Später Frost - Roman Voosen - E-Book
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Später Frost E-Book

Roman Voosen

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Beschreibung

Ein grausamer Mord erschüttert die beschauliche Provinzstadt Växjö in Småland. Die frisch beförderte Kommissarin Ingrid Nyström und ihre neue Kollegin, die junge Deutsch-Schwedin Stina Forss, stehen vor einem rätselhaften Fall: Der hochbetagte englische Insektenforscher Balthasar Frost wurde brutal verätzt und verstümmelt in seinem Gewächshaus aufgefunden. Bei ihren Ermittlungen tauchen die beiden eigenwilligen Kommissarinnen tief in die bewegte schwedische Geschichte ein und stoßen auf Verbindungen bis in die höchsten Stockholmer Kreise. Forss' Spuren führen sie sogar bis nach Jerusalem. Bald müssen Nyström und Forss erkennen, dass in ihrer Heimat nichts so ist, wie es scheint – und der Fall mehr mit ihnen selbst zu tun hat, als ihnen lieb ist. »Später Frost« ist der hochspannende Auftakt der Krimireihe um das ungewöhnliche Ermittlerduo Ingrid Nyström und Stina Forss. Ein psychologisch komplexer und gesellschaftlich brisanter Schwedenkrimi, der gekonnt skandinavische Spannung mit der rauen Atmosphäre Smålands verbindet. 

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Seitenzahl: 491

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Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson

Später Frost

Der erste Fall für Ingrid Nyström und Stina Forss

Kurzübersicht

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Titelseite

Über Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson

Über dieses Buch

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

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Über Roman Voosen / Kerstin Signe Danielsson

Roman Voosen, Jahrgang 1973, aufgewachsen in Papenburg, studierte und arbeitete in Bremen, Hamburg und Växjö.

Kerstin Signe Danielsson, Jahrgang 1983, geboren und aufgewachsen in Växjö, studierte und arbeitete in Deutschland und Schweden.

Sie leben und arbeiten gemeinsam im småländischen Växjö. Ihre Romane stehen regelmäßig auf der SPIEGEL-Bestsellerliste und werden auch in Schweden von der Presse gefeiert.

www.voosen-danielsson.de

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Über dieses Buch

Die junge Kommissarin Stina Forss bricht in Berlin ihre Zelte ab und tritt im tiefsten Winter eine Stelle in Växjö an, im schwedischen Småland. Kaum hat sie ihre neue Chefin, Ingrid Nyström, kennengelernt, wird der greise Engländer Balthasar Frost grausam verätzt und verstümmelt in seinem Gewächshaus aufgefunden. Als die besonnene und erfahrene Nyström und ihre impulsive junge Kollegin die Ermittlungen aufnehmen, ahnen sie nicht, wie weit diese sie führen werden: tief hinein in die schwedische Geschichte, in die höchsten Stockholmer Kreise und Forss sogar bis nach Jerusalem. Die beiden Kommissarinnen erkennen, dass der Fall mehr mit ihnen zu tun hat, als ihnen lieb ist.

 

»Stina Forss ist die schicke Schwester von Stieg Larssons Lisbeth Salander.« Die Welt

»Spannend, sehr lesenswert« Welt am Sonntag

»Der erste Krimi des deutsch-schwedischen Paares Roman Voosen und Kerstin Danielsson macht Appetit auf mehr.« Sächsische Zeitung

»Ein hochintelligenter Krimi« Hörzu

Inhaltsverzeichnis

Motto

Jerusalem, 1948

Schweden, heute

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Sonntag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

Montag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

Dienstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Mittwoch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

Donnerstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

Freitag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Samstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Sonntag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Montag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

Dienstag

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

Mittwoch

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

Vier Tage später

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

Jerusalem, 1948

Dank

Leseprobe »Tode, die wir sterben«

»Ich dachte, ich wäre tot,

aber ich war nur in Nebraska.«

Little Bill in: »Erbarmungslos«

Jerusalem, 1948

Langsam bewegte sich der Konvoi entlang der sandgelben Häuser. Der diesige Horizont Katamons begann im Schein der aufgehenden Sonne zu glühen. Henrik blinzelte verschlafen aus dem Autofenster. Sie waren hastig und ohne Frühstück aufgebrochen, nun war er hungrig und schälte eine der Orangen, die er in der Lobby eingesteckt hatte.

Dort, wo er herkam, gab es die exotischen Früchte nur am Weihnachtsabend, vorausgesetzt, man kam aus einer Familie, die es sich leisten konnte. Winter für Winter hatte er sich die Nase am Schaufenster von Karlssons Feinkostladen platt gedrückt, bevor er zum ersten Mal einen Spalt der Frucht hatte kosten dürfen. Das war lange her. In einem anderen Leben, in einem anderen Land. Hier dagegen gab es Orangen wie Sand am Strand von Sunnanö. Und in dem großen Hotel, in dem sie wohnten, wurden die Früchte sogar zu Saft gepresst und den Gästen als Getränk serviert. Hatte man so etwas Verrücktes schon erlebt? Aber andererseits: Was war überhaupt normal in diesem seltsamen, fremden Landstrich, der sich gerade neu zu ordnen begann? Er sah vom Beifahrersitz in den Rückspiegel. Im Fond saß Wennerberg und sprach mit einem französischen Offizier. Auch wenn er selbst kein Wort verstand, wusste er, dass es um Politik ging. Das ging es immer. Verträge, Verhandlungen, Linien in der Wüste. Israel, Palästina, Jordanien. Die Engländer und die Vereinten Nationen. Er gab sich Mühe, alles zu begreifen, aber manchmal rauchte ihm einfach nur der Schädel.

Der Wagen rumste durch ein Schlagloch. Henrik stieß sich den Kopf, Ferdinand, der Fahrer, fluchte. Am Straßenrand zogen Palmen und Kiefern vorbei. Die Kiefern mochte er, die gab es auch dort, wo er herkam. Dann wieder gelbe Gebäude, Sandstein, die ganze Stadt schien daraus gemacht zu sein, sogar die Grotte in Bethlehem, in der Jesus zur Welt gekommen war und die er am zweiten Tag nach seiner Ankunft hatte besichtigen dürfen. Drei Monate war das jetzt her.

Die Sonne goss ihr Licht großzügig auf die staubige Straße, auf Dächer und die Fassaden der Häuser. Plötzlich hielt der Wagen an, die Fahrzeuge vor ihnen waren ebenfalls zum Stehen gekommen. »Militärkontrolle«, sagte Ferdinand, zuckte mit den Schultern und griff nach seinen Zigaretten. Nun sah Henrik es auch. Eine Gruppe uniformierter Männer hatte den Konvoi gestoppt. Sie gingen die Reihe der Fahrzeuge ab und schauten in die Autos hinein, Schattenrisse in gleißendem Gegenlicht. Ferdinand zündete sich eine Zigarette an. Henrik kannte die Marke, Ferdinand rauchte sie ständig. Auf der orangefarbenen Schachtel stand zwischen hebräischen Buchstaben das englische Wort »Sport«, dahinter war ein athletisch gebauter Läufer abgebildet. Er mochte das Aussehen der Zigarettenpackung, obwohl er selber nicht rauchte. Das Gespräch der beiden Männer im Fond war verstummt. Einer der Soldaten trat direkt neben ihren Wagen. In seiner Hand hielt er etwas, das aussah wie eine Fotografie. Er beugte sich vor, um in das Wageninnere sehen zu können. Reflexionen auf der Scheibe blendeten ihn. Aber dann erkannte er doch etwas. Seine Augen weiteten sich. Er rief etwas auf Hebräisch, aufgeregt.

Henrik sah, wie er eine Waffe zog, danach krachte es, ohrenbetäubend. Im Fond des Wagens explodierte etwas. Dann noch einmal. Und noch einmal. Die letzte Explosion war ganz nah, beinahe so, als wäre etwas in ihm explodiert. Er spürte einen Blitz in seinem Arm. Das Letzte, das er wahrnahm, war das Blut, das aus ihm herauslief. Alles verschwand in Dunkelheit.

Schweden, heute

1

Wie ein Raumschiff schwebte der Bahnhof von Växjö in der feuchten Kälte des späten Februarnachmittags. Scheinwerferkegel hoben das holzverkleidete Gebäude aus der Dämmerung, und nur eine Treppe aus Beton, die vom Bahnhofsvorplatz auf den Gleisübergang führte, schien den halbrunden, ufoförmigen Bau am Abheben zu hindern. Vor der Treppe stand Stina Forss und sah über den unwirtlichen Bahnhofsvorplatz hinweg in eine menschenleere Fußgängerzone. Außer ihr waren lediglich drei andere Reisende dem Zug entstiegen, vermummte Gestalten, die schnell in verschiedene Richtungen verschwunden waren. Sie fror und vergrub ihre Hände tiefer in den Taschen ihres Lodenmantels.

