzig Meter weiter in einen anderen, parallelen Treppenschacht gelangen konnte. Die Tür, die aufs Dach hinausging, stand normalerweise offen. Wenn Forss’ Informant jedoch ganze Arbeit geleistet hatte, war die Tür seit einer guten Stunde mit einem soliden Vorhängeschloss gesichert, sprich: Die Gangster kamen nicht aus dem Haus heraus, ohne an ihr vorbeizugelangen. Irgendwo weiter oben im Treppenhaus pfiff jemand. Das musste die Warnung der Späher sein, sie hatten die drei Kripomänner in ihren schusssicheren Westen über die Straße rennen sehen. Nun ging hinter Forss die Tür auf, Rydell und die anderen beiden traten mit gezogenen Waffen ein.

»Forss, verdammt und zugenäht …«

»Später könnt ihr mich vor die Interne schleppen. Oder vierteilen. Oder wonach auch immer euch der Kopf steht. Aber jetzt brauche ich euch, okay?« Rydell knurrte etwas Unverständliches. Er hatte einen hochroten Kopf und es war schwer auszumachen, ob das an seiner Wut oder der Aufregung lag. Wahrscheinlich beides. Andersson schnaufte, das Übergewicht machte ihn kurzatmig und der Schweiß färbte sein Hemd dunkel. Hamudi nestelte fahrig an seiner Dienstwaffe herum. Nicht gerade die glorreichen Sieben, dachte Forss, aber allemal besser, als allein hier zu stehen. »Wir gehen gemeinsam hoch, einverstanden?« Sie blickte den Kollegen in die Augen. »Denkt daran, es ist wie bei Gandalf im verfluchten Moria: Sie kommen nicht an uns vorbei!« Nicken. »Konzentriert euch auf Jamal. Die anderen sind zweitrangig. Okay? Let’s go!«

Zügig und dicht hintereinander gingen sie die Treppe hinauf, die Waffen beidhändig gegriffen und entsichert. Andersson schnaufte wie eine Dampflok. Forss musste davon ausgehen, dass die Männer im fünften Stock längst durch ihre Späher informiert worden waren. Als sie im dritten Stock angelangt waren, öffnete sich auf dem Treppenabsatz eine Tür. Kurz sah man das verschreckte Gesicht einer alten Frau, dann schlug die Tür wieder zu. Sie hatten die Treppe zum vierten Geschoss gerade zur Hälfte geschafft, als es über ihnen hektisch wurde, gedämpfte Rufe, quietschende Sneakersohlen, schnelle Schritte. Drei, vielleicht vier junge Männer, die die Treppe nach oben nahmen.

»Sie laufen in die Falle«, zischte Forss. »Andersson, du sicherst die Wohnungstür im Fünften, nicht, dass uns Jamal doch noch irgendwie verarscht und hinter unserem Rücken abhaut, falls sie von der verschlossenen Tür Wind bekommen haben. Die anderen mir nach!«

Sie stürmten nach oben. Forss spürte, dass ihr das Training im vergangenen Jahr gutgetan hatte. Auch Rydell und Hamudi waren in Form. Die Verfolgten hatten anderthalb Treppenabsätze Vorsprung. Zumindest bis zum achten Stock. Dann war Schluss. Vorausgesetzt, der Informant hatte sich an sein Wort gehalten, dachte Forss. Als sie am sechsten Stock vorbei waren, hörte sie, wie es über ihnen still wurde. Die Männer mussten die Tür erreicht haben. Sie blieb stehen und bedeutete ihren Kollegen mit einer Handbewegung, es ihr gleichzutun. Der Puls dröhnte in den Ohren, ihr Atem raste. Über ihnen hörte sie einen Fluch. Dann Tritte gegen die Metalltür. Wir haben sie, dachte sie triumphierend, wir haben sie im Sack.

»Ergebt euch!«, rief sie, so laut sie konnte. Ihre Stimme hallte im graffitiverschmierten Treppenschacht wider. »Ihr habt keine Chance! Es sind zweiunddreißig Bullen im Haus und rundherum verteilt.«

Das war gelinde gesagt übertrieben. Zumindest bis hoffentlich bald das verdammte Einsatzkommando eintraf.

Ein Schuss dröhnte über ihnen, gefolgt von einem Aufschrei.

Wahrscheinlich hatte einer der Trottel versucht, das Schloss an der Tür aufzuschießen, und dabei den Querschläger abbekommen. Schlösser aufschießen, so etwas klappte meist nur in Filmen. Sie hörte, wie über ihnen getuschelt wurde, dazwischen schmerzverzerrtes Stöhnen. Die Kerle berieten sich offenbar.

»Überleg dir jeden weiteren Schritt gut, Jamal!«, rief sie. Persönlich werden, Vertrauen aufbauen. »Bisher geht es nur um Drogenhandel und illegalen Waffenbesitz. Wir reden hier von ein bis zwei Jahren Bau.« Das waren reine Fantasiezahlen, aber egal. »Wenn du jetzt jedoch anfängst, auf Ermittlungsbeamte zu schießen, verlässt du den Knast als alter, seniler Sack.« Sie machte eine Wirkungspause, bevor sie fortfuhr. »Ich will, dass du dir das genau vorstellst, Jamal: Nie wieder Party machen. Nie wieder deinen geilen Mercedes AMG fahren. Nie wieder einen wegstecken.«

Wieder hörte man gedämpftes Stimmengemurmel. Sie berieten sich. Dazwischen immer wieder das Stöhnen. Offenbar hatte sich tatsächlich jemand verletzt.

»Okay, wir kommen herunter.«

Sie atmete auf, auch wenn die Nummer noch nicht vorüber war, bevor sie jedem der Gangster Handschellen angelegt hatten.

»Kickt die Waffen die Treppe runter. Wenn ich sage, dass es losgeht, kommt ihr einzeln und mit erhobenen Händen nach unten, verstanden?«

»In Ordnung.«

Drei Handfeuerwaffen und ein Messer schepperten die Treppe hinab. Hamudi und Rydell kümmerten sich darum. Dann kamen die Männer einer nach dem anderen die Stufen herab, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Der erste und jüngste von ihnen war höchstens sechzehn Jahre alt, ein Knirps mit Nasenring, der nächste war vielleicht achtzehn. Er blutete am Ohr. Als dritter und letzter kam Jamal, groß, Mitte zwanzig, muskulös, kurze Dreadlocks, ein vergoldeter Schneidezahn, der durch sein freches Grinsen volle Wirkung entfaltete. Das komplette Klischee, Tenstas top boy. Nach ihm würde es eine neue Nummer eins geben, da machte sich Forss nichts vor. Dennoch war es ein Anfang. Ein Schritt auf dem langen Weg für eine bessere Zukunft der Vorstädte.