Die zweitägige Zugreise von Berlin über Fehmarn durch Dänemark bis in die südschwedische Stadt Växjö war eine einzige Aneinanderreihung von Ärgernissen gewesen: Um den Fehmarnsund zwischen Deutschland und Dänemark zu überqueren, war der gesamte Zug auf eine Fähre gefahren, wo alle Passagiere hatten aussteigen müssen. Auf dem Deck war es viel zu kalt und zu windig gewesen, und sie war in den Duty-free-Shop gegangen, wo sie sich Parfüm und eine Flasche Wodka gekauft hatte. Alkohol war in Schweden teuer. Dann hatte sie einen Kaffee getrunken, einen Hotdog gegessen und war eingenickt. Als ein Lautsprecher plötzlich die Passagiere zurück in den Zug beordert hatte, war sie hochgeschreckt und zurück an ihren Platz geeilt. Ihre Handtasche, in der sich auch ihr Handy befand, hatte sie dabei unter dem Tisch des Bordrestaurants stehen lassen. Obendrein war es wegen der stürmischen See zu einer Verspätung gekommen, sodass der Anschlusszug in Kopenhagen ohne sie losgefahren war. Also hatte sie eine Stunde in einem McDonald’s verbracht, auf den nächsten Zug gewartet und mit dem Ketchup Muster auf den Tisch gemalt, bis sie von einer Angestellten gebeten worden war, das Restaurant zu verlassen. Wenn man aus einem McDonald’s geworfen wird, kann es kaum mehr schlimmer kommen, hatte sie gedacht. Als sie endlich mit dem nächsten Zug den Öresund überquert und Schweden erreicht hatte, war es bereits spät am Abend gewesen. Zu allem Überfluss hatte der Zug wegen eines technischen Defekts in Malmö ausgesetzt werden müssen, und ein Bahnangestellter hatte ihr seelenruhig erklärt, dass damit die letzte Verbindung Richtung Växjö ersatzlos gestrichen worden war. Notgedrungen hatte sie also die Nacht in einem Hotel in Bahnhofsnähe verbracht, lange geschlafen und war erst am Mittag weitergefahren. Nun war sie endlich an ihrem Ziel angekommen, aber wo zum Teufel war sie hier nur gelandet?

Sie trat mit ihrem Rollkoffer auf den Bahnhofsvorplatz hinaus. In einem Ständer rosteten einige verlassene Fahrräder vor sich hin, bei einem war der Bezug des Sattels aufgeplatzt, sodass die Schaumstofffüllung herausquoll. Um den Bahnhof herum befanden sich ein Postgebäude, ein Restaurant, ein Fahrrad- und ein Hifi-Geschäft, in keinem der Fenster brannte Licht. Es kam ihr vor, als befände sich die Stadt in einem Winterschlaf, in einer Art kollektiver Kältestarre, deren Sinn sie angesichts des anhaltenden Schneeregens nicht einen Moment infrage stellte. Das einzige Anzeichen von Leben war ein VW-Taxibus mit beschlagenen Scheiben, der in einer Haltebucht stand und im Leerlauf vor sich hin tuckerte. Noch nicht einmal ein Volvo, dachte sie. War das hier wirklich noch das Land, in dem sie aufgewachsen war? Ihr Schweden sah anders aus als ein vergessener Bahnhof an einem Sonntagnachmittag im Winter. Ihr Schweden war warm und sonnig und roch nach Kiefernharz und Walderdbeeren. Arme Stina, hier hast du deinen Wald. Gleich hinter dem Bahnhof fängt er an. Er ist nass und kalt und riesengroß. Und irgendwo da drin wohnt Pipi Langstrumpf mit ihrem Pferd und dem dummen Affen und bekommt eine Blasenentzündung.

Hatte sie die richtige Entscheidung getroffen? Oder war das alles falsch? Eine übereilte Flucht? Oder, noch schlimmer, eine sentimentale Dummheit? Die Kälte schüttelte sie. Trotzdem entschied sie sich gegen das Taxi und machte sich zu Fuß auf den Weg durch die Fußgängerzone.

Das Hotel, das sie von Berlin aus gebucht hatte, lag ihrem zukünftigen Arbeitsplatz direkt gegenüber. Es machte einen nüchternen Eindruck. Der Mann an der Rezeption betrachtete ihren Personalausweis. Sein Blick verriet, dass er die deutschen Papiere mit ihrem akzentfreien Schwedisch in Einklang zu bringen versuchte. Er selbst hatte einen nordschwedischen Zungenschlag. Als er ihre Anschrift in den Computer eingab, wurde ihr bewusst, dass die Adresse bereits nicht mehr stimmte. Berlin lag hinter ihr. Bis auf Weiteres war dieses Hotel ihr Zuhause. Der Mann reichte ihr den Zimmerschlüssel.

»Willkommen, Stina Forss!«

Fosch hatte er gesagt. Wie Frosch ohne r. Irgendwie klang es schwedisch ausgesprochen viel kraftvoller als auf Deutsch: Fosch. Ein Name wie ein Wasserschwall.

Sie hatte vorher nie darüber nachgedacht.

Im Zimmer packte sie ihre Sachen aus; ein weiterer, größerer Koffer würde in den nächsten Tagen mit der Post kommen, ebenso ihre Handtasche, das hatte ihr eine Mitarbeiterin der Fährgesellschaft zumindest am Telefon versichert. Dann rief sie ihre Cousine Maj an, die mit ihrer Familie unweit von Växjö auf dem Land wohnte. Sie hatte versprochen, sich nach ihrer Ankunft zu melden. Sie fand Majs Nummer in dem Telefonbuch, das auf ihrem Nachttisch lag. Maj war auch einmal eine Fosch gewesen, doch nun war sie seit Langem verheiratet und hieß Lundin.

Ihre Cousine freute sich, von ihr zu hören. Sie hatten sich zum letzten Mal vor drei Jahren auf einer Geburtstagsfeier getroffen. Forss schlug ein gemeinsames Abendessen in der Stadt vor. Maj lachte.

»Wir haben Sonntag!«

»Ja, eben. Bring doch die Kinder mit. Und Mathias möchte ich natürlich auch treffen.«

»Aber sonntags hat doch in Växjö kein Restaurant geöffnet.«

 

Die Lundins wohnten in Moheda, einem Dorf, das eine knappe halbe Stunde Autofahrt nordwestlich von Växjö lag. Die Straße zog sich wie eine nasse Schnur durch Nadelwald, einmal schimmerte rechts der Fahrbahn die Eisfläche eines großen Gewässers in der Abenddämmerung.

»Das ist der Helgasee«, sagte Maj. »Im Sommer haben wir da ein Motorboot liegen. Du musst unbedingt mit uns hinauskommen! Wenn du willst, kannst du Wasserski fahren. Die Kinder lieben es.«

Maj lachte. Sie lachte oft, fand Forss. Bestimmt war sie eine fröhliche Mutter und eine gute Krankenschwester. Alles an der kräftigen Frau strahlte Lebensmut und Pragmatismus aus.

»Und du fährst die Strecke in die Stadt jeden Tag mit dem Auto?«

»Wir beide. Mathias muss ins Büro und ich ins Hospital. Wer nicht gerne Auto fährt, bekommt hier Probleme. Natürlich gibt es einen Bus, aber der fährt nicht häufig und ist im Winter oft unpünktlich. Mit dem Auto muss man allerdings aufpassen, gerade auf der Landstraße, wegen der Elche und anderer Tiere. Berlin ist ja ebenfalls nicht gerade klein, dort warst du bestimmt auch viel von A nach B unterwegs, oder?«

So hatte es Forss noch nie betrachtet.

»Man fährt schon lange Strecken«, sagte sie.

 

Lea und Tuva hatten die gleichen braunen Zöpfe und trugen die gleichen rosafarbenen Plastikclogs wie ihre Mutter. Mathias Lundin war ein dünner Mann mit festem Händedruck. Sie hatte ihn auf Familienfesten getroffen, damals mit langem Haar, eine Ewigkeit schien das her zu sein, jetzt trug er sein Haar kurz, was seine hohe Stirn betonte. Maj hatte Brot aufgedeckt, Butter und Käse, ein Abendessen wie aus Bullerbü, dachte sie, es steckte sogar ein kleines Holzmesserchen in der Butter. Zum Nachtisch gab es eingelegte Pflaumen mit Vanillesoße.

»Du machst das alles für ihn, oder?«

Maj sah sie an. Obwohl Forss auf die Frage gewartet hatte, fiel es ihr schwer zu antworten. Sie stach mit ihrem Löffel in eine Pflaume. Das Fruchtfleisch war ganz weich.

»Stina, es ist gut, dass du kommst, dass du das alles auf dich nimmst. Deine Nähe wird ihm guttun. Er hat dich vermisst, weißt du? Und jetzt mit der Krankheit wird es auch nicht gerade leichter für ihn.«

Forss spürte, wie sich etwas in ihr spannte.

»Wann warst du denn bei ihm?«

»Das letzte Mal vor zwei Wochen. Er ist in einer guten Einrichtung. Man kümmert sich. Aber trotzdem. Er … Er hat sich verändert. Und er verändert sich noch.«

Forss sah, dass eine Fliege auf der Schüssel mit den Pflaumen gelandet war. Dabei war doch Februar. Mathias hatte ihren Blick bemerkt. Mit einer Handbewegung scheuchte er das Insekt weg.

»Der Nachbar, er hat Kühe. Sie locken die Fliegen an.«

Es klang wie eine Entschuldigung.