»Langsam«, sagte sie, »einer nach dem anderen.«

Der Revolver in der Hand des Kleinen tauchte wie aus dem Nichts auf. Er musste ihn hinter dem Kopf gehalten haben. Er schoss sofort. Das Projektil zischte an Forss vorbei und traf Hamudi, der leicht versetzt hinter ihr stand. Ihr Kollege taumelte zur Seite. Im selben Moment eröffnete Rydell das Feuer. Sein Finger zuckte. Einmal, zweimal, dreimal. Die Schüsse hallten ohrenbetäubend in dem engen, schmutzigen Treppenhaus. Der Junge brach zusammen. In seiner Stirn klafften drei Löcher. Forss’ Ohren fiepten. Der durchdringende Corditgeruch raubte ihr den Atem. Jamal und das andere Gangmitglied hatten sich zu Boden geworfen. Der Jüngere der beiden weinte. Rydell kniete sich vor Hamudis gekrümmten Körper und drückte auf die stark blutende Schulterwunde. Er sah wutentbrannt zu ihr auf.

»Scheiße, Forss«, rief er. »So eine verdammte Scheiße.«

3

Hauptkommissarin Ingrid Nyström stellte die Rückenlehne ihrer Liege noch eine Stufe tiefer. Die Nachmittagssonne kitzelte angenehm auf der Nasenspitze. Sie hatte die Augen hinter der Sonnenbrille geschlossen, denn sie brauchte in diesem Moment keine visuellen Impulse, der Augenblick war auch so nahezu schön: das Jauchzen und Planschen ihres dreijährigen Enkels Albert am flachen Ufer der Landzunge, die in das klare Wasser des Svanåssees hineinragte, jenes gut versteckten Waldsees, an den ihre Familie seit Jahrzehnten zum Baden kam. Die ruhige, liebevolle Stimme ihrer Tochter Anna, die mit Albert im knietiefen Wasser spielte. Das rhythmische Schnarchen ihres Manns Anders, der über dem Manuskript seiner nächsten Sonntagspredigt eingenickt war. Endlich hatte sie ihre Liebsten wieder. Auch wenn es bereits mehrere Monate zurücklag, dass Anders’ Sabbatjahr, das er in Begleitung von Anna und dem kleinen Albert bei einem Entwicklungshilfeprojekt in Tansania verbracht hatte, zu Ende gegangen und er auf seine Pastorenstelle zurückgekehrt war, kam es ihr mitunter vor, als wären die drei gerade erst wieder nach Hause gekommen.

Sie hörte eine Libelle vorbeisummen und vom gegenüberliegenden Seeufer wehte der warme Wind Melodiefetzen eines Popsongs und das Lachen einiger Jugendlicher herüber. Sie roch die Sonnenmilch auf ihrem Körper, den duftenden Kaffee, den sie in ihrer Hand hielt, sowie das würzige Waldaroma, das die nahen Tannen und Kiefern verströmten. Dies hier ist das Glück, dachte sie, oder jedenfalls das, was ihm am Nächsten kommt. Denn es gab etwas im Hintergrund ihres Bewusstseins, etwas Dunkles, das nie wieder vollends weichen würde. Sie öffnete die Augen einen Spalt, gerade so weit, dass sie Annas und Alberts Konturen im Gegenlicht erkennen konnte. Es war neun Monate her, dass sie einen Mann erschossen hatte. Sie hob die Augenlider einen weiteren Millimeter. Nein, es war neun Monate her, dass sie einen Mann hingerichtet hatte, musste es richtigerweise heißen. Denn es war nichts anderes als eine Exekution gewesen. Sie hatte eigenmächtig und entgegen allem gehandelt, woran sie glaubte oder zuvor zu glauben meinte, sie hatte entgegen all ihren moralischen Prinzipien, ihrem Gottesglauben, ihrer tiefen Überzeugung, dass der Mensch eine Seele hat, über den Mann Gericht gehalten und das von ihr selbst gefällte Todesurteil vollstreckt. Sie hatte denjenigen getötet, der für den Mord an ihrer Schwiegertochter Hailey, Annas Lebensgefährtin und Alberts leiblicher Mutter, verantwortlich war. Sie hatte ihn einfach erschossen. Mit dieser Schuld musste Nyström fortan leben, sie würde bis zu ihrem Tod auf ihr lasten – und, daran glaubte sie fest, darüber hinaus. Keine Buße der Welt, keine noch so harsch geartete Sühne konnte diese Schuld von ihr nehmen, sie war der Schatten, der auf ihr lag, selbst an einem eigentlich unbeschwerten Sommertag wie diesem.

»Oma!«, schallte Alberts Stimme vom Ufer her, »Oma!«

Sie öffnete die Augen nun ganz.

Anna hielt Albert mit beiden Armen unter dem Bauch fest, sodass der Junge Wasser treten konnte, was er mit energischen Beinbewegungen auch tat. Die Sonne ließ jeden der Millionen Spritzer und Tropfen zu glitzernden Diamanten werden.

»Willst du nicht zu uns hereinkommen, Mama? Das Wasser ist wunderbar!«

Auf dem Gesicht ihrer Tochter lag eine Unbeschwertheit, die lange unter Trauer vergraben gewesen war. Seit einigen Wochen ging sie abends sogar wieder aus.

»Ich dachte, ich bereite schon mal das Picknick vor und schneide die Melone auf«, antwortete Nyström. »Nach dem Essen bade ich dann gern mit euch.«

Im Liegestuhl neben ihr regte sich Anders. Sein Notizbuch rutschte von der grau behaarten Brust und landete im Gras zwischen den beiden Liegen, was sie zum Lächeln brachte.

»Ausgeschlafen, der Herr?«

»Habe ich irgendetwas verpasst?«

»Du wachst gerade rechtzeitig auf, gleich gibt es Obst und Zimtschnecken.«

»Das klingt gut! Und für einen Becher Kaffee würde ich töten.«

Sie warf ihm einen langen Blick zu. Über so etwas scherzt man nicht, wollte sie sagen. Aber natürlich würde er ihre plötzliche Ernsthaftigkeit nicht verstehen können. Wie auch? Er wusste nichts von dem dunklen Geheimnis. Auch das gehörte zu ihrer Bürde: eine Sprachlosigkeit, eine Entfremdung.

»Wie gut, dass ich welchen dabeihabe«, sagte sie stattdessen.

Gerade als sie die Thermoskanne in die Hand genommen hatte, klingelte das Mobiltelefon in der Strandtasche. Sie reichte die Kanne an Anders weiter, griff nach dem Handy und blickte aufs Display. Es war Hugo Delgado, ein langjähriger Mitarbeiter ihres Teams. Sie wusste, was das aller Wahrscheinlichkeit nach bedeutete. Mit einem Seufzen nahm sie das Gespräch an. Es war, wie sie es geahnt hatte, Delgado meldete sich von einem möglichen Tatort. Ein Leichnam war aufgefunden worden, ihr sofortiges Kommen war erforderlich, der Badeausflug mit der Familie fand ein jähes Ende.

Als sie aufstand, zwinkerte Anders ihr aufmunternd zu.

»Keine Angst, wir lassen dir eine Zimtschnecke übrig.«

Anna winkte aus dem Wasser, Albert lachte. Es war wirklich ein schöner Nachmittag – so schön, wie ein Nachmittag in ihrer Welt sein konnte. Was zusätzlich schmerzte, auch wenn es ihr unangenehm war, war die plötzliche Erkenntnis, dass die drei auch ohne sie eine wunderbare Zeit verbringen würden.

Sie machte auf dem Weg in die Stadt zu Hause halt und zog sich rasch um. Shorts, Sandalen und eine geblümte Bluse waren kein angemessenes Outfit für eine Hauptkommissarin, die im Begriff war, eine neue Ermittlung zu übernehmen. Delgado hatte sich am Telefon auffällig vage ausgedrückt, das war ungewöhnlich und beunruhigte sie ein wenig. Sie entschied sich für eine beigefarbene Baumwollhose und eine helle grüne Bluse. Mode war noch nie ihre Stärke gewesen. Vor dem Spiegel zupfte sie die Kurzhaarfrisur zurecht. Eitelkeit gehörte nicht zu ihren Schwächen. Mit diesen beiden Einsichten war sie den Großteil ihrer achtundfünfzig Lebensjahre gut gefahren.

Von Ör aus ins südlich gelegene Växjö dauerte es mit dem Auto eine Viertelstunde. Die Straßen der Siebzigtausend-Einwohner-Stadt waren am späten Samstagnachmittag wie leer gefegt, kein Wunder bei dem fantastischen Wetter, es waren Ferien und viele waren an die nahen Badeseen geflohen, in ein Ferienhaus auf dem Land oder an einen Mittelmeerstrand. Auch wenn Nyström noch nie an der Adresse gewesen war, die Delgado ihr geschickt hatte, benötigte sie kein Navi, um sich zurechtzufinden. Das Stairway to Heaven war eine der neuen Landmarken der boomenden Provinzmetropole, ein siebzehnstöckiges Apartmenthochhaus, das die Stadtplaner als signature building beworben hatten – was auch immer das heißen mochte. Ihr kam der aufragende Wohnturm inmitten eines Viertels voller Einfamilienhäuser deplatziert vor, in gewisser Weise sogar anmaßend, ein ausgestreckter Mittelfinger an die Durchschnittlichkeit der Umgebungsbebauung. Nyström fuhr direkt in die Tiefgarage unter dem Haus, den dazu nötigen Zugangscode fürs automatische Rolltor hatte Delgado ihr ebenfalls mitgeteilt. Sie stellte ihren kleinen Toyota ab und stieg aus. In den umliegenden Parknischen erkannte sie den Van der Spurensicherung sowie den überdimensionierten Pick-up ihres Mitarbeiters Lasse Knutsson. Ein Aufzug brachte sie in wenigen Sekunden ins zwölfte Stockwerk. Sobald sich die Fahrstuhltüren geöffnet und sie einen Schritt heraus auf den Treppenabsatz getan hatte, kam ein älterer Mann auf sie zu, als habe er nur auf sie gelauert. Typ misanthropischer Rentner: Schnurrbart, Tennisshorts, veilchenfarbenes Ralph-Lauren-Polohemd samt passendem Käppi.

»Was ist hier eigentlich los«, bellte er, »und was wollen die ganzen Polizisten hier? Als Anwohner und Nachbar habe ich ein verdammtes Recht zu erfahren, was zum Teufel …«

Er war ihr so nah auf die Pelle gerückt, dass sie seinen Atem riechen konnte. Leberwurst. Sie rümpfte die Nase. Im selben Moment kam ein Streifenbeamter, den sie kannte, aus der offenen Tür der Nachbarwohnung.

»Kalle, bist du so nett und begleitest den freundlichen Herrn hier zurück in sein Apartment?«, bat sie ihn. »Wir werden uns zu gegebener Zeit um ihn kümmern.«

»Natürlich.«

»Eine bodenlose Unverschämtheit! Bei mir ist die Klimaanlage defekt!«

Sie ging weiter, der protestierende Nachbar verschwand aus ihrer Hörweite und sie trat durch die Tür, aus der ihr der Kollege entgegengekommen war. Im Flur drückte ihr ein Mitarbeiter der Spurensicherung violette Schuhüberzieher, Einweghandschuhe, Haarhaube und einen Mundschutz in die Hand. Mit routinierten Handgriffen legte sie die obligatorische Tatortausrüstung an. Der Mundschutz dämpfte den auffälligen Geruch nur bedingt, es roch chemisch und organisch zugleich. Die Luft war stickig und drückend warm, sie musste an die Worte des Nachbarn auf dem Treppenansatz denken. Offenbar war nicht nur bei ihm die Klimaanlage ausgefallen. Der Kollege von der Spurensicherung wies mit dem Kopf in Richtung der offenen Tür am Ende des Flurs. Während sie die wenigen Schritte tat, straffte sie sich innerlich und sammelte ihre Gedanken. Das Einzige, was sie bereits wusste, war, dass auf der anderen Seite ein Leichnam auf sie wartete, ein mittelalter Mann, der keines natürlichen Todes gestorben war. In dem Moment, in dem sie über die Schwelle des Raums trat, schaltete ihr Bewusstsein in einen Zustand maximaler Aufmerksamkeit; ein Automatismus, der sich im Laufe von mehr als dreißig Dienstjahren entwickelt hatte. Es war, als wären die Schleusen ihrer fünf Sinne für einen kurzen Zeitraum vollständig geöffnet, eine Hypersensibilität, die sie unzählige Details in einer Klarheit und Schärfe wahrnehmen ließ, die ihr im Alltag verwehrt war. Die vielen Menschen, die in dem Zimmer mit der Glasfront umherwuselten, blendete sie für den Augenblick aus. Da waren nur der Tote und sie – und der stumme Dialog zwischen ihnen.

Er lag in der Mitte des Raums auf dem Rücken, ein großer, schwerer Mann. Sie umrundete ihn einmal, blieb dann vor seinen Füßen stehen und betrachtete ihn genauer. Geschätzt war er etwa vierzig Jahre alt, mindestens eins neunzig groß, muskulös und hatte leichtes Übergewicht. Die Arme waren weit vom Körper abgespreizt. Sein Gesicht war im Gegensatz zur Statur schmal und fein geschnitten. Die Augen waren geschlossen, was ungewöhnlich war und dem ebenmäßigen Antlitz des Toten trotz der kreisrunden Einschusswunde an der rechten Schläfe einen friedlichen, entspannten Ausdruck verlieh. Eine Austrittswunde war nicht zu erkennen. Der mächtige freie Oberkörper wies eine noch deutlichere Verletzung auf. Vom Halsansatz bis zum Schambein klaffte ein gerader mittiger Schnitt. Aus der tiefen Wunde war eine Menge Blut ausgetreten, das an den Seiten des Leichnams herabgeflossen und geronnen war und um den Körper herum eine unregelmäßige, eingetrocknete Lache bildete, die zum Teil verschmiert war. Auch Abdrücke waren darin zu erkennen. Als hätte jemand vor dem Toten gekniet und dabei mehrmals seine Position verändert. Der Verwesungsgeruch war unerträglich stark. In der offenen Wunde waren Bewegungen zu erkennen. Die hellen Maden waren ein Zeichen dafür, dass der leblose Körper bereits seit Tagen dalag. Mit einer Handbewegung versuchte sie die unzähligen Fliegen auf dem Leichnam zu verscheuchen, was eine sinnlose Geste war. Abgesehen vom nackten Oberkörper war der Mann bekleidet. Er trug schwarze Anzughosen und schwarze, elegante Schuhe.