»Wir haben dem Großonkel etwas gebastelt«, sagte Lea. Sie war das ältere der beiden Mädchen. »Einen Traumfänger. Der hängt jetzt im Krankenhaus an der Wand neben seinem Bett.«

»Wie bei einem alten Indianer«, sagte Tuva. »Wenn du willst, machen wir dir auch einen.«

 

Später saßen sie im Wohnzimmer, die Kinder hatten sich in ihre Zimmer zurückgezogen. Maj goss ihnen Tee in große, bunte Becher ein. Forss sah sich um.

»Schön habt ihr es hier. Das ganze Holz. Und so viel Platz.«

»Das ist der Vorteil, wenn man auf dem Land lebt. Warte erst auf den Sommer. Dann ist Schweden ein anderes Land.«

»Wenigstens für eine Woche«, sagte Mathias.

Sie lachten. Dann sprachen sie über andere Verwandte. Majs Eltern, Kurt und Karin, hatten im letzten Jahr endlich das Sägewerk verkauft und waren nach Oskarshamn gezogen, Majs Bruder Erik hatte sich scheiden lassen und lebte mittlerweile in Göteborg, ihre Schwester Mona bildete Jagdhunde aus, in Mittelschweden.

»Und deine Mutter?«, fragte Maj.

»Gut. Ja, es geht ihr richtig gut.«

Es klang kühler, als sie es beabsichtigt hatte. Obwohl seitdem so viele Jahre vergangen waren, fiel es ihr noch immer schwer, mit dem väterlichen Teil ihrer Familie über ihre Mutter zu sprechen.

»Das freut mich. Ehrlich, Stina, das freut mich sehr.«

Maj lächelte. Forss beschloss, ihr zu glauben. Sie tranken von ihrem Tee. Irgendwann war das Gespräch an seinem natürlichen Ende angelangt. Mathias bot an, sie in die Stadt zurückzubringen. Zum Abschied nahm Maj sie in den Arm. Länger, als sie es erwartet hatte.

»Willkommen zu Hause«, sagte sie.

2

»Diese verdammten Biester«, sagte Gunnar Berg und lachte. Ingrid Nyström war erleichtert. Wenigstens lachen konnte er also noch. Das Bild, das der massige Mann mit dem zotteligen Stofftier auf dem Schoß abgab, brachte auch sie zum Lächeln.

»Ich hatte Angst, du könntest es geschmacklos finden.«

»Ach was, du kennst mich doch. Wenn ich erst wieder zu Hause bin, schneide ich mir ein schönes Steak aus dem Ding. Falls ich nicht vorher von meinem Enkelkind enteignet werde. Tobias hat einen ganzen Plüschtierzoo in seinem Kinderzimmer, und so was hier könnte seiner Sammlung noch fehlen.«

Gunnar Berg richtete seinen schweren Oberkörper auf und drückte einen der Knöpfe, die am Kopfende seines Bettes in die Wand eingelassen waren.

»Die Schwester soll eine Vase für deine schönen Blumen bringen. Möchtest du einen Kaffee oder so etwas? Die haben hier alles da. Der Segen einer privaten Zusatzkrankenversicherung. Ich sage nur Einzelzimmer, Ingrid!«

»Und ich dachte, du wärst Sozialdemokrat.«

»Bin ich auch. Aber das heißt nicht, dass ich ein bisschen Luxus nicht zu schätzen weiß. Olof Palme würde sich natürlich im Grab umdrehen, aber es hat seine Vorteile: Chefarztbehandlung, optimale Nachversorgung, Zimmer mit Kabelfernsehen. Wusstest du, dass es Sender gibt, die den ganzen Tag nichts als Golf oder Angelsport zeigen? Du solltest wirklich darüber nachdenken, schließlich bist du ebenfalls nicht mehr die Jüngste.«

»Danke, Gunnar. Sehr charmant.«

»Gern geschehen.«

Ingrid Nyström fühlte, wie eine Last von ihr abfiel. Gunnar Berg gab sich Mühe, so lebensfroh wie immer zu wirken. Zehn Tage war es her, dass er auf der Landstraße nach Tingsryd verunglückt war. Nachdem man seinen bewusstlosen Körper aus dem völlig zerstörten Auto geschnitten hatte, hatte Berg sechs Tage im Koma gelegen. Jetzt war sein Zustand stabil, aber er hatte eine Niere verloren und Trümmerbrüche in beiden Beinen. Die Prellungen, Schnittwunden und Abschürfungen würden verheilen, aber noch war völlig unklar, ob er jemals wieder würde laufen können.

Hauptkommissar Gunnar Berg war als Leiter der Kriminalpolizei seit vielen Jahren ihr Vorgesetzter, und sein schwerer Unfall hatte nicht nur sie, sondern die ganze Abteilung erschüttert. Der intelligente und großherzige Mann war ein Chef, an dem sie sich zeit ihres Berufslebens orientiert hatte. Ein Lotse, der die Abteilung immer wieder an Untiefen und Klippen vorbei in sichere Wasser geführt hatte. Ein Leuchtturm, an dem man sich orientieren konnte. Sie biss sich auf die Zunge. Lotse? Leuchtturm? Was für einen Quatsch sie dachte. Berg stellte das Stofftier auf den Nachttisch. Er sah sie lange an. Sie kannte diesen Blick. Es war der Blick, mit dem er überzeugen konnte.

»Ich habe mit Edman gesprochen«, sagte er. »Er ist einverstanden. Die stellvertretende Landespolizeichefin ebenso. Es ist an der Zeit.«

Er machte eine Pause, strich mit den Händen die Bettdecke vor sich glatt. Dann fuhr er fort.

»Sehen wir den Dingen ins Auge. Das, was von meinen Beinen übrig ist, fühlt sich wie Griesbrei an, von der Niere ganz zu schweigen. Die Ärzte sind alles andere als optimistisch, genaue Prognosen gibt niemand, trotz Chefarztbehandlung. Und selbst wenn ich keine Dialyse brauche und eines Tages wieder gehen können sollte: Es sind jetzt noch etwas mehr als drei Jahre bis zu meiner Pensionierung. Wozu soll ich mir das antun? Ein Chefermittler mit Krücken? Oder einem Pissbeutel an der Seite? Entschuldige bitte, aber es ist doch wahr! Die Blicke und das Mitleid? Und erst die Treppen, wenn der Fahrstuhl mal wieder streikt?«

Berg versuchte sich an einem Grinsen. Sie wich seinem Blick aus. Es war ruhig im Raum, zu hören war nur das Tickern einer Maschine, aus der Schläuche unter Bergs Bettdecke verschwanden. Sie wollte das nicht hören. Weder die Maschine noch das, was Berg sagte. Das, was er sagen würde. Eine Minute verging, dann eine zweite. Die Sonnenstrahlen, die durch die Lamellen ins Zimmer drangen, spielten mit dem Staub, der in der Luft flimmerte. Dabei sollte es hier doch sauber sein, dachte sie, gerade in einem Krankenhaus.

»Ich habe auch mit meiner Frau geredet«, fuhr er schließlich fort, »sie sieht es genauso. Und Edman hat bereits mit Stockholm telefoniert. Die Signale sind so, dass ich wohl ohne Abzüge in Frühpension gehen kann. Edman ist ein miserabler Polizist und ein noch schlechterer Chef, aber kein schlechter Politiker, mit dem ganzen Verwaltungsmist kennt er sich wirklich aus.«

Er seufzte. Dann wieder ein missglückter Versuch zu grinsen.

»Ich stelle mir das so vor: Ich habe bei Per Enquist vom Bauamt noch etwas gut. Wenn ich eine Genehmigung bekomme, baue ich das Sommerhaus am Helgasee zu unserem Wohnhaus um, Elsa plant schon seit Jahren den Garten. Meine Pension werde ich in eine erstklassige Anglerausrüstung investieren. Wusstest du, dass man für eine gute Rolle mehr als 3000 Kronen hinlegen muss? Und erst die Ruten …«

»Hör auf mit dem Blödsinn!«, rief sie.

»Ingrid, ich versuche nur, es leichter zu machen.«

»Ich weiß. Entschuldige.«

Wieder suchte er ihren Blick, und wieder wich sie ihm aus. Stattdessen beobachtete sie weiterhin die Staubstrahlen, die im Raum standen.

»Du wirst übernehmen, Ingrid.«

Sie entgegnete nichts.

»Du bist die Einzige, die infrage kommt, niemand weiß das besser als du selbst. Du hast die Erfahrung, die Kompetenz, jeder im Team akzeptiert dich. Früher oder später wäre es sowieso darauf hinausgelaufen. Jetzt ist es halt früher geworden.«

Die Tür öffnete sich, und ein Pfleger kam mit Kaffee und einer Vase für die Blumen herein. Sie wartete, bis der junge Mann den Raum verlassen hatte. Draußen hatte sich das Licht verändert. Die Wintersonne warf jetzt blasse Muster auf die Wände des Zimmers, der Staub war verschwunden. Der Kaffee schmeckte wässrig, trotz privater Krankenzusatzversicherung; vielleicht war ihr aber auch einfach nicht nach Kaffee.

»Was ist mit Anette? Ich weiß, dass sie sich auf die Stelle bewerben wollte. Perspektivisch.«

Berg schnaubte.