Sie richtete sich auf. Nun nahm sie auch die Umgebungsgeräusche wieder wahr und die Menschen um sie herum. Ihre Kollegen, Hugo Delgado, Anfang vierzig, mittelgroß, dunkelhaarig, olivfarbener Teint, und Lasse Knutsson, sechzig, bärtig und von bärenhafter Gestalt, traten an sie heran.

»Dein erster Eindruck?«, fragte Knutsson brummend, die gutmütigen Augen über dem Mundschutz zu fragenden Schlitzen verengt.

Ihr fiel nicht viel mehr ein, als mit den Schultern zu zucken.

»Eine äußerst ungewöhnliche Kombination«, sagte sie. »Schusswaffengebrauch und eine schwere Schnittverletzung. Wurden mögliche Tatwaffen sichergestellt?«

»Bis jetzt noch nicht«, antwortete Delgado.

»Sonst noch etwas, was ich wissen sollte?«

»Bisher sind laut Spurensicherung Fingerabdrücke Fehlanzeige, trotz des vielen Bluts.« Knutsson wischte sich Schweiß von der Stirn. »Wer auch immer das getan hat, ist sehr überlegt, strukturiert und planvoll vorgegangen.«

»Haben wir wenigstens einen Namen?«, fragte sie.

»Der Mann, der hier wohnt, heißt Adam Arlemark, ist vierundvierzig Jahre alt und arbeitete für eine Unternehmensberatung. Aber am besten sprechen wir mit dem Hauswart, der den Leichnam gefunden hat«, schnaufte Knutsson. »Der wartet in seinem Büro im Keller. Ich muss hier jedenfalls auf der Stelle raus, sonst kippe ich um.«

»Einverstanden.«

Auch sie selbst war froh, einen Anlass zu haben, den überhitzten Raum samt dem verwesenden Leichnam schnell zu verlassen, auch wenn ihr klar war, dass sie nach der Befragung wieder zurückkehren musste, um die Wohnung zu durchsuchen und den Tatort genauer kennenzulernen.

Der Arbeitsplatz von Srecko Bradaric, den sie von der Tiefgarage aus erreichten, war eng, aber angenehm kühl und erinnerte Nyström eher an die Kommandozentrale eines Raumschiffs als an ein Hausmeisterbüro. Zwischen den futuristisch anmutenden Monitoren, Displays und Bedienmodulen wirkte Bradaric angenehm bodenständig: gedrungene, breitschultrige Gestalt, Mitte vierzig, Dreitagebart, kurzes struppiges Haar, Fußballshorts, Flip-Flops. Sie begrüßten sich. Fester, verbindlicher Händedruck und Augenkontakt, ein schmales Lächeln, das angesichts der ernsten Situation aber schnell wieder verschwand. Er war Nyström vom ersten Moment an sympathisch und sie heftete ihm innerlich das vorläufige Etikett seriöser Zeuge an, auch wenn sie bereit war, ihr schnelles Urteil jederzeit zu revidieren. Instinkt und Verstand, die Dialektik eines jeden guten Ermittlers, zumindest war das ihre Meinung. Trotz der sonnengebräunten Haut war Bradaric blass im Gesicht und wirkte aufgewühlt, was man ihm kaum verdenken konnte. Seine kräftigen Hände fassten immer wieder nach einem Marienmedaillon, das er an einer silbernen Halskette trug.

»Stört es euch, wenn ich rauche?« Knutsson und sie schüttelten den Kopf. »Ist hier zwar eigentlich nicht erlaubt, aber …«

Er führte den Satz nicht zu Ende, sondern zog mit erleichtertem Gesichtsausdruck eine Schachtel Marlboro aus einer Schublade, nahm eine Zigarette samt Feuerzeug heraus, zündete sie sich an und inhalierte tief.

»Beginnen wir ganz von vorne«, sagte Nyström. »Einverstanden?«

Bradaric nickte, ließ sich auf einen Schreibtischstuhl fallen und berichtete: Der Anruf des Etagennachbarn wegen einer defekten Klimaanlage habe ihn auf einem privaten Grillfest erreicht. Pflichtschuldig war er sofort aufgebrochen, habe sich die Sache angesehen und als Ursache einen verdreckten Luftfilter in der zwölften Etage ausgemacht. Um den Filter auszuwechseln, habe er das Apartment von Adam Arlemark mithilfe des Generalschlüssels betreten müssen, was ihm in solchen Fällen, wie er betonte, ausdrücklich gestattet sei. So habe er den Leichnam gefunden. Er sei sich zu hundert Prozent sicher, dass es sich dabei um Adam Arlemark handele.

»Wann war das?«, wollte Knutsson wissen.

Bradaric drehte sich zu einem der Rechner um, gab etwas auf der Tastatur ein und las dann von einem der Monitore ab.

»Als ich die Steuerzentrale hier unten betreten habe, war es 16.17 Uhr. Arlemarks Tür habe ich dann um 16.24 Uhr aufgeschlossen, nachdem auf mein Klingeln hin niemand geöffnet hat und ich ihn auch telefonisch nicht erreicht habe.«

»Moment mal«, sagte Nyström, »bedeutet das, das System erfasst sämtliche Schließvorgänge im Haus?«

»Ja.«

»Und die kannst du von hier aus einsehen?«

»Theoretisch schon.«

»Die Bewohner wissen das und stören sich nicht …?«, wollte Knutsson wissen, doch Nyström fiel ihm ins Wort. Womöglich lieferte die schöne neue Überwachungswelt ihnen hier gerade den ermittlungstechnischen Jackpot.

»Wann wurde Arlemarks Wohnungstür davor das letzte Mal geöffnet?«

Bradarics Finger flogen über die Tastatur, die Zigarette balancierte er im Mundwinkel.

»Am Montagabend um 22.19 Uhr.«

»Verdammt, Ingrid, das ist fünf Tage her. So lange liegt der arme Kerl da oben schon«, sagte Knutsson.

Nyström verkniff sich Sentimentalitäten. Die Information konnte für die weitere Ermittlung Gold wert sein.

»Wie weit gehen die Aufzeichnungen zurück?«, fragte sie.

Bradaric scrollte auf seinem Bildschirm nach unten.

»Lange. Bis zu seinem Einzug vor zwei Jahren, denke ich.«

»Wir brauchen Ausdrucke davon. Mindestens vom vergangenen Monat. Geht das?«

Bradaric nickte. Nyström war dankbar, dass er nicht mit irgendwelchen Datenschutzbedenken anfing und auf einem richterlichen Beschlagnahmebeschluss beharrte. Das sparte ihnen wertvolle Zeit. »Wie sieht es mit Videoaufnahmen aus?«

Der Hauswart zeigte noch einmal sein knappes Lächeln.

»Damit kann ich leider nicht dienen. Die einzige fest montierte Kamera im ganzen Haus befindet sich an der Tür des Haupteingangs. Wenn jemand klingelt, sehen die Bewohner auf einem kleinen Monitor, wer da vor der Tür steht und hineinwill. Aufgezeichnet wird diese Übertragung aber nicht.

»Wäre auch zu schön gewesen.«

Knutsson zog einen Mundwinkel nach unten.

»Wann hast du Arlemark das letzte Mal gesehen?«

Nyström blickte Bradaric in die braunen Augen.

»Das muss schon eine Weile her sein. Vor etwa ein, zwei Monaten vielleicht.«

Er kratzte seinen Dreitagebart.

»Das klingt lange, finde ich. Bist du nicht täglich hier?«, fragte sie.

»Ich bin zwar noch für zwei weitere Objekte in der Innenstadt verantwortlich, trotzdem arbeite ich unter der Woche jeden Tag einige Stunden hier, meistens am Vormittag. Wenn ich dringend gebraucht werde, dann auch zu anderen Uhrzeiten oder wie heute am Wochenende.« Er nahm einen letzten Zug und ließ die Kippe dann in einer leeren Coladose verschwinden. »Ich habe ihn selten getroffen – im Gegensatz zu seinem Nachbarn zum Beispiel, Oskarsson, dem Rentner von gegenüber, oder der Witwe aus dem vierten Stock oder auch den beiden Familien aus dem Hochparterre. Arlemark war, soweit ich weiß, beruflich viel unterwegs. Auch im Ausland: Finnland, Norwegen, Dänemark. Oskarsson hat das irgendwann erwähnt, auch wenn ich nicht glaube, dass sich die beiden besonders gut verstanden haben. Mit Oskarsson versteht sich ehrlich gesagt niemand besonders gut. Und Arlemark wirkte auf mich nicht gerade wie ein besonders geselliger Mensch. Mit mir jedenfalls hat er sich kein einziges Mal länger unterhalten. Nichts, was über das Notwendigste hinausging. Dabei kann ich eigentlich sonst mit jedem gut, das gehört zu meinem Job.«

»Bis auf Oskarsson.«

Nun war es Nyström, die lächelte.

»Bis auf Oskarsson«, wiederholte er.

»Warst du auch am Montag hier?«, fragte Knutsson.

»Sicher. Allerdings nicht am späten Abend.«

»Ist dir an dem Tag trotzdem etwas aufgefallen? Leute im Aufzug, die hier nicht wohnen? Geräusche aus Arlemarks Apartment?«

»Nein.«

»Hatte er regelmäßig Besucher? Vielleicht eine feste Freundin?«

»Nicht dass ich wüsste. Eine Reinigungskraft war allerdings regelmäßig da. Die Hausverwaltung hat einen Vertrag mit einer Putzfirma, ein Angebot, das viele Bewohner nutzen.«

»Wie viele Schlüssel gibt es zu der Wohnung?«

Bradaric sah in dem Computer nach.

»An Arlemark wurden zwei ausgegeben. Solche Transponder, wie ich sie hier habe.« Er öffnete eine Schreibtischschublade und Nyström sah ein Fach voller kleiner schwarzer Kunststoffzylinder, die man mit einem Ring an einem Schlüsselbund befestigen konnte. »Ich selbst habe wie gesagt einen Generalschlüssel und die Hausverwaltung hat ebenfalls ein Exemplar. Und ich kann auf Wunsch der Bewohner jederzeit weitere anfertigen, dazu muss ich nur einen dieser Rohlinge entsprechend codieren. Das ist eine Sache von einer halben Minute.«

Nyström und Knutsson warfen sich einen Blick zu.

»Hat außer dir hier noch jemand Zutritt?«, fragte sie.

»Ich habe eine Aushilfe für Notfälle. Der Kollege ist aber sehr selten hier.«

»Wir brauchen den Namen und die Telefonnummer. Von dem Reinigungsunternehmen ebenfalls.«

»Sicher.«

»Hast du noch Fragen, Lasse?« Knutsson verneinte. Nyström bedankte sich für die Auskünfte. Ihr erstes Gefühl hatte sie nicht getrogen, Bradaric schien tatsächlich ein Zeuge zu sein, dessen Aussagen man vertrauen konnte.

»Was denkst du?«, fragte Knutsson, als sie im Fahrstuhl wieder nach oben fuhren.

»Keine regelmäßigen Besuche, womöglich keine feste Beziehung, beruflich viel unterwegs. Das Bild, das Arlemark hier im Haus hinterlassen hat, bleibt ziemlich vage, findest du nicht?« Knutsson brummte zustimmend. »Die registrierten Schließzeiten spielen uns natürlich in die Hände. Dass sein Tod bereits Tage zurückliegt, macht es allerdings nicht einfacher.« Der Lift erreichte den zwölften Stock.

»Das Opfer erschießen und anschließend aufschneiden. Wer zum Teufel tut so etwas?«

Knutsson schüttelte sein schweres Haupt. Die Aufzugtüren öffneten sich.

»Ich kann mir im Moment ebenso wenig einen Reim darauf machen wie du.« Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. »Aber wir werden es herausfinden, Lasse. Das tun wir am Ende immer.«

Sie brachte ein aufmunterndes Lächeln zustande. In der Tat hätte sie Grund genug gehabt, um optimistisch zu sein. Vor Kurzem war ihre Abteilung vom Polizeipräsidenten belobigt worden. Växjö hatte in den vergangenen fünf Jahren landesweit eine der höchsten Aufklärungsquoten schwerer Gewaltverbrechen. Aber Nyström wusste auch, dass diese Ehre zu einem großen Teil Stina Forss gebührte. Doch ihre beste Mitarbeiterin war seit einem Dreivierteljahr nicht mehr da.