»Sie hätte keine Chance gehabt. Weder gegen dich noch gegen externe Bewerber. Ihr fehlt die Erfahrung, und sie neigt zum Jähzorn. Du nimmst niemandem etwas weg, Ingrid. Nicht mir und erst recht nicht Anette Hultin.«

Die Muster waberten an der Wand. Endlich sah sie ihn an.

»Ich habe es mir immer anders vorgestellt, weißt du? Deinen Ruhestand. Irgendwie als etwas Fröhliches, Nettes. Eine Art Feier, auf der wir alle Hütchen tragen und singen und Scherze machen. Weiter habe ich nie gedacht. Und jetzt … ganz vorne stehen … Ich weiß nicht, ob ich das so plötzlich kann. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich das überhaupt will.«

Sie war aufgestanden und ans Fenster getreten. Von hier oben konnte man über den Växjösee hinweg bis zur Schwimmhalle sehen. Obwohl die Temperatur seit Tagen über null lag, war die Eisdecke auf dem See noch geschlossen. Ein einsamer Schlittschuhläufer zog seine Bahnen, seine Arme pendelten regelmäßig wie ein Metronom. Mit einem Mal fröstelte es sie. Der Winter war noch lange nicht vorbei. Sie drehte sich um und setzte sich wieder auf den Stuhl neben Bergs Bett.

»Es ist nur, dass es so plötzlich kommt. Es fühlt sich falsch an. Dass ich auf deinen Platz rücke, während du hier liegst. Weil du hier liegst.«

Sie hatte nach seiner Hand gegriffen.

»Wegen eines verdammten Wildschweins«, flüsterte sie.

»Es sind verdammte Biester«, sagte er leise und drückte ihre schmale Hand. Seine Haut fühlte sich an wie Sandpapier.

3

Er schaltete die Scheinwerfer aus und ließ den Wagen die letzten Meter im Leerlauf auf die Lichtung zwischen den Baumreihen rollen. Die Nacht war sternenklar, und nur vereinzelte Wolkenfetzen spiegelten sich in den Lachen, die sich zwischen den hartnäckigen Schneeresten in den Furchen des Waldwegs gebildet hatten. Lange blieb er in der Geborgenheit des Autos sitzen und starrte durch die Windschutzscheibe in die Schattenwelt, die sich in hohen Konturen vor dem Himmel abzeichnete. Ich sitze hier und starre wie ein Habicht, dachte er, und der Gedanke an den Raubvogel gefiel ihm. Minute um Minute blieb er so sitzen, bemüht, jeden Moment der Spannung und der Vorfreude auszukosten. Oft war er hier gewesen in all den Jahren, und nie hatte er den Ort ohne seine Beute wieder verlassen. Und auch heute würde es nicht anders sein, obwohl heute ein besonderes Mal war, denn heute war das letzte Mal, so hatte er es versprochen, das allerletzte Mal.

4

Am Morgen stand Ingrid Nyström lange vor dem Spiegel in ihrem Schlafzimmer und überlegte, was sie anziehen sollte. Schließlich entschied sie sich für einen dunkelblauen Hosenanzug und eine weiße Bluse. Normalerweise trug sie dieses Ensemble nur bei Familienfeiern oder in der Kirche. Anders, ihr Mann, machte beim Frühstück darüber einen Witz, aber was wusste er als Pastor schon von Berufskleidung? Wenn er nicht gerade den Gottesdienst hielt, trug Anders ausgebeulte, beige Cordhosen.

Nach dem Frühstück fuhr sie bei ihrer jüngsten Tochter Anna vorbei, um sich die Haare schneiden zu lassen. Zu ihrer Überraschung öffnete ihr eine junge Frau mit wilder Frisur die Tür, die sie vorher noch nie gesehen hatte, vermutlich eine von Annas unzähligen Freundinnen, über die sie ständig den Überblick verlor.

»Hej, ich bin Madeleine«, sagte das Mädchen in dem weiten T-Shirt und den Strumpfhosen mit Tigermuster. Es streckte ihr eine Hand entgegen. »Wir lernen gerade für die Friseurinnenprüfung«, fügte es hinzu, »Styling und so einen Kram.«

Um acht Uhr morgens, dachte Nyström, aber sie sagte es nicht laut. Das Letzte, was sie heute wollte, war ein Streit mit ihrer Tochter. Außerdem war sie insgeheim sogar zufrieden, dass sich der aktuelle Berufswunsch Annas zu verfestigen schien.

»Genau«, krähte Anna aus dem Hintergrund und, als habe sie die Gedanken ihrer Mutter erraten, »der frühe Vogel fängt den Wurm.«

Anna schnitt ihr die Haare und überredete sie anschließend sogar dazu, Lidschatten und etwas Rouge aufzutragen. Schließlich begutachtete sie ihre Mutter zufrieden.

»Jetzt siehst du wie eine richtige Chefin aus.«

Madeleine grinste.

»Eine echte femme fatale.«

 

»Du siehst ja wie eine richtige Chefin aus!«

Lars Knutsson war der Erste, den sie im Flur der Abteilung im dritten Stock des Präsidiums traf.

»Herzlichen Glückwunsch zu deiner Beförderung, Ingrid!«

Ein wenig unbeholfen nahm der dicke, große, bärtige Mann sie in die Arme. Es fühlte sich an, als ringe sie mit einem Bären. Lars Knutsson war wie sie Anfang fünfzig und arbeitete seit vielen Jahren gemeinsam mit ihr in der Abteilung.

»Danke, Lasse.«

»Du hast es verdient, wirklich. Alle hier denken so. Mach dir also bloß nicht zu viele Gedanken.«

»Gunnar hat mit dir geredet, oder?«

»Ich war gestern bei ihm, aber …«

Lars Knutsson wurde rot. Er kratzte seinen Bart.

»Du, meinst du, du hast später noch mal ein bisschen Zeit für mich?«

»Geht es um die Lkw-Diebstähle in Alvesta?«

»Nein. Ja. Auch. Eigentlich um etwas anderes. Mein Sommerurlaub. Es war so, dass ich mich schon im Herbst eingetragen hatte. In den Urlaubskalender, meine ich. Und dann habe ich mich wieder ausgetragen, weil meine Frau doch im Frühjahr in Kur sollte. Also, jetzt wurde dieser Kuraufenthalt verlegt, und mein Schwager hat uns in sein Sommerhaus nach Öland eingeladen, aber nun haben sich schon zwei Kollegen für Juli in die Liste geschrieben und …«

»Lasse.«

»Mmh.«

»Heute ist mein erster Tag.«

»Mmh.«

»Ich bin noch nicht mal in meinem Büro angekommen. Ich habe meine Jacke noch an und meine Tasche noch nicht abgestellt. Auf meinem Schreibtisch liegen ein riesiger Stapel Akten und die halb fertigen Dienstpläne für den nächsten Monat. Um neun kommt der Chef wegen der ganzen Formalitäten, und um halb elf stellt sich unsere neue Mitarbeiterin vor.«

Nyström atmete hörbar aus. Sie konnte fühlen, dass sie unter der ungewohnten Schminke schwitzte, außerdem kratzten Haarschnipsel im Kragen.

»Meinst du, wir können morgen über deinen Urlaub reden?«

»Kein Problem, Ingrid. Wirklich kein Problem.«

Knutssons Gesicht glühte. Er machte auf dem Absatz kehrt und stapfte mit großen Schritten den Flur hinab.

»Lasse«, rief sie. Der bullige Mann stoppte und drehte sich wieder zu ihr um. »Wegen der Lkw-Geschichte: Sagen wir nach dem Mittagessen in meinem Büro?«

 

Der Termin mit Erik Edman, dem Chef der Dienststelle, verlief so unerfreulich, wie sie es erwartet hatte. Die Besetzung des Postens mit dem eloquenten, aber wenig kompetenten Mann war eine politische Konzession gewesen, die in den vergangenen Jahren für einigen Unmut unter den Kollegen gesorgt hatte. Seine fehlende Sachkenntnis und Arbeitsmoral waren legendär, und nicht wenige nannten ihren obersten Vorgesetzten hinter vorgehaltener Hand Halbvier-Erik, denn das war die Uhrzeit, zu der er normalerweise das Präsidium Richtung Golfplatz verließ. Der formale Teil ihrer Beförderung zur Hauptkommissarin und Leiterin der Abteilung Kriminalpolizei bestand darin, dass er ein Fax der stellvertretenden Landespolizeichefin vorlas, das aus Stockholm gekommen war. Dazu gab es einen ganzen Katalog an Papieren, die sie unterzeichnen musste, und schließlich eine Urkunde.

»Es ist deine Chance«, sagte Edman, als er ihr die Hand schüttelte. »Versau sie nicht.«

Sie war froh, als Halbvier-Erik ihr Büro endlich wiederverlassen hatte und sie sich weiter ihrer Arbeit widmen konnte.