»Wahrscheinlich hast du recht. Ich schnappe mir die uniformierten Kollegen und klappere die Nachbarn ab. Obwohl bei dem Jahrhundertwetter einige ausgeflogen sein werden.«

»Einverstanden. Ich sehe mir die Wohnung genauer an.«

Nyström ging ins Wohnzimmer, wo die Spurensicherung mit ihrer Arbeit weitestgehend fertig war und der Leichnam zum Abtransport in die Pathologie vorbereitet wurde. Endlich hatte jemand die Fenster geöffnet, dennoch war es weiterhin unerträglich heiß. Sie öffnete eine Schiebetür zur Linken und trat in einen abgedunkelten Raum, in dem es mindestens fünfzehn Grad kühler war. Nyström wartete, bis sich ihre Augen an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Aus dem Halbschatten schälten sich die Konturen eines Betts, eines Stuhls, eines Kleiderschranks, einer Anrichte hervor. Arlemarks Schlafzimmer. Minimalistische Möbel. Die Wände weitestgehend schmucklos. Das Bett war sorgfältig gemacht, wie in einem Hotel. Die Nachttischoberfläche war leer. Nirgendwo lagen Kleidungsstücke herum. Das einzige persönliche Statement, das ihr ins Auge sprang, war eine großformatige, gerahmte Schwarz-Weiß-Fotografie, die Brooklyn-Bridge in New York. Ein Druck, wie er in den Dekorationsabteilungen großer Möbelhäuser verkauft wurde. Irgendwie wirkte das ganze Zimmer so, dachte sie, ikeahaft, alles machte einen aufgeräumten, nahezu sterilen Eindruck. Ungewollt flackerten Bilder des verwesenden Leichnams, der Insekten und der Blutlache im Wohnzimmer vor ihrem inneren Auge auf, ein Kontrapunkt zu dem kühlen, cleanen Look hier. Sie zog mit einem Ruck die straff gespannte, dünne Bettdecke zur Seite. Darunter lag eine akkurat gefaltete Schlafanzughose samt passendem kurzärmeligen Oberteil. Sie fischte nach dem Etikett. Hundert Prozent Seide. Auch die Bettwäsche, die sie prüfend zwischen den behandschuhten Fingern rieb, war aus dem edlen Naturmaterial. Arlemark war sein Schlafkomfort offenbar einiges wert gewesen. Sie öffnete die Nachttischschublade. Ein Handy samt Ladekabel, eine Smartwatch gleichen Fabrikats, ein E-Book-Reader, Papiertaschentücher, Nasenspray. Ein Namensschild zum Anheften, Adam Arlemark, Gast, ausgestellt von einem Unternehmen namens ESRANGE, vermutlich in einem beruflichen Zusammenhang. Keine Kondome, kein Gleitmittel, kein Pornoheft, überlegte sie, aber das musste natürlich nicht zwangsläufig heißen, dass Arlemark kein sexuell aktiver Mann gewesen war. Sie wandte sich zum Kleiderschrank. An einem Bügel, der am Schlüssel der Schranktür eingehakt war, hing ein leichtes schwarzes Jackett samt weißem Hemd. Nyström dachte, dass es diese beiden Kleidungsstücke waren, die Arlemark zu einem schlüssigen Outfit fehlten. Warum er sie nicht getragen hatte, blieb ihr schleierhaft. Hatte es etwas mit der Hitze zu tun? Dem Schnitt in der Brust? War der Mann beim Ankleiden unterbrochen worden?

Sie öffnete den Schrank. Darin befanden sich Pullover, Hemden, Poloshirts, Stoffhosen, Jeans, zwei Anzüge, verschiedene Krawatten, Unterwäsche, Socken. Gedeckte Farben, von Creme bis Dunkelblau. Nicht unmodern, aber unauffällig. Labels von Levi’s über Tiger of Sweden bis Hugo Boss. Nicht exklusiv, aber markenbewusst. Sie schloss den Schrank wieder, ging auf die Knie und schaute unters Bett. Was sich darunter befand, erkannte sie erst auf den zweiten Blick: Was ihr zuerst wie eine mittelalterliche Foltermaschine vorkam, war ein hölzernes Hometrainer-Rudergerät. Sie fuhr mit dem Finger über den beweglichen, lederbezogenen Sitz. Kein einziger Staubfussel. Arlemark hatte offenbar regelmäßig trainiert. Oder eine sehr sorgfältige Putzhilfe.

Nyström ging zurück ins Wohnzimmer. Inzwischen war der Leichnam abtransportiert worden. Der Verwesungsgestank und der Alkoholgeruch standen allerdings noch immer im Raum. Vereinzelt schwirrten verwirrte Fliegen umher. Die Abwesenheit des Toten öffnete den Blick für die Umgebung. Unwillkürlich trat sie an die Fensterfront. Das, was diesen Raum definierte, war zweifellos der Ausblick. Sie sah über die nördliche Stadt hinweg, über Evedal, die Schlossruine, die Insel Hissö bis auf den weitläufigen Helgasee und darüber hinaus. Schwarzblaues Wasser, sattgrüne Wälder, hellblauer Himmel. Småland im Hochsommer, wunderschön. Hier oben, dreißig Meter über dem Erdboden, fühlte es sich so an, als läge einem die Welt zu Füßen. Sie musste an den Namen des Gebäudes denken, Stairway to Heaven. Wenn man hier oben stand, klang er tatsächlich weniger prätentiös. Doch trotz der Schönheit dort draußen, die jeden, der hier stand, mit Demut oder zumindest Andacht erfüllen musste, war an diesem Ort ein Verbrechen begangen worden. Das Schöne und das Grauen, dachte sie, so nah beieinander. Schweiß von der Stirn wischend, machte sie sich von dem überwältigenden Ausblick los und wandte sich um. Ein Wohnzimmer mit Küchenzeile, an die vierzig Quadratmeter groß. Parkettboden, Eiche, Fischgrätmuster. Ein zeitloses Sideboard, darauf ein großes Terrarium. Sie trat näher heran. Erst auf den zweiten Blick entdeckte sie die blassgrüne Echse auf dem sandigen Untergrund, die sie mit ausdruckslosen Augen anstarrte. Der Kopf sah aus wie der eines Drachen aus Game of Thrones. Wann sie wohl zum letzten Mal gefüttert worden war? Sie nahm sich vor, jemanden darum zu bitten, sich um das Tier zu kümmern. Auf der einen Seite des Raums stand ein ovaler weißer Esstisch mit vier dazu passenden Stühlen, darüber eine klassische Louis-Poulsen-Pendellampe. Bis auf eine leere Wodkaflasche – hatte Arlemark sie getrunken? Konnte ein Toter einen derartigen Alkoholgeruch ausdünsten? Oder war der Inhalt möglicherweise verschüttet worden? – und einen seltsamen, weil unerwarteten Gegenstand war der Tisch leer. Dort stand ein Vier-gewinnt-Spiel, wie es Kinder haben: blaues Kunststoffraster, gelbe und rote runde Spielsteine. Die aktuelle Partie war beendet, Rot hatte eine diagonale Viererreihe gesteckt. Auf der anderen Seite des Zimmers ein 55-Zoll-Fernseher, eine Kompaktanlage, ein Schreibtisch, auf dem ein Laptop stand. An den Wänden drei gerahmte großformatige Schwarz-Weiß-Fotos, vermutlich aus derselben Serie wie das im Schlafzimmer, Skylines amerikanischer Großstädte. Vor dem Fernseher ein anthrazitfarbenes, niedriges Sofa, ein Sessel mit dem gleichen Bezug, ein gläserner Couchtisch. Die Küchenzeile war modern und sauber: chromblitzende Armaturen, schimmernde Granitarbeitsplatte, fett- und abdruckfreie Oberflächen. Sie öffnete den Kühlschrank. Neben Butter, Milch, Frischkäse, Fruchtsaft und Mineralwasser stapelten sich darin eine Handvoll Fertiggerichte. Kein Gemüse, kein Obst. In den Küchenschränken Geschirr, Kochtöpfe und einige Konservendosen sowie Pasta und Reis. Sie blickte in den Backofen. Er war innen so spiegelblank, als wäre er noch nie benutzt worden. Die Worte des Hausverwalters kamen ihr in den Sinn. In der Tat wirkte es so, als hätte Arlemark wenig Zeit zu Hause verbracht.