 

Die Frau, die am späten Vormittag ihr Büro betrat, war in den Dreißigern, klein gewachsen und hatte ein auffallend schmales, mit Sommersprossen übersätes Gesicht, das von einem Wust rotbrauner Locken umrahmt wurde, der auf der Stirn zu einem schräg geschnittenen Pony gestutzt war. Das schiefe Lächeln ihres leuchtend rot geschminkten Mundes und der Umstand, dass ihr linkes Augenlid ein wenig zuweit nach unten hing, verstärkten den Eindruck von Asymmetrie im Gesicht der jungen Frau, dennoch wirkte sie auf Nyström nicht unattraktiv. Zu ihren weiten, schlaghosen-artigen Jeans, unter denen die abgerundeten Kappen teuer aussehender Pumps hervorlugten, trug sie eine knapp geschnittene, grasgrüne Trainingsjacke mit blauen Bündchen, die auch einer Elfjährigen gepasst hätte. Auf der schmalen Brust formten ausgeblichene Buchstaben den Schriftzug Reinickendorfer Füchse. Das Rot des Nagellacks auf ihren kurzen Fingernägeln war sowohl auf den Lippenstift als auch auf das Leder ihrer Schuhe und die münzgroßen Ohrringe abgestimmt, die bei jeder Bewegung zwischen ihren Locken schimmerten. Nichts an dieser Frau sah nach einer Kriminalbeamtin aus, trotzdem dokumentierte die Akte auf Nyströms Schreibtisch eine eindrucksvolle Karriere bei der Berliner Kriminalpolizei, einschließlich des Einsatzes in verschiedenen Mordkommissionen.

»Ich bin Stina Forss.« Ihr Lächeln wurde noch ein bisschen schiefer. »Eigentlich habe ich einen Termin bei Hauptkommissar Gunnar Berg, aber der Mann am Empfang hat mich zu dir geschickt. Heute ist hier mein erster Tag.«

Nyström war aufgestanden. Die beiden Frauen gaben sich die Hand.

»Willkommen. Ich bin Hauptkommissarin Ingrid Nyström. Heute ist auch mein erster Tag, gewissermaßen.«

Nyström lächelte, dann bat sie Forss, Platz zu nehmen. Sie berichtete von Bergs Unfall und den personellen Veränderungen im Revier, dann sprach sie über die allgemeinen Aufgabenbereiche der Abteilung, die Entwicklung der Kriminalität in Växjö und der Region Kronoberg und die zukünftigen Einsatzschwerpunkte der neuen Mitarbeiterin. Stina Forss war dem Kommissariat in Växjö für ein Anerkennungsjahr zugeteilt worden, an dessen Ende ihr die Reichspolizeibehörde eine dauerhafte Übernahme in den schwedischen Polizeidienst in Aussicht gestellt hatte. Neue EU-Richtlinien machten solche Programme möglich. Forss würde während dieses Jahres sowohl auf der Polizeidienststelle arbeiten als auch an zwei Tagen in der Woche Seminare an der Polizeihochschule in Växjö besuchen müssen. Zum Abschluss des Gespräches führte Nyström Forss durch das Präsidium und stellte sie ihren neuen Kollegen vor. Als ersten Ansprechpartner für Forss hatte Nyström Hugo Delgado ausgesucht. Er hatte eine ruhige, gelassene Art und war gut darin, Dinge zu erklären, außerdem war er etwa im selben Alter wie die junge Deutschschwedin. Während sich die beiden in ein Fachgespräch über Datenbanken vertieft zum Mittagessen Richtung Kantine aufmachten, hatte Nyström zum ersten Mal an diesem Tag ein gutes Gefühl. Vielleicht war es gar nicht so schwer, eine gute Chefin zu sein. Man musste nur delegieren können.

 

Als sie sich gegen halb sieben dazu durchrang, Feierabend zu machen, hatte sich längst Dunkelheit über die Stadt gelegt. Sie sah aus dem Fenster ihres Büros. Vor dem Eingang des Kinos stand ein Grüppchen von Jugendlichen im Nieselregen und rauchte, auf dem petroleumgelb beleuchteten Parkplatz vor dem Präsidium lagen zwischen den Haltebuchten Inseln aus schmutzigem Schnee. Das Wiegen der blattlosen Weiden zeigte Westwind an. Sie hatte seit vielen Stunden nichts mehr gegessen, jetzt war sie hungrig und müde. Sie stopfte mehrere Ordner in ihre Umhängetasche. Nach dem Abendessen würde sie weiterarbeiten, wenn sie vorher nicht auf dem Sofa einschlief. Als es an der Tür klopfte, schrak sie hoch. Sie war davon ausgegangen, dass alle Kollegen bereits vor ihr gegangen waren. Zu ihrer Überraschung war es Stina Forss, ihre grüne Trainingsjacke hob sich grell von der dunklen Holzvertäfelung des Flurs ab.

»Störe ich? Du siehst aus, als wolltest du gerade gehen.«

»Wollte ich auch. Macht aber nichts. Komm rein. Was kann ich für dich tun?«

»Es ist so … Ich habe da noch eine Frage, dienstlicher Natur.«

Nyström fiel auf, wie sauber das Schwedisch der jungen Frau klang. Die vielen Jahre in Deutschland hatten keine Spuren hinterlassen. Jedenfalls nicht in der Sprache.

»Worum geht es?«

Forss antwortete nicht sofort, stattdessen rieb sie ihr rechtes Ohrläppchen mit Daumen und Zeigefinger der rechten Hand. Nyström kannte diese Geste aus Verhören. Sie war gespannt, was jetzt kommen würde.

»Ich wollte mit dir darüber sprechen, wie wir die Frage der Dienstwaffe handhaben wollen. Formal gesehen habe ich nur den Status einer Polizeianwärterin, einer Studentin im Praktikum. Faktisch werde ich hier allerdings ganz normale Arbeit leisten, und ohne Dienstwaffe wäre ich irgendwie, na ja, so etwas wie ein Klempner ohne Zange, wenn du verstehst, was ich meine.«

Nyström sah in das schiefe Lächeln sehr roter Lippen.

»Darüber habe ich mir ehrlich gesagt noch gar keine Gedanken gemacht. Ich werde mich schlaumachen, was die juristische Situation angeht, einverstanden?«

Forss nickte.

»Aber du solltest dir keine Sorgen machen, Växjö ist in vielerlei Hinsicht anders als Berlin, Waffen kommen bei uns nur äußerst selten zum Einsatz.«

Forss lachte hell auf.

»Das habe ich schon gemerkt. Das mit dem Anderssein. Aber danke, dass du dich kümmerst.«

Sie wandte sich zum Gehen.

»Stina.«

»Ja?«

»Darf ich dich etwas Persönliches fragen?«

»Ja.«

»Gibt es einen besonderen Grund, warum du nach Schweden zurückgekehrt bist? Von einer Metropole in eine Kleinstadt in Småland?«

Die kleine Frau zögerte. Wieder griff sie an ihr Ohrläppchen.

»Familienbande«, sagte sie schließlich. Dann drehte sie sich um und klackerte mit ihren roten Absätzen den Flur hinunter. Aha, dachte Nyström, ein Klempner ohne Zange. Sie hatte das unbestimmte Gefühl, dass Forss ihr nur eine Art von Wahrheit gesagt hatte.

5

Als die bläulich schimmernde Uhr auf dem Armaturenbrett Mitternacht anzeigte, stieg er aus. Geisterstunde, er brauchte dieses Ritual. Für einen Moment brannte die kalte Luft in seine Lunge, dann hatte er sich daran gewöhnt. Er ging die schmale Lichtung hinauf. In diesem Teil des Waldes wölbte sich der Boden wie der Buckel einer Katze. Aus seiner Tasche zog er eine Stablampe. Ihr Licht riss Wunden aus Grau- und Brauntönen in den schwarzen Wald. Obwohl er Profilschuhe trug, fanden seine Schritte auf dem Untergrund, wo sich Schnee, Eis, Matsch, Wurzeln, Steine und Pfützen abwechselten, wenig Halt. Als er endlich den Kamm des Hügels erreichte, war er durchgeschwitzt und außer Atem, sein linker Fuß war nass und kalt, weil er an einer Stelle in eine mit Wasser gefüllte Furche getreten war. Aber all das spürte er kaum. Er war jetzt ganz nah, er konnte seine Erregung kaum zurückhalten. Gleich da vorne war es. Er brauchte die Lampe nicht mehr, er wusste, wo er war. Die gedrungene Silhouette des Baumstumpfs zeichnete sich vor dem Nachthimmel ab. Jahre musste es her sein, dass ein Herbststurm oder ein Sommergewitter die mächtige Tanne umgekippt hatte. Die verdrehten Wurzeln ragten weit über den Waldboden hinaus, sodass ihn der Umriss des toten Holzes an einen riesigen, kauernden Troll erinnerte. Ein Troll, der einen Schatz hütet, dachte er. Schnell war er vor dem Baumstumpf auf die Knie gegangen. Die Feuchtigkeit, die an den Schienbeinen durch den dünnen Baumwollstoff seiner Hose drang, nahm er kaum wahr. Er beugte sich vor, so weit es ging, und tastete mit einem Arm in eine der vielen morschen Spalten des Holzes. Da war es, er konnte den Metallzylinder fühlen. Vorsichtig zog er ihn mit gespreizten Fingern aus dem Loch. Er musste ihn öffnen, gleich hier, er musste anfassen, was darin war, er musste seine Beute sehen. Begreifen. Hastig drehte er am Verschluss. Nein, stopp! Es war zu kostbar, um es auf den matschigen Waldboden zu legen. Eilig zerrte er seine Allwetterjacke von den Armen, breitete sie wie eine Decke aus. Jetzt war es so weit. Er riss den Deckel von dem Zylinder und drehte ihn auf den Kopf. Sein Herz machte einen Sprung. Was war mit seiner Beute? Hektisch tastete er nach der Stablampe. Er starrte auf den kleinen Zettel, der aus dem Zylinder gefallen war. Er sah die Worte, die auf dem Papier standen. Dort sollten keine Worte stehen, sondern Zahlen und Buchstaben! Er las, was da stand. Der Hohn der Worte fraß sich wie Säure in ihnhinein. Von seinen Augen durch sein Gesicht direkt in sein Herz. Er brüllte den Schmerz in die Nacht hinaus wie ein Tier. Wieder und wieder. Dann nahm er die schwere Lampe und drosch damit auf den Zylinder ein, bis sie erlosch. Rasend vor Wut schleuderte er sie in die Bäume. Schließlich brach er schluchzend zusammen. Im Wald schrie ein Vogel. Danach wurde es wieder vollkommen still.

6

Als Stina Forss am Samstagabend aus dem Hotel trat, trieb sie der nasse Westwind in die Fußgängerzone. In einer Seitenstraße blieb sie vor einer Plakatwand stehen. Ein Café de Luxe kündigte einen Sixties-Tanzabend an, und Gräddhyllan warb mit der Abbildung eines alten Schallplattenspielers für eine Vinylbar an Freitagen und Samstagen. Vielleicht wäre das mal was. Ein Stück weiter die Straße runter fand sie schließlich den Pub, den die Kollegin Anette Hultin ihr empfohlen hatte, das Bishop’s Arms. Sie trat ein. Der Innenraum der Kneipe bemühte sich angestrengt, spätviktorianische Gemütlichkeit zu vermitteln. Auf breit gestreiften Textiltapeten hingen unzählige gerahmte Stiche und sepiafarbene Fotografien, an den Holzbalken unter der Decke Dutzende Kupferkessel, und in mehreren Ecken des verwinkelten Raums standen Kaminimitate. Sie bestellte sich ein Glas schwedisches Bier; es schmeckte süßlich. Als sie es ausgetrunken hatte, störte sie die gekünstelte Atmosphäre nicht mehr so sehr. Aber die Musik ging ihr auf die Nerven. Warum müssen britische Pubs eigentlich immer U2 spielen, fragte sie sich. Sie bestellte ein zweites Bier, diesmal eins, das sie kannte, ein Jever aus der Flasche, dazu einen Hamburger mit Pommes frites. Als sie Malzessig über die Pommes gießen wollte, fiel der Deckel ab und die braune Flüssigkeit schoss über den ganzen Teller auf den Tisch. Sie fluchte. Wütend biss sie in den Burger. Immerhin, das Essen schmeckte halbwegs gut, Pubfraß halt. Sie fragte sich, ob es in Växjö auch typisch schwedische Kneipen gab. Swedish Pubs. Vielleicht würde dort nicht U2 laufen, sondern ABBA. Oder Mikael Wiehe. Der Alkohol war wirklich ganz schön teuer hier. Aber Abstinenz war schließlich keine Alternative.

Eine Woche war sie nun in Växjö. Ihre Kollegen schienen ganz in Ordnung zu sein, aber sie hatte den Eindruck, nicht richtig für voll genommen zu werden. Die Dinge, die man ihr zu tun gegeben hatte, waren Kinkerlitzchen: ein Ladendiebstahl und eine Einbruchsserie in Gartenhäuschen, so etwas hatte sie in Berlin im ersten und zweiten Berufsjahr mit Anfang zwanzig gemacht. Dazu kam, dass ihr permanent jemand über die Schulter zu schauen schien, ein Gefühl, das sie überhaupt nicht mochte. Noch nicht einmal eine Dienstwaffe hatte diese Ingrid Nyström ihr zugestanden. Die taten beinahe so, als hätten sie hier die Polizeiarbeit erfunden. Der ein oder andere Dienstablauf mochte sich von der Vorgehensweise in Deutschland unterscheiden, aber im Grunde war es dasselbe Handwerk. Und nächste Woche wollte man sie tatsächlich mit den Verkehrspolizisten auf Streife schicken, damit sie das Revier und alle Routinen von der Pike auf kennenlernte. So ein Blödsinn! Was, bitte schön, sollte sie mit einer Kelle in der Hand und einer umgeschnallten Warnweste lernen? An welchem Baum da draußen sich Hase und Igel Gute Nacht sagten?

Vielleicht war sie ein bisschen ungerecht. Vielleicht lag das Problem nicht darin, dass man sie unterschätzte, sondern dass hier einfach sehr wenig passierte, jedenfalls wenn man es mit Kreuzberg, Neukölln oder dem Märkischen Viertel verglich. Aber viel schlimmer als im Revier waren die beiden Tage an der Hochschule gewesen. Dort saß sie zusammen mit zwanzigjährigen Schulabgängern. Sie war fast doppelt so alt. Na ja, nicht ganz, aber trotzdem: Oma Stina. Da ging es um Facebook und wo man am Wochenende billig auf dem Campus saufen konnte. War ja auch sonst nichts los hier. Am Mittwochabend hatte sie einen Spaziergang gemacht und war in einer Pizzeria gelandet, in der sie der einzige Gast war und in der kein Alkohol ausgeschenkt wurde.

Doch eigentlich wusste Forss, dass ihre Unzufriedenheit einen ganz anderen Grund hatte. Sie war seit einer Woche in Schweden und war noch immer nicht bei ihrem Vater gewesen. Ein Teil von ihr redete sich ein, dass es an der Entfernung nach Ljungby liegen würde, aber das war natürlich Quatsch, die sechzig Kilometer hätte sie bequem nach Feierabend in einer Stunde fahren können, und selbst wenn sie sich noch nicht um ein eigenes Auto gekümmert hatte, wäre es ein Leichtes gewesen, sich einen Wagen zu mieten. Nein, sie hatte das Projekt Vater aufgeschoben bis aufs Wochenende, und sie wusste genau, warum. Und jetzt war auch schon der Samstag vorüber. Guter Vater. Böser Vater. Er war nun ein alter Mann, in dessen Kopf ein Tumor wucherte. Ach, Papa, natürlich komme ich zu dir, ich brauche nur noch ein wenig Zeit!

Das Lokal war mäßig besucht für einen Samstagabend. Die Hocker am Tresen waren von Männern besetzt, die Biergläser vor sich stehen hatten. Hinter dem Tresen war ein Fernsehschirm angebracht. Es lief ein Eishockeyspiel. Am Tisch neben ihr saß eng umschlungen ein knutschendes Paar Anfang zwanzig. Das Mädchen hatte blonde Zöpfe, deren Spitzen violett gefärbt waren. Das ist ja fast schon Punk, dachte Forss, Provinzpunk. Der Freund hatte sogar einen Irokesenschnitt. Nicht die Jungfußballer-Version, sondern einen echten, mit abrasierten Seiten. Als sich der Junge zurücklehnte, sah sie, dass sie sich vertan hatte: Es war ebenfalls ein Mädchen. Ein lesbisches Liebespaar. Punklesben. In der anderen Ecke des Raums saßen zwei Männer in Rollkragenpullovern, die sich laut unterhielten. Der eine griff in seine Jacke, die neben ihm auf der Sitzbank lag, und holte einen Flachmann heraus. Daraus goss er hinter vorgehaltener Hand etwas in sein Glas. Der weiß, wie man es macht, dachte sie. Sie schloss die Augen. Die Musikanlage hämmerte U2s notorisches Sunday, Bloody Sunday in anstrengender Lautstärke. How long must we stand this song?, dachte sie. Sie spürte, dass sie müde wurde. Vielleicht musste diese Vinylbar warten. Es würde noch viele Wochenenden geben. Sie bat um die Rechnung. Als sie bezahlt hatte, ging sie zu ihrem Hotel zurück. Oben, in ihrem Zimmer, fiel sie in einen traumlosen Schlaf.

Sonntag

1

Der Volvo raste durch die Dämmerung. Stina Forss hockte auf der Rückbank und sah nach vorn. Am Steuer saß ihre Kollegin Anette Hultin, sie war Anfang dreißig, hatte blonde, kinnlange Haare und trug an diesem Morgen einen sportlichen Fleece-Pulli, auf dem Peak Performance stand. Sie lenkte das Auto mit der Routine und Geschwindigkeit einer Rallyefahrerin. Ingrid Nyström saß neben ihr auf dem Beifahrersitz. In ihr kurzes, dunkles Haar mischten sich bereits einzelne graue Strähnen. Dann schaute Forss aus dem Fenster in den frühen Sonntagmorgen, es war noch nicht lange her, dass Nyströms Anruf sie geweckt hatte. Sie sah Wälder, dazwischen Nebel, in den Senken Schneereste. Hin und wieder schimmerten die bleiernen Flächen kleinerer Seen durch die Bäume. Sie fuhren auf der Landstraße Richtung Skårtaryd, dann nach Dädesjö, vorbei an kleinen Dörfern, Siedlungen und alten Höfen. Hinter Dädesjö ging es nach Ramnåsa. Nyström drehte sich zu ihr um.