Sie wandte sich noch einmal der Fensterfront zu. Ihre schweißnasse Bluse klebte auf dem Rücken. Die stickige Hitze erschwerte das Atmen. Sie trat an das einzige Fenster, das geöffnet war, und hielt ihr Gesicht in den Luftzug. Ihr Blick streifte über die weite Landschaft. Als läge einem die Welt zu Füßen, echote es in ihrem Kopf. Unwillkürlich begann sie eine Melodie zu summen und erst nach einer Weile kam ihr in den Sinn, um was für einen Song es sich dabei handelte: Led Zeppelins Stairway To Heaven.

Sven gab Gas. Der im rechten Teil des Lenkerkopfs montierte Bowdenzug gab die Drehbewegung des Handgriffs durch die Lenksäule und den Rohrrahmen bis an den Vergaser weiter. Angesaugte Luft verwirbelte mit dem Benzin-Öl-Gemisch, strömte in den zweihundertfünfundzwanzig Kubikzentimeter großen Zylinder – und explodierte. Simple, aber effektive Zweitaktmotorentechnik. Die irre Beschleunigung und schiere Kraft des Motor-Setups überraschten ihn immer wieder aufs Neue, dabei hatte er die Tuningteile bereits im Frühjahr montiert und auf Probefahrten und längeren Ausflügen die Feinabstimmungen vorgenommen und die Leistungsgrenze ausgetestet. Die Performanz, die das perfekt austarierte Zusammenspiel aus Motor, Vergaser und Resonanzauspuff ergab, war schlichtweg atemberaubend. An die dreißig PS hatte die Messung auf dem Prüfstand ergeben. Als seine perlweiße Lambretta TV 175 in den Montagehallen des Herstellers Innocenti 1962 vom Band gerollt war, war sie für weniger als zehn PS ausgelegt gewesen. Aus dem eleganten Oldtimer war eine Rakete geworden. Sven drehte das Gas noch weiter auf. Die Tachonadel passierte die Hundert, dabei war er erst im dritten Gang. Durch das offene Visier seines goldglitzernden Sechzigerjahre-Retrohelms strömte warme Abendluft, ein Gefühl, als würde ihm jemand einen Föhn ins Gesicht halten. Ein Lächeln legte sich auf sein Gesicht. Er kuppelte und schaltete. Vierter Gang. Er gab weiter Gas. Die Drehzahlen bewegten sich innerhalb weniger Sekunden vom Dreitausender- in den Sechstausenderbereich. Hundertfünfundzwanzig. Dabei waren beide Gepäckträger des Motorrollers voll beladen. Sven warf einen Blick in den Rückspiegel. Måns bekam langsam Schwierigkeiten, mitzuhalten. Typisch Vespa halt, dabei war auch die Rally, Baujahr 1973, bis zum Gehtnichtmehr getunt. Svens Lächeln wurde breiter. Kuppeln, schalten, fünfter Gang. Er lag nun mehr auf dem Motorroller, als dass er saß. Hundertfünfunddreißig. Und warum nicht? Sie waren schließlich gerade in Travemünde von der Fähre gerollt und dies hier war Deutschland, nicht Schweden, sie befanden sich auf der weltberühmten Autobahn und konnten so schnell fahren, wie sie wollten. Der Luftwiderstand war immens, der Fahrtwind riss an seinem Helm und im Bauch kribbelte es. Es gab kein besseres Gefühl auf dieser Welt. Sex kam ihm kurz in den Sinn, aber eigentlich … Verdammt, das hier hatte er sich verdient! Jahrelang hatte er gepaukt wie ein Irrer, hatte sich Tag für Tag durch das Jurastudium gekämpft, bevor er es vor wenigen Wochen mit sehr guten Noten beendet hatte. Summa cum fucking laude. Hundertvierzig. Die absolute Höchstgeschwindigkeit, hier war Schluss. Er ging mit dem Gas runter, bis Måns zu ihm aufgeschlossen hatte. Alles über hundertzehn war bei einer klassischen Vespa bauartbedingt reiner Terror, egal wie kräftig die Maschine aufgerüstet war. Die Vibrationen in der tragenden Stahlblechkonstruktion wurden zu stark, und die fehlende Balance durch den seitlich aufgehängten Motor machte sich bei hoher Geschwindigkeit negativ bemerkbar. Trotz der äußeren Ähnlichkeit beruhte eine Lambretta auf einer gänzlich anderen Konstruktion. Der Stahlrohrrahmen, die mittige Motorenposition und der längere Radstand glichen eher der Bauweise eines Motorrades, was für Stabilität und eine bessere Straßenlage sorgte. Dafür war die Fehleranfälligkeit einer Lambretta ebenso legendär, wie eine Vespa als zuverlässig galt; die Mailänder Diva und der Packesel aus Genua, wenn man so wollte, wobei man Letzteres in Gegenwart stolzer Vespa-Besitzer besser nicht allzu laut sagte, obwohl das gegenseitige Necken, die Sprüche und das Piesacken in der Rollerszene dazugehörten, sie waren ein Teil des Spaßes, und bis auf wenige Fundamentalisten nahm sie niemand wirklich ernst, und manche Scooter-Enthusiasten sammelten und besaßen, restaurierten und schraubten sowohl Lambrettas als auch Vespas, stand doch die gemeinsame Liebe zur Ästhetik und Technik klassischer italienischer Schalt- und Blechroller im Mittelpunkt des Interesses.