»Der Tote heißt Balthasar Melchior Frost. Ein Engländer, der schon sehr lange hier wohnte.«

»Kanntest du ihn?«

»Was heißt schon kennen? Ich war bei einem Vortrag von ihm in der Stadtbibliothek. Da hat er über Insekten gesprochen. Das muss 2007 gewesen sein, im Linné-Jahr.«

»Im was?«

»Linné-Jahr. Carl von Linné. Ein Wissenschaftler, der aus unserer Gegend kam. Er hat das System erfunden, mit dem man Pflanzen und Tiere klassifiziert, diese lateinischen Namen, du weißt schon. Er ist in Växjö zur Schule gegangen. 2007 war sein 300. Geburtstag. Da gab es viele Ausstellungen und Vorträge wie den von Frost. Die Lokalzeitung, Smålands Posten, hat damals sogar ein ausführliches Porträt über ihn gebracht.«

»Über Linné?«

Nyström lachte auf.

»Über den auch. Aber ich meinte Frost.«

Sie bogen von der Straße ab und folgten einem kurvigen Feldweg. Vor den Autofenstern wich allmählich die Dunkelheit zwischen den Bäumen. Ziehende Wolkenfetzen dräuten so niedrig über dem Boden, dass sie die Baumwipfel verdeckten. Der Regen hatte nachgelassen und war in ein kaum sichtbares Nieseln übergegangen. Der Wagen hielt an. Sie standen vor einem zweigeschossigen, gelben Holzhaus.

In der Auffahrt standen vier Autos und zwei Streifenpolizisten. Die drei Frauen gingen auf das Haus zu. In der geöffneten Tür stand Hugo Delgado und nickte ihnen zu. Er drehte sich gerade eine Zigarette und wirkte angespannt. Nyström und die Kollegen gingen ins Haus hinein, Forss blieb zurück in der Diele, sie konnte am besten denken, wenn sie alleine war. Sie sah sich um. Ein geräumiges, großzügiges Zimmer. Rechts führte eine Treppe ins Obergeschoss, die Stufen bestanden wie der Fußboden aus hellblau lackierten Holzbohlen, die in der Mitte ausgetreten waren. Direkt hinter der Haustür lag ein grob gewebter, bunter Läufer auf dem Boden, ähnliche weiter hinten im Raum und auf der Treppe.

Unter der Decke hing eine runde, milchige Glaslampe. An der linken Seite hatte der Raum drei Fenster, die zur Straße wiesen, die Rahmen waren weiß gestrichen. Unter ihnen stand ein Sideboard aus hellem Holz, daneben hing ein nierenförmiger Spiegel, darüber war eine Garderobe angebracht, an der Wollmäntel und Strickjacken hingen.

Forss nahm eine braune Strickjacke vom Bügel und roch am Stoff. Er war klamm, aber sie nahm noch etwas anderes, Intensiveres wahr: kein Rasierwasser, auch kein Eau de Toilette, eher ein Parfüm. Sie hängte die Jacke zurück und ging weiter ins Wohnzimmer. Es machte die gesamte Rückseite des Hauses aus - ein freundlicher, offener Raum mit großen Fenstern, die den Blick auf den Garten freigaben. In einer Ecke stand ein einladender Freischwingersessel. Forss sah ihn sich näher an. Ein Original aus den späten Fünfzigern, das Design war von Alvar Aalto oder Bruno Mathsson. Sie nahm Platz. In der Mitte des Raums stand ein Esstisch samt Stühlen aus der gleichen Zeit. Vermutlich auch Originale. Daneben war ein Servierwagen geparkt, der zwei große und zwei kleinere Räder hatte. Von der Decke hing eine weiße Lampe, deren Form an einen Lippenstift erinnerte. Alles Designermöbel. Wer auch immer dieser Tote ist, dachte sie, er hatte Geschmack gehabt. Und Geld.

Sie zupfte an einem Seidenkissen herum, das im Sessel lag. Längst trug sie die obligatorischen Plastikhandschuhe. Auf dem Boden lagen noch zwei Kissen, auf den Stühlen am Tisch jeweils eins. Unter einem Fenster stand ein kniehohes Regal, auf dem sich eine alte Braun-Stereoanlage befand. Auf dem Teller des Plattenspielers lag eine Single. Die Rolling Stones, Mother’s Little Helper, die Hymne aller Tablettenabhängigen, dachte sie flüchtig. Sie sah aus dem Fenster. Ein Stück entfernt stand ein großes Glashaus, mindestens fünfzehn Meter lang und sechs Meter breit. Hinter den durchsichtigen Wänden sah sie ein Dutzend Polizisten durcheinanderlaufen. Sie schaute sich weiter im Wohnzimmer um. Drei gerahmte Bilder hingen an der Wand, große Formate, A2, A1 oder noch größer. Es waren Kalligrafien, japanische Schriftzeichen, vielleicht auch chinesische. Sie passen überraschend gut zum nordischen Stil der Möbel, dachte sie.

An der angrenzenden Wand waren ein paar gerahmte Fotografien aufgehängt. Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Städten und Gebäuden. Immer ein guter Winkel, ein gutes Auge fürs Motiv. Paris war da zu sehen, Tel Aviv und eine US-Großstadt. Sie tippte auf Chicago, aber vielleicht irrte sie sich auch.

Sie ging zurück zum Sessel und setzte sich. Auf dem flachen Wohnzimmertisch vor ihr standen zwei Tassen und eine Teekanne, ein asiatisches Teeservice. Sie nahm eine Tasse und hielt sie ins Licht. Sie war unbenutzt. In der anderen befand sich ein Rest Tee.

Als Nyström rief, stand sie auf und ging durch die Hintertür Richtung Glashaus. Auf der Rückseite des Hauses schloss eine überdachte Terrasse an das Gebäude an. Der Garten war größer als ein halbes Fußballfeld. Hinter dem Rasen ging er in eine große ovale Senke über, die mit Schilf bewachsen war und bis an den Waldrand reichte.

Nyström winkte ihr zu. Sie stand in der Tür des Glashauses, neben ihr Lars Knutsson. Forss ging zu ihnen. Nyström sah ernst aus.

»Der Tote ist hier drinnen. Vielleicht gehst du selbst einmal rein. Dann reden wir.«

Sie nickte. Knutsson hielt ihr zwei violette Schuhüberzieher hin. Sie sah einen Moment auf seine Hand. Zitterte sie? Vielleicht nur die Kälte. Sie streifte die Dinger über und betrat das Glashaus. Links sah sie eine Werkbank, auf der Blumenkästen mit Setzlingen und kleinen Pflanzen standen. Daneben lehnten Harken, Spaten und Zangen. Seitlich waren kleine Beete angelegt. Forss durchquerte den Raum und öffnete eine Tür. Als sie sich durch Plastiklamellen gedrängt hatte, schlug ihr eine Wand aus Wärme und Feuchtigkeit ins Gesicht; diese Tür war eine Art Klimaschleuse. Draußen waren es drei Grad, im Vorraum vielleicht dreizehn und hier drinnen dreißig. Das Wasser stand in der Luft, sie begann zu schwitzen. Sie zog ihren Mantel aus und legte ihn über den Arm.

Palmen, Farne, mannshohe Büsche - es sah aus wie in einem Urwald. Da waren Bananenstauden, ein Zitronenbaum und spanisches Moos. An der Decke liefen metallene Heizungsrohre entlang, zwei Wasserleitungen, und dort war ein Zerstäuber. Sie stand jetzt direkt vor einem Bassin mit Zierfischen. Ein Koikarpfen schwamm an der Wasseroberfläche und schnappte nach Luft. Er war orange und weiß, und wenn er schnappte, öffnete er das Maul zu einem großen »O«. Langsam ging Forss um das Becken herum. Sie wischte sich Schweißtropfen von der Stirn, vielleicht war es aber auch nur Kondenswasser.

Dann sah sie den Toten.

Der Leichnam lehnte sitzend, in aufrechter Position, an einem Stapel aus Säcken mit Blumenerde. Der Kopf war in den Nacken gerutscht, das Kinn stand vor wie eine Zinne. Der Mund war offen, als wolle der Tote das Wasser aus der Luft seines Tropenhauses saugen. Doch am auffälligsten waren die Augen. Der Mann hatte keine Augen mehr. Dort, wo sie einmal gewesen waren, befanden sich nur noch zwei milchig eingetrübte Kugeln. Keine Pupillen, keine Farben, kein Blick. Gar nichts. Wie eine fürchterliche Puppe saß er da. Einer der Augäpfel war so zerstört, dass er begonnen hatte auszulaufen. Das Gewebe in der Augenhöhle, rund um die Nase und rund um den Mund war rot wie gekochtes Krebsfleisch und angeschwollen, als hätte den Toten ein Wespenschwarm überfallen. Es war nur noch zu erahnen, wie er einmal ausgesehen hatte.

Forss trat näher heran. Der Leichnam trug ein Flanellhemd, abgewetzte Cordhosen und braune Halbschuhe. Am Boden unter der Leiche stand eine große Pfütze. Sie fühlte vorsichtig am Hosenbein. Es war durchnässt. Auch das Hemd und die Schuhe. Erst dachte sie an Urin, doch dann sah sie, dass sogar die Haarsträhnen, die sich über den Schädel des Toten spannten, nass waren. Dort, wo der Kopf des Toten auf dem obersten Kunststoffsack mit weichem Torfmull ruhte, sah sie einen dunklen Fleck. Sie nahm einen Kugelschreiber aus der Tasche und kratzte vorsichtig daran. Es sah aus wie verkrustetes Blut. Vermutlich hatte der Tote am Hinterkopf eine Wunde. Sie hockte sich hin und sah auf die Hände des Leichnams, die neben den Oberschenkeln auf den Betonplatten ruhten. Unnatürlich, wie bei einer Puppe. Wie hingelegt. Es fiel ihr erst auf den zweiten Blick auf: Der kleine Finger fehlte.

2

Nyström stand im Kreise ihrer Kollegen vor dem Glashaus. Knutsson war da, Delgado und Bo Örkenrud, der Chef der Spurensicherung, außerdem ihre Freundin Ann-Vivika Kimsel, die Gerichtsmedizinerin. In den dünnen Plastikhandschuhen waren Nyströms Hände taub vor Kälte. Aber da war noch eine andere Art von Benommenheit. Wenige Meter von ihr entfernt lag ein Toter ohne Gesicht. Ein toteralter Mann, dem man einen Finger abgeschnitten hatte. So etwas sollte nicht passieren, dachte sie, nicht hier, nicht im kleinen Småland. Sie musste an Gunnar Berg denken. Aber jetzt war es ihr Job, Entscheidungen zu treffen. Es gab Arbeit zu tun, Aufgaben zu verteilen. Dann soll es wohl so sein, dachte sie.

3

Forss stand nun schon einige Minuten vor dem leblosen Körper. Etwas war in diesem Tropenhaus, das sie irritierte, in der Hitze, etwas Bestimmtes, hier in der Schwüle, auch wenn sie nicht wusste, was es war. Etwas, das die Brutalität, mit der die Leiche des Mannes zugerichtet worden war, noch betonte. An einen Wespenschwarm hatte sie vorhin gedacht, als sie das aufgedunsene Gesicht gesehen hatte. Aber es war etwas anderes.

Ihr Blick wanderte über Sträucher und Blumen.

Die üppigen Beete.

Das aufwendige Bewässerungssystem.

Links standen ein paar längliche Kästen, die an Bienenstöcke erinnerten. Sie waren mit feinmaschigen Netzen bespannt oder mit Glasscheiben verschlossen und enthielten Raupen, Larven und ausgeschlüpfte Falter. Über ihnen baumelten waagerecht aufgehängte Stöcke und Zweige, an denen leere Kokons und Raupen in verschiedenen Stufen der Verpuppung hingen.

Und da flatterte sogar einer. Ein Schmetterling, ein weißer.

Auf dem Busch neben dem Bassin saß noch einer, ein roter Schmetterling mit einem schwarzen Punkt auf den Flügeln. Und einer auf der Scheibe. Und auf dem Rattanstuhl.

Auf der Bananenstaude sah sie einen braunen Falter, der größer war als ihre Hand. Erst schlug er nur ein wenig mit den Flügeln, aber dann katapultierte er sich mit einem Schlag in die Luft, drehte ein, zwei waghalsige Kreise und setzte sich schließlich von unten auf einen Stahlträger der Dachkonstruktion. Forss betrachtete ihn noch ein wenig, wie er da hing, unter dem grauen Himmel Smålands. Dann richtete sie den Blick wieder auf den Boden. Auf den Toten. Schmetterlinge und ein Toter. Wie in diesem Film mit der jungen FBI-Agentin, dachte sie, Jodie Foster, Das Schweigen der Lämmer hatte der Film geheißen. Aber das war natürlich Blödsinn, das hatte nichts mit dem hier zu tun. Im wirklichen Leben gab es keine Kannibalen, keine Kleider aus Menschenhaut.

Sie brach ein Blatt von einer Pflanze ab, die sie für Minze hielt, und legte es sich auf die Zunge. Es schmeckte nach gar nichts. Sie ging hinaus, zurück in den kalten Februarmorgen. Als sie auf dem Rasen ihren Mantel wieder anzog, kam Nyström auf sie zu.

»Was denkst du?« Jede Silbe war eine Wolke in der Winterluft.

Forss legte sich die Ausdrücke zurecht. Manche schwedischen Wörter fühlten sich noch fremd an in ihrem Mund, in der Muskulatur ihrer Wangen.

»Der alte Mann hatte Besuch. Diese Verbrennungen, das kann man nicht alleine machen. Und der abgetrennte Finger. So etwas passiert nicht bei einem Unfall.«

Nyström nickte.

»Und die Nässe ist merkwürdig«, sagte Forss. »Warum ist er so nass?«

»Vielleicht ist er ertränkt worden. Vielleicht war er auch erst draußen, im Regen, und dann hat ihn jemand hineingebracht.«

»Möglich.«

Forss fror jetzt. Sie knöpfte ihren Lodenmantel zu und zog die Schultern hoch.

»Wer hat ihn gefunden?«

»Ein Freund, Frederik Axelsson. Wohnt in Växjö und war gestern Abend mit dem Toten verabredet. Die haben sich regelmäßig getroffen. Als Frost nicht kam und Axelsson nichts von ihm hörte, hat er sich Sorgen gemacht. Heute Morgen ist er hierhergefahren und hat ihn gefunden.«

»Und wo ist dieser Axelsson jetzt?«

»Man hat ihm einen Krankenwagen gerufen. Er muss in einem erbärmlichen Zustand gewesen sein. Erstaunlich, dass er uns überhaupt alarmieren konnte. Weglaufen wird er uns sicher nicht.«

Forss nickte. Dann zog sie eine Grimasse, hüpfte auf der Stelle, weil ihr immer noch nicht warm war, zischte durch die Zähne und sah hinüber zu Nyström.

Die blinzelte sie an.

»Ist was?«

»Stina«, sagte sie, »… du hast da etwas Grünes zwischen den Zähnen.«

4

Lars Knutsson stapfte durch den Regen, der Schotter knirschte unter seinen Füßen. Er hatte Hunger. Das war eigentlich nichts Besonderes, er hatte oft Hunger. Aber heute hatte er nicht einfach Hunger, sondern einen Sonntagshunger. Der unterschied sich von einem normalen Hunger nicht dadurch, dass er größer, sondern dass er anders war. Ein Sonntagshunger war ein Hunger auf Rinderklößchensuppe, auf Braten mit Soße und Kartoffeln, auf zwei Sorten Buttergemüse. Auf einen Nachtisch, zum Beispiel warmen Käsekuchen mit Sahne und Blaubeermarmelade. Lisa, seine Frau, kochte gerade jetzt, als er den Schotterweg hinunterstapfen musste, genau dieses Essen. Sie stand am Herd in der großen, warmen Küche in ihrem Haus in Åby. Ihr ältester Sohn Martin war mit seiner Erika zu Besuch, und Enkel Oskar hatten sie auch dabei. Nur er lief hungrig durch den Wald.

Natürlich würden sie an ihn denken. Sie würden von allem einen Rest übrig lassen und in Schälchen legen, mit Frischhaltefolie abdecken und in den Kühlschrank stellen. Aber das war kein Ersatz. Ein Sonntagshunger galt nicht diesen kalten Tupperdosen im Kühlschrank, die man in die Mikrowelle stellte, um sie dann vor dem Fernseher leer zu essen. Zum Sonntagshunger gehörte eine gedeckte Tafel, gehörte Oskar, wie er auf seinem Schoß saß und quietschte und kleckerte. Im Grunde war Knutssons Sonntag jetzt schon gelaufen.

Der Waldweg wand sich über kleine Kuppen und durch sanfte Kurven. Vom Haus des Toten am Rödsjö bis zur Landstraße nach Dädesjö waren es etwa zwei Kilometer. Knutsson hatte sich erinnert, dass er entlang der Strecke am Morgen zwei Häuser hatte stehen sehen. Delgado war ziemlich schnell gefahren, darum hatte er den Weg dorthin nicht als so lang in Erinnerung. Er ärgerte sich, dass er nicht das Auto genommen hatte. Der Regen hatte seine Pudelmütze durchweicht, und er konnte spüren, wie ihm das Wasser aus dem Haar in den Kragen lief. Endlich wich der Tannenwald zu seiner Rechten einem Feld und gab den Blick frei. Knutsson erkannte etwa hundert Meter entfernt drei niedrige, windschiefe Gebäude, vermutlich Ställe. Daneben standen eine moderne Scheune und ein zweigeschossiges rotes Wohnhaus, zu dem eine Auffahrt führte. Er ging bis zur Abzweigung. Am Wegesrand stand ein grüner Briefkasten aus Plastik. »Erlandsson« war in blauer Druckschrift im Sichtfenster zu lesen.

Auf dem Hof schlug ein Hund an. Knutsson stapfte die geschotterte Auffahrt hinauf, dem Bellen entgegen. Ein paar Meter vor dem Haus stieg ihm ein unverwechselbarer Geruch in die Nase: Schweinebraten.

5