Sven und Måns fuhren nun nebeneinander. Sie hatten sich mit einigem Sicherheitsabstand hinter einen Lkw geklemmt und ließen es etwas ruhiger angehen. Måns sah zu ihm rüber und hielt drei behandschuhte Finger hoch. Noch dreißig Kilometer bis zum Ziel, bedeutete das. Der Campingplatz nordöstlich von Hamburg, der sich Great Lake Lodge nannte, obwohl der See, an dem er lag, für schwedische Verhältnisse eher ein Tümpel war, würde ihr erster Zwischenstopp auf der Reise zu dem Rollertreffen in Griechenland sein. Aber was spielte die Seegröße schon für eine Rolle? Sven würde sein Zelt auch neben einer Müllverbrennungsanlage aufbauen, wenn es nötig war. Für ihn zählte auf dieser Reise der Weg, nicht das Ziel. In seinem Studium war das notgedrungen andersherum gewesen. Dafür hatte er fünf verdammte Jahre lang gepaukt, gelitten und verzichtet. Gearbeitet, als die Kommilitonen gefeiert hatten. Gebüffelt, als seine Kumpels in den Urlaub gefahren waren. Gesetzestexte gelernt und seinen Roller Staub ansetzen lassen. Aber alles das war nun vorbei. Dieses hier, die Europatour mit seinem Kumpel, das war sein Sommer. Jeden Tag Roller fahren. Jeden Abend Bier trinken. Jede Nacht Soulmusik aus der tragbaren Bluetooth-Box. Sicher, irgendwann im Frühherbst wartete ein neues Leben auf ihn. Der erste feste Job, der Start ins Berufsleben. Aber bis dahin waren es noch beinahe drei Monate. Bis dahin war es eine kleine Ewigkeit. Der orangerote Abendhimmel wölbte sich über der norddeutschen Tiefebene. Sven schaute in den Rückspiegel, schwenkte nach links aus und gab noch einmal richtig Gas. Einfach, weil es so schön war.

Montag

1

Am frühen Vormittag versammelte Hauptkommissarin Ingrid Nyström ihr Team im Besprechungsraum. Während alle an dem großen Tisch Platz nahmen, streifte sie ein sentimentales Gefühl. Es war mehr als acht Jahre her, dass sie die Leitung der Abteilung für Gewaltverbrechen der Region Kronoberg übernommen hatte. Sie musste an die vielen Fälle denken, die ihre Mitarbeiter und sie im Laufe der Zeit in dem schmucklosen Raum diskutiert hatten. An die zahlreichen Tassen Kaffee und Tee, die an diesem Tisch getrunken, an die Brötchen und Gebäckstücke, die gegessen worden waren, um Konzentration und Moral an langen Tagen und in wachen Nächten aufrechtzuerhalten. An den Small Talk, die Scherze, die spitzen Bemerkungen, das gegenseitige Motivieren und auch die Flüche, wenn sie nicht weitergewusst hatten. An die ungezählten Stunden, in denen sie auf der Stelle getreten, an einzelne Momente, in denen sich komplexe Fälle wie von Zauberhand entwirrt hatten. Ans gemeinsame Ausharren und Durchhalten. Ihr Team hatte sich in dieser Zeit verändert. Es fühlte sich an, als sei es schon Ewigkeiten her, dass sich Göran Lindholm nach Nordschweden hatte versetzen lassen. Der undurchschaubare Kent Vargen war bei einem dramatischen Einsatz ums Leben gekommen. Im vergangenen Jahr waren kurz nacheinander Anette Hultin und Stina Forss gegangen. Dafür hatten sie vor einigen Wochen endlich einen Neuzugang bekommen: Sara Hjalmarsson, eine frischgebackene Absolventin der Polizeihochschule. Die vierundzwanzigjährige Berufsanfängerin – sportlich, groß gewachsen, lange blonde Haare, hinter der Brille ein verträumter Blick – machte einen sympathischen, wenn auch leicht unbedarften Eindruck. Vielleicht lag das an der Zahnspange, dem jugendlichen Kleidungsstil und dem hellen Lachen der jungen Frau. Nyström hatte sich jedenfalls schon häufiger selbst ermahnen müssen, um Hjalmarsson nicht als pferdebegeistertes Landei abzustempeln, ein Etikett, das – wenn sie ehrlich war – bei ihrem Berufseinstieg auch auf sie selbst zugetroffen hatte. Außerdem hatte Hjalmarsson die dreijährige Ausbildung mit exzellenten Noten abgeschlossen und im Vorstellungsgespäch überzeugt, sicherlich würde sie in die neue verantwortungsvolle Rolle hineinwachsen, früher oder auch später. Im Übrigen schienen Lasse Knutsson und Hugo Delgado ihre Bedenken nicht zu teilen, im Gegenteil, hingen die beiden doch regelrecht an den zweifellos hübsch geschwungenen Lippen der neuen Kollegin.

Neben ihren drei Mitarbeitern hatte Nyström Bo Örkenrud, den Chef der Spurensicherung, die Pathologin Ann-Vivika Kimsel und die Pressesprecherin Rosanna Lukasson zur ersten ausführlichen Fallbesprechung gebeten.

»Lasst uns anfangen«, sagte sie. »Hugo, bist du so nett und bringst uns alle auf den aktuellen Stand?«

Delgado nickte und koppelte sein Tablet an den Beamer, der unter der Decke befestigt war.

»Hier sehen wir Adam Arlemark. Das Foto stammt aus seinem Führerschein und ist zwei Jahre alt. Lebendig war er ein gut aussehender Bursche. Natürlich nicht so attraktiv wie ich, aber immerhin.«

Er lächelte und zwinkerte Sara Hjalmarsson zu. Die junge Frau lächelte zurück.

»Eitelkeit ist der Treibsand des Verstands«, proklamierte Knutsson mit erhobenem Zeigefinger.

»Hört, hört«, sagte Örkenrud und massierte sein Kinn.

Kimsel verdrehte die Augen.

»Sagt wer?«, fragte Delgado.

»Ich sage, dass du eitel bist.«

Knutsson grinste.

»Das weiß ich. Ich meinte, von wem das Zitat stammt.«

»Was weiß ich!«

»Du hast es dir selbst ausgedacht!«

»Habe ich nicht!«

»Leute, es reicht!«, unterbrach Nyström sie. Delgado war schon immer ein Kindskopf gewesen. Aber seit Hjalmarsson da war, hatte er noch mal eine Schippe draufgelegt. Von Knutsson ganz zu schweigen. Merkten die beiden nicht, dass sie sich vor der neuen Kollegin zum Narren machten? »Ich finde nicht, dass euer Tonfall dem Anlass gerecht wird.« Sowohl Delgado als auch Knutsson warfen ihr Blicke zu, die sie nicht deuten konnte. Beide hatten miterlebt, wie sie den Mörder ihrer Schwiegertochter getötet hatte. Seitdem hatte sich etwas in ihrem Verhältnis geändert, auch wenn sich Nyström ihnen gegenüber nie erklärt hatte und sie von den beiden auch nie zur Rede gestellt worden war. Sie war sich unsicher, ob ihre Autorität durch den tödlichen Schuss geschwächt oder auf seltsame Weise sogar gestärkt worden war. Paradoxerweise fühlte es sich manchmal an, als wäre beides eingetreten. »Hugo, bitte weiter im Text!«

»Okay, okay.« Delgado wandte sich wieder dem Tablet zu. »Als Nächstes einige Fotos vom Tatort. Bis auf Ann-Vivika, Rosanna und Sara habt ihr es ja mit eigenen Augen gesehen.«